Leo Trotzki

 

Mein Leben


1905

Der Oktoberstreik entwickelte sich nicht planmäßig. Er begann mit den Druckereiarbeitern in Moskau und flaute dann ab. Entscheidungskämpfe bereiteten die Parteien erst für den Jahrestag des 9. (22.) Januar vor. Aus diesem Grunde beeilte ich mich in meinem finnländischen Zufluchtsort nicht, die Arbeiten zu beenden. Aber ein zufälliger, bereits im Abflauen begriffener Streik übertrug sich unerwartet auf die Eisenbahner, und – es ging los. Vom 10. Oktober ab breiteten sich die Streiks, bereits unter politischen Parolen, von Moskau über das ganze Land aus. Einen solchen Generalstreik hatte die Welt noch nicht gesehen. In vielen Städten kam es zu offenen Zusammenstößen mit den Truppen, aber im großen und ganzen blieben die Oktoberereignisse im Rahmen des politischen Streiks, ohne in einen bewaffneten Aufstand überzugehen. Und doch verlor der Absolutismus den Kopf und trat den Rückzug an. Es wurde das konstitutionelle Manifest vom 17. (30.) Oktober erlassen. Zwar behielt der getroffene Zarismus die Machtmaschinerie in den Händen. Die Regierungspolitik war, nach der Bezeichnung Wittes, mehr denn je „ein Netz aus Feigheit, Blindheit, Treubruch und Dummheit“. Aber die Revolution hatte doch den ersten, unvollkommenen, aber vielversprechenden Sieg errungen.

„Der ernsteste Teil der russischen Revolution von 1905“, schrieb derselbe Witte später, „bestand natürlich ... in der Parole der Bauern: gebt uns Land ...“ Dem kann man zustimmen. Aber Witte geht weiter: „Dem Sowjet der Arbeiter maß ich keine besondere Bedeutung bei. Er hat sie auch nicht gehabt.“ Das zeigt nur, daß auch der hervorragendste der Bürokraten den Sinn der Ereignisse nicht verstanden hatte, die die letzte Warnung an die herrschenden Klassen gewesen sind. Witte starb noch rechtzeitig, um nicht gezwungen zu werden, seine Ansichten über die Bedeutung der Sowjets der Arbeiter zu korrigieren.

Als ich nach Petersburg kam, war der Oktoberstreik in vollem Gange. Die Streikwelle wuchs immer mehr an, aber es bestand die Gefahr, daß die Bewegung, von keiner Massenorganisation geleitet, resultatlos versanden könnte. Ich war aus Finnland mit dem Plan gekommen, eine parteilose Arbeitervertretung zu schaffen. durch Wahl je eines Delegierten auf tausend Arbeiter. Von dem Schriftsteller Jordanski dem späteren Sowjetgesandten in Italien, erfuhr ich am Tage meiner Ankunft, daß bereits die Menschewiki die Parole aufgestellt hätten, ein revolutionäres Organ zu bilden aus je einem Delegierten auf 500 Arbeiter. Das war richtig. Der in Petersburg anwesende Teil des bolschewistischen Zentralkomitees war jedoch entschieden gegen eine parteilose Arbeitervertretung, da er davon eine Konkurrenz für die Partei befürchtete. Den bolschewistischen Arbeitern aber war diese Befürchtung ganz fremd. Die sektiererische Stellung der bolschewistischen Spitzen dem Sowjet gegenüber dauerte bis zur Ankunft Lenins in Rußland im November. Über das Führertum der „Leninisten“ ohne Lenin könnte man überhaupt manch lehrreiches Kapitel schreiben. Lenin überragte in einem solchen Maße seine nächsten Schüler, daß sie in seiner Gegenwart sich von der Notwendigkeit, theoretische und taktische Probleme selbständig zu lösen, ein für allemal befreit fühlten. Von ihm in kritischen Momenten getrennt, verblüfften sie durch ihre Hilflosigkeit. So war es im Herbst 1905. So war es im Frühling 1917. In diesen beiden Fällen, wie bei vielen anderen, historisch weniger wichtigen Gelegenheiten, erfaßten die breiten Parteikreise instinktiv die richtige Linie viel sicherer als die sich selbst überlassenen Halbführer. Die verspätete Ankunft Lenins aus dem Auslande war einer der Gründe, weshalb es der bolschewistischen Fraktion nicht gelang, bei den Ereignissen der ersten Revolution eine führende Stellung einzunehmen.

Ich habe schon erwähnt, daß Natalia Iwanowna Sedowa bei der 1.-Mai-Versammlung im Walde von einer Kosakenrazzia verhaftet worden war. Sie saß etwa ein halbes Jahr im Gefängnis und wurde dann nach Twer ausgewiesen und unter Polizeiaufsicht gestellt. Nach dem Oktobermanifest kehrte sie nach Petersburg zurück. Unter dem Namen Wikentjew mieteten wir ein Zimmer, wie es sich später herausstellte, bei einem Börsenspekulanten. Die Geschäfte an der Börse gingen schlecht. Viele Spekulanten waren gezwungen, sich in ihren Wohnungen einzuschränken. Ein Austräger brachte uns jeden Morgen alle erschienenen Zeitungen. Der Wohnungsbesitzer lieh sie sich manchmal von meiner Frau aus; er las die Zeitungen und knirschte mit den Zähnen. Seine Geschäfte gingen immer schlechter. Einmal stürzte er, die Zeitung schwingend, zu Natalia Iwanowna ins Zimmer: „Sehen Sie“, kreischte er, mit dem Finger auf meinen neuen Artikel „Guten Morgen, Petersburger Portier!“ zeigend, „sehen Sie, an die Portiers pürschen sie sich schon heran. Wenn mir dieser Zuchthäusler vor die Augen käme, ich würde ihn mit diesem Revolver erschießen.“ Er zog einen Revolver aus der Tasche und fuchtelte damit in der Luft herum. Er hatte das Aussehen eines Wahnsinnigen. Er suchte Teilnahme. Meine Frau kam zu mir in die Redaktion mit dieser Nachricht. Man mußte eine neue Wohnung suchen. Aber wir hatten keinen freien Augenblick und verließen uns auf das Schicksal. So blieben wir bis zu meiner Verhaftung bei dem verzweifelten Börsenspekulanten. Zum Glück hatten weder der Wirt noch die Polizei erfahren können, wer unter dem Namen Wikentjew lebte. Nach meiner Verhaftung wurde in meiner Wohnung nicht einmal eine Haussuchung vorgenommen.

Im Sowjet trat ich unter dem Namen Janowski auf, nach dem Dorfe, in dem ich geboren bin. In der Presse schrieb ich als Trotzki. Ich arbeitete an drei Zeitungen. Gemeinsam mit Parvus stellten wir uns an die Spitze der kleinen Rußkaja Gazetta („Russische Zeitung“), die wir in ein Kampforgan für die Massen umwandelten. Im Laufe von einigen Tagen stieg die Zahl der Bestellungen von 30.000 auf 100.000. Nach einem Monat betrug sie schon eine halbe Million. Die Technik der Druckerei vermochte mit dem Wachsen der Auflage der Zeitung nicht Schritt zu halten. Aus diesem Dilemma half uns schließlich die Zerstörung der Zeitung durch die Regierung. Am 13. November gründeten wir im Block mit den Menschewiki ein großes politisches Organ Natschalo („Anfang“). Die Auflage der Zeitung nahm nicht täglich, sondern stündlich zu. Die bolschewistische Nowaja Schisn („Neues Leben“) ohne Lenin war ziemlich farblos. Natschalo dagegen hatte einen kolossalen Erfolg. Ich glaube, daß diese Zeitung sich mehr als irgendein anderes Organ des letzten halben Jahrhunderts ihrem klassischen Vorbild, der Neuen Rheinischen Zeitung von Marx aus dem Jahre 1848, genähert hatte. Kamenjew, der zur Redaktion der Nowaja Schisn gehörte, erzählte mir später, wie er, mit der Eisenbahn fahrend, unterwegs auf den Bahnhöfen den Zeitungsverkauf beobachtete. Die Ankunft des Petersburger Zuges mit den Zeitungen erwarteten endlose Reihen. Die Nachfrage galt nur revolutionären Blättern. „Natschalo! Natschalo! Natschalo!“ schrie man aus der Menge. „Nowaja Schisn!“ und wieder „Natschalo! Natschalo! Natschalo!“ „Da habe ich mir“, gestand Kamenjew, „verärgert gesagt: ja, sie schreiben im Natschalo besser als wir.“

Außer für die Rußkaja Gazetta und Natschalo schrieb ich noch Leitartikel für die Iswestja („Mitteilungen“), das offizielle Organ des Sowjets, ferner zahllose Aufrufe, Manifeste und Resolutionen, Die zweiundfünfzig Tage des Bestehens des ersten Sowjets waren über den Rand mit Arbeit gefüllt: der Sowjet, das Exekutivkomitee, ununterbrochene Meetings und drei Zeitungen. Wie wir in diesem Strudel gelebt haben, ist mir selbst heute unklar. Aber in der Vergangenheit ist vieles unbegreiflich, weil in der Erinnerung das Element der Aktivität wegfällt: du betrachtest dich selbst gewissermaßen als Außenstehenden. Wir aber waren in jenen Tagen reichlich aktiv. Wir kreisten nicht nur im Strudel, wir schufen ihn auch. Alles wurde in der Hast gemacht, aber dennoch nicht gar so schlecht, manches sogar recht gut. Unser verantwortlicher Redakteur, der alte Demokrat Doktor D.M. Herzenstein, erschien manchmal im tadellosen schwarzen Gehrock in der Redaktion, stellte sich in die Mitte des Zimmers und bewunderte liebevoll unser Chaos. Nach einem Jahr mußte er vor Gericht Rede stehen für die revolutionäre Raserei der Zeitung, auf die er nicht den geringsten Einfluß gehabt harte. Der Greis verleugnete uns nicht; im Gegenteil, mit Tränen in den Augen schilderte er vor Gericht, wie wir, die populärste Zeitung redigierend, uns zwischen der Arbeit von trockenem Kuchen nährten, den der Portier aus der nächsten Bäckeret in Zeitungspapier eingewickelt, brachte. Der alte Mann mußte ein Jahr Gefängnis absitzen – für die Revolution, die nicht gesiegt hatte, für die Kameradschaft mit den Emigranten und für die trockenen Kuchen ...

In seinen Erinnerungen schrieb später Witte, daß im Jahre 1905 „die große Mehrheit Rußlands gleichsam verrückt geworden war“. Die Revolution erscheint dem Konservativen nur dehalb als ein kollektives Irresein, weil sie den „normalen“ Wahnsinn der sozialen Gegensätze aufs höchste steigert. So pflegen Menschen sich in einer kühnen Karikatur nicht erkennen zu wollen. Aber aie gesamte moderne Entwicklung verdichtet intensiviert, verschärft die Qegensätze bis zur Unerträglichkeit und bereitet damit jenen Zustand vor, wo die große Mehrheit „verrückt wird“. In diesen Fällen pflegt dann die wahnsinnige Mehrheit der weisen Minderheit die Zwangsjacke anzulegen. Und so bewegt sich die Geschichte weiter.

Das revolutionäre Chaos ist etwas ganz anderes als ein Erdbeben oder eine Überschwemmung. Inmitten der Unordnung der Revolution beginnt sofort eine neue Ordnung zu entstehen, Menschen und Gedanken ordnen sich um neue Achsen an. Als absoluter Wahnsinn erscheint die Revolution nur denen, die sie wegfegt, vernichtet. Für uns war die Revolution unser Element, wenn auch ein sehr stürmisches. Alles fand seine Stunde und seinen Platz, einige fanden dabei noch Zeit für das persönliche Leben: verliebten sich, schlossen neue Bekanntschaften, besuchten sogar revolutionäre Theater. Parvus gefiel ein neues satirisches Stück so gut, daß er zur nächsten Vorstellung gleich fünfzig Eintrittskarten für seine Freunde kaufte. Man muß hier gleich sagen, daß er am Tage zuvor gerade das Honorar für seine Bücher bekommen hatte. Als man Parvus verhaftete, fand man in seiner Tasche die fünfzig Theaterbillets. Die Gendarmen zerbrachen sich lange den Kopf über dieses revolutionäre Rätsel. Sie wußten nicht, daß Parvus eben alles mit Schwung tat.

Der Sowjet hatte riesige Massen auf die Beine gebracht. Die gesamte Arbeiterschaft stand hinter ihm. Auf dem Lande herrschten Unruhen, ebenso bei den Truppen, die nach dem Portsmouther Frieden aus dem fernen Osten zurückkehrten. Aber die Garde- und Kosakenregimenter waren noch fest. Alle Elemente einer siegreichen Revolution waren vorhanden, aber diese Elemente waren noch nicht reif.

Am 18. Oktober, dem Tage nach der Veröffentlichung des Manifestes, standen vor der Petersburger Universität Tausende und aber Tausende noch vom Kampfe nicht abgekühlter, von der Begeisterung des ersten Sieges noch trunkener Menschen. Ich schrie ihnen vom Balkon hinunter zu, daß der halbe Sieg noch keine Sicherung bedeute, daß der Feind unversöhnlich sei, daß vor uns eine Falle lauere; ich zerriß das Zarenmanifest und ließ es im Winde flattern. Aber solche politische Warnungen hinterlassen im Bewußtsein der Masse nur leichte Kratzer. Sie braucht die Schule der großen Ereignisse.

Ich erinnere mich bei dieser Gelegenheit an zwei Szenen aus dem Leben des Petersburger Sowjets. Die eine vom 29. Oktober, als die Stadt voll von Gerüchten über einen Pogrom war, den die Schwarzen Hundert vorbereiteten. Die Delegierten, die aus ihren Betrieben direkt in die Sitzung des Sowjets kamen, zeigten von der Tribüne herab Muster der Waffen, mit denen die Arbeiter gegen die Schwarzen Hundert ausgerüstet waren. Sie schwangen in der Luft finnische Messer, Schlagringe, Dolche, Drahtknüppel; aber das alles vollführten sie eher belustigt als besorgt, unter Scherzen und Späßen. Es schien, als glaubten sie, ihre Bereitschaft zur Abwehr genüge schon, um die Aufgabe zu lösen. Die Mehrzahl war noch nicht von dem Gedanken durchdrungen, daß der Kampf auf Leben und Tod ging. Dieses haben sie erst die Dezembertage gelehrt.

Am Abend des 3. Dezember wurde der Petersburger Sowjet von Truppen umringt. Die Ein- und Ausgänge wurden abgesperrt. Von oben, wo das Exekutivkomitee tagte, schrie ich in den Saal, wo sich schon Hunderte Delegierter zusammendrängten: „Keinen Widerstand leisten, die Waffen dem Feinde nicht ausliefern.“ Es handelte sich um Handwaffen: Revolver. Und nun begannen die Arbeiter im Sitzungssaal, der von allen Seiten durch Abteilungen der Gardeinfantene, Kavallerie und Artillerie umstellt war, ihre Waffen unbrauchbar zu machen. Sie zerschlugen mit erfahrener Hand den Mauser an dem Browning und den Browning an dem Mauser. Dies klang nicht mehr nach Scherz und Spaß, wie am 29. Oktober Im Klirren und Rasseln, im Knirschen des zerbrechenden Metalls hörte man das Zähneknirschen des Proletariats, das zum erstenmal restlos von dem Gefühl erfaßt war, es sei eine andere, mächtigere und erbarmungslosere Kraftanstrengung nötig, um den Feind niederzuwerfen und zu erdrücken.

Der halbe Sieg des Oktoberstreiks hatte für mich neben der politischen eine immens theoretische Bedeutung. Nicht die oppositionelle Bewegung der liberalen Bourgeoisie, nicht der elementare Aufstand der Bauern, nicht terroristische Akte der lntellektuellen, sondern der Arbeiterstreik hatte den Zarismus zum erstenmal auf die Knie gezwungen. Die revolutionäre Hegemonie des Proletariats war zur unbestreitbaren Tatsache geworden. Ich erkannte; die Theorie der permanenten Revolution hatte die erste große Prüfung bestanden. Die Revolution hatte dem Proletariat deutlich die Perspektive der Machteroberung eröffnet. Von dieser Position konnten mich die bald heranbrechenden Jahre der Reaktion nicht verdrängen. Aber daraus zog ich auch Schlüsse für den Westen. Wenn dies die Macht des jungen Proletariats in Rußland ist, wie mag dann seine revolutionäre Macht in den vorgeschrittenen Ländern aussehen?

In der ihm eigenen unpräzisen und liederlichen Manier charakterisierte Lunatscharski später meine revolutionäre Einstellung folgendermaßen: „Genosse Trotzki stand (1903) auf dem Standpunkte, daß beide Revolutionen (die bürgerliche und die sozialistische) zwar nicht zusammenfallen, aber miteinander derart verknüpft seien, daß wir eine permanente Revolution vor uns hätten. Durch die bürgerliche politische Umwälzung in eine revolutionäre Periode eintretend, werde der russische Teil der Menschheit und mit ihm die übrige Welt bis zur Vollendung der sozialen Revolution nicht mehr aus dieser Periode hinauskommen können. Man kann nicht leugnen, daß Genosse Trotzki, als er diese Ansichten formulierte, großen Scharfsinn bewies, wenn er sich auch um fünfzehn Jahre irrte.“

Die Bemerkung von dem Irrtum um fünfzehn Jahre ist dadurch nicht tiefsinniger geworden, daß sie später von Radek wiederholt wurde. Alle unsere Perspektiven und Parolen waren im Jahre 1905 auf den Sieg der Revolution berechnet, nicht auf ihre Niederlage. Wir haben damals weder die Republik, noch die Agrarumwälzung, noch den Achtstundentag durchgeführt. Heißt dies, daß wir uns geirrt hatten, als wir diese Forderungen aufstellten? Die Niederlage der Revolution hat alle unsere Perspektiven umgeworfen, nicht nur jene, die ich entwickelte. Es hat sich dabei nicht um die Festsetzung der Termine der Revolution gehandelt sondern um die Analyse ihrer inneren Kräfte, um das Voraussehen ihrer Entwicklung als Ganzes betrachtet.

Wie waren in der Revolution von 1905 die Beziehungen zwischen mir und Lenin? Nach seinem Tode ist die offizielle Geschichte neu umgearbeitet worden, wobei auch für das Jahr 1905 der Kampf zweier Prinzipien entdeckt wurde: des Guten und des Bösen. Wie verhielt sich die Sache in Wirklichkeit? An der Arbeit des Sowjets nahm Lenin keinen unmittelbaren Anteil, er trat im Sowjet nicht auf. Es ist unnötig zu sagen, daß er jeden Schritt des Sowjets aufmerksam verfolgte, dessen Politik durch die Vertreter der bolschewistischen Fraktion beeinflußte und die Tätigkeit des Sowjets in seiner Zeitung beleuchtete. In keiner einzigen Frage bestanden Differenzen zwischen Lenin und der Politik des Sowjets. Wie aber die Dokumente beweisen, waren sämtliche Beschlüsse des Sowjets, vielleicht mit Ausnahme einiger zufälligen und unwichtigen, von mir formuliert und von mir zuerst im Exekutivkomitee und dann, in seinem Namen, im Sowjet eingebracht worden. Und als die föderative Kommission aus Vertretern der Bolschewiki und der Menschewiki geschaffen wurde, mußte wiederum ich in ihrem Namen im Exekutivkomitee auftreten. Es ergab sich dabei kein einziger Konflikt.

Zum ersten Vorsitzenden des Sowjets war vor meiner Ankunft aus Finnland der junge Advokat Chrustaljew gewählt worden, eine in der Revolution zufällige Figur, eine Zwischenstufe von Gapon zur Sozialdemokratie. Chrustaljew führte den Vorsitz, aber die politische Führung hatte er nicht. Nach seiner Verhaftung wurde ein Präsidium mit mir als Vorsitzendem gewählt. Swertschkow, einer der sichtbaren Teilnehmer des Sowjets, schreibt in seinen Erinnerungen: „Der ideologische Führer des Sowjets war L.D. Trotzki. Der Vorsitzende des Sowjets, Nossarj-Chrustaljew, war eher eine Kulisse, da er selbst nicht imstande war, auch nur eine einzige prinzipielle Frage zu beantworten. Ein Mann von krankhaftem Ehrgeiz, entbrannte er in Haß gegen L.D. Trotzki gerade deshalb, weil er gezwungen war, sich stets an diesen zu wenden um Ratschläge und Anweisungen.“ Lunatscharski erzählt in seinen Erinnerungen: „Ich erinnere mich, wie jemand in Lenins Gegenwart sagte: ‚Der Stern Chrustaljews beginnt unterzugehen, jetzt ist der mächtige Mann im Sowjet Trotzki.‘ Lenins Gesicht verfinsterte sich für einen Augenblick, und dann sagte er: ‚Nun, Trotzki hat es sich in unermüdlicher und hervorragender Arbeit erkämpft.‘“

Die Beziehungen der beiden Redaktionen waren die allerfreundschaftlichsten. Es gab zwischen ihnen keine Polemik. „Die erste Nummer des Natschalo ist erschienen“, schrieb die bolschewistische Nowaja Schisn. „Wir begrüßen den Kampfgenossen. In der ersten Nurnmer fällt die glänzende Schilderung des Novemberstreiks auf, die vom Genossen Trotzki stammt.“ So schreibt man nicht über jemanden, gegen den man im Kampfe steht. Es gab auch keinen Kampf. Im Gegenteil, die Zeitungen verteidigten einander gegen die bürgerliche Kritik. Nachdem Lenin bereits angekommen war, ergriff die Nowaja Schisn das Wort zur Rechtfertigung meiner Artikel über die permanente Revolution: Die Zeitungen hielten, wie beide Fraktionen, den Kurs auf eine Verschmelzung. Das Zentralkomitee der Bolschewiki nahm unter Lenins Mitwirkung einstimmig eine Resolution in dem Sinne an, daß die Spaltung überhaupt nur eine Folgeerscheinung der Verhältnisse in der Emigration sei und daß die Ereignisse der Revolution dem fraktionellen Kampfe jeglichen Boden entzogen hätten. Die gleiche Linie verteidigte ich, bei passivem Widerstand von Martow, im Natschalo.

Unter dem Drängen der Massen versuchten die Menschewiki im Sowjet, sich mit allen Kräften dem linken Flügel anzupassen. Die Wendung vollzog sich bei ihnen erst später, nach den ersten Schlägen der Reaktion. Im Februar 1906 klagt der Führer der Menschewiki, Martow, in einem Brief an Axelrod: „Es sind nun zwei Monate ... ich konnte kein einziges begonnenes Werk zu Ende führen ... Ist es Neurasthenie oder psychische Müdigkeit – aber ich kann mit keinem einzigen Gedanken fertig werden.“ Martow wußte nicht, wie er seine Krankheit bezeichnen sollte. Sie hatte aber einen ganz ausgesprochenen Namen: Menschewismus. In der Epoche der Revolution bedeutet Opportunismus vor allem Geistesverwirrung und Unfähigkeit, „mit den Gedanken fertig zu werden“.

Als die Menschewiki begannen, öffentlich Reue abzulegen und die Politik des Sowjets zu verurteilen, habe ich diese Politik zuerst in der russischen, dann in der deutschen Presse und in der von Rosa Luxemburg herausgegebenen polnischen Zeitschrift verteidigt. Aus diesem Kampfe um die Methoden und Traditionen von 1905 erwuchs mein Buch, das zuerst Rußland in der Revolution hieß und später unter dem Titel 1905 in verschiedenen Ländern wiederholt aufgelegt wurde. Nach dem ()ktoberumsturz gewann dieses Buch den Charakter eines offiziellen Lehrbuchs der Partei, nicht nur in Rußland, sondern auch bei den kommunistischen Parteien des Westens. Erst nach dem Tode Lenins, als die sorgfältigst vorbereitete Kampagne gegen mich begann, geriet auch mein Buch über das Jahr 1905 in die Zone des Feuers. Zuerst beschränkte sich die Sache auf einzelne Bemerkungen kleinlicher und nichtiger Art. Aber allmählich wurde die Kritik kühner; sie wuchs an, vervielfältigte sich, ward komplizierter und frecher und um so lauter, je mehr sie gezwungen war, die Stimme ihrer eigenen Unruhe zu übertönen. So entstand nachträglich die Legende vom Kampfe der Richtungen Lenin und Trotzki während der Revolution von 1905.

Die Revolution von 1905 brachte einen Umschwung im Leben des Landes, im Leben der Partei und in meinem persönlichen Leben. Der Umschwung vollzog sich in der Richtung zur Reife. Meine erste revolutionäre Arbeit in Nikolajew war ein provinzieller Versuch, tastend gemacht. Dieser Versuch war jedoch nicht ohne Folgen geblieben. Vielleicht niemals in all den späteren Jahren hatte ich Gelegenheit gehabt, mit den Arbeitern aus der Masse in so nahe Berührung zu kommen wie in Nikolajew. Ich hatte damals noch gar keinen „Namen“, und nichts hatte mich von ihnen getrennt Die grundlegenden Typen des russischen Proletariats sind dort für immer in mein Bewußtsein eingegangen. Später begegnete ich fast nur noch verschiedenen Abarten. Im Gefängnis mußte ich das revolutionäre Studium beinah beim Abc beginnen. Zweieinhalb Jahre Gefängnis, zwei Jahre Verbannung gaben mir die Möglichkeit, das theoretische Fundament für meine revolutionäre Weltanschauung zu legen. Die erste Emigration war eine hohe Schule der Politik. Unter der Führung hervorragender revolutionärer Marxisten lernte ich hier, von großen historischen Perspektiven aus und unter Berücksichtigung internationaler Zusammenhänge an die Ereignisse heranzugehen. Gegen Ende der Emigration hatte ich mich von den beiden führenden Gruppen getrennt: von der bolschewistischen und von der menschewistischen. Nach Rußland kehrte ich im Februar 1905 zurück, während die anderen führenden Emigranten erst im Oktober und November dort eintrafen. Unter den russischen Genossen gab es keinen einzigen, von dem ich hätte lernen können. Im Gegenteil, ich kam selbst in die Lage des Lehrers. Die Ereignisse des stürmischen Jahres wechselten einander ab. Man mußte eine Position einnehmen, sofort, auf der Stelle. Die Proklamationen gingen aus der Feder in die illegale Druckerei. Die theoretischen Grundlagen, erworben im Gefängnis und in der Verbannung, die politische Methode, angeeignet in der Emigration, fanden jetzt zum erstenmal unmittelbare Anwendung im Kampfe. Ich fühlte mich den Ereignissen gegenüber sicher. Ich verstand ihre Mechanik – so schien es mir jedenfalls –, ich stellte mir vor, wie sie sich auf das Bewußtsein der Arbeiter auswirken mußten, und ich sah den morgigen Tag in den Grundzügen voraus. Vom Februar bis Oktober trug meine Teilnahme an den Ereignissen hauptsächlich literarischen Charakter. Im Oktober stürzte ich mich gleich in den gigantischen Strudel, der in persönlicher Hinsicht die höchste Prüfung bedeutete. Die Entschlüsse mußten im Feuer gefaßt werden. Ich darf es hier sagen, daß mir die Entschlüsse als etwas Selbstverständliches nicht schwerfielen. Ich schaute mich nicht danach um, was die anderen sagen würden, nur selten hatte ich die Möglichkeit, mich mit jemand zu beraten – alles geschah in Hast. Mit Staunen und Befremdung beobachtete ich später den gescheitesten der Menschewiki, Martow, den jedes große Ereignis überrumpelte und fassungslos machte. Ohne darüber viel nachzudenken – es blieb keine Zeit, sich zu prüfen –, fühlte ich dennoch innerlich, daß die Schülerjahre hinter mir geblieben waren. Sie waren für mich nicht in dem Sinne zu Ende, daß ich aufhörte zu lernen. Nein, das Bedürfnis und die Bereitwilligkeit zu Lernen habe ich in aller Intensität und Frische durch mein ganzes Leben getragen. Damals lernte ich jedoch bereits, wie Lehrer lernen, nicht aber wie Schüler. Im Augenblick meiner zweiten Verhaftung war ich sechsundzwanzig Jahre alt. Auch von dem alten Deutsch erhielt ich die Anerkennung meiner Reife: im Gefängnis hörte er feierlich auf, mich Jüngling zu nehnen, und ging auf Namen und Vatersnamen über.

In dem bereits zitierten Buch von Lunatscharski Silhouetten, das jetzt auf dem Index steht, charakterisiert der Verfasser die Rolle der Führer in der ersten Revolution folgendermaßen: „Seine [Trotzkis] Popularität im Petersburger Proletariat war in jener Zeit sehr groß und stieg noch mehr infolge seines ungewöhnlich wirkungsvollen und heroischen Verhaltens vor Gericht. Ich muß sagen, daß die Jahre 1905-06 Trotzki, trotz seiner Jugend, unter allen sozialdemokratischen Führern als am besten vorbereitet gefunden haben; auf ihm lastete am wenigsten der Stempel der Emigration, der damals sogar Lenin hemmte. Trotzki fühlte deutlicher als die anderen, was ein umfassender Kampf gegen den Staat bedeutet Er ist auch aus der ersten Revolution mit dem größten Gewinn an Popularität hervorgegangen; eigentlich hatten weder Lenin noch Martow dabei etwas gewonnen. Plechanow hatte sogar infolge der verschiedenen halbliberalen Tendenzen, die bei ihm zutage getreten waren, sehr viel eingebüßt. Trotzki aber nahm seitdem einen Platz in der ersten Reihe ein.“ Diese Zeilen, 1923 geschrieben, klingen um so eindrucksvoller, als Lunatscharski heute – nicht sehr „wirkungsvoll“ und nicht sehr „heroisch“ – gerade das Entgegengesetzte schreibt.

Keine große Arbeit ist ohne Intuition denkbar, das heißt ohne jenen Instinkt im Unterbewußtsein, der sich durch theoretische und praktische Arbeit entwickeln und bereichern kann, der aber von Natur aus vorhanden sein muß. Weder theoretische Bildung noch praktische Routine können das politische Augenmaß ersetzen, daß die Möglichkeit verleiht, sich in einer Situation zurechtzufinden, sie richtig einzuschätzen und ihre weitere Entwicklung Vorauszusehen. Entscheidende Bedeutung gewinnt diese Fähigkeit in Augenblicken scharfer Wendungen und Krisen, das heißt unter den Bedingungen einer Revolution. Die Ereignisse von 1905 haben, wie mir scheinen will, das Vorhandensein dieser revolutionären Intuition bei mir bewiesen und haben mir erlaubt, mich in der Zukunft auf sie zu verlassen. Ich möchte hier gleich bemerken, daß die Fehler, die ich begangen habe, so wichtig sie auch sein mögen -es gab Fehler von großer Bedeutung –, stets von der Organisation und der Taktik abgeleitete Fragen betrafen, niemals aber grundlegende strategische Fragen. In der Einschätzung der politischen Situation im ganzen und ihrer revolutionären Perspektiven kann ich mich mit gutem Gewissen von ernsten Fehlern freisprechen.

Im Leben Rußlands war die Revolution von 1905 die Generalprobe für die Revolution von 1917. Die gleiche Bedeutung hat sie auch in meinem persönlichen Leben gehabt. An die Ereignisse von 1917 ging ich entschlossen und sicher heran, weil sie für mich nur die Fortsetzung und die Weiterentwicklung jener revolutionären Arbeit waren, die die Verhaftung des Petrograder Sowjets am 3. Dezember 1905 unterbrochen hatte.

Meine Verhaftung erfolgte am Tage, nachdem wir das sogenannte Finanzmanifest veröffentlicht hatten, das die Unvermeidlichkeit des finanziellen Bankrotts des Zarismus proklamierte und kategorisch erklärte, daß die Schuldverpflichtungen der Romanows vom siegreichen Volke nicht anerkannt werden würden. „Das Selbstherrschertum hat niemals das Vertrauen des Volkes besessen und hat von diesem keine Vollmacht erhalten“, lautete das Manifest des Sowjets der Arbeiterdeputierten. „Darum beschließen wir, die Tilgung der Schulden aus allen jenen Anleihen, die die zaristische Regierung aufgenommen hat, als sie offen Krieg führte gegen das gesamte Volk, nicht zuzulassen.“ Die französische Börse hat einige Monate später unser Manifest mit einer neuen Anleihe von dreiviertel Milliarden Franken an den Zaren beantwortet. Die Presse der Reaktion und des Liberalismus höhnte über die ohnmächtige Drohung des Sowjets an die Adresse der Finanzen des Zaren und der europäischen Bankiers. Dann bemühte man sich, das Manifest zu vergessen. Es hat sich aber in Erinnerung gebracht. Der finanzielle Bankrott des Zarismus, von der ganzen Vergangenheit vorbereitet, hat sich gleichzeitig mit seinem militärischen Zusammenbruch offenbart. Später, nach dem Siege der Revolution, hat das Dekret der Volkskommissare vom 10. Februar 1918 die völlige Annullierung aller zaristischen Schulden ausgesprochen. Dieses Dekret ist noch jetzt in Kraft. Unrecht haben jene, die behaupten, die Oktoberrevolution anerkenne keine Verpflichtungen. Ihre Verpflichtungen erkennt die Revolution an. Die Verpflichtung, die sie am 2. Dezember 1905 übernommen hatte, hat sie am 10. Februar 1918 erfüllt. Den Gläubigern des Zarismus kann die Revolution mit vollem Recht in Erinnerung bringen: „Meine Herren, Sie waren rechtzeitig gewarnt!“

In dieser Frage, wie in allen anderen, hat das Jahr 1905 das Jahr 1917 vorbereitet.


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003