Leo Trotzki

 

Mein Leben


Verhandlungen in Brest

Das Dekret über den Frieden war vom Kongreß am 26. Oktober angenommen worden, als sich in unseren Händen nur Petrograd befand. Am 7. November wandte ich mich radiotelegraphisch an die Staaten der Entente und an die Mittelmächte mit dem Vorschlag, einen allgemeinen Frieden zu schließen. Die Regierungen der Alliierten ließen durch ihre Agenten dem Oberkommandierenden, General Duchonin, erklären, daß weitere Schritte auf dem Wege der Separatfriedensverhandlungen die „schwersten Folgen“ nach sich ziehen würden. Ich beantwortete diese Drohung mit einem Aufruf an alle Arbeiter, Soldaten und Bauern. Der Sinn des Aufrufs lautete kategorisch: Wir haben unsere Bourgeoisie nicht deshalb niedergeworfen, damit unsere Armee ihr Blut unter der Peitsche der ausländischen Bourgeoisie vergießt. Am 22. November unterschrieben wir das Abkommen über die Einstellung der Kriegshandlungen auf der ganzen Front, vom Baltischen bis zum Schwarzen Meer. Wir wandten uns erneut an die Alliierten mit dem Vorschlag, zusammen mit uns Friedensverhandlungen zu führen. Wir erhielten keine Antwort, aber es folgten auch keine Drohungen. Einiges hatten die Regierungen der Entente inzwischen doch begriffen. Die Friedensverhandlungen begannen am 9. Dezember, anderthalb Monate nach Annahme des Dekrets über den Frieden: eine ausreichende Frist für die Ententeländer, ihre Stellung zu dieser Frage präzisieren zu können. Unsere Delegation brachte gleich bei Beginn eine programmatische Erklärung über die Grundlagen eines demokratischen Friedens an. Die gegnerische Seite verlangte eine Unterbrechung der Sitzungen. Die Wiederaufnahme der Arbeiten wurde weiter und weiter verschoben. Die Delegationen des Vierbundes hatten bei der Formulierung der Antwort auf unsere Deklaration allerhand innere Schwierigkeiten zu überwinden. Am 25. wurde die Antwort erteilt. Die Regierungen des Vierbundes hatten sich der demokratischen Friedensformel: ohne Annexionen und Kontributionen auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker, „angeschlossen“. Am 28 Dezember fand in Petrograd eine riesige Demonstration zu Ehren des demokratischen Friedens statt. Ohne der deutschen Antwort zu Vertrauen, hatten die Massen sie doch als einen gewaltigen moralischen Sieg der Revolution aufgenommen. Am nächsten Morgen brachte unsere Delegation aus Brest-Litowsk jene ungeheuerlichen Forderungen, die Kühlmann im Namen der Mittelmächte gestellt hatte. „Für die Verschleppung der Verhandlungen ist ein Verschlepper nötig“, sagte Lenin. Auf sein Drängen hin begab ich mich nach Brest-Litowsk. Ich gestehe, ich fuhr hin wie zu einer Folter. Das Milieu fremder und ferner Menschen hat mich stets geschreckt, hier ganz besonders. Ich kann jene Revolutionäre absolut nicht verstehen, die gern Botschafter werden und im neuen Milieu wie ein Fisch im Bassin schwimmen.

Die erste Sowjetdelegation mit Joffe an der Spitze war in Brest-Litowsk von allen Seiten hofiert worden. Der bayerische Prinz Leopold empfing sie als seine „Gäste“. Zu Mittag und zu Abend aßen alle Delegationen gemeinsam. General Hoffmann mußte, sicher nicht ohne Interesse, auf die Genossin Bizenko blicken, die ehemals den General Sacharow ermordete. Die Deutschen setzten sich in gemischter Reihe mit den Unsrigen und waren bestrebt, „freundschaftlich“ das, was sie brauchten, herauszuangeln. Zu der ersten russischen Delegation gehörten ein Arbeiter, ein Bauer und ein Soldat. Das waren zufällige Figuren, die solchen Intrigen nicht gewachsen waren. Den alten Bauern pflegte man beim Mittag sogar etwas betrunken zu machen.

Der Stab des Generals Hoffmann gab für Gefangene eine Zeitung Rußki Westnik („Russischer Bote“) heraus, die in der ersten Zeit über die Bolschewiki nicht anders als mit rührender Sympathie sprach. „Unsere Leser“, erzählte General Hoffmann den russischen Gefangenen, „fragen uns, wer ist Trotzki?“ Verzückt erzählte er ihnen von meinem Kampf gegen den Zarismus und von meinem deutschen Buche Rußland in der Revolution. „Die ganze revolutionäre Welt war über seine gelungene Flucht begeistert!“ und weiter: „Als der Zarismus niedergerungen war, setzten die geheimen Freunde des Zarismus Trotzki bald nach seiner Rückkehr aus der langjährigen Verbannung wieder ins Gefängnis.“ Kurz, es gab keine glühenderen Revolutionäre als Leopold von Bayern und Hoffmann von Preußen. Dieses Idyll dauerte nicht lange. In der Sitzung der Brester Konferenz vom 7. Februar, die am allerwenigsten einem Idyll ähnlich sah, bemerkte ich rückschauend: „Wir sind bereit, jene verfrühten Komplimente zu bedauern, welche die offizielle deutsche und österreichisch-ungarische Presse an unsere Adresse gerichtet hat. Sie waren für einen erfolgreichen Verlauf der Friedensverhandlungen absolut nicht erforderlich“

Die Sozialdemokratie war auch in dieser Frage nur ein Schatten der hohenzllerischen und der habsburgischen Regierungen. Scheidemann, Ebert und andere versuchten anfangs, uns gönnerhaft auf die Schulter zu klopfen. Die Wiener Arbeiter-Zeitung schrieb am 15. Dezember pathetisch, daß das „Duell“ zwischen Trotzki und Buchanan ein Symbol des großen Kampfes unserer Zeit sei: „des Kampfes des Proletariats gegen das Kapital“. In jenen Tagen, als Kühlmann und Czernin die russische Revolution an die Gurgel packten, sahen die Austromarxisten nur das „Duell“ zwischen Trotzki und ... Buchanan. Man kann noch heute nicht ohne Ekel an diese Heuchelei zurückdenken. „Trotzki“, schrieben die habsburgischen Marxisten, „ist der Bevollmächtigte des Friedenswillens der russischen Arbeiterklasse, die bestrebt ist, die vergoldete Eisenkette, an die sie das englische Kapital geschmiedet hat, zu zerreißen.“ Die Führer der Sozialdemokratie hatten sich freiwillig an die Kette des deutsch-österreichischen Kapitals begeben und halfen ihrer Regierung, diese Kette gewaltsam der russischen Revolution anzulegen. Wenn mir oder Lenin während der schwierigsten Augenblicke in Brest der Berliner Vorwärts oder die Wiener Arbeiter-Zeitung vor die Augen kamen, zeigten wir einander die mit Bleistift angestrichenen Zeilen schweigend, sahen uns flüchtig an und wandten die Augen ab mit einem unbeschreiblichen Gefühl der Scham für diese Herren, die doch immerhin noch gestern unsere Genossen in der Internationale gewesen waren. Wer mit klarem Bewußtsein durch diese Periode hindurchging, hat es für immer begriffen, daß die Sozialdemokratie, wie auch die Schwankungen der politischen Konjunktur sein mögen, historisch tot ist. Um dieser deplacierten Maskerade ein Ende zu machen, stellte ich in unserer Presse die Frage, ob denn der deutsche Stab nicht den deutschen Soldaten auch etwas über Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg erzählen möchte? Zu diesem Thema erließen wir einen Aufruf an die deutschen Soldaten. Der Bote des Generals Hoffmann verlor die Sprache. Gleich nach meiner Ankunft in Brest erhob der General Protest gegen unsere Propaganda unter den deutschen Truppen. Ich lehnte Gespräche über dieses Thema ab und schlug dem General vor, seine eigene Propaganda unter den russischen Truppen fortzusetzen: die Bedingungen wären die gleichen, ein Unterschied bestehe nur im Charakter der Propaganda. Ich erinnerte bei dieser Gelegenheit daran, daß die Unähnlichkeit unserer Ansichten über nicht unwichtige Fragen längst bekannt und sogar von einem deutschen Gericht bestätigt sei, das mich während des Krieges in meiner Abwesenheit zu Gefängnis verurteilte. Eine solche taktlose Erinnerung machte den Eindruck eines großen Skandals. Einigen Würdenträgern stockte der Atem. Kühlmann (sich an Hoffmann wendend): „Wünschen Sie das Wort?“ Hoffmann: „Nein, genug!“

In der Eigenschaft des Vorsitzenden der Sowjetdelegation beschloß ich, die familiären Beziehungen schroff abzubrechen, die in der ersten Periode sich unmerklich eingestellt hatten. Durch unsere Militärs gab ich zu verstehen, daß ich nicht die Absicht hätte, mich dem bayerischen Prinzen vorzustellen. Das wurde zur Kenntnis genommen. Ich verlangte getrennte Mittag- und Abendessen, indem ich mich darauf berief, daß wir uns in den Pausen beraten müßten. Auch das wurde stillschweigend angenommen. Am 7. Januar trägt Czernin in sein Tagebuch ein: „Am Vormittag sind die ganzen Russen unter Führung Trotzkis angekommen. Sie haben sofort sagen lassen, sie bitten zu entschuldigen, wenn sie nicht mehr zu den gemeinsamen Mahlzeiten erscheinen. Auch sonst sieht man sie nicht, und es scheint ein wesentlich anderer Wind zu wehen als das letzte Mal.“ Die heuchlerisch-freundschaftlichen Beziehungen wurden durch trocken offizielle ersetzt. Das war um so zeitgemäßer, als man von den akademischen Präliminarien zu konkreten Fragen des Friedensvertrages übergehen mußte.

Kühlmann war ein größerer Kopf als Czernin und vielleicht auch als die übrigen Diplomaten, mit denen zusammenzutreffen ich in den Nachkriegsjahren Gelegenheit hatte. Man merkte ihm Charakter an, einen nicht gewöhnlichen praktischen Geist und einen genügenden Vorrat an Bosheit, die sich nicht nur gegen uns äußerte – hier stieß er auf Widerstand –, sondern auch gegen seine teuren Verbündeten. Als Kühlmann bei der Beratung der Frage über die von den Truppen okkupierten Territorien sich aufrichtete und mit erhobener Stimme sagte: „Unser deutsches Territorium ist Gott sei Dank von niemand okkupiert“, sank Graf Czernin plötzlich zusammen und wurde grün und gelb. Kühlmann hatte direkt auf ihn gezielt. Ihre Beziehungen erinnerten am allerwenigsten an eine ungetrübte Freundschaft. Später, als das Gespräch auf Persien überging, das auf zwei Seiten durch ausländische Truppen besetzt war, machte ich die Bemerkung, dieses Land gäbe keinem von uns Anlaß zur frommen Schadenfreude darüber, daß Persien und nicht unser eigenes Land okkupiert sei, da es ja nicht, wie Österreich-Ungarn, mit jemand verbündet sei. Czernin sprang direkt hoch und rief: „Unerhört!“ Scheinbar bezog sich der Ausruf auf mich, in Wirklichkeit aber auf Kühlmann. Solcher Episoden gab es nicht wenige.

Wie ein guter Schachspieler, der gezwungen ist, lange Zeit mit schwachen Gegnern zu spielen, allmählich selbst nachläßt, so war auch Kühlmann, der sich während des Krieges ausschließlich im Kreise seiner österreichisch-ungarischen, türkischen, bulgarischen und neutralen diplomatischen Vasallen bewegt hatte, anfangs geneigt, seine revolutionären Gegner zu unterschätzen und das Spiel leicht zu nehmen. Er versetzte mich häufig, besonders in der ersten Zeit, in Erstaunen durch die Primitivität seiner Kunstgriffe und die Verständnislosigkeit für die Psychologie der Gegner.

Nicht ohne heftige und unangenehme Erregung ging ich zur ersten Zusammenkunft mit den Diplomaten. Im Vorzimmer bei dem Garderobenständer stieß ich mit Kühlmann zusammen. Ich kannte ihn nicht. Erstellte sich selbst vor und fügte dabei gleich hinzu, daß er „sehr froh“ sei über meine Ankunft; denn es sei besser, mit dem Herrn als mit dessen Abgesandten zu tun zu haben. Sein Mienenspiel bewies, wie zufrieden er mit diesem „feinen“, auf die Psychologie eines Parvenüs berechneten Schachzug war. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich in Schmutz getreten. Ich zuckte sogar unwillkürlich einen Schritt zurück. Kühlmann begriff seinen Fauxpas, er gab sich einen Ruck und wurde sofort trockener. Das hinderte ihn aber nicht, in meiner Gegenwart dieselbe Methode dem Haupt der türkischen Delegation, einem alten Hofdiplomaten, gegenüber anzuwenden. Als er mir seine Kollegen vorstellte, wartete Kühlmann ab, bis das Haupt der türkischen Delegation sich einen Schritt entfernt hatte, um mir vertraulich, aber offenbar darauf berechnet, daß es der andere noch höre, halblaut zuzuflüstern: „Das ist der beste Diplomat Europas.“ Als ich das Joffe erzählte, sagte er mir lachend: „Bei der ersten Begegnung mit mir hat Kühlmann genau dasselbe gemacht.“ Es sah ganz so aus, als ob Kühlmann dem „besten Diplomaten“ eine platonische Kompensation für irgendwelche unplatonische Erpressungen erteilen wollte. Es ist möglich, daß Kühlmann damit eine Nebenabsicht verfolgte, nämlich Czernin zu verstehen zu geben, er halte ihn keinesfalls für den – nach ihm, Kühlmann – besten Diplomaten. Nach den Worten Czernins hatte ihm Kühlmann am 28. Dezember gesagt: „Der Kaiser ist der einzige vernünftige Mensch in ganz Deutschland.“ Es ist anzunehmen, daß diese Worte nicht so sehr für Czernin als für den Kaiser selbst bestimmt waren. In der Wiedergabe von Lobhudeleien an eine bestimmte Adresse erwiesen die Diplomaten ohne Zweifel einander Dienste. Flattez, flattez, il en restera toujours quelque chose.

Mit diesem Kreis Menschen kam ich hier zum erstenmal von Angesicht zu Angesicht zusammen. Es ist unnötig zu sagen, daß ich mir auch früher keine Illusionen in bezug auf sie gemacht hatte. Ich vermutete längst, daß es nicht Götter sind, die die Töpfe brennen. Aber immerhin, ich gebe zu, ich hatte mir das Niveau höher vorgestellt. Den Eindruck der ersten Begegnung könnte ich mit den Worten formulieren: Diese Menschen schätzen die anderen sehr billig ein, aber auch sich selbst nicht sehr teuer.

Es ist nicht überflüssig, in diesem Zusammenhang folgende Episode zu erzählen. Auf Initiative von Victor Adler, der sich in jenen Tagen auf jede Weise bemühte, mir seine persönliche Sympathie zu bezeugen, erbot sich Graf Czernin so nebenbei, meine Bibliothek, die zu Beginn des Krieges in Wien geblieben war, nach Moskau zu schicken. Die Bibliothek hatte einen gewissen Wert, da ich in den langen Jahren der Emigration eine umfangreiche Kollektion russischer revolutionärer Literatur gesammelt hatte. Kaum daß ich Zeit gefunden, mich bei dem Diplomaten zurückhaltend zu bedanken, als er mich schon bat, meine Aufmerksamkeit zwei österreichischen Kriegsgefangenen zuzuwenden, die bei uns angeblich schlecht behandelt würden. Der direkte, und ich würde sagen, unterstrichene Übergang von der Bibliothek zu den Gefangenen – die Rede war natürlich nicht von Soldaten, sondern von Offizieren aus den Czernin nahestehenden Kreisen – erschien mir zu formlos. Ich antwortete trocken, daß ich, falls die Informationen Czernins über die Gefangenen zutreffen sollten, pflichtgemäß alles Nötige tun würde, daß aber diese Frage in keinem Zusammenhang mit meiner Bibliothek stehe. In seinen Memoiren gibt Czernin diese Episode ziemlich getreu wieder, wobei er keinesfalls bestreitet, daß er versucht habe, die Frage der Gefangenen mit der der Bibliothek zu verknüpfen; im Gegenteil, es schien ihm offenbar ganz in der Ordnung zu sein. Seine Erzählung beendet er mit dem doppelsinnigen Satz: „Die Bibliothek will er haben.“ Mir bleibt nur hinzuzufügen übrig, daß ich die Bibliothek sofort nach Empfang einer wissenschaftlichen Institution in Moskau überwies.

Historische Umstände hatten es so gefügt, daß die Delegierten des revolutionärsten Regimes, das die Menschheit je gekannt hat, an einem Tisch sitzen mußten mit den diplomatischen Vertretern der allerreaktionärsten Kaste unter allen regierenden Klassen. Wie sehr unsere Gegner die Explosivkraft der Verhandlungen mit den Bolschewiki fürchteten, beweist die Tatsache, daß sie eher bereit waren, die Verhandlungen abzubrechen, als sie in ein neutrales Land zu verlegen. In seinen Erinnerungen sagt Czernin ganz offen, daß die Bolschewiki in einem neutralen Lande mit Hilfe ihrer internationalen Freunde die Zügel unvermeidlich in ihre Hände bekommen hätten. Offiziell berief sich Czernin darauf, daß in einer neutralen Umgebung England und Frankreich sofort ihre Intrigen „offen und hinter den Kulissen“ entfalten würden. Ich antwortete ihm, daß unsere Politik überhaupt ohne Kulissen auskomme, da das russische Volk dieses Instrument der alten Diplomatie neben vielen anderen Dingen durch seinen siegreichen Aufstand vom 25. Oktober radikal abgeschafft habe. Aber wir waren gezwungen, uns dem Ultimatum zu beugen und in Brest-Litowsk zu bleiben.

Mit Ausnahme einiger Gebäude, die abseits von der alten Stadt standen und vom deutschen Stab besetzt waren, existierte Brest-Litowsk eigentlich nicht mehr. Die Stadt war von den zurückflutenden zaristischen Truppen in ohnmächtiger Wut niedergebrannt worden. Wohl gerade darum hatte Hoffmann hier seinen Stab untergebracht, um ihn leichter in der Faust halten zu können. Die Umgebung wie die Ernährung zeichneten sich durch Einfachheit aus. Die Bedienung bestand aus deutschen Soldaten. Wir waren für sie die Boten des Friedens, und sie blickten hoffnungsvoll auf uns. Um die vom Stab besetzten Gebäude war nach verschiedenen Richtungen ein hoher Zaun aus Stacheldraht gezogen. Während des Morgenspazierganges stieß ich auf solche Aufschriften: „Ein Russe, der hier angetroffen wird, wird erschossen.“ Das bezog sich auf die Gefangenen. Ich fragte mich, ob sich diese Aufschrift nicht auch auf mich beziehe – auch wir waren hier halb in Gefangenschaft –, und machte kehrt. Durch Brest ging eine vorzügliche strategische Chaussee hindurch. Wir unternahmen in den ersten Tagen Spazierfahrten in Stabsautomobilen. Ein Mitglied unserer Delegation bekam dabei einen Konflikt mit einem deutschen Unteroffizier. Hoffmann beklagte sich darüber bei mir in einem Brief. Ich antwortete ihm, daß wir fernerhin auf die Benutzung der uns zur Verfügung gestellten Automobile dankend verzichteten.

Die Verhandlungen zogen sich hin. Sowohl wir wie unsere Gegner mußten über eine direkte Leitung mit den jeweiligen Regierungen Verbindung unterhalten. Die Leitung versagte nicht selten. Ob es wirklich immer physische Ursachen hatte oder ob es nicht nur angebliche Störungen waren, hervorgerufen durch die Absicht der Gegner, Zeit zu gewinnen, konnten wir nicht nachprüfen. Die Sitzungen wurden häufig unterbrochen, manchmal auf einige Tage. Während einer solchen Unterbrechung machte ich eine Reise nach Warschau. Die Stadt lebte unter dem deutschen Bajonett Das Interesse der Bevölkerung für die Sowjetdiplomaten war sehr groß, wurde aber nur vorsichtig geäußert: niemand wußte, wie das alles enden würde.

Die Verschleppung der Verhandlungen lag auch in unserem Interesse. Zu diesem Zwecke war ich ja eigentlich nach Brest gefahren. Ich kann mir jedoch kein Verdienst in dieser Sache zuschreiben. Meine Partner halfen mir soviel sie nur konnten. „Man hat hier Zeit“, trägt Czernin melancholisch in sein Tagebuch ein. „Einmal sind die Türken nicht fertig, dann wieder die Bulgaren, dann ziehen sich die Russen zurück – und die Sitzung wird wieder verschoben oder, kaum begonnen, abgebrochen.“ Die Österreicher begannen ihrerseits die Verhandlungen hinauszuziehen, als sie auf Schwierigkeiten von seiten der ukrainischen Delegation stießen. Das hinderte selbstverständlich Kühlmann und Czernin nicht im geringsten, öffentlich ausschließlich die russische Delegation der Verschleppung zu beschuldigen, wogegen ich energisch, aber vergeblich protestierte.

Von den plumpen Komplimenten der offiziösen deutschen Presse an die Adresse der Bolschewiki – außer den illegalen Flugblättern trug damals die gesamte Presse einen offiziösen Charakter – blieb gegen Ende der Verhandlungen keine Spur mehr übrig. Die Tägliche Rundschau zum Beispiel beklagte sich nicht nur darüber, daß „Trotzki sich in Brest-Litowsk ein Katheder geschaffen hat, von dem aus seine Stimme in der ganzen WeIt ertönt“, und forderte, dem schnellstens ein Ende zu machen, sondern sie erklärte auch direkt, daß „weder Lenin noch Trotzki den Frieden wollen, der ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach den Galgen oder das Gefängnis verspricht“. Nicht viel anders war der Ton der sozialdemokratischen Presse. Die Scheidemann, Ebert und Stampfer sahen unsere Hauptschuld darin, daß wir mit der deutschen Revolution rechneten. Diese Herren waren weit von dem Gedanken entfernt, daß die Revolution sie in wenigen Monaten am Kragen packen und an die Macht stellen würde.

Nach einer langen Pause las ich mit großem Interesse in Brest wieder deutsche Zeitungen, in denen die Brester Verhandlungen einer sehr sorgfältigen und tendenziösen Bearbeitung unterworfen wurden. Aber die Zeitungen allein füllten die freie Zeit nicht aus. Ich beschloß, die aufgezwungene Muße, die, wie vorauszusehen war, nicht bald wiederkehren würde, weitestgehend auszunutzen. Mit uns waren einige gute Stenotypistinnen aus dem Büro der alten Reichsduma. Ich diktierte ihnen aus dem Gedächtnis einen geschichtlichen Umriß der Oktoberrevolution, So entstand nach einigen Diktatstunden ein ganzes Buch, das vor allem für die ausländischen Arbeiter bestimmt war. Die Notwendigkeit, ihnen das Vorgefallene zu erklären, war zu gebieterisch. Ich hatte mit Lenin nicht selten darüber gesprochen, aber keiner von uns fand einen freien Augenblick. Am wenigsten hatte ich erwartet, daß Brest für mich eine Stätte für literarische Arbeiten werden würde. Lenin war buchstäblich glücklich, als ich ein fertiges Manuskript über die Oktoberrevolution mitbrachte. Wir sahen beide in dieser Schrift ein bescheidenes Pfand der kommenden revolutionären Revanche für den schweren Frieden. Das Büchlein war bald in ein Dutzend europäischer und asiatischer Sprachen übersetzt. Obgleich alle Parteien der Komintern, beginnend mit der russischen, das Buch in unzähligen Exemplaren herausgegeben haben, hinderte das die Epigonen nicht, nach 1923 die Arbeit als ein bösartiges Produkt des Trotzkismus zu erklären. Zur Zeit steht sie auf dem Stalinschen Index. in dieser nebensächlichen Episode äußert sich eine der vielen ideologischen Vorbereitungen des Thermidors. Für dessen Sieg ist es vor allem notwendig, die Nabelschnur des Oktobererbes zu durchschneiden ...

Die Diplomaten der gegnerischen Seite fanden ebenfalls Mittel, die anhaltenden Mußestunden in Brest auszufüllen. Graf Czernin fuhr, wie wir aus seinem Tagebuch erfahren, nicht nur zur Jagd, sondern er erweiterte seinen Horizont auch durch Lektüre von Memoiren aus der Epoche der Französischen Revolution. Er verglich die Bolschewiki mit den Jakobinern und versuchte auf diesem Wege zu tröstlichen Schlußfolgerungen zu gelangen. Der habsburgische Diplomat schreibt: „Charlotte Corday hat gesagt: Nicht einen Menschen, sondern eine wilde Bestie habe ich getötet – Verschwinden werden diese Bolschewiki wieder, und wer weiß, ob sich nicht eine Corday für Trotzki finden wird.“ Ich habe in jenen Tagen die seligmachenden Meditationen des gottesfürchtigen Grafen natürlich nicht gekannt. Doch glaube ich gern an ihre Aufrichtigkeit.

Es mag auf den ersten Blick unbegreiflich erscheinen, womit eigentlich die deutsche Diplomatie rechnete, als sie am 23. Dezember ihre demokratischen Formeln verkündete, um schon nach wenigen Tagen ihren Wolfshunger zu zeigen. Die hauptsächlich auf die Initiative von Kühlmann entstandenen theoretischen Auseinandersetzungen über nationale Selbstbestimmung mußten für die deutsche Regierung zumindest riskant sein. Daß die Diplomatie der Hohenzollern auf diesem Wege sich keine besonderen Lorbeeren holen konnte, mußte ihr von vornherein klar sein. Kühlmann suchte um jeden Preis nachzuweisen, daß die Aneignung Polens, Litauens, der Ostseeprovinzen und Finnlands seitens der Deutschen nichts anderes darstelle als eine Form der „Selbstbestimmung“ dieser Völker, deren Wille zum Ausdruck komme durch „nationale“ Organe, die von den ... deutschen Okkupationsbehörden geschaffen worden waren. Das zu beweisen war nicht leicht. Aber Kühlmann streckte die Waffen nicht. Nachdrücklich befragte er mich, ob ich denn nicht bereit sei, zum Beispiel den Nizam von Haidarabad als den Träger des Volkswillens der Inder anzuerkennen? Ich antwortete ihm, daß sich zuallererst die britischen Truppen aus Indien entfernen müßten und daß dann der ehrwürdige Nizam wohl keine vierundzwanzig Stunden auf den Beinen bleiben würde. Kühlmann zuckte unhöflich mit den Schultern. General Hoffmann räusperte sich, daß es durch den ganzen Saal klang. Der Übersetzer übersetzte. Die Stenotypistinnen schrieben. Die Debatten zogen sich endlos hin.

Das Geheimnis des Verhaltens der deutschen Diplomatie bestand darin, daß Kühlmann sicherlich im voraus von unserer Bereitschaft, mit ihm vierhändig zu spielen, fest überzeugt war, Er hatte sich dabei etwa folgendes gedacht: Die Bolschewiki haben die Macht dank ihrem Kampfe um den Frieden bekommen. Sie können die Macht nur unter der Bedingung des Friedensabschlusses behalten. Zwar sind sie an die demokratischen Friedensbedingungen gebunden, aber wozu gibt es auf der Welt Diplomaten? Er, Kühlmann, wird den Bolschewiki ihre revolutionären Formeln in einer anständigen diplomatischen Übersetzung wiedergeben, die Bolschewiki werden ihm dafür die Möglichkeit bieten, auf verschleierte Art Provinzen und Völker zu erobern. Die deutsche Beute wird vor den Augen der ganzen Welt die Sanktion der russischen Revolution erhalten. Die Bolschewiki aber werden einen Frieden haben. Kühlmann war zu seinem Irrtum nicht ohne Mitwirkung unserer Liberalen, Menschewiki und Narodniki gekommen, die die Brester Verhandlungen rechtzeitig als eine Komödie mit verteilten Rollen geschildert hatten.

Nachdem wir mehr als unzweideutig unseren Brester Partnern gezeigt hatten, daß es sich für uns nicht um eine heuchlerische Verschleierung irgendwelcher Abmachungen hinter den Kulissen handele, sondern um die Prinzipien des Zusammenlebens der Völker, empfand Kühlmann, durch seine Voraussetzungen bereits gebunden, unser Verhalten fast als Bruch eines stillschweigenden Übereinkommens, das aber nur in seiner Einbildung existiert hatte. Er wollte den Boden der demokratischen Prinzipien vom 25. Dezember nicht verlassen. Vertrauend seinen nicht unbedeutenden kasuistischen Fähigkeiten, hoffte er der Welt beweisen zu können, daß Weiß sich in nichts von Schwarz unterscheidet. Graf Czernin sekundierte Kühlmann sehr plump und übernahm es im Auftrage des letzteren, in allen kritischen Momenten die schroffsten und zynischsten Erklärungen abzugeben. Damit hoffte er seine Schwäche zu verdecken. General Hoffmann dagegen brachte eine erfrischende Note in die Verhandlungen hinein. Ohne jegliche Sympathie für diplomatische List, legte der General einige Male seinen Soldatenstiefel auf den Tisch, um den herum sich die Debatten entwickelten. Wir unsererseits zweifelten keinen Augenblick daran, daß gerade der Stiefel des Generals Hoffmann die einzige ernste Realität bei diesen Verhandlungen darstellte.

Manchmal allerdings drang der General auch in rein politische Debatten ein. Aber er tat das auf seine Art. Aufgebracht über die ausgedehnten Redereien vom Selbstbestimmungsrecht der Völker erschien er eines schönen Morgens – es war am 14. Januar – mit einer Aktentasche, die vollgestopft war mit russischen Zeitungen, hauptsächlich sozial revolutionärer Richtung. Hoffmann las frei russisch. In kurzen, abgehackten Sätzen, halb zänkisch, halb kommandierend, beschuldigte der General die Bolschewiki der Unterdrückung der Presse- und Versammlungsfreiheit und der Verletzung der Prinzipien der Demokratie; wohlwollend zitierte er die Artikel der russischen terroristischen Partei, die seit dem Jahre 1902 nicht wenige russische Gesinnungsgenossen Hoffmanns ins Jenseits befördert hat. Entrüstet warf der General uns vor, daß unsere Regierung sich auf Gewalt stütze. Das klang aus seinem Munde wahrhaft großartig. Czemin trug in sein Tagebuch ein: „Hoffmann hat seine unglückliche Rede gehalten. Seit Tagen laborierte er daran und war auf den Erfolg sehr stolz.“ Ich antwortete Hoffmann, daß sich in einer Klassengesellschaft jede Regierung auf Gewalt stütze. Der Unterschied bestehe nur darin, daß General Hoffmann Repressalien zur Verteidigung der großen Besitzer anwende, wir zur Verteidigung der Werktätigen. Für einige Augenblicke verwandelte sich die Konferenz in einen marxistischen Propagandaklub für Anfänger. „Was die Regierung der anderen Länder an unseren Handlungen verblüfft und abstößt“, sagte ich, „ist die Tatsache, daß wir nicht Streikende, sondern Kapitalisten verhaften, die die Arbeiter aussperren; ist die Tatsache, daß wir Bauern, die Land fordern, nicht niederschießen, sondern die Gutsbesitzer und die Offiziere verhaften, welche den Versuch machen, die Bauern niederzuschießen.“ Hoffmanns Gesicht verfärbte sich dunkelrot. Nach jeder solchen Episode fragte Kühlmann mit schadenfroher Liebenswürdigkeit den General Hoffmann, ob er zu dem angeschnittenen Thema sich noch äußern möchte. Der General antwortete kurz: „Nein, genug!“ und schaute zornig zum Fenster hinaus. In Gesellschaft dieser Diplomaten, Generale und Admirale der Hohenzollern, Habsburger, Koburger und des Sultans bekamen die Diskussionen über die Rolle der revolutionären Gewaltanwendung ein unvergleichliches Aroma. Einige der titel- und ordensgeschmückten Herren taten während der Verhandlungen nichts anderes, als verständnislos die Augen von mir zu Kühlmann oder Czernin wandern zu lassen. Sie wollten, daß ihnen um Gottes willen jemand erkläre: Wie ist das alles zu verstehen? Hinter den Kulissen machte ihnen Kühlmann sicherlich klar, daß unser Dasein nach Wochen gezählt sei und daß man diese kurze Frist für den Abschluß eines „deutschen“ Friedens ausnutzen müsse, dessen Folgen die Erben der Bolschewiki zu tragen haben würden.

Auf dem Gebiete der prinzipiellen Debatten war meine Position um soviel vorteilhafter als die Position Kühlmanns, wie die Position des Generals Hoffmann auf dem Gebiete der militärischen Tatsachen vorteilhafter war als die meinige. Aus diesem Grunde drängte der General ungeduldig, alle Fragen auf das Gebiet des militärischen Kräfteverhältnisses zu bringen, während hingegen Kühlmann vergeblich bestrebt war, dem auf der Kriegskarte basierenden Frieden den Schein eines auf irgendwelchen edleren Prinzipien aufgebauten Friedens zu geben. Um die Bedeutung der Hoffmannschen Erklärungen abzuschwächen, sagte Kühlmann einmal, der Soldat sei gezwungen, sich kräftiger auszudrücken als der Diplomat. Ich antwortete: „Wir, Mitglieder der russischen Delegation, gehören nicht zur diplomatischen Schule, sondern wir können eher als Soldaten der Revolution gelten und zögen deshalb die grobe Sprache des Soldaten vor.“ Man muß übrigens sagen, daß die diplomatische Höflichkeit Kühlmanns eine sehr bedingte war. Die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, war ohne unsere Hilfe offensichtlich undurchführbar. Und gerade diese Hilfe fehlte. „Wir sind Revolutionäre“, erklärte ich Kühlmann, „aber auch Realpolitiker, und wir ziehen es vor, offen von Annexionen zu sprechen, als den wahren Namen durch ein Pseudonym zu ersetzen.“ Es ist darum nicht verwunderlich, daß Kühlmann mitunter die diplomatische Maske fallen ließ und wütete. Ich erinnere mich noch jetzt an die lntonation, mit der er sagte, Deutschland sei aufrichtig bereit die freundschaftlichen Beziehungen zu seinem mächtigen Ostnachbar wiederherzustellen. Das Wort „mächtige“ sprach er mit einem solchen herausfordernden Hohn aus, daß alle, selbst seine Bundesgenossen, leicht erschauerten. Czernin hatte noch dazu eine tödliche Angst vor einem Abbruch der Verhandlungen. Ich hob den Handschuh auf und erinnerte wieder an das, was ich in meiner ersten Rede gesagt hatte. „Wir haben weder die Möglichkeit noch die Absicht“, sagte ich am 10. Januar, „die Tatsache zu bestreiten, daß unser Land durch die Politik der bis vor kurzem bei uns herrschend gewesenen Klassen geschwächt ist. Aber die Weltlage eines Landes wird nicht nur durch den augenblicklichen Zustand seines technischen Apparates bestimmt, sondern auch durch die in ihm enthaltenen Möglichkeiten, ähnlich, wie die wirtschaftliche Macht Deutschlands nicht allein nach dem augenblicklichen Zustand seiner Ernährungsverhältnisse eingeschätzt werden kann. Eine weitsichtige Politik stützt sich auf die Entwicklungstendenzen, auf die inneren Kräfte, die, einmal zum Leben erweckt, ihre Macht früher oder später äußern werden.“

Nicht ganz neun Monate später, am 3. Oktober 1918, sagte ich auf der Tagung des Allrussischen Exekutivkomitees, an die Brest-Litowsker Herausforderung Kühlmanns erinnernd: „In keinem von uns ist ein Tropfen Schadenfreude darüber, daß Deutschland eine gewaltige Katastrophe durchlebt.“ Es ist unnötig, nachzuweisen, daß ein wesentlicher Teil dieser Katastrophe von der deutschen Diplomatie, sowohl von der militärischen wie von der zivilen, in Brest-Litowsk vorbereitet wurde.

Je präziser wir unsere Fragen formulierten, um so größer wurde das Übergewicht Hoffmanns über Kühlmann. Sie hatten bereits aufgehört, ihren Antagonismus zu verbergen, besonders der General. Als ich in meiner Antwort auf seine üble Attacke, ohne Hintergedanken, die deutsche Regierung erwähnte, unterbrach mich Hoffmann mit vor Wut heiserer Stimme: „Ich vertrete hier nicht die deutsche Regierung, sondern das deutsche Oberkommando.“ Das klang wie das Klirren von zerbrechendem Glas. Ich ließ die Augen über meine Partner auf der anderen Seite des Tisches wandern. Kühlmann saß mit einem entstellten Gesicht da und schaute unter den Tisch. Auf Czernins Gesicht kämpfte Verlegenheit mit Schadenfreude. Ich antwortete, daß ich mich nicht für berufen halte, die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Regierung des Deutschen Reiches und seinem Oberkommando zu beurteilen, daß ich aber nur bevollmächtigt sei, mit der Regierung Verhandlungen zu führen. Mit Zähneknirschen nahm Kühlmann meine Erklärung auf und schloß sich ihr an.

Es wäre selbstverständlich naiv gewesen, die Tiefe der Meinungsverschiedenheiten zwischen Diplomatie und Kommando zu überschätzen. Kühlmann versuchte zu beweisen, daß die besetzten Gebiete durch ihre bevollmächtigten Nationalorgane ihre „Selbstbestimmung“ bereits zugunsten Deutschlands getroffen hätten. Hoffmann seinerseits erklärte, daß es in den besetzten Gebieten an bevollmächtigten Organen fehle, so könne keine Rede von der Zurückziehung der deutschen Truppen sein. Die Argumente waren diametral entgegengesetzter Natur, die praktische Schlußfolgerung jedoch die gleiche. Im Zusammenhang mit dieser Frage ließ sich Kühlmann auf einen Kniff ein, der im ersten Augenblick unwahrscheinlich anmuten mag. In der durch v. Rosenberg auf eine Reihe von uns aufgestellter Fragen schriftlich gegebenen Antwort war gesagt worden, daß die deutschen Truppen bis zur Beendigung des Krieges an der Westfront aus den besetzten Gebieten nicht zurückgezogen werden könnten. Daraus zog ich den Schluß, daß sie nach Beendigung des Krieges zurückgezogen werden würden, und verlangte eine Präzisierung der Frist. Kühlmann geriet in einen furchtbar erregten Zustand. Er hatte wohl mit der einschläfernden Wirkung seiner Formel gerechnet; mit anderen Worten, er wollte die Annexion mit Hilfe eines ... Wortspiels verschleiern. Als das mißlang, erklärte er unter Hoffmanns Mitwirkung, die Truppen würden weder vor noch nach der Beendigung des Krieges entfernt werden.

Ohne Hoffnung auf Erfolg machte ich Ende Januar den Versuch, die Zustimmung der österreichisch-ungarischen Regierung zu einer Reise nach Wien zu erhalten, um dort mit den Vertretern des österreichischen Proletariats zu verhandeln. Den größten Schreck bei dem Gedanken an eine solche Reise bekam, wie angenommen werden kann, die österreichische Sozialdemokratie. Es wurde mir selbstverständlich ein ablehnender Bescheid erteilt, der, so unwahrscheinlich das klingt, damit begründet war, daß ich keine Vollmachten für derartige Verhandlungen besäße. Ich antwortete Czernin mit folgendem Brief:

„Herr Minister! In der Anlage übersende ich Ihnen die Kopie des Schreibens des Herrn Legationsrates Graf Czakki vom 26. d.Mts., das wohl eine Antwort auf Ihr Telegramm vom 24. d.Mts. ist, und teile Ihnen hierdurch mit, daß ich die in dem Schreiben enthaltene Ablehnung meines Gesuchs um eine Einreiseerlaubnis nach Wien zum Zwecke der Verhandlung mit den Vertretern des österreichischen Proletariats im Interesse der Erreichung eines demokratischen Friedens zur Kenntnis genommen habe. Ich bin gezwungen, festzustellen, daß hinter den Erwägungen formalen Charakters, in dieser Antwort sich das Bestreben verbirgt, direkte Verhandlungen zwischen den Vertretern der Arbeiter- und Bauernregierung Rußlands und dem Proletariat Österreichs zu verhindern. Was die im Schreiben enthaltene Begründung betrifft, daß mir für solche Verhandlungen die nötigen Vollmachten fehlten – ein sowohl der Form wie dem Inhalt nach unzulässiger Hinweis –, so möchte ich Sie, Herr Minister, auf die Tatsache aufmerksam machen, daß Recht, Umfang und Charakter meiner Vollmachten zu bestimmen ausschließlich meiner Regierung zusteht.“

In der letzten Periode der Verhandlungen war der Haupttrumpf in den Händen Kühlmanns und Czernins das selbständige und feindselige Auftreten der Kiewer Rada Moskau gegenüber. Ihre Führer spielten eine ukrainische Abart der Kerenskiade. Sie unterschieden sich nur wenig von ihrem großrussischen Vorbild. Vielleicht nur dadurch, daß sie noch provinzlerischer waren. Die Brester Delegierten der Rada waren von Natur aus dafür geschaffen, von einem x-beliebigen kapitalistischen Diplomaten an der Nase herumgeführt zu werden. Nicht nur Kühlmann, auch Czernin tat es mit herablassender Verachtung. Die demokratischen Einfaltspinsel fühlten den Boden unter ihren Füßen nicht mehr, als sie merkten, wie die soliden Firmen des Hohenzollern und des Habsburgers sie ernst nahmen. Sooft das Haupt der ukrainischen Delegation, Golubowitsch, seine Repliken von sich gegeben hatte und, die Schöße seines schwarzen Gehrockes sorgfältigst auseinandernehmend, sich auf den Stuhl niedersetzte, entstand die Befürchtung, er könnte vor kochender Begeisterung auf seinem Sitze zerschmelzen.

Czernin hatte die Ukrainer – wie er selbst in seinem Tagebuch erzählt – ermuntert, mit einer offen feindlichen Erklärung gegen die Sowjetdelegation aufzutreten. Die Ukrainer übertrieben es. Während einer Viertelstunde häufte ihr Redner Grobheiten und Frechheiten und brachte den gewissenhaften deutschen Übersetzer in Verlegenheit, dem es nicht leicht fiel, nach dieser Stimmgabel den Ton zu finden. Diese Szene schildernd, erzählt der habsburgische Graf von meiner Verwirrtheit, Blässe, von meinem Krampf, von den Tropfen kalten Schweißes auf meiner Stirn. Streicht man die Übertreibungen ab, so muß man doch zugeben, daß diese Szene wirklich eine der unerträglichsten war. Das Peinliche bestand jedoch gar nicht darin, wie Czernin glaubt, daß die Landsleute uns in Gegenwart der Ausländer beschimpften. Nein, unerträglich war die besessene Selbsterniedrigung der Männer, die immerhin Vertreter der Revolution waren, vor den sie verachtenden Aristokraten. Eine tiradenhafte Niedrigkeit, vor Begeisterung überschäumendes Lakaientum quollen wie eine Fontäne aus diesen unglückseligen Nationaldemokraten, die sich für einen Augenblick an die Macht gerückt fühlten. Kühlmann, Czernin, Hoffmann und die anderen atmeten gierig, wie Spieler beim Pferderennen, die auf das richtige Pferd gesetzt haben. Nach jedem Satz auf seine Gönner blickend und bei ihnen Ermunterung suchend, las der ukrainische Delegierte von seinem Papier all jene Beschimpfungen ab, welche seine Delegation in einer Kollektivarbeit von achtundvierzig Stunden vorbereitet hatte. Ja, das war eine der widerlichsten Szenen, die ich je erlebte. Aber unter dem Kreuzfeuer von Beleidigungen und schadenfrohen Blicken hatte ich keinen Augenblick daran gezweifelt, daß die diensteifrigen Lakaien bald vor die Tür gesetzt werden würden von den triumphierenden Herren, die ihrerseits den seit Jahrhunderten angestammten Platz bald würden räumen müssen.

Zur gleichen Zeit bewegten sich die revolutionären Sowjettruppen erfolgreich durch die Ukraine und bahnten sich den Weg zum Dnjepr. Und just an dem Tage, als das Geschwür ganz reif geworden war und es klar wurde, daß die ukrainischen Delegierten sich mit Kühlmann und Czernin über das Verschachern der Ukraine geeinigt hatten, besetzten die Sowjettruppen Kiew. Auf die von Radek über die direkte Leitung gestellte Frage nach der Situation in der ukrainischen Hauptstadt antwortete von einer Zwischenstation aus der deutsche Telegraphist, ohne sich im klaren zu sein, mit wem er sprach: „Kiew ist tot.“ Am 7. Februar teilte ich den Delegationen der Zentralmächte das Radiotelegramm Lenins mit, daß die Sowjettruppen am 29. Januar in Kiew eingerückt seien; daß die von allen verlassene Regierung der Rada sich versteckt halte; daß das Zentralexekutivkomitee der Ukrainischen Sowjets sich als die höchste Macht im Lande proklamiert habe und nach Kiew übergesiedelt sei; daß die ukrainische Regierung die föderative Verbindung und die völlige Einheit mit Rußland auf dem Gebiete der Innen- und der Außenpolitik beschlossen habe. In der nächsten Sitzung sagte ich zu Kühlmann und Czernin, daß sie mit der Delegation einer Regierung verhandeln, deren gesamtes Territorium sich auf die Grenzen von Brest-Litowsk beschränke (nach dem Vertrag sollte diese Stadt an die Ukraine abgetreten werden). Aber die deutsche Regierung oder richtiger, das deutsche Oberkommando hatte zu dieser Zeit bereits beschlossen, die Ukraine mit deutschen Truppen zu besetzen. Die Diplomatie der Mittelmächte hatte ja nur einen Passierschein für diese Truppen besorgen sollen. Ludendorff arbeitete trefflich an der Vorbereitung der Agonie der hohenzollerischen Armee.

In jenen Tagen saß in einem deutschen Gefängnis ein Mann, den die Politiker der Sozialdemokratie des wahnsinnigen Utopismus und die Richter des Hohenzollern des Landesverrats beschuldigten. Dieser Zuchthäusler schrieb:

„Das Fazit von Brest ist nicht Null, selbst wenn es jetzt zu einem brutalen Unterwerfungsfrieden kommt. Durch die russischen Delegierten wurde Brest zur weithin vernehmbaren revolutionären Tribüne. Es brachte die Entlarvung der Mittelmächte, die Entlarvung der deutschen Raubgier, Verlogenheit, Hinterlist und Heuchelei Es hat ein vernichtendes Verdikt über die deutsche ‚Mehrheits‘-Friedenspolitik gefällt, die nicht sowohl scheinheilig als vielmehr zynisch ist. Es hat in verschiedenen Ländern bedeutsame Massenbewegungen zu entfesseln vermocht. Und sein tragischer Schlußakt – die Intervention gegen die Revolution hat jede sozialistische Fiber aufgewühlt Es wird sich zeigen, welche Ernte den heutigen Triumphatoren aus dieser Saat reifen wird. Sie sollen ihrer nicht froh werden.“ (Karl Liebknecht, Politische Aufzeichnungen aus seinem Nachlaß, Verlag Die Aktion, 1921, S.51.)


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008