Leo Trotzki

 

Mein Leben


Die Verteidigung Petrograds

An den revolutionären Fronten der Sowjetrepublik standen sechzehn Armeen. Die große Französische Revolution kannte fast ebenso viel: vierzehn. Jede der sechzehn Sowjetarmeen hat ihre kurze, aber bewegte Geschichte. Es genügt, die Nummer der Armee zu nennen, um Dutzende von nicht wiederkehrenden Episoden im Gedächtnis hervorzurufen. Jede Armee hatte ihr eigenes lebendiges, für sie typisches, wenn auch wechselndes Gesicht.

Auf den westlichen Zugängen zu Petrograd stand die 7. Armee. Die lange Tatenlosigkeit lastete schwer auf ihr. Ihre Wachsamkeit erlahmte. Die besten Arbeiter und einzelne Kommandos wurden aus der Armee für andere, belebtere Frontabschnitte herangezogen. Für eine revolutionäre Armee, die von Enthusiasmus erfüllt sein muß, endet das lange Verharren auf einer Stelle fast immer mit Mißerfolgen, manchmal auch mit einer Katastrophe. So war es auch diesmal.

Im. Juni 1919 wurde das wichtige, am Finnischen Meerbusen liegende Fort Kraßnaja Gorka durch eine Abteilung der Weißgardisten besetzt. Nach einigen Tagen war das Fort durch eine Abteilung roter Matrosen zurückerobert. Es wurde nachgewiesen, daß der Chef des Stabes der 7. Armee, Oberst Lindquist, alle Nachrichten aus erster Hand an die Weißen weitergegeben hatte. Mit ihm im Bunde waren auch andere Verschwörer. Das hatte die Armee erschüttert.

Im Juli wurde der General Judenitsch, den Koltschak als seinen Vertreter anerkannte, zum Oberbefehlshaber der Nordwestarmee der Weißen ernannt. Mit Unterstützung Englands und Estlands entstand im August die russische „Nordwest“-Regierung. Die englische Flotte im Finnischen Meerbusen versprach Judenitsch Unterstützung.

Der Angriff Judenitschs war einem Moment angepaßt, wo wir ohnehin mit tödlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Denikin hatte Orel eingenommen und bedrohte Tula, das Zentrum der Kriegsindustrie. Von dort öffnete sich ein kurzer Weg nach Moskau. Der Süden nahm unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Der erste kräftige Schlag vom Westen her hatte die 7. Armee völlig aus dem Gleichgewicht geschleudert. Sie begann zurückzugehen, fast ohne Widerstand zu leisten, und ließ Waffen und Train im Stich. Die Petrograder Leiter, vor allem Sinowjew, machten Lenin von der in jeder Hinsicht vortrefflichen Bewaffnung des Gegners Mitteilung: Maschinengewehre, Tanks, Flugzeuge, englische Panzerschiffe in der Flanke und anderes. Lenin kam zu der Schlußfolgerung, daß wir nur um den Preis der Entblößung und Schwächung der anderen Fronten, vor allem der Südfront, gegen die aus Offizieren bestehende Judenitsch-Armee, die nach dem letzten Wort der Technik ausgerüstet war, erfolgreich ankämpfen könnten. Davon aber durfte keine Rede sein. Es blieb seiner Meinung nach nur das eine übrig: Petrograd preiszugeben und die Front aufzurollen. Nachdem er zu der Überzeugung von der Notwendigkeit dieser schweren Amputation gekommen war, bemühte sich Lenin, die anderen für sich zu gewinnen.

Als ich vom Süden nach Moskau kam, widersetzte ich mich energisch diesem Plan. Judenitsch und seine Herren würden sich mit Petrograd allein nicht begnügen: sie haben den Wunsch, sich mit Denikin in Moskau zu treffen. In Petrograd würde Judenitsch riesige Industrievorräte und Menschenmaterial vorfinden. Außerdem gäbe es dann zwischen Petrograd und Moskau keine ernsten Hindernisse mehr. Das brachte mich zu dem Entschluß: Petrograd um jeden Preis zu verteidigen. Ich fand natürlicherweise vor allem bei den Petrogradern Unterstützung. Krestinski, der damals Mitglied des Politbüros war, stellte sich auf meine Seite. Auch Stalin, glaube ich, hatte sich mir angeschlossen. Während vierundzwanzig Stunden attackierte ich Lenin mehrere Male. Schließlich sagte er: „Nun gut, wir wollen es versuchen.“ Am 15. Oktober nahm das Politbüro meine Resolution über die Lage an den Fronten an: „In Anerkennung des Bestehens einer ernsten Kriegsgefahr ist die tatsächliche Verwandlung Sowjetrußlands in ein Kriegslager durchzuführen. In den Partei- und Gewerkschaftsorganisationen ist eine Kopfzählung der Partei- und Gewerkschaftsmitglieder und der Sowjetarbeiter auf ihre Kriegsdiensttauglichkeit hin vorzunehmen.“ Es folgte die Aufzählung einer Reihe von praktischen Maßnahmen. Hinsichtlich Petrograds: „nicht aufgeben“. Am selben Tage brachte ich im Sowjet der Verteidigung ein Projekt zur Annahme: „Petrograd bis zum letzten Blutstropfen verteidigen, keinen Fuß breit Boden preisgeben, den Kampf in den Straßen der Stadt führen.“ Ich zweifelte nicht daran, daß die Weiße Armee von 25.000 Kämpfern, selbst wenn es ihr gelingen sollte, in die Millionenstadt einzudringen, zum Untergang verurteilt wäre, wenn sie auf einen energischen und richtig organisierten Widerstand in den Straßen stoßen würde. Gleichzeitig hielt ich es für notwendig, besonders für den Fall eines Angriffs seitens Estlands und Finnlands, einen Plan für den Rückzug der Armee und der Arbeiter in südöstlicher Richtung vorzubereiten: das war die einzige Möglichkeit, die Blüte der PetrograderArbeiterschaft vor völliger Vernichtung zu retten.

Am 16. fuhr ich aus Petrograd ab. Am nächsten Tag erhielt ich einen Brief von Lenin: „17. Oktober 1919. Dem Genossen Trotzki. Gestern nacht schickten wir Ihnen unter Chiffre ... den Beschluß des Sowjets der Verteidigung. Wie Sie sehen, ist Ihr Plan angenommen. Auch der Rückzug der Petersburger Arbeiter nach dem Süden ist natürlich nicht abgelehnt worden (man sagt, Sie sollen ihn Krassin und Rykow entwickelt haben); vorzeitig davon zu sprechen, hieße, die Aufmerksamkeit abzulenken vom Kampfe bis ans Ende. Der Versuch, Petrograd zu umzingeln und abzuschneiden, wird natürlich entsprechende Veränderungen notwendig machen, die Sie an Ort und Stelle durchführen werden... Ich lege den Aufruf bei, mit dem ich vom Sowjet der Verteidigung beauftragt wurde. Ich eilte – ist schlechtgeworden, setzen Sie meine Unterschrift lieber unter Ihren Aufruf. Gruß Lenin.“

Dieser Brief, scheint mir, zeigt zu Genüge, wie meine schärfsten episodischen Meinungsverschiedenheiten mit Lenin, die bei einer Arbeit von solchem Maßstabe unvermeidlich blieben, in der Praxis überwunden wurden, ohne auf unseren persönlichen Beziehungen und auf der gemeinsamen Arbeit eine Spur zu hinterlassen. Es kommt mir jetzt in den Sinn: wenn im Oktober 1919 nicht Lenin gegen mich, sondern ich gegen Lenin den Gedanken der Preisgabe Petrograds verteidigt hätte, würde heute in allen Sprachen der Welt eine umfangreiche Literatur existieren zur Entlarvung gefährlichen Äußerung des „Trotzkismus“.

Im Laufe des Jahres 1918 zwang uns die Entente den Bürgerkrieg auf, angeblich im Interesse des Sieges über Wilhelm. Nun war jetzt das Jahr 1919. Deutschland war längst geschlagen. Die Entente aber fuhr fort, Millionen zu verpulvern, um Tod, Hunger, Epidemien im Lande der Revolution zu säen. Judenitsch war einer der Kondottiere im Solde Englands und Frankreichs. Den Rücken Judenitschs stützte Estland, seine linke Flanke deckte Finnland. Die Entente forderte, daß diese beiden durch die Revolution befreiten Länder helfen sollten, die Revolution hinzuschlachten. In Helsingfors und in Reval wurden endlose Verhandlungen geführt, die Waagschalen schwankten hin und her. Besorgt beobachteten wir die zwei kleinen Staaten, die eine feindliche Zange um den Kopf von Petrograd gebildet hatten.

Am 1. September schrieb ich als Warnung in der Prawda: „Unter den Divisionen, die wir jetzt an die Petrograder Front werfen, wird die baschkirische Reiterei nicht den letzten Platz einnehmen, und im Falle eines Attentatsversuchs des bürgerlichen Finnland auf Petrograd werden die roten Baschkiren unter der Parole: Nach Helsingfors in Aktion treten.“

Die baschkirische Kavalleriedivision war erst vor kurzem gebildet worden. Ich hatte von Anfang an den Plan, sie für einige Monate nach Petrograd zu dirigieren, um den Steppensöhnen die Möglichkeit zu geben, eine Weile in der Kulturumgebung der Stadt zu leben, sich den Arbeitern anzunähern, Klubs, Meetings, Theater zu besuchen. Jetzt gesellte sich dem eine neue, unaufschiebbare Erwägung: die finnländische Bourgeoisie mit dem Gespenst des Baschkiren-Überfalls einzuschüchtern.

Unsere Warnungen fielen jedoch weniger ins Gewicht als die schnellen Erfolge Judenitschs. Am 13. Oktober nahm er Luga, am 16. Kraßnoje Selo und Gatschina ein und richtete seinen Schlag gegen Petrograd und die Eisenbahnverbindung Petrograd-Moskau. Am zehnten Tage des Angriffs war Judenitsch bereits in Zarskoje (Detskoje). Seine Kavalleriepatrouillen erblickten von den Höhen die goldene Kuppel der Isaak-Kathedrale.

Den Ereignissen vorauseilend, berichtete der finnländische Radiotelegraph von der Einnahme Petrograds durch die Abteilungen Judenitschs. Die Gesandten der Entente in Helsingfors teilten es ihren Regierungen offiziell mit. In Europa und in der ganzen Welt verbreitete sich die Kunde, das rote Petrograd sei gefallen. Eine schwedische Zeitung schrieb über die „Weltwoche des Petrograder Fiebers“.

Am meisten beunruhigt waren die regierenden Kreise Finnlands. Jetzt sprachen sich nicht nur die Militärs, sondern auch die Regierung für eine Einmischung aus. Keiner wollte der Beute fernbleiben. Die finnländische Sozialdemokratie versprach selbstverständlich „Neutralität“ zu wahren. „Die Interventionsfrage“, schreibt ein weißer Geschichtsschreiber, „wurde nunmehr nur noch vom finanziellen Gesichtspunkte aus debattiert.“ Es galt nun, für die Garantie von fünfzig Millionen Franken eine geeignete Form zu finden: es war der Blutpreis für Petrograd an der Börse der Entente.

Nicht weniger brennend stand die Frage mit Estland. Am 17. Oktober schrieb ich an Lenin: „Bleibt Petrograd erhalten, was ich stark hoffe, dann werden wir die Möglichkeit haben, Judenitsch völlig zu liquidieren. Eine Schwierigkeit wird mit der Rechtsfrage über Judenitschs Zuflucht in Estland auftauchen. Es ist nötig, daß Estland seine Grenzen gegen Judenitschs Eindringen schützt. Anderenfalls müssen wir das Recht behalten, ihm nach Estland auf den Fersen zu folgen.“ Dieses Ultimatum fand Annahme, nachdem unsere Truppen Judenitsch in die Flucht getrieben hatten. Doch gelang es nicht so ohne weiteres, ihn in die Flucht zu treiben.

In Petrograd fand ich eine schreckliche Verwirrung vor. Alles war in Auflösung. Die Truppen gingen zurück, zerbröckelten in Stücke. Der Kommandobestand schaute auf die Kommunisten, die Kommunisten auf Sinowjew. Das Zentrum der Verwirrung war Sinowjew. Swerdlow sagte mir: „Sinowjew, das ist die Panik.“ Swerdlow aber war Menschenkenner. Und in der Tat: in ruhigen Zeiten, wenn es nach Lenins Ausdruck „nichts zu fürchten gibt“, klettert Sinowjew sehr leicht in den siebenten Himmel. Stehen aber die Dinge schlecht, dann legt sich Sinowjew – nicht als Metapher gedacht, sondern im buchstäblichen Sinne des Wortes – aufs Sofa und seufzt. Seit dem Jahre 1917 konnte ich mich oft überzeugen, daß Sinowjew keine mittleren Stimmungen kennt: entweder der siebente Himmel oder das Sofa. Diesmal fand ich ihn auf dem Sofa. Um ihn herum waren zwar auch mutige Menschen, wie Laschewitsch. Doch auch sie ließen die Hände hängen. Das fühlten alle, und das äußerte sich in allem. Durch das Telephon im Smolny bestellte ich aus der Militärgarage ein Automobil. Der Wagen kam nicht rechtzeitig. Aus der Stimme des Aufsehers fühlte ich, daß Apathie, Verzagtheit und Kleinmut auch die unteren Schichten des administrativen Apparats erfaßt hatten. Es waren außerordentliche Maßnahmen nötig, denn der Feind stand vor den Toren. Wie stets in solchen Fällen, stützte ich mich auf die Truppenkolonne meines Zuges. Auf diese Menschen konnte man sich in den schwierigsten Situationen verlassen. Sie kontrollierten, übten einen Druck aus, stellten Verbindungen her, ersetzten die Untauglichen, stopften die Lücken aus. Von dem offiziellen Apparat, der jegliches Gesicht verloren hatte, stieg ich zwei, drei Stufen tiefer hinab: zu den Bezirksorganisationen der Partei, zu den Werkstätten, Fabriken, Kasernen. In Erwartung der Übergabe der Stadt an die Weißen hatte niemand den Mut, sich besonders hervorzutun. Sobald man aber unten von dem Gefühl erfaßt wurde, Petrograd werde nicht preisgegeben, sondern, wenn es dazu kommen sollte, in den Straßen und auf den Plätzen verteidigt werden, schlug die Stimmung jäh um. Die Kühneren und Aufopferungsfähigen erhoben die Häupter. Abteilungen aus Männern und Frauen verließen mit Sappeurinstrumenten die Fabriken und Werkstätten. Schlecht sahen damals die Arbeiter Petrograds aus: von mangelhafter Ernährung die Gesichter grau wie die Erde, in Fetzen abgetragener Kleidung, durchlöcherte Schuhe an den Füßen, nicht selten aus verschiedenen Paaren. „Werden wir Petrograd nicht preisgeben, Genossen?“ „Nicht preisgeben!“ Besondere Leidenschaft brannte in den Augen der Frauen. Mütter, Ehefrauen, Töchter wollten die unfreundlichen, aber angewärmten Nester nicht verlassen. „Wir werden die Stadt nicht preisgeben“ klangen die hohen Frauenstimmen, und die Hände umkrallten den Spaten wie ein Gewehr, Nicht wenige Frauen wußten die Schußwaffe zu handhaben, nicht wenige stellten sich an die Maschinengewehre. Die ganze Stadt wurde in Bezirke eingeteilt, unter Leitung von Arbeiterstäben. Um die wichtigsten Punkte zog man Stacheldraht. Es wurde eine Reihe Stellungen für die Artillerie ausgewählt und die Schußziele wurden vorher bestimmt. Auf den Plätzen und an den wichtigsten Straßenkreuzungen standen an die sechzig Geschütze unter Deckung. Die Kanäle, Gärten, Mauern, Wände und Häuser wurden befestigt. An der Stadtperipherie und die Newa entlang wurden Schützengräben ausgeworfen. Der ganze südliche Stadtteil verwandelte sich in eine Festung. In vielen Straßen und auf Plätzen erstanden Barrikaden. Aus den Arbeitervierteln wehte ein neuer Geist in die Kasernen, in die Etappe, in die Armee an der Front.

Judenitsch hielt bereits zehn bis fünfzehn Werst vor Petrograd. Daß waren dieselben Höhen von Pulkowo, wohin ich vor zwei Jahren gereist war, als die siegreiche proletarische Revolution ihr Leben gegen die Abteilungen Kerenskis und Krassnows verteidigte. Das Schicksal Petrograds hing jetzt wieder an einem Haar. Man mußte den Automatismus des Rückzugs brechen, sofort und um jeden Preis.

Am 18. Oktober erließ ich einen Befehl, in welchem ich forderte: „Keine falschen Nachrichten zu veröffentlichen über erbitterte Kämpfe, wo nur erbitterte Panik herrscht. Falsche Meldungen werden wie Verrat bestraft. Der Krieg läßt Irrtümer zu, aber nicht Lügen, Täuschung und Selbstbetrug.“ Wie immer in schwierigen Augenblicken, hielt ich es für notwendig, zuallererst der Armee und dem Lande die grausame Wahrheit zu enthüllen. Ich teilte der Öffentlichkeit den sinnlosen Rückzug mit der am gleichen Tage erfolgt war. „Die Kompanie eines Schützenregiments ist in Aufregung geraten über eine feindliche Kette an ihrer Flanke. Der Regimentskommandeur hat den Befehl zum Rückzug erteilt. Fluchtartig ist das Regiment acht bis zehn Werst zurückgegangen, bis nach Alexandrowka. Die Nachprüfung hat ergeben, daß sich an der Flanke eine unserer eigenen Abteilungen befunden hat... Das zurückflutende Regiment hat sich jedoch als gar nicht so schlecht gezeigt. Sobald man ihm das Vertrauen zu sich selbst zurückgegeben hatte, ist es unverzüglich umgeschwenkt und hat, bald im Eilschritt, bald im Marsch, trotz der kalten Witterung schweißbedeckt, acht Werst in einer Stunde gemacht, den an Zahl schwachen Gegner hinausgeworfen und unter kleinen Verlusten seine alten Stellungen wieder eingenommen.“

In dieser kleinen Episode habe ich zum ersten und einzigen Male in meinem Leben die Rolle des Regimentskommandeurs gespielt. Als die rückflutenden Ketten den Divisionsstab in Alexandrowka dicht bedrängten, bestieg ich das erste Pferd, das ich fand, und wendete die Reihen um. Im ersten Augenblick entstand eine Verwirrung; nicht alle begriffen, um was es sich handelte, vereinzelte setzten den Rückzug fort. Aber zu Pferde holte ich sie Mann für Mann zurück. Jetzt erst bemerkte ich, daß hinter mir her meine Ordonnanz Koslow jagte, ein früherer Soldat, ein Bauer aus der Nähe von Moskau. Er war wie in einem Rausch. Mit einem Revolver in der Hand herumfuchtelnd, lief er die Reihen entlang und schrie aus allen Leibeskräften: „Keine Angst, Kinder, der Genosse Trotzki führt euch...“ Jetzt nahm der Angriff das gleiche Tempo wie früher der Rückzug. Kein einziger Rotarmist blieb hinten. Etwa in zwei Werst Entfernung ertönte ein süßliches, ekliges Pfeifen der Kugeln. Die ersten Verwundeten fielen. Der Regimentskommandeur war nicht wiederzuerkennen. Er zeigte sich an den gefährdetsten Abschnitten, und als das Regiment die verlassenen Positionen zurückgenommen hatte, war der Kommandeur an beiden Beinen verwundet. Ich kehrte mit einem Lastauto zum Stab zurück. Unterwegs lasen wir die Verwundeten auf. Der Antrieb war gegeben. Ich fühlte mit meinem ganzen Sein, daß wir Petrograd halten würden.

Es ist wohl notwendig, hier bei einer Frage zu verweilen, die sich dem Leser vielleicht oft aufdrängte: Hat ein Mensch, der eine Armee in ihrer Gesamtheit leitet, das Recht, sich bei Einzelkämpfen einer persönlichen Gefahr auszusetzen? Ich kann darauf nur erwidern: Absolut gültige Verhaltungsmaßregeln gibt es nicht, weder im Frieden noch im Kriege. Offiziere, die mich auf meinen Reisen an die Front begleiteten, pflegten mir häufig zu sagen: „Solche Stellen haben die Divisionskommandeure der alten Zeit niemals erblickt.“ Die bürgerlichen Journalisten sagten mir nach, es sei von mir „Jagd nach Reklame“; damit übersetzten sie das, was über ihren Horizont ging, in die ihnen verwandte Sprache.

In Wirklichkeit verlangte die Rote Armee, sowohl was die Zusammensetzung ihres Personalbestandes wie was den Charakter des Bürgerkrieges überhaupt betraf, gerade dieses und kein anderes Verhalten. Mußte doch alles neu geschaffen werden: Disziplin, Kampfgepflogenheiten und militärische Autorität. So wie wir, besonders in der ersten Periode, nicht in der Lage waren, die Truppen planmäßig von einem Zentrum aus mit allem Nötigen zu versorgen, so konnten wir uns auch nicht darauf beschränken, die im Feuer schnell zusammengestellte Armee durch Zirkulare und halbanonyme Aufrufe zu revolutionärer Begeisterung anzufeuern. Man mußte sich bei den Soldaten vorerst jene Autorität erobern, die morgen in ihren Augen die strengen Forderungen seitens der obersten Armeeleitung rechtfertigen konnte. Wo die Tradition fehlte, war das grelle Beispiel nötig. Das persönliche Risiko blieb der notwendige Einsatz auf dem Wege zum Sieg ...

Der Kommandobestand, der in Mißerfolge hineingeraten war, mußte umbesetzt, aufgefrischt, erneuert werden. Noch größere Veränderungen wurden in der Zusammensetzung der Kommissare vorgenommen. Alle Abteilungen wurden durch Kommunisten verstärkt. Es trafen auch einzelne frische Truppenteile ein. In die vordersten Positionen wurden die Kriegsschulen geworfen. In zwei, drei Tagen gelang es, den niedergebrochenen Versorgungsapparat der Armee wieder straffer zu ziehen. Der Rotarmist hatte nun kräftigere Kost, wechselte seine Wäsche, zog neues Schuhzeug an, hörte eine Rede, reckte sich, richtete sich auf und – wurde ein anderer Mensch.

Der 21. Oktober war der entscheidende Tag. Unsere Truppen zogen sich auf die Höhen von Pulkowo zurück. Ein weiterer Rückzug hätte bedeutet, den Kampf innerhalb der Stadtmauern weiterzuführen. Bis zu diesem Tage hatten die Weißen angegriffen, ohne auf eine bedeutendere Gegenwehr zu stoßen. Am 21. befestigte sich unsere Armee auf der Linie Pulkowo und leistete Widerstand. Der Angriff des Feindes kam zum Stehen. Am 22. ging die Rote Armee selbst zum Angriff über. Judenitsch hatte aber Zeit, Reserven, heranzuziehen und seine Reihen dichter zu gestalten. Die Kämpfe nahmen einen erbitterten Charakter an. Gegen Abend des 23. nahmen wir Detskoje Selo und Pawlowsk ein. Zur gleichen Zeit bedrängte die benachbarte 15. Armee den Feind vom Süden her, immer mehr den Rücken und die rechte Flanke des Feindes bedrohend. Eine Wendung trat ein. Die Abteilungen, die der Angriff überrascht und die eine Kette von Mißerfolgen erbittert hatte, wetteiferten nun in Selbstaufopferung und Heroismus. Es gab viele Opfer. Das weiße Kommando behauptete, daß auf unserer Seite die größeren Verluste wären. Das war möglich: die Weißen hatten mehr Erfahrung und Waffen. Auf unserer Seite war ein Übergewicht an Selbstaufopferung. Die jungen Arbeiter und Bauern, die Moskauer und Petersburger Kriegsschüler schonten sich nicht. Sie griffen unter Maschinengewehrfeuer an, stürzten sich mit Revolvern in den Händen auf die Tanks. Der Stab der Weißen schrieb über den „heroischen Wahnsinn“ der Roten.

In den vorangegangenen Tagen gab es fast keine Gefangenen; weiße Überläufer waren vereinzelt. Jetzt wuchs die Zahl der Überläufer und der Gefangenen plötzlich an. Der Erbitterung der Kämpfe Rechnung tragend, erließ ich am 24. Oktober einen Befehl: „Wehe dem unwürdigen Soldaten, der die Waffe gegen den unbewaffneten Gefangenen oder Überläufer erhebt!“

Wir griffen an. Weder die Esten noch die Finnländer dachten mehr an Einmischung. Die geschlagenen Weißen zogen sich während vierzehn Tagen in völliger Auflösung zur estländischen Grenze zurück Die estländische Regierung nahm die Entwaffnung vor. Weder in London noch in Paris dachte jetzt jemand an die weißen Söldner. Vor Hunger und Kälte kam um, was gestern die „Nordwestarmee“ der Entente gewesen war. In Lazarettbaracken wurden 14.000 Typhuskranke untergebracht. So endete die „Weltwoche des Petrograder Fiebers“.

Die weißen Führer haben sich später bitter über den englischen Admiral Coven beklagt, der, entgegen seinem Versprechen, sie angeblich nicht genügend von der Richtung des Finnischen Meerbusens her unterstützt habe. Diese Klagen waren mindestens übertrieben. Drei unserer Torpedoboote sind in nächtlicher Schlacht umgekommen und haben 550 junge Seeleute in die Fluten gerissen. Dies muß jedenfalls auf das Konto des britischen Admirals gesetzt werden. Der Trauerbefehl an Armee und Flotte sagte an diesem Tage:

„Rote Kämpfer! An allen Fronten begegnet ihr der feindlichen Hinterlist der Engländer. Die konterrevolutionären Truppen schießen auf euch aus englischen Geschützen. In den Lagern von Schenkursk und Onega, an der Süd- und der Westfront findet ihr Kriegsmunition englischer Herkunft. Von euch gemachte Gefangene tragen englischeAusrüstung. Die Frauen und Kinder von Archangelsk und Astrachan werden gemordet und verkrüppelt von englischen Fliegern mit Hilfe des englischen Dynamits, Englische Schiffe beschießen unsere Ufer ...

Aber auch jetzt, im Augenblick der erbittertsten Kämpfe gegen den Mietling Englands, Judenitsch, fordere ich von euch: vergeßt niemals, daß es nicht nur ein England gibt. Neben dem England der Profite, der Gewalt, der Bestechung, der Blutgier existiert das England der Arbeit, der geistigen Macht, der großen Ideale, der internationalen Solidarität. Gegen uns kämpft das England der Börse, das niedrige und ehrlose England. Das werktätige England, sein Volk, ist mit uns.“ (Befehl an die Armee und die Flotte, 24. Oktober 1919, Nr.159.)

Die Aufgaben der sozialistischen Erziehung waren bei uns eng mit den Kriegsaufgaben verbunden. Jene Ideen, die im Feuer ins Bewußtsein eindringen, dringen fest und für immer ein.

Das Tragische wechselt in den Dramen von Shakespeare mit dem Komischen aus dem gleichen Grunde ab, aus dem im menschlichen Leben das Große sich mit dem Kleinen und Banalen berührt.

Sinowjew, der inzwischen Zeit gehabt hatte, vom Sofa aufzustehen und den zweiten oder dritten Himmel zu erklettern, überreichte mir im Namen der Kommunistischen Internationale folgende Urkunde:

„Das rote Petrograd vor dem Feinde zu beschützen bedeutet, dem Weltproletariat, und folglich der Kommunistischen Internationale, einen unschätzbaren Dienst erweisen. Der erste Platz im Kampfe um Petrograd gebührt selbstverständlich Ihnen, teurer Genosse Trotzki. Im Namen des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale übergebe ich Ihnen die Fahnen, die ich Sie bitte, den verdienstvollen Truppenteilen der von Ihnen geleiteten ruhmreichen Roten Armee zu übergeben.

Der Vorsitzende des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale
G. Sinowjew

Ähnliche Urkunden erhielt ich von dem Petrograder Sowjet, von den Gewerkschaften und anderen Organisationen. Die Fahnen übergab ich den Regimentern, die Denkschriften verwahrten die Sekretäre im Archiv. Man hat sie von dort bedeutend später hervorgeholt, als Sinowjew mit ganz anderer Stimme ganz andere Lieder zu singen begann.

Jetzt fällt es sogar in der eigenen Erinnerung schwer, jenen Sturm der Begeisterung sich vorzustellen, den der Sieg bei Petrograd hervorgerufen hat. Er fiel zusammen mit dem Beginn der entscheidenden Erfolge an der Südfront. Die Revolution hob den Kopf wieder hoch. In Lenins Augen gewann der Sieg über Judenitsch um so mehr Bedeutung, als er ihn Mitte Oktober für unmöglich gehalten hatte. Im Politbüro wurde beschlossen, mir für die Verteidigung Petrograds den Orden der Roten Fahne zu verleihen. Mich brachte dieser Beschluß in eine schwierige Lage. Ich hatte mich nicht ohne Schwanken zu der Einführung eines revolutionären Ordens entschlossen: erst kurz vorher hatten wir die Orden des alten Regimes abgeschafft. Als ich den Orden einführte, betrachtete ich ihn als ein ergänzendes Stimulans für jene, die nicht genügend inneres revolutionäres Pflichtbewußtsein besaßen. Lenin hieß meinen Schritt gut. Der Orden wurde eingeführt. Man verlieh ihn, mindestens in jenen Jahren, für direkte Kriegsverdienste im Feuer. Jetzt hatte man den Orden mir zugesprochen. Ich konnte ihn nicht ablehnen, ohne die Auszeichnung, die ich selbst so viele Male verliehen hatte, zu disqualifizieren. Es blieb mir also nichts weiter übrig, als mich der Konvention zu unterwerfen.

Damit steht eine andere Episode in Verbindung, die erst viel später vor meinen Augen im richtigen Lichte erschien. Am Schlusse der Sitzung des Politbüros brachte Kamenjew, nicht ohne Zeichen der Verlegenheit, den Antrag ein, Stalin mit einem Orden auszuzeichnen. „Wofür?“ fragte im Tone aufrichtiger Empörung Kalinin. „Wofür denn Stalin? ich kann es nicht verstehen!“ Man beruhigte ihn mit einem Scherz und nahm einen zustimmenden Beschluß an. In der Pause stürzte sich Bucharin auf Kalinin: „Begreifst du denn nicht? Das hat Iljitsch ausgedacht: Stalin kann nicht leben, wenn er etwas nicht hat, was der andere besitzt. Er würde es nicht verzeihen.“ Ich begriff Lenin voll und ganz und stimmte ihm in Gedanken zu.

Die Dekorierung erfolgte in höchst feierlicher Umgebung im Großen Theater, wo ich in der vereinigten Sitzung der führenden Sowjetinstitutionen einen Bericht über die Kriegslage gab. Als der Vorsitzende am Schluß den Namen Stalins nannte, versuchte ich zu applaudieren. Es unterstützten mich zwei, drei Hände unsicher. Durch den Saal lief ein kühler Hauch des Befremdens, der nach den vorangegangenen Ovationen besonders scharf empfunden wurde. Stalin selbst war schlauerweise abwesend.

Viel größere Genugtuung bereitete es mir, als mein Zug in seiner Gesamtheit mit dem Orden der Roten Fahne belohnt wurde. „An dem heroischen Kampfe der 7. Armee“, heißt es in dem Befehl vom 4. November, „haben die Mitarbeiter unseres Zuges vom 17. Oktober bis zum 3. November würdig teilgenommen. Die Genossen Kliger, Iwanow, Sastar sind im Kampfe gefallen. Die Genossen Prede, Draudin, Purin, Tschernjawzew, Kuprjewitsch, Tesnek sind verwundet. Die Genossen Adamson, Purin, Kiselis erlitten Streifschüsse. Ich nenne die anderen nicht bei Namen, denn ich müßte alle nennen. Bei der glücklichen Wendung, die sich an der Front vollzogen hat, haben die Arbeiter unseres Zuges nicht den letzten Platz innegehabt.“

Einige Monate später ließ Lenin mich ans Telephon rufen. „Haben Sie das Buch von Kirdezow gelesen?“ Dieser Name sagte mir nichts. „Das ist ein Weißer, ein Feind, der über den Angriff Judenitschs auf Petrograd schreibt.“ Man muß sagen, daß Lenin überhaupt viel aufmerksamer als ich die Presse der Weißen verfolgte. Am nächsten Tag fragte er mich wieder: „Haben Sie es gelesen?“ „Nein, ich hab’ es noch nicht gelesen.“ „Wenn Sie wollen, schicke ich es Ihnen?“ Aber das Buch war wohl auch bei mir. Lenin und ich erhielten die gleichen Neuerscheinungen über Berlin. „Lesen Sie unbedingt das letzte Kapitel: es ist ein Werturteil des Feindes, dort ist auch über Sie ...“ Aber ich fand nicht die Zeit, es zu lesen. Seltsamerweise kam mir das Buch vor kurzem in Konstantinopel in die Hand. Ich erinnerte mich, wie dringend Lenin mir empfahl, das letzte Kapitel zu lesen. Hier jenes Urteil des Feindes, eines der Minister Judenitschs, das Lenins Interesse erweckt hatte: „Schon am 16. Oktober traf an der Petrograder Front eiligst Trotzki ein, und die Verwirrung des roten Stabes machte seiner glühenden Energie Platz. Einige Stunden vor dem Fall Gatschinas versucht er noch, den Angriff der Weißen aufzuhalten; als er aber sieht, daß das nicht möglich ist, verläßt er eiligst die Stadt, um die Verteidigung von Zarskoje zu organisieren. Größere Reserven sind noch nicht angekommen, aber er sammelt hastig alle Petrograder Kriegsschü1er, mobilisiert die ganze männliche Bevölkerung Petrograds, treibt die rotarmistischen Abteilungen mit Maschinengewehren [?!] wieder vorwärts und bringt durch seine energischen Maßnahmen alle Zugänge zu Petrograd in Verteidigungszustand ... Trotzki gelang es, in Petrograd gesinnungsstarke kommunistische Arbeiterabteilungen zu organisieren und sie in den Mittelpunkt des Kampfes zu werfen. Nach dem Zeugnis des Stabes Judenitschs waren es diese, und nicht [?] die rotarmistischen Abteilungen, die sich neben den Matrosenbataillonen und den Kriegsschülern wie die Löwen geschlagen haben. Sie attackierten die Tanks mit vorgehaltenen Bajonetten, ganze Reihen von ihnen sanken unter dem mörderischen Feuer der Stahlungeheuer dahin, die übrigen aber fuhren standhaft fort, ihre Stellungen zu verteidigen.“

Mit Maschinengewehren hat niemand die Rotarmisten vorwärtsgetrieben. Aber Petrograd haben wir gerettet.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008