Leo Trotzki

 

Die permanente Revolution


Einleitung

Das vorliegende Buch ist der Frage gewidmet, die mit der Geschichte der drei russischen Revolutionen eng verbunden ist. Aber nicht allein mit ihr. Diese Frage hat in den letzten Jahren im inneren Kampfe der Kommunistischen Partei der Sowjetunion eine ungeheure Rolle gespielt, sie wurde dann in die Kommunistische Internationale hineingetragen, spielte eine ausschlaggebende Rolle in der Entwicklung der chinesischen Revolution und bestimmte eine ganze Reihe wichtigster Beschlüsse, die mit dem revolutionären Kampf der Länder des Ostens verbunden sind. Es handelt sich um die Theorie der “permanenten Revolution“, die nach der Lehre der Epigonen des Leninismus (Sinowjew, Stalin, Bucharin usw.), die Erbsünde des „Trotzkismus“ darstellt.

Die Frage der permanenten Revolution wurde nach einer längeren Pause scheinbar ganz unerwartet im Jahre 1924 wieder erhoben. Politische Gründe gab es dafür nicht: handelte es sich doch um Meinungsverschiedenheiten, die längst der Vergangenheit angehörten. Der psychologischen Gründe dagegen gab es viele. Die Gruppe der sogenannten „alten Bolschewiki“, die den Kampf gegen mich eröffnet hatte, stellte mir vor allem diesen ihren Titel entgegen. Ein großes Hindernis auf dem Wege dieser Gruppe war das Jahr 1917. So wichtig die vorangegangene Geschichte des geistigen Kampfes und der Vorbereitung in bezug auf die Partei als Ganzes wie auch in bezug auf einzelne Personen gewesen war, so hatte diese Periode ihre höchste und unwiderrufliche Nachprüfung in der Oktoberrevolution gefunden. Nicht einer der Epigonen hat dieser Nachprüfung standgehalten. Ausnahmslos hatten sie alle im Augenblick der Februarrevolution 1917 die vulgäre Position der demokratischen Linken eingenommen. Kein einziger von ihnen hat die Losung des Kampfes des Proletariats um die Macht aufgestellt. Sie alle hielten den Kurs auf eine sozialistische Revolution für absurd oder – noch schlimmer – für „Trotzkismus“. In diesem Geiste haben sie die Partei geleitet bis zur Ankunft Lenins aus dem Auslande und bis zum Erscheinen seiner berühmten Thesen vom 4. April. Danach versuchte Kamenjew, bereits im direkten Kampfe gegen Lenin, offen einen demokratischen Flügel des Bolschewismus zu formieren. Später schloß sich ihm der zusammen mit Lenin angekommene Sinowjew an. Der durch seine sozialpatriotische Position schwer kompromittierte Stalin trat beiseite. Er ließ die Partei seine kläglichen Artikel und Reden aus den entscheidenden Wochen des März vergessen und rückte allmählich an den Standpunkt Lenins heran. Deshalb erstand gleichsam von selbst die Frage: was hat einem jeden dieser führenden „alten Bolschewiki“ der Leninismus gegeben, wenn kein einziger von ihnen sich als fähig erwiesen hat, im geschichtlich wichtigsten und verantwortungsvollsten Augenblick selbständig die theoretischen und praktischen Erfahrungen der Partei anzuwenden? Man mußte um jeden Preis von dieser Frage ablenken und sie durch eine andere ersetzen. Zu diesem Zwecke beschloß man, die permanente Revolution unter Feuer zu nehmen. Meine Widersacher sahen dabei selbstverständlich nicht voraus, daß sie durch die Schaffung einer künstlichen Kampfachse gezwungen sein würden, sich selbst um diese Achse zu drehen, und sich eine neue Weltanschauung zu fabrizieren.

In ihren wesentlichen Zügen wurde die Theorie der permanenten Revolution von mir noch vor den entscheidenden Ereignissen des Jahres 1905 formuliert. Rußland ging der bürgerlichen Revolution entgegen. Niemand aus den Reihen der russischen Sozialdemokratie (wir alle nannten uns damals Sozialdemokraten) zweifelte daran, daß wir einer bürgerlichen Revolution entgegengingen, d.h. einer Revolution, hervorgerufen durch die Widersprüche zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte der kapitalistischen Gesellschaft und den überlebten ständischen und staatlichen Verhältnissen aus der Zeit der Leibeigenschaft und des Mittelalters. Im Kampfe gegen die Narodniki und Anarchisten mußte ich in jener Zeit viele Reden und Artikel der marxistischen Analyse des bürgerlichen Charakters der bevorstehenden Revolution widmen.

Der bürgerliche Charakter der Revolution konnte aber nicht im voraus die Frage beantworten, welche Klassen die Aufgaben der demokratischen Umwälzung lösen und wie die gegenseitigen Beziehungen dieser Klassen sein würden. Gerade bei diesem Punkte begannen die grundsätzlichen strategischen Probleme.

Plechanow, Axelrod, Sassulitsch, Martow und nach ihnen alle russischen Menschewiki gingen davon aus, daß der liberalen Bourgeoisie als dem natürlichen Anwärter auf die Macht die führende Rolle in der bürgerlichen Revolution zustehe. Nach diesem Schema fiel der Partei des Proletariats die Rolle des linken Flügels der demokratischen Front zu: die Sozialdemokratie hatte die liberale Bourgeoisie gegen die Reaktion zu unterstützen und gleichzeitig die Interessen des Proletariats gegen die liberale Bourgeoisie zu verteidigen. Mit anderen Worten, die Menschewiki verstanden die bürgerliche Revolution hauptsächlich als eine liberal-konstitutionelle Reform.

Anders stellte Lenin die Frage. Die Befreiung der Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft aus den Fesseln der Leibeigenschaft bedeutete für Lenin vor allem eine radikale Lösung der Agrarfrage im Sinne der völligen Liquidierung der Gutsbesitzerklasse und der revolutionären Umschichtung des Bodenbesitzes. Damit untrennbar verbunden war die Abschaffung der Monarchie. An das Agrarproblem, das die Lebensinteressen der erdrückenden Mehrheit der Bevölkerung berührte und gleichzeitig das Grundproblem des kapitalistischen Marktes bildete, ging Lenin mit wahrhaft revolutionärer Kühnheit heran. Da die liberale Bourgeoisie, die den Arbeitern feindlich gegenübersteht, durch unzählige Fäden mit dem großen Landbesitz eng verbunden ist, kann die wahrhaft demokratische Befreiung der Bauernschaft nur durch die revolutionäre Gemeinschaft der Arbeiter und Bauern verwirklicht werden. Ihr gemeinsamer Aufstand gegen die alte Gesellschaft muß, nach Lenin, im Falle des Sieges, zur Errichtung der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ führen.

Diese letztere Formel wird jetzt in der Kommunistischen Internationale als eine Art überhistorisches Dogma wiederholt, ohne den Versuch einer Analyse der lebendigen historischen Erfahrung aus dem letzten Vierteljahrhundert, als wären wir nicht Zeugen und Teilnehmer der Revolution von 1905, der Februarrevolution von 1917 und schließlich der Oktoberumwälzung gewesen. Eine solche historische Analyse ist jedoch um so notwendiger, als es ein Regime der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ in der Geschichte niemals gegeben hat.

Im Jahre 1905 hatte es sich bei Lenin um eine strategische Hypothese gehandelt, die durch den Gang des Klassenkampfes in der Wirklichkeit einer Nachprüfung bedurfte. Die Formel der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft hatte zu einem großen Teil einen beabsichtigt algebraischen [3] Charakter. Lenin hat nicht im voraus die Frage beantwortet, wie die politischen Beziehungen der beiden Teilnehmer an der vermutlichen demokratischen Diktatur, d.h. der des Proletariats und der Bauernschaft sein würden. Er hat nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, die Bauernschaft könnte in der Revolution durch eine selbständige Partei vertreten sein, eine selbständige in doppeltem Sinne: das heißt nicht nur in bezug auf die Bourgeoisie, sondern auch in bezug auf das Proletariat, und gleichzeitig fähig, im Bunde mit der Partei des Proletariats die demokratische Revolution im Kampfe gegen die liberale Bourgeoisie zu verwirklichen. Lenin rechnete sogar, wie wir bald sehen werden, mit der Möglichkeit, daß die revolutionäre Bauernpartei in der Regierung der demokratischen Diktatur die Mehrheit bilden könnte.

In der Frage der entscheidenden Bedeutung der Agrarumwälzung für das Schicksal unserer bürgerlichen Revolution war ich, mindestens seit dem Herbst 1902, d.h. seit dem Moment meiner ersten Flucht ins Ausland, ein Schüler Lenins. Daß die Agrarrevolution, also folglich auch die allgemeine demokratische Revolution, nur durch die vereinigten Kräfte der Arbeiter und Bauern im Kampfe gegen die liberale Bourgeoisie verwirklicht werden könne, stand für mich, im Gegensatz zu den sinnlosen Märchen der letzten Jahre, außer jedem Zweifel. Doch trat ich gegen die Formel: „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ auf, weil ich ihren Mangel darin sah, daß sie die Frage offenließ, welcher Klasse die wirkliche Diktatur gehören würde. Ich versuchte zu beweisen, daß die Bauernschaft, trotz ihrem ungeheuren sozialen und revolutionären Gewicht, unfähig sei, eine wirklich selbständige Partei zu schaffen, und noch unfähiger, in den Händen die revolutionäre Macht zu konzentrieren. Wie die Bauernschaft in den alten Revolutionen seit der deutschen Reformation im XVI. Jahrhundert und sogar schon früher durch ihre Aufstände eine der Fraktionen der städtischen Bourgeoisie unterstützte und dieser nicht selten den Sieg sicherte, so könnte sie auch in unserer verspäteten bürgerlichen Revolution bei dem höchsten Schwung des Kampfes dem Proletariat eine ähnliche Unterstützung erweisen und ihm helfen, die Macht zu erobern. Ich zog daraus die Schlußfolgerung, daß unsere bürgerliche Revolution nur in dem Falle ihre Aufgabe radikal lösen könnte, wenn das Proletariat mit Hilfe der vielmillionenstarken Bauernschaft fähig wäre, die revolutionäre Diktatur in seinen Händen zu konzentrieren.

Was würde der soziale Inhalt dieser Diktatur sein? Als erstes hätte sie die Agrarrevolution und die demokratische Umgestaltung des Staates restlos zu vollziehen. Mit anderen Worten, die Diktatur des Proletariats wäre ein Mittel, die Aufgaben der historisch verspäteten bürgerlichen Revolution zu lösen. Darauf aber könnte die Sache sich nicht beschränken. Zur Macht gelangt, würde das Proletariat gezwungen sein, immer tiefer einzugreifen in die Beziehungen des Privateigentums überhaupt, d.h. den Weg sozialistischer Maßnahmen zu beschreiten.

„Glauben Sie etwa“, erwiderten mir in den Jahren 1905 bis 1917 dutzende Male die Stalin, Rykow und alle sonstigen Molotows, „daß Rußland für die sozialistische Revolution reif ist?“ Darauf habe ich stets geantwortet: nein, das glaube ich nicht. Aber die Weltwirtschaft als Ganzes und vor allem die europäische Wirtschaft ist für die sozialistische Revolution völlig reif. Ob die Diktatur des Proletariats in Rußland zum Sozialismus führen wird oder nicht, und in welchem Tempo und über welche Etappen, das wird von dem weiteren Schicksal des europäischen und des internationalen Kapitalismus abhängen.

Dies waren die Grundzüge der Theorie der permanenten Revolution bei ihrem Entstehen in den ersten Monaten des Jahres 1905. Inzwischen haben sich drei Revolutionen vollzogen. Das russische Proletariat ist auf der mächtigen Welle des Bauernaufstandes zur Herrschaft aufgestiegen. Die Diktatur des Proletariats ist in Rußland früher zur Tatsache geworden als in irgendeinem anderen der unermeßlich entwickelteren Länder der Welt. Im Jahre 1924, d.h. sieben Jahre nachdem sich die historische Prognose der Theorie der permanenten Revolution mit seltener Kraft bestätigt hat, haben die Epigonen gegen diese Theorie eine wilde Attacke eröffnet, und einzelne Sätze und polemische Repliken aus meinen, bei mir selbst zu jener Zeit bereits gründlich in Vergessenheit geratenen alten Arbeiten herausgezupft.

Es ist angebracht, hier daran zu erinnern, daß die erste russische Revolution mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Welle der bürgerlichen Revolutionen in Europa und 35 Jahre nach dem episodischen Aufstand der Pariser Kommune ausbrach. Europa hatte Zeit gehabt, sich von Revolutionen zu entwöhnen. Rußland hatte sie überhaupt nicht gekannt. Alle Probleme der Revolution mußten neu gestellt werden. Es ist nicht schwer, zu begreifen, wieviel unbekannte und mutmaßliche Größen die zukünftige Revolution damals für uns barg. Die Parolen aller Gruppierungen beruhten gewissermaßen auf Hypothesen. Es ist schon völlige Unfähigkeit für historische Prognosen und vollständiges Unverständnis für deren Methoden erforderlich, um jetzt, nachträglich, Analysen und Bewertungen aus dem Jahre 1905 so zu betrachten, als seien sie gestern geschrieben worden. Ich habe oft mir selbst und meinen Freunden gesagt: ich zweifle nicht daran, daß meine Prognosen von 1905 viele Lücken enthalten, die jetzt, nachträglich, nicht schwer aufzudecken sind. Haben aber meine Kritiker besser und weiter gesehen? Ich hatte die Lücken meiner alten Arbeiten, die ich lange nicht nachgelesen hatte, für ernster und wichtiger gehalten, als sie es in Wirklichkeit sind. Davon habe ich mich im Jahre 1928 überzeugt, als mir die aufgezwungene politische Muße in der Verbannung von Alma Ata die Möglichkeit bot, mit einem Bleistift in der Hand die alten Arbeiten über die permanente Revolution nachzuprüfen. Ich hoffe, auch der Leser wird davon aus dem Nachfolgenden völlig überzeugt werden.

Es ist jedoch notwendig, im Rahmen dieser Einleitung eine möglichst genaue Charakteristik der Bestandteile der Theorie der permanenten Revolution und der wichtigsten Einwände gegen sie zu geben. Die Meinungsverschiedenheiten haben sich derart verbreitert und vertieft, daß sie heute eigentlich alle wichtigsten Fragen der revolutionären Weltbewegung umfassen. Die permanente Revolution in dem Sinne, den Marx diesem Begriff gegeben hat, bedeutet eine Revolution, die sich mit keiner Form der Klassenherrschaft abfindet, die bei der demokratischen Etappe nicht haltgemacht, zu sozialistischen Maßnahmen und zum Kriege gegen die Reaktion von außen übergeht, also eine Revolution, deren jede weitere Etappe in der vorangegangenen verankert ist und die nur enden kann mit der restlosen Liquidierung der Klassengesellschaft überhaupt.

Um jenes Chaos zu zerstreuen, das um die Theorie der permanenten Revolution geschaffen wurde, ist es nötig, drei Gedankenreihen zu unterscheiden, die sich in dieser Theorie vereinigen.

Erstens umfaßt sie das Problem des Überganges der demokratischen Revolution in die sozialistische. Dies ist eigentlich die historische Entstehung der Theorie.

Der Begriff der permanenten Revolution ist aufgestellt worden von den großen Kommunisten der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, von Marx und dessen Gesinnungsgenossen als Gegensatz zu jener demokratischen Ideologie, die bekanntlich darauf pocht, daß alle Fragen friedlich, auf reformistischem oder evolutionärem Wege gelöst werden könnten durch Errichtung des „vernünftigen“ oder demokratischen Staates. Die bürgerliche Revolution von 48 betrachtete Marx als die unmittelbare Einleitung zur proletarischen Revolution. Marx „irrte“. Doch sein Irrtum hatte einen faktischen, keinen methodologischen Charakter. Die Revolution von 1848 ist nicht in die sozialistische Revolution übergegangen. Aber eben deshalb hat sie die Demokratie auch nicht vollendet. Was die deutsche Revolution von 1918 betrifft, so ist sie keine demokratische Vollendung der bürgerlichen Revolution: es ist eine von der Sozialdemokratie enthauptete proletarische Revolution: richtiger gesagt, es ist die bürgerliche Konterrevolution, die nach dem Siege über das Proletariat gezwungen ist, pseudodemokratische Formen zu bewahren.

Der vulgäre „Marxismus“ hat ein Schema der historischen Entwicklung ausgearbeitet, wonach jede bürgerliche Gesellschaft sich früher oder später ein demokratisches Regime sichere und danach dann das Proletariat unter den Bedingungen der Demokratie allmählich für den Sozialismus organisiere und erziehe. Von dem Übergang zum Sozialismus selbst hatte man sich verschiedene Vorstellungen gemacht: die offenen Reformisten dachten sich diesen Übergang als reformistische Anfüllung der Demokratie mit sozialistischem Inhalt (Jaurès). Die formalen Revolutionäre anerkannten die Unvermeidlichkeit der Anwendung der revolutionären Gewalt beim Übergang zum Sozialismus (Guesde). Aber die einen wie die anderen betrachteten Demokratie und Sozialismus in bezug auf alle Völker und Länder als zwei nicht nur durchaus getrennte, sondern auch voneinander weit entfernt liegende Etappen in der Entwicklung der Gesellschaft. Diese Ansicht war auch bei jenen russischen Marxisten vorherrschend, die in der Periode 1905 zum linken Flügel der Zweiten Internationale gehörten. Plechanow, der glänzende Stammvater des russischen Marxismus, hielt die Idee der Diktatur des Proletariats im zeitgenössischen Rußland für einen Wahn. Den gleichen Standpunkt vertraten nicht nur die Menschewiki, sondern auch die erdrückende Mehrheit der führenden Bolschewiki, darunter ausnahmslos alle heutigen Parteiführer, die damals entschiedene revolutionäre Demokraten waren, für die aber das Problem der sozialistischen Revolution nicht nur im Jahre 1905, sondern auch am Vorabend des Jahres 1917 noch nebelhafte Musik einer fernen Zukunft bedeutete.

Diesen Ideen und Stimmungen erklärte die im Jahre 1905 neu erwachte Theorie der permanenten Revolution den Krieg. Sie zeigte, daß die demokratischen Aufgaben der zurückgebliebenen bürgerlichen Nationen in unserer Epoche zur Diktatur des Proletariats führen und daß die Diktatur des Proletariats die sozialistischen Aufgaben auf die Tagesordnung stellt. Darin bestand die zentrale Idee der Theorie. Lautete die traditionelle Meinung, daß der Weg zur Diktatur des Proletariats über eine lange Periode der Demokratie führe, so stellte die Theorie der permanenten Revolution fest, daß für die zurückgebliebenen Länder der Weg zur Demokratie über die Diktatur des Proletariats gehe. Dadurch allein wird die Demokratie kein in sich selbst auf Jahrzehnte hin verankertes Regime, sondern eine unmittelbare Einleitung zur sozialistischen Revolution. Beide werden miteinander durch eine ununterbrochene Kette verbunden. Zwischen der demokratischen Umwälzung und der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft entsteht auf diese Weise eine Permanenz der revolutionären Entwicklung.

Der zweite Aspekt der „permanenten“ Theorie charakterisiert bereits die sozialistische Revolution als solche. Während einer unbestimmt langen Zeit und im ständigen inneren Kampfe werden alle sozialen Beziehungen umgestaltet. Die Gesellschaft mausert sich. Eine Wandlungsetappe ergibt sich aus der anderen. Der Prozeß bewahrt notwendigerweise einen politischen Charakter, d.h. er entwickelt sich durch Zusammenstöße verschiedener Gruppen der sich umgestaltenden Gesellschaft. Ausbrüche von Bürgerkriegen und äußeren Kriegen wechseln ab mit Perioden „friedlicher“ Reformen. Revolutionen der Wirtschaft, der Technik, der Wissenschaft, der Familie, der Sitten und Gebräuche entwickeln sich in komplizierten Wechselwirkungen und lassen die Gesellschaft nicht ins Gleichgewicht kommen. Darin besteht der permanente Charakter der sozialistischen Revolution als solcher.

Der internationale Charakter der sozialistischen Revolution, der den dritten Aspekt der Theorie der permanenten Revolution bildet, ergibt sich aus dem heutigen Zustande der Ökonomik und der sozialen Struktur der Menschheit. Der Internationalismus ist kein abstraktes Prinzip, sondern ein theoretisches und politisches Abbild des Charakters der Weltwirtschaft, der Weltentwicklung der Produktivkräfte und des Weltmaßstabes des Klassenkampfes. Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden. Sie kann aber nicht auf diesem Boden vollendet werden. Die Aufrechterhaltung der proletarischen Revolution in nationalem Rahmen kann nur ein provisorischer Zustand sein, wenn auch, wie die Erfahrung der Sowjetunion zeigt, einer von langer Dauer. Bei einer isolierten proletarischen Diktatur wachsen die inneren und äußeren Widersprüche unvermeidlich zusammen mit den wachsenden Erfolgen. Isoliert bleibend, muß der proletarische Staat schließlich ein Opfer dieser Widersprüche werden. Der Ausweg besteht für ihn nur in dem Siege des Proletariats der fortgeschrittenen Länder. Von diesem Standpunkte aus gesehen, ist eine nationale Revolution kein in sich selbst verankertes Ganzes: sie ist nur ein Glied einer internationalen Kette. Die internationale Revolution stellt einen permanenten Prozeß dar, trotz aller zeitlichen Auf- und Abstiege.

Der Kampf der Epigonen richtet sich, wenn auch nicht immer mit gleicher Deutlichkeit, gegen alle drei Aspekte der Theorie der permanenten Revolution. Anders könnte es auch nicht sein, handelt es sich doch um drei untrennbar verbundene Teile eines Ganzen. Die Epigonen machen eine mechanische Trennung zwischen der demokratischen Diktatur und der sozialistischen. Sie trennen die nationale sozialistische Revolution von der internationalen. Die Eroberung der Macht in nationalem Rahmen betrachten sie im wesentlichen nicht als den Anfangsakt, sondern als den Schlußakt der Revolution: danach folgt die Periode der Reformen, die zur nationalen sozialistischen Gesellschaft führt.

Im Jahre 1905 haben sie nicht einmal den Gedanken zugelassen, das Proletariat könne in Rußland die Macht früher erobern als in West-Europa. Im Jahre 1917 haben sie die selbständige demokratische Revolution in Rußland gepredigt und die Diktatur des Proletariats verworfen. In den Jahren 1925-27 haben sie den Kurs gehalten auf die nationale Revolution in China unter der Führung der nationalen Bourgeoisie. Danach haben sie für China die Losung der demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern aufgestellt – im Gegensatz zur Diktatur des Proletariats. Sie verkündeten die Möglichkeit des Aufbaus einer isolierten und selbständigen sozialistischen Gesellschaft in der Sowjetunion. Die Weltrevolution wurde für sie aus einer unumgänglichen Vorbedingung des Sieges nur zu einem günstigen Umstand. Zu diesem tiefen Bruch mit dem Marxismus kamen die Epigonen im Prozeß des permanenten Kampfes gegen die Theorie der permanenten Revolution.

Der Kampf, der mit einer künstlichen Belebung historischer Erinnerungen und Fälschung der fernen Vergangenheit begann, führte zur völligen Umgestaltung der Weltanschauung der regierenden Schicht der Revolution. Wir haben bereits wiederholt auseinandergesetzt, daß sich diese Umwertung der Werte unter dem Einfluß der sozialen Bedürfnisse der Sowjetbürokratie vollzog, die immer konservativer wurde, nach nationaler Ordnung strebte und schließlich forderte, daß die bereits vollzogene Revolution, die der Bürokratie die privilegierten Positionen gesichert hatte, nun als ausreichend zu gelten habe für den friedlichen Aufbau des Sozialismus. Wir wollen hier zu diesem Thema nicht zurückkehren. Es sei nur bemerkt, daß die Bürokratie sich tief bewußt ist des innigen Zusammenhanges ihrer materiellen und geistigen Positionen mit der Theorie des nationalen Sozialismus. Das äußert sich am krassesten gerade jetzt, obwohl der stalinsche Apparat unter dem Druck der Widersprüche, die er nicht vorausgesehen hat, mit aller Kraft nach links drängt und seinen gestrigen rechten Inspiratoren recht schmerzhafte Schläge zufügt. Die Feindschaft der Bürokraten gegen die marxistische Opposition, der sie in aller Eile ihre Parolen und Argumente entliehen haben, nimmt bekanntlich nicht im mindesten ab. Von den Oppositionellen, die die Frage nach ihrer Wiederaufnahme in die Partei zum Zwecke der Unterstützung des Kurses auf Industrialisierung usw. erheben, fordert man vor allem die Verurteilung der Theorie der permanenten Revolution und eine wenn auch nur indirekte Anerkennung der Theorie des Sozialismus in einem Lande. Damit enthüllt die stalinsche Bürokratie den rein taktischen Charakter ihrer Linksschwenkung unter Beibehaltung der nationalreformistischen strategischen Grundlagen. Es ist überflüssig auseinanderzusetzen, was das bedeutet; in der Politik wie im Kriegshandwerk ist die Taktik letzten Endes der Strategie unterworfen.

Die Frage ist längst über die eigentliche Sphäre des Kampfes gegen den „Trotzkismus“ hinausgewachsen. Allmählich sich ausdehnend, hat sie heute buchstäblich alle Probleme der revolutionären Weltanschauung erfaßt. Permanente Revolution oder Sozialismus in einem Lande – diese Alternative betrifft in gleicher Weise die inneren Probleme der Sowjetunion wie die Perspektiven der Revolution im Osten und schließlich das Schicksal der gesamten Kommunistischen Internationale.

Die vorliegende Arbeit untersucht diese Frage nicht von allen Seiten: es ist nicht notwendig, das zu wiederholen, was in anderen Arbeiten bereits gesagt wurde. In der „Kritik des Programms der Komintern“ habe ich versucht, die ökonomische und politische Unhaltbarkeit des National-Sozialismus theoretisch aufzudecken. Die Theoretiker der Komintern schwiegen dazu, als hätten sie den Mund voll Wasser. Das ist vielleicht das einzige, was ihnen zu tun übrigblieb. In diesem Büchlein stelle ich vor allem die Theorie der permanenten Revolution so wieder her, wie sie im Jahre 1905 in bezug auf die inneren Probleme der russischen Revolution formuliert wurde. Ich zeige, worin sich meine Position von der leninschen tatsächlich unterschied, und wie und weshalb sie sich in allen entscheidenden Situationen mit der Position Lenins deckte. Schließlich versuche ich, die entscheidende Bedeutung der uns hier interessierenden Frage für das Proletariat der zurückgebliebenen Länder und damit für die gesamte Kommunistische Internationale aufzuzeigen.

Welche Anklagen sind von den Epigonen gegen die Theorie der permanenten Revolution erhoben worden? Läßt man die zahllosen Widersprüche meiner Kritiker unbeachtet, dann kann man ihre gesamte, wahrhaft unermeßliche Literatur in folgenden Sätzen wiedergeben:

  1. Trotzki ignorierte den Unterschied zwischen der bürgerlichen Revolution und der sozialistischen; er vertrat schon 1905 die Ansicht, daß das Proletariat Rußlands vor den Aufgaben der unmittelbaren sozialistischen Umwälzung stehe.
  2. Trotzki ignorierte völlig die Agrarfrage. Die Bauernschaft existierte für ihn nicht. Er hat die Revolution wie einen Zweikampf zwischen Proletariat und Zarismus geschildert.
  3. Trotzki glaubte nicht, daß die Weltbourgeoisie ein einigermaßen längeres Bestehen der Diktatur des russischen Proletariats dulden werde und betrachtete deren Untergang als unvermeidlich, falls das Proletariat des Westens nicht in kürzester Frist die Macht ergreifen und Hilfe leisten würde. Somit hat Trotzki den Druck des westeuropäischen Proletariats auf dessen eigene Bourgeoisie unterschätzt.
  4. Trotzki glaubt überhaupt nicht an die Kraft des russischen Proletariats, nicht an dessen Fähigkeit, selbständig den Sozialismus aufzubauen und darum übertrug und überträgt er alle seine Hoffnungen auf die internationale Revolution.

Diese Motive gehen nicht nur durch die zahllosen Schriften und Reden Sinowjews, Stalins, Bucharins und anderer, sie sind auch in den allerautoritärsten Resolutionen der Russischen Kommunistischen Partei und der Kommunistischen Internationale enthalten. Und trotzdem ist man gezwungen, auszusprechen, daß sie auf ein Gemisch von Unbildung und Gewissenlosigkeit beruhen.

Die ersten zwei Behauptungen der Kritiker sind, wie später gezeigt werden wird, von Grund auf falsch. Nein, ich ging gerade von dem bürgerlich-demokratischen Charakter der Revolution aus und gelangte zu der Schlußfolgerung, daß die Tiefe der Agrarkrise das Proletariat des rückständigen Rußlands an die Macht heben kann. Ja, eben diesen Gedanken habe ich am Vorabend der Revolution von 1905 verteidigt. Eben diesen Gedanken hat allein schon die Bezeichnung der Revolution als einer „permanenten“ ausgedrückt, d.h. einer ununterbrochenen, d.h. einer Revolution, die aus dem bürgerlichen Stadium unmittelbar in das sozialistische übergeht. Um den gleichen Gedanken auszudrücken, hat Lenin später den vorzüglichen Ausdruck gebraucht von dem „Hineinwachsen“ der bürgerlichen Revolution in die sozialistische. Den Begriff des Hineinwachsens hat Stalin nachträglich (im Jahre 1924) der permanenten Revolution als einem direkten Sprung aus dem Reiche des Selbstherrschertums in das Reich des Sozialismus entgegengestellt. Der unglückselige “Theoretiker“ hat sich nicht mal die Mühe gemacht, darüber nachzudenken, wenn es einfach um einen Sprung geht, was denn dann die Permanenz der Revolution bedeutet!

Was die dritte Anklage betrifft, so wurde sie diktiert von dem kurzfristigen Glauben der Epigonen an die Möglichkeit, die imperialistische Bourgeoisie mit Hilfe des „vernünftigen“ organisierten Drucks des Proletariats auf unbeschränkte Zeit zu neutralisieren. In den Jahren 1924-27 war das die zentrale Idee von Stalin. Als ihre Frucht entstand dann das anglo-russische Komitee. Die Enttäuschung an der Möglichkeit, mit Hilfe der Purcell, Raditsch, La Folette und Tschangkaischek die Weltbourgeoisie an Händen und Füßen zu fesseln, führte zu einem akuten Angstparoxysmus vor der unmittelbaren Kriegsgefahr. Diese Periode macht die Komintern noch heute durch.

Der vierte Einwand gegen die Theorie der permanenten Revolution läuft einfach darauf hinaus, ich hätte im Jahre 1905 nicht den Standpunkt der Theorie des Sozialismus in einem Lande vertreten, den Stalin erst im Jahre 1924 für die Sowjetbürokratie fabriziert hat. Diese Anklage ist nur als eine historische Kuriosität zu bewerten. Man könnte in der Tat glauben, daß meine Kritiker, soweit sie im Jahre 1905 überhaupt etwas gedacht haben, damals der Ansicht waren, Rußland sei für eine selbständige sozialistische Revolution vorbereitet. Tatsächlich jedoch beschuldigten sie mich in der Zeit von 1905 bis 1917 unermüdlich des Utopismus, weil ich mit der Wahrscheinlichkeit rechnete, das russische Proletariat könne eher zur Macht kommen als das Proletariat Westeuropas. Kamenjew und Rykow klagten im April 1917 Lenin des Utopismus an, wobei sie ihm populär auseinandersetzten, daß die sozialistische Revolution sich zuerst in England und in den anderen fortgeschrittenen Ländern vollziehen müsse, bevor die Reihe an Rußland kommen könne. Denselben Standpunkt vertrat bis zum 4. April 1917 auch Stalin. Erst allmählich und mühevoll eignete er sich die leninsche Formel der Diktatur des Proletariats im Gegensatz zur demokratischen Diktatur an. Noch im Frühling 1924 wiederholte Stalin, was ihm die anderen vorgesagt hatten: isoliert sei Rußland für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft nicht reif. Im Herbst 1924 machte Stalin im Kampfe gegen die Theorie der permanenten Revolution zum ersten Male die Entdeckung der Möglichkeit des Aufbaus des isolierten Sozialismus in Rußland. Erst danach haben die roten Professoren Zitate für Stalin zusammengesucht, die Trotzki überführen, daß er im Jahre 1905 – hu, schrecklich! – geglaubt habe, Rußland könne nur mit Hilfe des westeuropäischen Proletariats zum Sozialismus kommen.

Nimmt man die Geschichte eines geistigen Kampfes eines Vierteljahrhunderts, zerschneidet man sie mit einer Schere in kleine Stücke, mischt man sie in einem Mörser durcheinander und beauftragt dann einen Blinden, diese Stücke wieder zusammenzukleben, so kann wohl kaum ein größerer theoretischer und historischer Galimathias entstehen, als der, mit dem die Epigonen ihre Leser und Hörer füttern.

Damit die Verbindung der gestrigen Probleme mit den heutigen sichtbarer hervortrete, muß man hier, wenn auch nur ganz im allgemeinen, daran erinnern, was die Leitung der Komintern, d.h. Stalin und Bucharin, in China alles vollführt hat.

Unter dem Vorwand, China stehe vor einer nationalen Revolution, wurde im Jahre 1924 der chinesischen Bourgeoisie die führende Rolle zugesprochen. Die Partei der nationalen Bourgeoisie, die Kuomintang, wurde offiziell als die führende Partei anerkannt. Soweit sind 1905 nicht einmal die russischen Menschewiki gegangen in bezug auf die Kadetten (die Partei der liberalen Bourgeoisie).

Die Führung der Komintern blieb aber dabei nicht stehen. Sie verpflichtete die Chinesische Kommunistische Partei, in die Kuomintang hineinzugehen und sich deren Disziplin zu unterwerfen. Durch besondere Telegramme Stalins wurde den chinesischen Kommunisten anempfohlen, die Agrarbewegung einzudämmen. Den aufständischen Arbeitern und Bauern wurde verboten, eigene Sowjets zu bilden, um Tschangkaischek nicht abzustoßen, den Stalin in einer Parteiversammlung in Moskau Anfang April 1927, d.h. einige Tage vor dem konterrevolutionären Streich in Schanghai, den Oppositionellen gegenüber als einen „zuverlässigen Verbündeten“ verteidigte.

Die offizielle Unterwerfung der Kommunistischen Partei unter die bürgerliche Führung und das offizielle Verbot, Sowjets zu bilden (Stalin und Bucharin lehrten, die Kuomintang „ersetze“ die Sowjets), war ein gröberer und schreienderer Verrat am Marxismus, als alle Taten der Menschewiki in den Jahren 1905 bis 1917.

Nach dem Staatsstreich Tschangkaischeks im April 1927 spaltete sich ein linker Flügel unter der Führung von Wan-Tin-Wei vorübergehend von der Kuomintang ab. Wan-Tin-Wei wurde in der Prawda sofort als zuverlässiger Verbündeter erklärt. Im wesentlichen verhielt sich Wan-Tin-Wei zu Tschangkaischek wie Kerenski zu Miljukow, mit dem Unterschied, daß in China Miljukow und Kornilow sich in der Person Tschangkaischeks vereinigten.

Nach dem April 1927 wurde der Chinesischen Kommunistischen Partei befohlen, in die „linke“ Kuomintang hineinzugehen und sich der Disziplin des chinesischen Kerenski zu unterwerfen, statt den offenen Krieg gegen ihn vorzubereiten. Der „zuverlässige“ Wan-Tin-Wei hat die Kommunistische Partei zusammen mit der Arbeiter- und Bauernbewegung nicht weniger verbrecherisch niedergeschlagen als Tschangkaischek, den Stalin als seinen zuverlässigen Verbündeten erklärt hatte.

Wenn die Menschewiki im Jahre 1905 und später Miljukow unterstützten, so traten sie doch immerhin nicht in die Liberale Partei ein. Wenn die Menschewiki im Jahre 1917 Hand in Hand mit Kerenski gingen, so behielten sie doch ihre eigene Organisation bei. Die Politik Stalins in China war eine böse Karikatur sogar auf den Menschewismus. So sah die erste und wichtigste Periode aus.

Nachdem sich ihre unvermeidlichen Früchte gezeigt hatten: völliger Niedergang der Arbeiter- und Bauernbewegung, Demoralisierung und Zerfall der Kommunistischen Partei, gab die Leitung der Komintern das Kommando „Linksum kehrt!“ und verlangte den sofortigen bewaffneten Aufstand der Arbeiter und Bauern. Auf diese Weise wurde der jungen, unterdrückten und verstümmelten Kommunistischen Partei, die noch gestern das fünfte Rad am Wagen Tschangkaischeks und Wan-Tin-Wei's gewesen war, und folglich nicht die geringste eigene politische Erfahrung besaß, der Befehl erteilt, die Arbeiter und Bauern, die die Komintern bis zum gestrigen Tage im Zeichen der Kuomintang zurückgehalten hatte – in den bewaffneten Aufstand gegen diese selbe Kuomintang zu führen, die inzwischen Zeit gefunden hatte, die Macht und die Armee in ihren Händen zu konzentrieren. Im Laufe von 24 Stunden wurde in Kanton ein fiktiver Sowjet improvisiert. Der bewaffnete Aufstand, im voraus dem Termin der Eröffnung des XV. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion angepaßt, bildete gleichzeitig einen Ausdruck des Heroismus der Avantgarde des chinesischen Proletariats wie des Verbrechens der Komintern. Kleine Abenteuer gingen dem Kantoner Aufstand voran und folgten ihm. So sah das zweite Kapitel der chinesischen Strategie der Komintern aus, einer Strategie, die man als die böseste Karikatur auf den Bolschewismus bezeichnen kann.

Das liberal-opportunistische Kapitel, wie das der Abenteuer, fügten der Chinesischen Kommunistischen Partei einen Schlag zu, von dem sie sich selbst bei einer richtigen Politik erst nach einer langen Zeit wird erholen können.

Der VI. Kongreß der Komintern hat das Fazit dieser Arbeit gezogen. Er hat sie durchaus gutgeheißen, was nicht weiter verwunderlich ist: er war ja zu diesem Zwecke zusammengerufen worden. Für die Zukunft hat der Kongreß die Losung „Demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern“ aufgestellt. Wodurch sich diese Diktatur von der rechten und linken Kuomintang einerseits und von der Diktatur des Proletariats andererseits unterscheiden soll, hat man den chinesischen Kommunisten nicht erklärt. Das zu erklären ist auch nicht möglich.

Die Parole der demokratischen Diktatur ausgebend, hat der VI. Kongreß gleichzeitig die Parolen der Demokratie als unzulässig erklärt (Konstituierende Versammlung, allgemeines Wahlrecht, Presse- und Versammlungsfreiheit usw. usw.) und damit die Chinesische Kommunistische Partei angesichts der Diktatur der Militär-Oligarchie gänzlich entwaffnet. Die russischen Bolschewiki haben während einer langen Reihe von Jahren die Arbeiter und Bauern um die Parole der Demokratie mobilisiert. Die Parolen der Demokratie spielten auch im Jahre 1917 eine große Rolle. Erst nachdem die bereits real existierende Sowjetmacht vor den Augen des ganzen Volkes in einen unversöhnlichen politischen Gegensatz zu der Konstituierenden Versammlung geraten war, hat unsere Partei zugunsten der realen Sowjetdemokratie, d.h. der proletarischen Demokratie, die Institutionen und Parolen der formalen, d.h. der bürgerlichen Demokratie, liquidiert.

Der VI. Kongreß der Komintern unter Leitung Stalins und Bucharins hat das alles auf den Kopf gestellt. Während er der Partei einerseits die „demokratische“ und nicht die “proletarische“ Diktatur vorschrieb, untersagte er ihr gleichzeitig demokratische Parolen zur Vorbereitung dieser Diktatur. Die Chinesische Kommunistische Partei ist nicht nur entwaffnet, sondern nackt ausgezogen worden. Dafür aber hat man ihr als Trost schließlich, in der Periode der uneingeschränkten Herrschaft der Konterrevolution, die Parole der Sowjets freigegeben, die zur Zeit des revolutionären Aufstiegs unter Verbot stand. Ein sehr populärer Held eines russischen Volksmärchens singt Hochzeitslieder bei Begräbnissen und Trauerlieder bei Hochzeiten. Er bekommt hier wie dort seine Tracht Prügel. Würde sich die Sache auf eine Tracht Prügel für die heutigen Führer der Komintern beschränken, man könnte sich damit abfinden. Doch der Einsatz ist größer. Es geht um das Schicksal des Proletariats. Die Taktik der Komintern war eine unbewußte, aber um so sicherer organisierte Sabotage der chinesischen Revolution. Diese Sabotage vollzog sich ohne alle Störungen, denn die rechtsmenschewistische Politik der Komintern in den Jahren 1924-1927 wurde von der ganzen Autorität des Bolschewismus gedeckt und von der Sowjetmacht durch die gewaltige Maschinerie der Repressalien gegen die Kritik der linken Opposition geschützt.

Im Resultat erhielten wir ein vollendetes Experiment der stalinschen Strategie, die von Anfang bis zum Ende im Zeichen des Kampfes gegen die permanente Revolution stand. Es ist deshalb ganz in der Ordnung, wenn der stalinsche Haupttheoretiker der Unterwerfung der Chinesischen Kommunistischen Partei unter die nationalbürgerliche Kuomintang Martynow war, also jener menschewistische Hauptkritiker der Theorie der permanenten Revolution von 1905 bis zum Jahre 1923, wo er seine historische Mission bereits in den Reihen des Bolschewismus zu erfüllen begann.

Das Nötigste darüber, wie die vorliegende Arbeit entstand, ist in dem ersten Kapitel gesagt. In Alma-Ata bereitete ich in aller Ruhe ein theoretisch polemisches Buch gegen die Epigonen vor. Einen großen Platz in dem Buche sollte die Theorie der permanenten Revolution einnehmen. Während der Arbeit erhielt ich ein Manuskript Radeks, das sich damit beschäftigte, der permanenten Revolution die strategische Linie Lenins entgegenzustellen. Radek hatte diesen scheinbar plötzlichen Ausfall aus dem Grunde nötig, weil er selbst bis über den Kopf in der chinesischen Politik Stalins steckte: die Unterwerfung der Kommunistischen Partei unter die Kuomintang hatte Radek (zusammen mit Sinowjew) nicht nur vor dem Streich Tschangkaischeks gepredigt, sondern auch später.

Zur Begründung der Versklavung des Proletariats an die Bourgeoisie berief sich Radek selbstverständlich auf die Notwendigkeit eines Bündnisses mit der Bauernschaft und auf die „Unterschätzung“ dieser Notwendigkeit durch mich. Nach Stalin verteidigte auch er mit der bolschewistischen Phraseologie die menschewistische Politik. Mit der Formel der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft bemäntelte Radek, darin Stalin folgend, die Ablenkung des chinesischen Proletariats, an der Spitze der Bauernmassen den selbständigen Kampf um die Macht zu führen. Als ich diese geistige Maskerade entlarvte, entstand in Radek das dringende Bedürfnis, geschminkt mit Zitaten aus Lenin, nachzuweisen, mein Kampf gegen den Opportunismus ergäbe sich in Wirklichkeit aus dem Gegensatz zwischen der Theorie der permanenten Revolution und dem Leninismus. Die advokatenhafte Verteidigung seines eigenen Sündenfalls verwandelte Radek in eine Staatsanwaltrede gegen die permanente Revolution. Dieses Auftreten war für ihn nur eine Brücke zur Kapitulation. Ich durfte das mit um so größerem Recht vermuten, als Radek in den vorangegangenen Jahren eine Broschüre zur Verteidigung der permanenten Revolution zu schreiben vorgehabt hatte. Aber ich beeilte mich noch immer nicht, über Radek ein Kreuz zu machen. Ich unternahm den Versuch, seinen Artikel mit aller Offenheit und Entschiedenheit zu beantworten, ohne jedoch Radek den Weg zu einem Rückzug abzuschneiden. Ich drucke meine Antwort an Radek so, wie sie geschrieben wurde, und beschränke mich auf einige erklärende Ergänzungen und stilistische Korrekturen.

Radeks Aufsatz ist in der Presse nicht veröffentlicht worden und ich glaube, er wird auch nicht veröffentlicht werden, denn in der Form, wie er im Jahre 1928 geschrieben wurde, könnte er das Sieb der stalinschen Zensur nicht passieren. Aber auch für Radek selbst wäre dieser Aufsatz heute geradezu vernichtend, denn er würde ein grelles Bild von Radeks geistiger Evolution geben, die sehr stark an die „Evolution“ eines Menschen erinnert, der aus der sechsten Etage hinunterstürzt.

Die Entstehung dieser Schrift erklärt zur Genüge, weshalb Radek darin vielleicht einen größeren Platz einnimmt als den, auf den Anspruch zu erheben er ein Recht hat. Radek selbst hat kein einziges Argument gegen die Theorie der permanenten Revolution ausgedacht. Er tritt nur als Epigone der Epigonen auf. Es wird dem Leser deshalb empfohlen, in Radek nicht einfach Radek zu sehen, sondern den Vertreter einer gewissen Kollektivfirma, deren nicht vollberechtigte Mitgliedschaft Radek sich um den Preis der Lossagung vom Marxismus erkauft hat. Sollte trotzdem Radek persönlich die Empfindung haben, es seien auf seinen Teil zu viele Rippenstöße entfallen, so darf er sie nach eigenem Ermessen an die richtigen Adressen weitergeben. Das ist nun eine innere Angelegenheit der Firma. Ich meinerseits mache keine Einwände.

L.T. – Prinkipo, 30. November 1930

Fußnote

3. Die Algebra rechnet mit allgemeinen Größen (a, b, c, ...) im Gegensatz zur Arithmetik, die stets bestimmte Größen (1, 2, 3, ...) verwendet.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.2.2011