Leo Trotzki

 

Die permanente Revolution


4. Wie hat die Theorie der permanenten Revolution in der Praxis ausgesehen?

Indem Radek die Theorie kritisiert, ergänzt er sie, wie wir gesehen haben, durch die „sich aus ihr ergebende Taktik“. Das ist eine sehr wichtige Ergänzung. Die offizielle Kritik des „Trotzkismus“ beschränkte sich in dieser Frage vorsichtigerweise auf die Theorie. Radek jedoch genügt dies nicht. Er führt einen Kampf gegen eine bestimmte (bolschewistische) taktische Linie in China. Er muß diese Linie durch die Theorie der permanenten Revolution kompromittieren, und da ist es nötig, zu beweisen, oder so zu tun, als sei das bereits durch jemanden bewiesen, daß sich in der Vergangenheit die falsche taktische Linie aus dieser Theorie ergeben habe. Radek führt hier seine Leser direkt irre. Es ist möglich, daß er selbst die Geschichte der Revolution, an der er niemals unmittelbaren Anteil genommen hat, nicht kennt. Aber er hat sich offensichtlich auch niemals die geringste Mühe gegeben, die Frage an der Hand von Dokumenten nachzuprüfen. Die wichtigsten davon sind im II. Band meiner Gesammelten Werke enthalten: eine Nachprüfung ist somit jedem, der lesen kann, möglich.

Es sei also Radek offenbart: fast in allen Etappen der ersten Revolution bestand zwischen mir und Lenin eine völlige Übereinstimmung in der Einschätzung der Kräfte der Revolution und ihrer aktuellen Aufgaben, obwohl ich das ganze Jahr 1905 illegal in Rußland und 1906 im Gefängnis verbrachte. Ich bin gezwungen, mich hier auf die minimalste Zahl der Beweise und Illustrationen zu beschränken.

In einem im Februar geschriebenen und im März 1905 gedruckten Artikel, das heißt also 2-3 Monate vor dem ersten bolschewistischen Parteitag (der in die Geschichte als der Dritte Parteitag eingegangen ist), sagte ich:

„Der erbittertste Kampf zwischen dem Volke und dem Zaren, der keine anderen Gedanken als die des Sieges kennt; der Volksaufstand als der Höhepunkt dieses Kampfes; die Provisorische Regierung als die revolutionäre Krönung des Sieges des Volkes über den Jahrhunderte alten Feind; die Entwaffnung der zaristischen Reaktion und die Bewaffnung des Volkes durch die Provisorische Regierung; die Einberufung der Konstituierenden Versammlung auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts das sind die objektiv vorgezeichneten Etappen der Revolution.“ (Bd.II, T.1, S.232.)

Es genügt, diese Worte mit den Resolutionen des bolschewistischen Parteitages vom Mai 1905 zu vergleichen, um in der Fragestellung der grundlegenden taktischen Probleme meine völlige Solidarität mit den Bolschewiki zu erkennen.

Mehr noch, im Geiste dieses Aufsatzes habe ich in Petersburg in Übereinstimmung mit Krassin die Thesen über die provisorische Regierung formuliert, die damals illegal erschienen. Krassin verteidigte sie auf dem bolschewistischen Parteitag. Lenin stimmte ihnen in folgender Form zu:

„Im ganzen und großen teile ich die Meinung des Gen. Krassin. Es ist selbstverständlich, daß ich als Schriftsteller die literarische Seite der Frage in Betracht zog. Die Wichtigkeit des Kampfzieles ist vom Genossen Krassin sehr richtig angegeben und ich schließe mich ihm voll an. Man kann nicht kämpfen, ohne damit zu rechnen, die Position, um die man kämpft, einzunehmen ...“ (Bd.VI, S.180.)

Der größte Teil der umfangreichen krassinschen Abänderungen, auf die ich den Leser verweise, wurde in die Resolution des Parteitages aufgenommen. Daß diese Abänderungen von mir stammen, beweist ein Zettel Krassins, den ich noch jetzt besitze. Diese ganze Parteiepisode ist Kamenjew und anderen gut bekannt.

Die Fragen der Bauernschaft, ihrer Annäherung an die Arbeitersowjets, die Frage des Zusammenwirkens mit dem Bauernbund nahm die Aufmerksamkeit des Petersburger Sowjets mit jedem Tage mehr und mehr in Anspruch. Vielleicht weiß Radek noch, daß die Führung des Sowjets mir oblag? Hier eine von den Hunderten der damals von mir getroffenen Formulierungen über die taktischen Aufgaben der Revolution:

„Das Proletariat schafft städtische ‚Sowjets‘, die die Kampfhandlungen der Stadtmasse leiten, und stellt die Kampfvereinigung mit der Armee und der Bauernschaft auf die Tagesordnung.“ (Natschalo, Nr.4, 17./30. November 1905.)

Es ist langweilig und, ich muß gestehen, peinlich, Zitate anzuführen, die beweisen sollen, daß bei mir von einem „Sprung“ aus dem Selbstherrschertum zum Sozialismus keine Rede war. Aber ich bin dazu gezwungen. Folgendes habe ich zum Beispiel im Februar 1906 über die Aufgaben der Konstituierenden Versammlung geschrieben, dabei keinesfalls diese von vornherein den Sowjets gegenüberstellend, wie es jetzt, Stalin folgend, Radek in bezug auf China zu tun sich beeilt, um mit dem ultralinken Besen die opportunistischen Spuren des gestrigen Tages zu vermischen.

„Die Konstituierende Versammlung wird von dem befreiten Volke aus eigener Macht einberufen. Die Aufgaben der Konstituierenden Versammlung werden riesengroß sein. Sie wird den Staat auf demokratischer Grundlage neu aufbauen müssen, d.h. auf der Grundlage der souveränen Volksmacht. Sie wird eine Volksmiliz aufstellen, eine gewaltige Bodenreform durchführen, den Achtstundentag und eine progressive Einkommensteuer einführen.“ (Bd.II, T.1, S.349.)

Und nun, speziell zur Frage der „sofortigen“ Einführung des Sozialismus, aus dem 1905 von mir verfaßten populären Flugblatt:

„Ist es denkbar, den Sozialismus in Rußland sofort einzuführen? Nein, unser Dorf ist noch zu dunkel und zu unaufgeklärt. Zu wenig wirkliche Sozialisten gibt es unter den Bauern. Zu allererst muß das Selbstherrschertum, das die Volksmassen in Finsternis hält, gestürzt werden. Man muß die Dorfarmut von allen Steuern befreien, man muß die progressive Einkommensteuer, allgemeine Schulpflicht einführen, man muß schließlich Landproletariat und Halbproletariat mit dem Stadtproletariat in einer sozialdemokratischen Armee vereinigen. Erst eine solche Armee wird imstande sein, die große sozialistische Umwälzung durchzuführen.“ (Bd.II, T.1, S.228.)

Das klingt beinahe, als hätte ich zwischen der demokratischen und der sozialistischen Etappe der Revolution doch wohl Unterscheidungen gemacht, lange bevor noch Stalin und Thälmann, und jetzt auch Radek, mich dies zu lehren begannen.

Vor zweiundzwanzig Jahren schrieb ich:

„Als in der sozialistischen Presse der Gedanke der ununterbrochenen Revolution formuliert wurde, welche – durch anwachsende soziale Zusammenstöße, Aufstände immer neuer Volksschichten, unaufhörliche Attacken des Proletariats gegen die politischen und ökonomischen Privilegien der herrschenden Klassen – die Liquidierung des Absolutismus und der Leibeigenschaft mit der sozialistischen Umwälzung verbindet, erhob unsere ‚fortschrittliche‘ Presse einmütig ein wütendes Geheul.“ (Unsere Revolution, 1906, S.258.)

Ich möchte vor allem auf die in diesen Worten enthaltene Definition der ununterbrochenen Revolution aufmerksam machen: Sie verbindet die Liquidierung des Mittelalters mit der sozialistischen Umwälzung durch eine Reihe anwachsender sozialer Zusammenstöße. Wo ist da der Sprung? Wo die Ignorierung der demokratischen Etappe? Und ist es im Jahre 1917 nicht tatsächlich so gekommen?

Es sei nebenbei festgestellt, daß das Geheul der „fortschrittlichen“ Presse von 1905 über die ununterbrochene Revolution keinen Vergleich aushält mit dem keinesfalls fortschrittlichen Geheul der heutigen Schreiber, die sich mit einer kleinen Verspätung von einem Vierteljahrhundert in die Sache einmischten.

Wie verhielt sich zu der von mir in der Presse aufgeworfenen Frage über die permanente Revolution das damalige führende Organ der bolschewistischen Fraktion Nowaja Schisn, das unter der wachsamen Redaktion von Lenin erschien? Diese Frage entbehrt doch wohl nicht des Interesses? Zu dem Artikel der „radikalen“ bürgerlichen Zeitung Nascha Schisn, die versucht hatte, der “permanenten Revolution“ von Trotzki die „vernünftigeren“ Ansichten Lenins entgegenzustellen, antwortete die bolschewistische Nowaja Schisn (am 27. November 1905):

Diese ungezwungene Mitteilung ist selbstverständlich barer Unsinn. Gen. Trotzki hat gesagt, die proletarische Revolution könne, ohne auf der ersten Etappe stehenzubleiben, die Ausbeuter bedrängend, ihren Weg fortsetzen, während Lenin darauf verwies, daß die politische Revolution nur der erste Schritt sei. Der Publizist aus der Nascha Schisn möchte darin einen Widerspruch erblicken ... Das ganze Mißverständnis kommt erstens von dem Schreck, den Nascha Schisn allein schon vor dem Namen soziale Revolution empfindet, zweitens, aus dem Wunsche dieses Blattes, irgendeine scharfe und pikante Meinungsverschiedenheit unter den Sozialdemokraten zu entdecken und drittens, durch den bildlichen Ausdruck des Gen. Trotzki: „mit einem Schlage“. In Nr.10 des Natschalo erklärt Gen. Trotzki seinen Gedanken ganz unzweideutig:

„Der volle Sieg der Revolution bedeutet den Sieg des Proletariats“, schreibt Gen. Trotzki. „Dieser Sieg wiederum aber bedeutet die weitere Ununterbrochenheit der Revolution. Das Proletariat verwirklicht die grundlegenden Aufgaben der Demokratie, und die Logik seines unmittelbaren Kampfes um die Sicherung der politischen Herrschaft läßt im gegebenen Augenblick rein sozialistische Probleme erstehen. Zwischen dem Minimalprogramm und dem Maximalprogramm wird die revolutionäre Kontinuität hergestellt. Das ist nicht ein ‚Schlag‘, das ist nicht ein Tag und nicht ein Monat, das ist eine ganze historische Epoche. Es wäre sinnlos, ihre Dauer im voraus bestimmen zu wollen.“

Dieser Hinweis allein erschöpft bis zu einem gewissen Grade das Thema dieser Broschüre. Konnte man klarer, präziser, sicherer die ganze spätere Kritik der Epigonen im voraus beiseite schieben, als es in jenem meinem Zeitungsaufsatz geschehen ist, den die leninsche Nowaja Schisn so beifällig zitierte? Mein Artikel setzte auseinander, daß das siegreiche Proletariat im Prozeß der Verwirklichung der demokratischen Aufgaben durch die Logik seiner Lage auf einer bestimmten Etappe unvermeidlich vor rein sozialistische Probleme gestellt sein würde. Eben darin besteht zwischen dem Minimalprogramm und dem Maximalprogramm die Kontinuität, die unvermeidlich aus der Diktatur des Proletariats erwächst. Das ist kein Schlag, das ist kein Sprung – erklärte ich meinen damaligen Kritikern aus dem Lager des Kleinbürgertums –, das ist eine ganze historische Epoche. Und die leninsche Nowoja Schisn schloß sich dieser Perspektive durchaus an. Noch wichtiger, hoffe ich, ist die Tatsache, daß der reale Gang der Entwicklung sie nachgeprüft und im Jahre 1917 endgültig als richtig bestätigt hat.

Vom phantastischen „Sprung“ zum Sozialismus über die Demokratie hinweg haben im Jahre 1905 und ganz besonders 1906, nach der begonnenen Niederlage der Revolution, außer den kleinbürgerlichen Demokraten der Nascha Schisn hauptsächlich die Menschewiki gesprochen. Unter den Menschewiken zeichneten sich auf diesem Gebiet besonders Martynow und der verstorbene Jordanski aus. Beide sind, nebenbei gesagt, später ruhmreiche Stalinisten geworden. Den menschewistischen Schriftstellern, die mir den „Sprung zum Sozialismus“ anzuhängen suchten, habe ich im Jahre 1906 ausführlich und populär nicht nur den Irrtum, sondern auch die Dummheit ihrer Behauptung in einem besonderen Aufsatz auseinandergesetzt den ich heute fast ungekürzt gegen die Kritik der Epigonen nachdrucken könnte. Es wird aber vielleicht genügen, zu sagen, daß das Resumé des Aufsatzes in folgenden Worten gegipfelt hat:

„Ich begreife es sehr gut – wie ich meinem Rezensenten (Jordanski) wohl versichern darf – daß ein publizistisches Hinwegspringen über ein politisches Hindernis noch lange nicht seine praktische Überwindung bedeutet.“ (Bd.II, T.I, S.454.)

Vielleicht genügt das? Falls nicht – ich kann fortfahren: damit sich meine Kritiker, wie Radek, nicht darauf berufen können, sie hätten das nicht „bei der Hand“, worüber sie so frank und frei urteilen.

Die von mir im Jahre 1906 im Gefängnis verfaßte und gleich damals von Lenin herausgegebenen Broschüre Unsere Taktik wird durch diese Schlußfolgerung charakterisiert:

„Das Proletariat wird sich auf den Aufstand des Dorfes stützen können und wird in den Städten, den Zentren des politischen Lebens, jene Sache zu vollenden imstande sein, die es zu beginnen vermochte. Gestützt auf das bäuerliche Element und dieses führend, wird das Proletariat der Reaktion nicht nur den letzten siegreichen Schlag zufügen, sondern es wird auch verstehen, sich den Sieg der Revolution zu sichern.“ (Bd.II. T.I, S.448.)

Sieht es einer Ignorierung der Bauernschaft ähnlich?

In der gleichen Broschüre wird übrigens auch der folgende Gedanke entwickelt:

„Unsere auf die unaufhaltsame Entwicklung der Revolution berechnete Taktik darf selbstverständlich die unvermeidlichen Phasen und Etappen der revolutionären Bewegung nicht ignorieren.“ (Bd.II, T.I, S.436.)

Sieht das einem phantastischen Sprung ähnlich?

In dem Aufsatz Die Lehren des ersten Sowjets (1906) schildere ich die Perspektive der weiteren Entwicklung der Revolution (oder, wie es sich in der Wirklichkeit ergab, der neuen Revolution) folgendermaßen:

„Die Geschichte wiederholt sich nicht – und der neue Sowjet wird die Ereignisse der fünfzig Tage (Oktober–Dezember 1905) nicht neu durchzumachen haben; dafür aber wird er das Programm seiner Handlungen restlos dieser Periode entnehmen können. Dieses Programm ist vollständig klar. Revolutionäres Zusammenwirken mit der Armee, der Bauernschaft und den untersten Schichten der städtischen Kleinbourgeoisie. Abschaffung des Absolutismus. Vernichtung seiner materiellen Organisation: teilweise Umbildung der Formationen, teilweise Auflösung der Armee, Vernichtung des bürokratischen Polizeiapparates. Achtstundentag. Bewaffnung der Bevölkerung, vor allem des Proletariats. Umwandlung der Sowjets in Organe der revolutionären städtischen Selbstverwaltung. Schaffung von Sowjets der Bauerndeputierten (Bauernkomitees) auf dem Lande, als Organe der Agrarrevolution. Organisierung der Wahlen zur Konstituierenden Versammlung und Wahlkampf auf der Grundlage eines bestimmten Arbeitsprogramms der Volksvertretung.“ (Bd.II, T.II, S.206.)

Sieht das einem Überspringen der Agrarrevolution oder einer Unterschätzung der Bauernfrage in deren Gesamtheit ähnlich? Sieht das danach aus, daß ich die demokratischen Aufgaben der Revolution nicht gesehen habe? Nein, das sieht nicht so aus. Wonach aber sieht dann die politische Malerei Radeks aus? Nach nichts sieht sie aus.

Gnädig, aber sehr zweideutig grenzt Radek meine von ihm entstellte Position aus dem Jahre 1905 gegen die Position der Menschewiki ab, ohne darauf zu kommen, daß er selbst zu drei Viertel die menschewistische Kritik wiederholt: Wenn Trotzki auch die gleiche Methode wie die Menschewiki anwandte, erklärt Radek jesuitisch, so war doch sein Ziel ein anderes. Durch diese subjektive Darstellung kompromittiert Radek seine eigene Einstellung zur Frage vollends. Schon Lassalle hat es gewußt, daß das Ziel von der Methode abhängt und im Endresultat von ihr bedingt ist. Er hat über dieses Thema bekanntlich sogar ein Drama geschrieben (Franz von Sickingen). Worin aber bestehe die Gleichheit meiner Methode mit der menschewistischen? In der Stellung zur Bauernschaft. Als Beweis führt Radek drei polemische Zeilen aus dem von mir bereits zitierten Artikel Lenins aus dem Jahre 1916 an, bemerkt jedoch nebenbei selbst, daß Lenin hier trotz Nennung des Namens Trotzki in Wirklichkeit gegen Bucharin und gegen ihn, Radek, polemisiert habe. Außer auf dieses Zitat aus Lenin, das, wie wir bereits gesehen haben, durch den ganzen Inhalt des leninschen Aufsatzes widerlegt wird, beruft sich Radek auf – Trotzki selbst. Die Leere der menschewistischen Konzeption entlarvend, fragte ich 1916 in einem Artikel: wenn nicht die liberale Bourgeoisie führen wird, wer dann? An die selbständige politische Rolle der Bauernschaft glaubt ihr, Menschewiki, doch jedenfalls nicht. Also – überführt mich Radek – war ich mit den Menschewiki über die Rolle der Bauernschaft „einig“. Die Menschewiki waren der Ansicht, daß es unzulässig sei, des zweifelhaften und unzuverlässigen Bündnisses mit der Bauernschaft wegen die liberale Bourgeoisie „abzustoßen“. Das war die „Methode“ der Menschewiki. Während die meine darin bestand, die liberale Bourgeoisie beiseite zu schieben und die Führung der revolutionären Bauernschaft zu erkämpfen. In dieser grundlegenden Frage hatte ich mit Lenin keine Differenzen. Und wenn ich im Kampfe gegen die Menschewiki diesen sagte: „Ihr seid ja am allerwenigsten bereit, der Bauernschaft eine führende Rolle zuzuweisen“, so war das keine Übereinstimmung mit der „Methode“ der Menschewiki, wie Radek mir zu insinuieren versucht, sondern eine klare Alternative, entweder die Diktatur der liberalen Plutokratie, oder die Diktatur des Proletariats.

Das gleiche, vollständig richtige Argument von mir aus dem Jahre 1916 gegen die Menschewiki, das Radek illoyalerweise ebenfalls gegen mich auszunutzen versucht, habe ich neun Jahre vorher gebraucht, auf dem Londoner Kongreß von 1907, als ich die Thesen der Bolschewiki über die Stellung zu den nichtproletarischen Parteien verteidigte. Ich bringe hier den grundlegenden Teil meiner Londoner Rede, die in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution viele Male in Sammelwerken und Lesebüchern nachgedruckt wurde als Ausdruck bolschewistischer Einstellung zu den Klassen und Parteien in der Revolution:

Den Genossen aus den menschewistischen Reihen erscheinen ihre eigenen Ansichten ungewöhnlich kompliziert. Ich habe wiederholt von ihnen Beschuldigungen gehört, ich vereinfachte die Darstellung des Verlaufes der russischen Revolution. Trotz der äußeren Ungeformtheit, die ihnen das komplizierte Aussehen verleiht – ja gerade wegen dieser Ungeformtheit –, lassen sich die Ansichten der Menschewiki auf ein sehr einfaches Schema bringen, das selbst dem Verständnis des Herrn Miljukow zugänglich sein dürfte.

In dem Nachwort zu dem soeben erschienenen Buch: Wie sind die Wahlen zur zweiten Staatsduma verlaufen, schreibt der geistige Führer der Kadettenpartei:

„Was die linken Gruppen im engeren Sinne betrifft, das heißt die sozialistischen und revolutionären Gruppen, so wird eine Verständigung mit ihnen schwieriger sein. Aber auch hier wiederum gibt es, wenn nicht ausgesprochen positive, so doch sehr ins Gewicht fallende negative Gründe, die bis zu einem gewissen Grade eine Annäherung erleichtern können. Ihr Ziel ist – uns zu kritisieren und zu diskreditieren; schon deshalb allein ist es notwendig, daß wir da sind und handeln. Wie wir wissen, bedeutet für die Sozialisten, nicht nur in Rußland, sondern in der ganzen Welt, die sich jetzt vollziehende Umwälzung eine bürgerliche, nicht eine sozialistische Umwälzung: eine Umwälzung, die von der bürgerlichen Demokratie zu vollziehen ist. Um den Platz dieser Demokratie einzunehmen ... darauf haben sich die Sozialisten in der ganzen Welt nicht vorbereitet, und wenn das Land sie in so großer Anzahl in die Duma geschickt hat, so gewiß nicht zu dem Zwecke, um jetzt den Sozialismus zu verwirklichen oder um mit ihren eigenen Händen die notwendigen “bürgerlichen“ Reformen durchzuführen ... Es wird für sie somit viel vorteilhafter sein, die Rolle der Parlamentarier zu kritisieren, als sich selbst in dieser Rolle zu kompromittieren.“

Wie wir sehen, führt uns Miljukow gleich in das Herz der Frage ein. Das angeführte Zitat gibt alle wichtigsten Elemente der menschewistischen Einstellung zur Revolution und das Verhältnis zwischen bürgerlicher und sozialistischer Demokratie.

„Die sich vollziehende Umwälzung ist eine bürgerliche, nicht eine sozialistische Umwälzung“ – dies als erstes. Die bürgerliche Umwälzung „muß von der bürgerlichen Demokratie verwirklicht werden“ – dies als zweites. Die sozialistische Demokratie kann nicht mit ihren eigenen Händen bürgerliche Reformen durchführen, ihre Rolle ist eine rein oppositionelle: „Kritisieren und diskreditieren“. Und schließlich – als viertes, damit die Sozialisten die Möglichkeit erhalten, in Opposition zu bleiben, „ist es notwendig, daß wir (d.h. die bürgerliche Demokratie) da sind und handeln.“

Und wenn „wir“ nun nicht da sind? Und wenn es die bürgerliche Demokratie nicht gibt, die fähig wäre, an der Spitze der bürgerlichen Revolution zu marschieren? Dann muß man sie erfinden. Zu dieser Schlußfolgerung kommt eben der Menschewismus. Er konstruiert die bürgerliche Demokratie und deren Eigenschaften und Geschichte auf Kosten der eigenen Einbildung.

Als Materialisten müssen wir uns vor allem die Frage nach den sozialen Grundlagen der bürgerlichen Demokratie stellen: auf welche Schichten und Klassen kann sie sich stützen? Von der Großbourgeoisie – darin sind wir uns alle einig als von einer revolutionären Macht braucht man nicht zu sprechen. Lyoner Industrielle haben sogar in der großen Französischen Revolution, die in weitestem Sinne des Wortes eine nationale Revolution war, eine konterrevolutionäre Rolle gespielt. Uns aber erzählt man von der mittleren Bourgeoisie, und ganz besonders von der Kleinbourgeoisie, als von der führenden Kraft der bürgerlichen Umwälzung. Was aber stellt diese Kleinbourgeoisie dar? Die Jakobiner stützten sich auf die städtische Demokratie, die aus den Handwerkerzünften erwachsen war. Kleine Meister, Gehilfen und das mit ihnen eng verbundene Stadtvolk bildeten die Arme der revolutionären Sansculotten, die Stütze der führenden Partei der Montagnarden. Gerade diese kompakte Masse der Stadtbevölkerung, die durch die lange historische Schule des Zunfthandwerks gegangen war, hatte auf ihren Schultern die ganze Last der revolutionären Umwälzung getragen. Das objektive Resultat der Revolution war die Schaffung „normaler“ Bedingungen kapitalistischer Ausbeutung. Die soziale Mechanik des historischen Prozesses aber hat dazu geführt, daß die Bedingungen für die Herrschaft der Bourgeoisie von dem Plebs, der Straßendemokratie, den Sansculotten geschaffen wurden. Deren terroristische Diktatur säuberte die bürgerliche Gesellschaft von dem alten Kram und dann, nachdem sie die Diktatur der kleinbürgerlichen Demokratie gestürzt hatte, kam die Bourgeoisie zur Herrschaft.

Ich frage nun zum wiederholten Male: Welche Gesellschaftsklasse wird bei uns die revolutionär bürgerliche Demokratie emporheben, an die Macht stellen und ihr die Möglichkeit geben, die riesige Arbeit auszuführen, wenn das Proletariat in Opposition bleibt? Diese zentrale Frage stelle ich den Menschewiki wiederholt zur Beantwortung. Es ist wahr, wir haben ungeheure Massen der revolutionären Bauernschaft. Aber die Genossen aus der Minderheit wissen es ebensogut wie ich, daß die Bauernschaft, so revolutionär sie auch sein mag, nicht fähig ist, eine selbständige und noch weniger eine führende politische Rolle zu spielen. Die Bauernschaft kann zweifellos im Dienste der Revolution sich als eine gewaltige Macht erweisen; es wäre jedoch eines Marxisten unwürdig, zu glauben, eine Bauernpartei sei fähig, sich an die Spitze einer bürgerlichen Umwälzung zu stellen und aus eigener Initiative die Produktivkräfte des Landes von den archaischen Fesseln zu befreien. Die Stadt besitzt in der modernen Gesellschaft die Hegemonie, und nur ihr kann die Hegemonie in der bürgerlichen Revolution gehören. [12]

Wo haben wir nun jene städtische Demokratie, die fähig wäre das Volk zu führen? Gen. Martynow hat sie doch schon wiederholt mit der Lupe in der Hand gesucht. Er fand Saratower Lehrer, Petersburger Advokaten, Moskauer Statistiker. Wie alle seine Gesinnungsgenossen, hat auch er es nur nicht bemerken wollen, daß in der russischen Revolution das Industrieproletariat jenen Boden einnehmen wird, auf dem Ende des 18. Jahrhunderts die halbproletarische Handwerksdemokratie der Sansculotten stand. Ich mache euch, Genossen, auf diese grundsätzliche Tatsache aufmerksam.

Unsere Großindustrie hat sich nicht naturgemäß aus dem Handwerk entwickelt. Die ökonomische Geschichte unserer Städte kennt die Periode der Zünfte nicht. Die kapitalistische Industrie entstand bei uns unter dem direkten und unmittelbaren Druck des europäischen Kapitals. Sie hat sich eigentlich einen jungfräulichen primitiven Boden erobert, ohne auf den Widerstand der Kultur des Handwerks zu stoßen. Das ausländische Kapital floß zu uns durch die Kanäle der Staatsanleihen und durch die Röhren der Privatinitiative. Es sammelte um sich die Armee des Industrieproletariats und verhinderte die Entstehung und Entwicklung des Handwerks. Als Resultat dieses Prozesses zeigte sich bei uns als die Hauptmacht der Stadt im Augenblick der bürgerlichen Revolution ein Industrieproletariat von höchstem sozialem Typus. Das ist eine Tatsache, die man nicht bestreiten kann und die man als die Grundlage unserer revolutionär-taktischen Schlußfolgerungen nehmen muß.

Wenn die Genossen von der Minderheit (die Menschewiki) an den Sieg der Revolution glauben oder auch nur die Möglichkeit eines solchen Sieges anerkennen, können sie die Tatsache nicht bestreiten, daß es bei uns keinen anderen historischen Prätendenten auf die revolutionäre Macht gibt als das Proletariat. Wie die kleinbürgerliche städtische Demokratie der großen Revolution sich an die Spitze der revolutionären Nation stellte, so muß das Proletariat, diese einzige revolutionäre Demokratie unserer Städte, eine Stütze in den Bauernmassen finden und sich an die Macht stellen – wenn der Revolution überhaupt ein Sieg bevorsteht.

Eine sich unmittelbar auf das Proletariat und durch das Proletariat auf die revolutionäre Bauernschaft stützende Regierung bedeutet noch nicht die sozialistische Diktatur. Ich berühre jetzt die weiteren Perspektiven einer proletarischen Regierung nicht. Vielleicht ist das Proletariat zum Sturze verurteilt, wie die jakobinische Demokratie stürzte, um der Herrschaft der Bourgeoisie Platz zu machen. Ich will nur eins feststellen: Wenn die revolutionäre Bewegung, wie Plechanow das vorausgesagt hat, bei uns als Arbeiterbewegung triumphiert, so ist der Sieg der Revolution bei uns nur als der revolutionäre Sieg des Proletariats möglich – oder er ist überhaupt unmöglich.

Auf dieser Schlußfolgerung bestehe ich mit aller Entschiedenheit. Geht man davon aus, daß die sozialen Gegensätze zwischen dem Proletariat und den Bauernmassen das Proletariat hindern werden, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen; daß ferner das Proletariat für einen Sieg nicht stark genug ist – dann muß man zu dem Ergebnis kommen, daß unserer Revolution kein Sieg beschieden ist. Unter diesen Umständen müßte eine Verständigung zwischen der liberalen Bourgeoisie und der alten Macht das natürliche Finale der Revolution sein. Das ist ein Ausgang, dessen Möglichkeit man keinesfalls abstreiten kann. Aber es ist klar, daß er auf der Linie der Niederlage der Revolution liegt, bedingt durch deren innere Schwäche. Die gesamte Analyse der Menschewiki – vor allem ihre Einschätzung des Proletariats und dessen mögliches Verhältnis zur Bauernschaft – führt sie unerbittlich auf den Weg des revolutionären Pessimismus.

Aber beharrlich weichen sie von diesem Wege ab und entwickeln einen revolutionären Optimismus auf Konto ... der bürgerlichen Demokratie.

Daraus ergibt sich ihr Verhältnis zu den Kadetten. Die Kadetten sind für sie das Symbol der bürgerlichen Demokratie, und die bürgerliche Demokratie – der natürliche Prätendent auf die revolutionäre Macht ...

Worauf gründet Ihr Euren Glauben, daß der Kadett sich noch erheben und hochrichten werde? Auf Tatsachen der politischen Entwicklung? Nein, auf Euer Schema. Um die „Revolution zu Ende zu führen“, braucht Ihr die städtische bürgerliche Demokratie. Ihr sucht gierig nach ihr und findet nichts als Kadetten. Und Ihr entwickelt auf deren Rechnung einen seltsamen Optimismus, Ihr verkleidet sie, zwingt sie, eine schöpferische Rolle zu spielen, eine Rolle, die sie nicht spielen wollen, nicht spielen können und nicht spielen werden. Auf meine Kernfrage – ich habe sie wiederholt gestellt – habe ich keine Antwort vernommen. Ihr besitzt keine Prognose der Revolution. Eure Politik ist aller großen Perspektiven bar.

Und im Zusammenhang damit wird Euer Verhältnis zu den bürgerlichen Parteien durch die Worte formuliert, die der Parteitag fest im Gedächtnis behalten sollte: „von Fall zu Fall“. Das Proletariat führt den systematischen Kampf nicht um den Einfluß auf die Volksmassen, es kontrolliert seine taktischen Schritte nicht unter dem Gesichtswinkel der einen leitenden Idee: die Mühseligen und Beladenen um sich zu sammeln und ihr Herold und Führer zu werden. (V. Parteitag, Protokolle und Resolutionen des Parteitages, S.180 bis 185.)

Diese Rede, die alle meine Artikel, Reden und Handlungen der Jahre 1905 und 06 kurz resümierte, fand den vollen Beifall der Bolschewiki, ganz zu schweigen von Rosa Luxemburg und Tyschko (auf Grund dieser Rede knüpften sich engere Beziehungen zwischen uns an, die zu meiner Mitarbeit an ihrer polnischen Zeitschrift führten). Lenin, der mir mein versöhnlerisches Verhalten gegen die Menschewiki nicht verzeihen konnte – und damit Recht hatte – äußerte sich über meine Rede mit einer absichtlich unterstrichenen Zurückhaltung. Er sagte:

„Ich will nur bemerken, daß Trotzki in seinem Buch Zur Verteidigung der Partei seine Solidarität gedruckt ausgesprochen hat mit Kautsky, der von der ökonomischen Gemeinsamkeit der Interessen des Proletariats und der Bauernschaft in der jetzigen Revolution in Rußland schrieb. Trotzki hat die Zulässigkeit und die Zweckmäßigkeit eines linken Blocks (mit den Bauern – L.T.) gegen die liberale Bourgeoisie anerkannt. Mir genügen diese Tatsachen, um die Annäherung Trotzkis an unsere Auffassung festzustellen. Unabhängig von der Frage der ununterbrochenen Revolution, haben wir hier eine Solidarität vor Augen in den grundsätzlichen Punkten der Frage über das Verhältnis zu den bürgerlichen Parteien.“ (Lenin, Bd. VIII, S.400.)

Lenin beschäftigte sich in seiner Rede mit einer Gesamtbewertung der Theorie der permanenten Revolution um so weniger, als ja auch ich in meiner Rede die weiteren Perspektiven der Diktatur des Proletariats nicht entwickelt hatte. Er hatte meine grundsätzliche Arbeit über diese Frage offenbar nicht gelesen, andernfalls hätte er von meiner „Annäherung“ an die Auffassung der Bolschewiki nicht als wie von etwas Neuem gesprochen, denn meine Londoner Rede war nur eine zusammenfassende Wiedergabe meiner Arbeiten aus den Jahren 1905/06. Er äußerte sich sehr zurückhaltend, weil ich ja außerhalb der bolschewistischen Fraktion stand. Trotzdem, oder richtiger vielleicht gerade deshalb lassen seine Worte keinen Raum für falsche Deutungen. Lenin stellte die „Solidarität in den grundsätzlichen Punkten der Frage“ der Beziehungen zur Bauernschaft und zur liberalen Bourgeoisie fest. Diese Solidarität bezieht sich nicht auf meine Ziele, wie es Radek ungereimt darstellt, sondern gerade auf die Methode. Was die Perspektiven des Hineinwachsens der demokratischen Revolution in die sozialistische betrifft, so macht Lenin eben hier den Vorbehalt, „unabhängig von der Frage der ununterbrochenen Revolution“. Was bedeutet dieser Vorbehalt? Es ist klar, Lenin identifiziert die permanente Revolution keinesfalls mit der Ignorierung der Bauernschaft oder mit dem Überspringen der Agrarrevolution, wie das die unwissenden und gewissenlosen Epigonen zur Regel erhoben haben. Der Gedanke Lenins ist der: wie weit unsere Revolution gehen wird, ob das Proletariat bei uns früher zur Macht kommen kann als in Europa und welche Perspektiven dies für den Sozialismus eröffnet – diese Fragen berühre ich nicht; jedoch in der grundsätzlichen Frage über das Verhältnis des Proletariats zur Bauernschaft und zur liberalen Bourgeoisie ist die „Solidarität vor Augen“.

Wir haben oben gesehen, welches Echo die Theorie der permanenten Revolution fast gleich bei ihrem Entstehen, d.h. bereits im Jahre 1905, in der bolschewistischen Nowaja Schisn hervorrief. Wir wollen noch darauf hinweisen, wie sich die Redaktion der Gesammelten Werke Lenins nach 1917 über diese Theorie geäußert hat. In den Anmerkungen zu Bd.XIV, T.II, S.481 wird gesagt:

„Schon vor der Revolution 1905 hatte er (Trotzki) die eigenartige und jetzt besonders bemerkenswerte Theorie der permanenten Revolution aufgestellt, indem er behauptete, die bürgerliche Revolution von 1905 würde unmittelbar in eine sozialistische übergehen und dann die erste in der Reihe nationaler Revolutionen bilden.“

Ich gebe zu, daß dies kein Zugeständnis der Richtigkeit all dessen ist, was ich über die permanente Revolution geschrieben habe. Jedenfalls aber ist es ein Zugeständnis der Unrichtigkeit dessen, was Radek über sie schreibt. „Die bürgerliche Revolution wird unmittelbar in eine sozialistische übergehen“ – das aber ist eben die Theorie des „Hineinwachsens“, nicht aber des Überspringens; daraus ergibt sich eine realistische Taktik, keine abenteuerliche. Und was bedeuten die Worte „jetzt besonders bemerkenswerte Theorie der permanenten Revolution“? Sie bedeuten, daß die Oktoberumwälzung jene Seiten dieser Theorie in neuem Lichte gezeigt hat, die früher für viele im Schatten geblieben waren oder einfach „unwahrscheinlich“ schienen. Der II. Teil des XIV. Bandes der Gesammelten Werke Lenins ist bei Lebzeiten des Autors erschienen. Tausende und aber Tausende Parteimitglieder haben diese Anmerkung gelesen. Und niemand hat bis zum Jahre 1924 sie für falsch erklärt. Radek aber kam auf den Gedanken, dies zu tun, – im Jahre 1928. Soweit aber Radek nicht nur von der Theorie, sondern auch von der Taktik spricht, bleibt als wichtigstes Argument gegen ihn immerhin der Charakter meiner praktischen Beteiligung an den Revolutionen von 1905 und 1917. Meine Arbeit im Petersburger Sowjet von 1905 fällt zeitlich zusammen mit der Ausarbeitung jener meiner Ansichten über die Natur der Revolution, die die Epigonen jetzt einem ununterbrochenen Feuer aussetzen. Wie aber konnten sich diese angeblich so fehlerhaften Ansichten nicht in meiner politischen Tätigkeit widerspiegeln, die vor den Augen der ganzen Welt ausgeübt und täglich von der Presse registriert wurde? Nimmt man aber an, daß eine so sinnlose Theorie sich in meiner Politik geäußert hat, warum haben denn die heutigen Konsulen damals geschwiegen? Und was noch einigermaßen wichtiger ist, warum hat damals Lenin mit aller Energie die Linie des Petrograder Sowjets verteidigt, sowohl auf dem Höhepunkt der Revolution wie nach ihrer Niederlage?

Die gleichen Fragen, nur vielleicht schärfer formuliert, beziehen sich auf die Revolution von 1917. In New York schrieb ich über die Februarrevolution unter dem Gesichtspunkte der Theorie der permanenten Revolution eine Reihe von Aufsätzen. Alle diese Aufsätze sind heute nachgedruckt. Meine taktischen Schlußfolgerungen deckten sich vollends mit den Schlußfolgerungen, die Lenin zur gleichen Zeit in Genf traf, und standen somit in dem gleichen unversöhnlichen Gegensatz zu den Schlußfolgerungen Kamenjews, Stalins und der anderen Epigonen. Als ich in Petrograd ankam, hat mich niemand gefragt, ob ich mich von meinen „Irrtümern“ der permanenten Revolution lossage. Es war auch niemand zum Fragen da. Stalin drückte sich verlegen in den Ecken herum und hatte nur den einen Wunsch, die Partei möge so schnell wie möglich die Politik vergessen, die er bis zur Ankunft Lenins vertreten hatte. Jaroslawski war noch nicht Vorsitzender der Kontroll-Kommission: gemeinsam mit den Menschewiki, mit Ordschonikidse und anderen gab er in Jakutsk ein halbliberales banales Blättchen heraus. Kamenjew beschuldigte Lenin des Trotzkismus und erklärte bei Begegnungen mit mir: „Jetzt ist in Ihrer Straße Feiertag.“ Am Vorabend des Oktober schrieb ich im Zentralorgan der Bolschewiki über die Perspektiven der permanenten Revolution. Keinem kam es in den Sinn, mir entgegenzutreten. Meine Solidarität mit Lenin erwies sich als eine völlige und unbedingte. Was können nun meine Kritiker, darunter auch Radek, sagen? Daß ich selbst die Theorie, die ich verteidigte, völlig mißverstanden und in den verantwortlichen geschichtlichen Perioden, dieser Theorie zuwider, völlig richtig gehandelt hätte? Ist es nicht einfacher, anzunehmen, meine Kritiker hätten die permanente Revolution, wie so manches andere, nicht verstanden? Denn wenn man annimmt, daß sich diese verspäteten Kritiker nicht nur in ihren eigenen, sondern auch in fremden Gedankengut auskennen, wie ist es dann zu erklären, daß sie alle, ausnahmslos, in der Revolution von 1917 eine so klägliche Position eingenommen und sich in der chinesischen Revolution für immer mit Schande bedeckt haben?

Aber, wird sich mancher Leser plötzlich erinnern, wie steht es dennoch mit Ihrer wichtigsten taktischen Losung: „Ohne Zaren, aber eine Arbeiterregierung“?

Dieses Argument gilt in gewissen Kreisen als entscheidend. Die schreckliche Losung Trotzkis: „Ohne Zaren!“ geht durch alle Schriften sämtlicher Kritiker der permanenten Revolution; bei den einen taucht es auf als letztes, wichtigstes, entscheidendes Argument, bei den anderen als vorbereiteter Hafen des müden Gedankens.

Die größte Tiefe erreicht diese Kritik natürlich bei dem „Meister“ [13] der Unwissenheit und der Illoyalität, wenn er in seinem unvergleichlichen Fragen des Leninismus sagt:

„Wir wollen uns über die Position des Gen. Trotzki vom Jahre 1905 nicht weiter verbreiten (na also! L.T.), wo er ‚einfach‘ die Bauernschaft als eine revolutionäre Macht vergessen und die Losung aufgestellt hatte: ‚Ohne Zaren – aber eine Arbeiterregierung‘, d.h. die Losung für eine Revolution ohne die Bauernschaft.“ (Stalin, Fragen des Leninismus, S.174/175.)

Trotz meiner, angesichts dieser vernichtenden Kritik, die sich nicht „verbreiten“ will, geradezu hoffnungslosen Lage möchte ich doch versuchen, auf einige mildernde Umstände zu verweisen. Sie sind vorhanden. Ich bitte um Gehör.

Wenn ich auch im Jahre 1905 in irgendeinem Artikel eine zweideutige oder mißglückte Losung formuliert haben würde, die zu einem Mißverständnis Anlaß geben könnte, so dürfte man sie jetzt, nach 23 Jahren, nicht isoliert betrachten, sondern im Zusammenhang mit meinen anderen Arbeiten zu diesem Thema, hauptsächlich aber im Zusammenhing mit meiner politischen Teilnahme an den Ereignissen. Es geht einfach nicht an, den Lesern den nackten Namen eines ihnen (in gleicher Weise wie den Kritikern) unbekannten Werkes von mir zu nennen und diesem Namen einen Sinn unterzuschieben, der im völligen Gegensatz zu allem steht, was ich geschrieben und getan habe.

Vielleicht ist es auch nicht überflüssig, hinzuzufügen – oh, meine Kritiker – daß ich die Losung: „Ohne Zaren – aber eine Arbeiterregierung“ weder jemals geschrieben, noch ausgesprochen, noch vorgeschlagen habe! Dem Hauptargument meiner Richter liegt, neben allem anderen, ein schändlicher faktischer Irrtum zugrunde. Die Sache verhält sich so, daß eine Proklamation unter dem Titel Ohne Zaren – aber eine Arbeiterregierung, im Jahre 1905 von Parvus im Ausland verfaßt und herausgegeben wurde. Ich lebte zu jener Zeit längst illegal in Petersburg und stand weder in Gedanken noch in der Tat mit diesem Flugblatt irgendwie in Beziehung. Mir wurde es viel später aus polemischen Artikeln bekannt. Niemals hatte ich Veranlassung oder Gelegenheit, mich darüber zu äußern. Die Proklamation habe ich (wie übrigens alle meine Kritiker) weder gesehen noch gelesen. Das ist die tatsächliche Seite dieser hervorragenden Angelegenheit. Es tut mir sehr leid, daß ich alle Thälmanns und Semards dieses leicht transportierbaren und überzeugenden Argumentes berauben muß. Die Tatsachen aber sind stärker als meine humanen Gefühle. Mehr noch. Der Zufall hat so vorsorglich eines zum andern gefügt: zur gleichen Zeit, als Parvus im Auslande die mir unbekannte Proklamation Ohne Zaren, aber eine Arbeiterregierung herausgab, erschien in Petersburg illegal ein von mir geschriebenes Flugblatt mit dem Titel: Weder Zar noch Semzi [14], sondern das Volk. Dieser Titel, der sich im Text des Flugblattes als eine Arbeiter und Bauern umfassende Losung mehrmals wiederholt, ist gleichsam dazu erfunden, um in populärer Form die späteren Behauptungen vom Überspringen des demokratischen Stadiums der Revolution zu widerlegen. Der Aufruf ist in Bd.II, Teil 1, S.256 meiner Werke nachgedruckt. Dort stehen auch meine vom bolschewistischen Zentralkomitee herausgegebenen Proklamationen an jene Bauernschaft, die ich, nach dem genialen Ausdruck Stalins, „einfach vergessen“ habe.

Aber auch das ist noch nicht alles. Ganz vor kurzem hat der ruhmreiche Rafes, ein Theoretiker und Führer der chinesischen Revolution, im theoretischen Organ des ZK der WKP von der gleichen schrecklichen Parole geschrieben, die Trotzki im Jahre 1917 aufgestellt habe. Nicht 1905, sondern 1917! Für den Menschewiken Rafes gibt es allerdings eine Entschuldigung: er war fast bis 1920 „Minister“ bei Petljura, wie konnte er da, beschwert von den Staatsnöten des Kampfes gegen die Bolschewiki, sich darum kümmern, was im Lager der Oktoberrevolution vor sich ging? Nun, und die Redaktion des Organs des ZK? Wichtigkeit! – ein Blödsinn mehr oder weniger ... „Wie aber ist denn das möglich?“ könnte ein mittels der Makulatur der letzten Jahre erzogener gewissenhafter Leser ausrufen. „Man hat uns in Hunderten und Tausenden von Büchern und Artikeln doch gelehrt ...“

„Ja, Freunde, gelehrt; man wird eben umlernen müssen. Das sind die Unkosten der Reaktionsperiode. Dagegen läßt sich nichts tun. Die Geschichte verläuft eben nicht geradlinig. Vorübergehend gerät sie in stalinsche Sackgassen.“

Fußnoten

12. Sind die verspäteten Kritiker der permanenten Revolution damit einverstanden? Sind sie bereit, diesen Grundsatz auch auf die Länder des Ostens, China, Indien usw. auszudehnen? – Ja oder Nein?

13. Stalin hat sich in einer Rede selbst den „Meister der Revolution“ genannt.

14. Die lokale Selbstverwaltung (Semstwo) bestand hauptsächlich aus Vertretern des adligen Grundbesitzes (Semzi).

 


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008