Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 1: Februarrevolution

 

Kapitel 2:
Das zaristische Rußland im Kriege

Die Beteiligung Rußlands am Kriege war den Motiven und Zielen nach widerspruchsvoll. Der blutige Kampf ging im wesentlichen um die Weltherrschaft. In diesem Sinne überstieg er Rußlands Kraft. Rußlands sogenannte Kriegsziele (die türkischen Meerengen, Galizien, Armenien) hatten provinziellen Charakter und konnten nur nebenbei gelöst werden, je nachdem sie mit den Interessen der entscheidenden Kriegsteilnehmer im Einklang standen.

Gleichzeitig aber konnte Rußland als Großmacht der Rauferei der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder nicht fernbleiben, wie es sich in der vorangegangenen Epoche auch der Einführung von Fabriken, Eisenbahnen, Schnellfeuergeschützen und Flugzeugen nicht hatte verschließen können. Der unter den russischen Historikern der neuesten Schule nicht seltene Streit, in welchem Maße das zaristische Rußland für die moderne imperialistische Politik reif gewesen wäre, verfällt häufig in Scholastik, denn sie betrachten Rußland in der Weltarena isoliert, als selbständigen Faktor. Indes war es nur das Glied eines Systems.

Indien beteiligte sich am Kriege dem Wesen und der Form nach als Kolonie Englands. Die Einmischung Chinas, formell eine „freiwillige“, war tatsächlich die Einmischung eines Sklaven in die Balgerei der Herren. Die Beteiligung Rußlands lag irgendwo in der Mitte zwischen der Beteiligung Frankreichs und der Chinas. Rußland bezahlte damit das Recht, mit fortgeschrittenen Ländern im Bunde zu sein, Kapital einzuführen und Prozente dafür zu zahlen, das heißt im wesentlichen das Recht, eine privilegierte Kolonie seiner Verbündeten zu sein; aber gleichzeitig auch das Recht, die Türkei, Persien, Galizien, überhaupt alle Länder, die schwächer und rückständiger waren als es selbst, zu knebeln und zu plündern. Der zwiespältige Imperialismus der russischen Bourgeoisie trug in seinem Kern den Charakter einer Agentur anderer, gewaltigerer Weltmächte.

Das chinesische Kompradorentum ist das klassische Vorbild einer nationalen Bourgeoisie, gebildet nach dem Typus einer Vermittlungsagentur zwischen ausländischem Finanzkapital und einheimischer Wirtschaft. In der Welthierarchie der Staaten nahm Rußland bis zum Kriege einen bedeutend höheren Platz als China ein. Welchen Platz es, ohne die Revolution, nach dem Kriege eingenommen haben würde, ist eine andere Frage. Doch zeigten das russische Selbstherrschertum einerseits und die russische Bourgeoisie andererseits die krassesten Züge des Kompradorentums: sie lebten und nährten sich von der Verbindung mit dem ausländischen Imperialismus, dienten ihm und konnten sich, ohne sich auf ihn zu stützen, nicht halten. Allerdings haben sie sich letzten Endes auch mit seiner Unterstützung nicht zu behaupten vermocht. Die halbkompradorenhafte russische Bourgeoisie hatte imperialistische Weltinteressen im gleichen Sinne, wie ein prozentual beteiligter Agent die Interessen seines Herrn teilt.

Das Werkzeug des Krieges ist die Armee. Da jede Armee in der nationalen Mythologie für unbesiegbar gilt, sahen die herrschenden Klassen Rußlands keinen Grund, für die zaristische Armee eine Ausnahme zu machen. In Wirklichkeit stellte sie nur gegen die halbbarbarischen Völker, die kleinen Nachbarn und Staaten, die sich in Auflösung befanden, eine ernstliche Macht dar; auf der europäischen Arena war sie lediglich innerhalb von Koalitionen wirksam; in der Verteidigung erfüllte sie ihre Aufgabe nur in Verbindung mit der unermeßlichen Ausdehnung, der Bevölkerungsdünne und der Unpassierbarkeit der Wege. Ein Virtuose der Armee der leibeigenen Muschiks war Suworow. Die Französische Revolution, die einer neuen Gesellschaft und einer neuen Kriegskunst die Türen öffnete, sprach gleichzeitig das Todesurteil über die Suworowsche Armee.

Die halbe Abschaffung der Leibeigenschaft und die Einführung der allgemeinen Militärpflicht modernisierten die Armee in den gleichen Grenzen wie das Land, das heißt sie trugen in die Armee alle Gegensätze der Nation, der noch erst bevorstand, ihre bürgerliche Revolution durchzumachen. Zwar wurde die zaristische Armee nach westlichen Mustern aufgebaut und ausgerüstet, doch betraf es mehr die Form als das Wesen. Das Kulturniveau des Bauern-Soldaten stand zu dem Niveau der Kriegstechnik in keinem Verhältnis. Im Kommandobestand fanden Kulturlosigkeit, Faulheit und Diebeswesen der herrschenden Klassen Rußlands ihren Ausdruck. Industrie und Transportverhältnisse enthüllten fortgesetzt ihre Unzulänglichkeit angesichts der konzentrierten Bedürfnisse der Kriegszeit. Die am ersten Kriegstage scheinbar sachgemäß ausgerüsteten Truppen erwiesen sieh alsbald nicht nur ohne Waffen, sondern auch ohne Stiefel. Im Russisch-Japanischen Kriege hatte die zaristische Armee gezeigt, was sie wert war. In der Epoche der Konterrevolution hatte die Monarchie mit Hilfe der Duma die Militärlager aufgefüllt und die Armee an vielen Stellen ausgeflickt, darunter auch die Reputation ihrer Unbesiegbarkeit. Im Jahre 1914 kam die neue, viel schwerere Prüfung.

In bezug auf Ausrüstung und Finanzen zeigt sich Rußland im Kriege sogleich in sklavischer Abhängigkeit von seinen Verbündeten. Das ist nur der militärische Ausdruck seiner allgemeinen Abhängigkeit von den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. Doch die Hilfe der Verbündeten rettet die Lage nicht. Der Mangel an Kampfvorräten, das Fehlen von Fabriken für deren Herstellung, das dünne Eisenbahnnetz für deren Zufuhr, übersetzen die Rückständigkeit Rußlands in die allgemein verständliche Sprache der Niederlagen, die die russischen Nationalliberalen daran erinnern, daß ihre Ahnen die bürgerliche Revolution nicht vollendet hatten und die Nachkommen vor der Geschichte deshalb schuldig seien.

Die ersten Tage des Krieges waren auch die ersten Tage der Schmach. Nach einer Reihe von Teilkatastrophen brach im Frühling 1915 der allgemeine Rückzug herein. Ihre verbrecherische Unfähigkeit ließen die Generale an der friedlichen Bevölkerung aus. Riesenflächen wurden gewaltsam verwüstet. Die menschliche Heuschrecke mit Nagajkas ins Hinterland getrieben. Die äußere Zerstörung durch die innere vervollständigt.

Auf besorgte Fragen seiner Kollegen über die Lage an der Front antwortete der Kriegsminister, General Poliwanow, wörtlich: „Ich vertraue auf die unwegsamen Flächen, auf die uferlosen Sümpfe und auf die Gnade des heiligen Nikolaus Mirlikijski, des Schutzpatrons des heiligen Rußland“ (Sitzung vom 4. August 1915). Eine Woche später gestand General Russki den gleichen Ministern: „Die modernen Forderungen der Kriegstechnik gehen über unsere Kraft. Jedenfalls können wir es mit Deutschland nicht aufnehmen.“ Das war keine Augenblicksstimmung. Der Offizier Stankewitsch gibt die Worte eines Korpsingenieurs so wieder: „Mit den Deutschen Krieg zu führen ist hoffnungslos, denn wir sind nicht imstande, etwas zu tun. Sogar die neuen Kampfmethoden verwandeln sich in Ursachen unserer Mißerfolge.“ Solche Urteile gibt es ohne Zahl.

Das einzige, was die russischen Generale mit Schwung taten, war das Herausholen von Menschenfleisch aus dem Lande. Mit Rind- und Schweinefleisch ging man unvergleichlich sparsamer um. Die grauen Generalstabsnullen, Januschkewitsch unter Nikolai Nikolajewitsch, wie Alexejew unter dem Zaren, verstopften die Löcher mit neuen Aushebungen, trösteten sich und die Alliierten mit Zahlenkolonnen, wo man Kämpferkolonnen brauchte. Annähernd 15 Millionen Menschen wurden mobilisiert, die die Depots, Kasernen, Etappen füllten, herumlungerten, herumstampften, einander auf die Füße traten, verbitterten, fluchten. Waren diese menschlichen Massen für die Front eine vermeintliche Größe, so waren sie ein wirklicher Faktor des Zerfalls im Hinterlande. Etwa 5½ Millionen wurden als tot, verwundet und gefangen registriert. Die Zahl der Deserteure wuchs. Schon im Juli 1915 jammerten die Minister: „Armes Rußland. Sogar seine Armee, die in vergangenen Zeiten die Welt mit Siegesdonner erfüllt hatte ... auch sie besteht nur, wie sich herausstellt, aus Feiglingen und Deserteuren.“

Die gleichen Minister, die mit Galgenhumor über den „Generalsrückzugmut“ witzelten, verbrachten Stunden und Stunden über dem Problem: soll man die Reliquien aus Kiew wegbringen oder nicht? Der Zar war der Meinung, man brauche es nicht, denn „die Deutschen werden nicht wagen, sie anzurühren, und wenn sie sie anrühren, desto schlimmer für die Deutschen.“ Die Synode jedoch begann bereits mit der Ausfuhr: „Wenn wir die Stadt verlassen, nehmen wir unser Teuerstes mit.“ Das geschah nicht zur Zeit der Kreuzzüge, sondern im zwanzigsten Jahrhundert, als die Berichte über die russischen Niederlagen radiotelegraphisch weitergegeben wurden.

Rußlands Erfolge gegen Österreich-Ungarn wurzelten mehr in Österreich-Ungarn als in Rußland. Die auseinanderfallende habsburgische Monarchie hatte schon längst Bedarf an einem Totengräber, ohne dabei von ihm hohe Qualifikationen zu verlangen. Rußland hatte auch in der Vergangenheit Erfolg gegen innerlich in Auflösung befindliche Staaten wie die Türkei, Polen und Persien gehabt. Die Südwestfront der russischen Armee, gegen Österreich-Ungarn gewandt, kannte bedeutende Siege, was sie von den anderen Fronten unterschied. Hier taten sich einige Generale hervor, die zwar ihre militärische Begabung durch nichts bewiesen hatten, aber zumindest nicht vom Fatalismus unentwegt geschlagener Kriegsführer gezeichnet waren. Aus diesem Milieu gingen später einige weiße „Helden“ des Bürgerkrieges hervor.

Alle suchten, wem die Schuld aufgebürdet werden könnte. Man beschuldigte kurzweg die Juden der Spionage. Man plünderte Menschen mit deutschen Namen aus. Der Generalstab des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch ließ den Gendarmerieoberst Mjassojedow als deutschen Spion, der er allem Anscheine nach nicht war, erschießen. Man verhaftete den Kriegsminister Suchomlinow, einen hohlen und unsauberen Menschen, unter der vielleicht nicht unbegründeten Anschuldigung des Verrates. Der britische Außenminister Grey sagte dem Vorsitzenden der russischen parlamentarischen Delegation: „Ihre Regierung ist sehr kühn, wenn sie sich entschließen kann, im Kriege den Kriegsminister des Verrates zu beschuldigen.“ Die Stäbe und die Duma bezichtigten den Hof des Germanophilentums. Alle zusammen beneideten und haßten die Alliierten. Das französische Kommando schonte seine Armeen, indem es russische Soldaten vorschob. England kam nur langsam in Schwung. In Petrograder Salons und in den Frontstäben scherzte man lieblich: „England hat geschworen, standhaft durchzuhalten bis zum letzten Blutstropfen ... des russischen Soldaten.“ Diese Späßchen sickerten nach unten und bis an die Front durch. „Alles für den Krieg!“ sagten Minister, Deputierte, Generale, Journalisten. „Ja“, begann der Soldat im Schützengraben zu grübeln, „alle sind bereit bis zum letzten Tropfen ... meines Blutes zu kämpfen.“

Die russische Armee verlor im Kriege mehr Menschen als irgendein anderes am Völkerschlachten beteiligtes Heer, nämlich 2½ Millionen Seelen, etwa 40% der Verluste aller Ententearmeen. In den ersten Monaten starben die Soldaten unter den Geschossen ohne nachzudenken, oder ohne viel nachzudenken. Doch sammelten sie täglich mehr Erfahrung, die bittere Erfahrung der „Gemeinen“, die man nicht zu führen versteht. Sie ermaßen den Wirrwarr der zwecklosen Verschiebungen seitens der Generale an den abgerissenen Sohlen und der Zahl der versäumten Mittagessen. Vom blutigen Brei der Menschen und Dinge ging das verallgemeinernde Wort aus: Wahnsinn, das in der Soldatensprache durch ein saftigeres Wort ersetzt wurde.

Am schnellsten löste sich die bäuerliche Infanterie auf. Die Artillerie, mit ihrem hohen Prozentsatz Industriearbeiter, zeichnet sich im allgemeinen durch größere Aufnahmefähigkeit für revolutionäre Ideen aus: das hatte sich im Jahre 1905 kraß gezeigt. Wenn sich dagegen die Artillerie im Jahre 1917 konservativer als die Infanterie erwies, lag der Grund darin, daß durch die Infanterietruppenteile, wie durch ein Sieb, immer neue und immer weniger bearbeitete Menschenmassen gingen; die Artillerie aber, die unendlich geringere Verluste zu tragen hatte, behielt ihre alten Kader. Das gleiche konnte man bei den anderen Spezialtruppen beobachten. Aber letzten Endes hielt auch die Artillerie nicht stand.

Während des Rückzuges aus Galizien wurde ein Geheimbefehl des Höchstkommandierenden erlassen: wegen Desertion und anderer Verbrechen die Soldaten mit Ruten zu peitschen. Der Soldat Pirejko erzählt: „Man begann die Soldaten wegen der nichtigsten Vergehen auszupeitschen, wie zum Beispiel wegen eigenmächtiger Entfernung von der Truppe für einige Stunden; mitunter peitschte man nur zu dem Zwecke, den Kriegsgeist zu heben.“ Bereits am 17. September 1915 schrieb Kuropatkin, sich auf Gutschkow berufend: „Die Soldaten gingen mit Begeisterung in den Krieg. Jetzt sind sie müde und haben durch den ständigen Rückzug den Glauben an den Sieg verloren.“ Ungefähr zur gleichen Zeit charakterisierte der Innenminister die in Moskau in den Lazaretten befindlichen 30.000 genesenden Soldaten: „Das ist eine gewalttätige Bande, die keine Disziplin anerkennt, randaliert, sich mit den Schutzleuten in Schlägereien einläßt (kurz vorher war einer von Soldaten erschlagen worden), Verhaftete befreit und so weiter. Es unterliegt keinem Zweifel, daß im Falle von Unruhen diese Horde sich der Menge anschließen wird.“ Der gleiche Soldat Pirejko schreibt: „Alle, ohne Ausnahme, interessierten sich nur für den Frieden ... Wer siegen wird, und wie der Sieg sein wird – das interessierte die Armee am wenigsten. Sie brauchte Frieden um jeden Preis, denn sie war des Krieges müde.“

Eine Frau mit Beobachtungsgabe, S. Fedortschenko, hat als Krankenschwester die Gespräche, ja fast schon die Gedanken der Soldaten belauscht und kunstvoll auf losen Blättern niedergeschrieben. Das auf diese Weise entstandene Büchlein Volk im Kriege ermöglicht einen Blick in jenes Laboratorium zu werfen, wo Bomben, Stacheldraht, Giftgase und Niedertracht der Behörden während vieler Monate das Bewußtsein einiger Millionen russischer Bauern bearbeiteten und wo neben menschlichen Knochen jahrhundertealte Vorurteile auseinanderkrachten. In vielen dieser urwüchsigen Soldatenaphorismen sind bereits Losungen des späteren Bürgerkrieges enthalten.

General Russki klagt im Dezember 1916, Riga sei das Unglück der Nordfront. Das sei, wie Dwinsk, ein „von Propaganda durchsetztes Nest“. General Brussilow bestätigte: aus dem Rigaer Bezirk kämen die Truppenteile demoralisiert an, die Soldaten weigerten sich, zur Attacke vorzugehen, einen Kompanieführer habe man mit den Bajonetten aufgespießt, man hätte einige Mann erschießen müssen, und so weiter. „Der Boden für die endgültige Zersetzung der Armee war lange vor der Umwälzung vorhanden“, gesteht Rodsjanko, der mit Offizieren in Verbindung war und die Front wiederholt besucht hatte.

Die anfänglich zersplitterten revolutionären Elemente waren in der Armee fast spurlos untergetaucht. Doch mit dem Wachstum der allgemeinen Unzufriedenheit kamen sie an die Oberfläche. Das strafweise Verschicken streikender Arbeiter an die Front füllte die Reihen der Agitatoren auf, und die Rückzüge schufen ihnen ein geneigtes Auditorium. „Die Armee im Hinterland und ganz besonders an der Front“, meldet die Ochrana, „ist voll von Elementen, die zum Teil fähig sind, eine aktive Kraft des Aufstandes zu werden, während die anderen nur imstande wären, die Unterdrückungsarbeit zu verweigern ...“ Die Petrograder Gouvernementsgendarmerieverwaltung meldet im Oktober 1916 auf Grund des Berichtes eines Bevollmächtigten des Semstwoverbandes, daß die Stimmung in der Armee besorgniserregend, das Verhältnis zwischen Offizieren und Soldaten äußerst gespannt sei, sogar blutige Zusammenstöße vorkämen und man überall zu Tausenden Deserteuren begegne. „Jeder, der in die Nähe der Armee kommt, muß den vollen und überzeugenden Eindruck von der unbedingten moralischen Zersetzung der Truppen gewinnen.“ Ans Vorsicht fügt der Bericht hinzu, daß man, obwohl vieles in diesen Äußerungen wenig glaubhaft erscheine, doch gezwungen sei, daran zu glauben, da viele von der aktiven Armee zurückgekehrte Ärzte Meldungen in gleichem Sinne erstattet hätten.

Die Stimmungen des Hinterlandes entsprachen den Stimmungen der Front. Auf einer Konferenz der Kadettenpartei im Oktober 1916 hob die Mehrzahl der Delegierten die Apathie und den Unglauben an einen siegreichen Kriegsausgang hervor – „in allen Bevölkerungsschichten, besonders jedoch im Dorfe und unter der städtischen Armut“. Am 30. Oktober 1916 schrieb der Direktor des Polizeidepartements in seiner Berichterstattung von der „überall und in allen Bevölkerungsschichten zu beobachtenden gewissen Kriegsmüdigkeit und der Sehnsucht nach baldigem Frieden, unter welchen Bedingungen immer er auch geschlossen werden würde ...“

Nach einigen Monaten werden alle diese Herrschaften, Deputierte und Polizisten, Generale und Semstwobevollmächtigte, Ärzte und frühere Gendarmen, einstimmig behaupten, die Revolution habe den Patriotismus in der Armee getötet, und der sichere Sieg sei ihren Händen durch die Bolschewiki entrissen worden.

Als Chorführer des kriegerischen Patriotismus wirkten ohne Zweifel die konstitutionellen Demokraten (Kadetten). Nachdem er seine problematischen Bande mit der Revolution schon Ende 1905 zerrissen hatte, erhob der Liberalismus mit Einsetzen der Konterrevolution das Banner des Imperialismus. Das eine ergab sich aus dem anderen. Fehlt die Möglichkeit, das Land vom feudalen Gerümpel zu säubern, um der Bourgeoisie den herrschenden Platz zu sichern, bleibt nur ein Bündnis mit Monarchie und Adel, um dem Kapital einen besseren Platz in der Weltarena zu sichern. Wenn es wahr ist, daß die Weltkatastrophe von verschiedenen Seiten vorbereitet worden und für ihre verantwortlichen Organisatoren bis zu einem gewissen Grade überraschend gekommen war, so ist ebenso unzweifelhaft, daß bei ihrer Vorbereitung der russische Liberalismus, als Inspirator der Außenpolitik der Monarchie, nicht die letzte Stelle eingenommen hatte. Den Krieg von 1914 begrüßten die Führer der russischen Bourgeoisie mit vollem Recht als ihren Krieg. In der feierlichen Sitzung der Reichsduma vom 26. Juli 1914 verkündete der Vertreter der Kadettenfraktion: „Wir stellen keine Bedingungen und Forderungen, wir legen einfach auf die Waage den festen Willen, den Gegner zu überwinden.“ Die nationale Einigkeit wurde auch in Rußland zur offiziellen Doktrin. Während der patriotischen Kundgebungen in Moskau erklärte der Oberzeremonienmeister, Graf Benkendorf, den Diplomaten: „Hier haben Sie die Revolution, die man uns in Berlin vorausgesagt hat!“ „Dieser Gedanke“, erklärt der französische Gesandte Paléologue, „beherrscht offensichtlich alle.“ Diese Menschen betrachten es als ihre Pflicht, Illusionen zu nähren und auszustreuen in einer Situation, die, wie es scheinen sollte, Illusionen absolut ausschloß.

Auf ernüchternde Lehren sollte man nicht lange warten. Schon gleich nach Kriegsbeginn rief einer der expansivsten Kadetten, der Advokat und Gutsbesitzer Roditschew, in der Sitzung des Zentralkomitees seiner Partei aus: „Ja glaubt ihr wirklich, daß man mit diesen Dummköpfen siegen kann!“ Die Ereignisse zeigten, daß man mit Dummköpfen nicht siegen konnte. Nach, dem er bereits zur guten Hälfte den Glauben an den Sieg verloren hatte, versuchte der Liberalismus das Beharrungsvermögen des Krieges zu einer Säuberung der Kamarilla auszunutzen und die Monarchie zu einem Pakt zu zwingen. Als Hauptmittel zu diesem Zweck dienten die gegen die Hofpartei gerichteten Beschuldigungen des Germanophilentums und der Vorbereitung eines Separatfriedens.

Im Frühling 1915, als die waffenlosen Truppen auf der ganzen Front sich im Rückzuge befanden, wurde in den Regierungssphären, nicht ohne Druck seitens der Alliierten, beschlossen, die Initiative der Privatindustrie für die Armee nutzbar zu machen. Die zu diesem Zweck geschaffene „Besondere Beratung“ umfaßte neben den Bürokraten die einflußreichsten Industrieführer. Die bei Kriegsbeginn entstandenen Semstwo und Städteverbände und die im Frühling 1915 gegründeten Kriegsindustriekomitees wurden Stützpunkte der Bourgeoisie im Kampfe um Sieg und Macht. Die Reichsduma sollte, indem sie sich auf diese Organisationen stützte, desto sicherer als Mittlerin zwischen Bourgeoisie und Monarchie auftreten.

Die breiten politischen Perspektiven lenkten jedoch die Blicke nicht ab von den folgenschweren Tagesaufgaben. Wie aus einem Hauptreservoir wurden aus der „Besonderen Beratung“ Dutzende und Hunderte von Millionen, die zu Milliarden anwuchsen, durch weitverzweigte Kanäle geleitet, berieselten reichlich die Industrie und stillten unterwegs noch eine Menge Appetit. In der Reichsduma und in der Presse wurden einige Kriegsgewinne für das Jahr 1915-1916 bekanntgegeben: Die Gesellschaft des Moskauer liberalen Textilfabrikanten Rjabuschinski wies 75% Reingewinn aus; die Twerer Manufaktur sogar 111%; das Kupferwalzwerk Koljtschugin warf bei einem Grundkapital von 10 Millionen 12 Millionen Gewinn ab. Die Tugend des Patriotismus wurde in diesem Sektor im Überfluß und dabei unverzüglich belohnt.

Spekulationen aller Art und Börsenspiel erreichten den Paroxysmus. Riesenvermögen entstanden aus dem Blutschaum. Der Mangel an Brot und Heizstoff in der Hauptstadt hinderte den Hofjuwelier Fabergé nicht, zu prahlen, er habe noch niemals so vorzügliche Geschäfte gemacht. Das Hoffräulein Wyrubowa erzählt, daß in keiner Saison so teure Kleider bestellt und so viele Brillanten gekauft wurden wie im Winter 1915–16. Die Nachtlokale waren überfüllt von Hinterlandshelden, legalen Deserteuren und sonstigen ehrenwerten Herrschaften, für die Front zu alt, aber noch jung genug für die Freuden des Lebens. Die Großfürsten waren nicht die Letzten unter den Teilnehmern am Pestgelage während der Pest. Keiner hatte Angst, zuviel auszugeben. Von oben strömte ein ununterbrochener goldener Regen. Die „Gesellschaft“ hielt Hände und Taschen hin, die aristokratischen Damen schürzten die Röcke, alle patschten durch den Blutschlamm – Bankiers, Intendanten, Industrielle, Zaren- und Großfürstenballerinen, orthodoxe Hierarchen, Hoffräuleins, liberale Deputierte, Front- und Etappengenerale, radikale Advokaten, erlauchte Mucker beiderlei Geschlechts, zahlreiche Neffen und besonders Nichten. Alle beeilten sich mit dem Raffen und Prassen, vor Angst, der segensreiche Regen könnte aufhören, und alle wiesen den schmachvollen Gedanken an vorzeitigen Frieden mit Entrüstung zurück.

Gemeinsame Gewinne, äußere Niederlagen und innere Gefahren brachten die besitzenden Klassen einander näher. Die noch am Vorabend des Krieges uneinige Duma erhielt im Jahre 1915 ihre patriotisch-oppositionelle Mehrheit, die den Namen „progressiver Block“ annahm. Als sein offizielles Ziel wurde selbstverständlich „die Befriedigung der durch den Krieg hervorgerufenen Bedürfnisse“ proklamiert. Von linker Seite hielten sich dem Block fern die Sozialdemokraten und die Trudowiki (Bauernvertreter), von rechter die offenen Schwarzhundertgruppierungen. Alle übrigen Fraktionen der Duma: Kadetten, Progressisten, drei Gruppen Oktobristen, Zentrum und ein Teil der Nationalisten gehörten zum Block oder lehnten sich an ihn an, auch die nationalen Gruppen, wie Polen, Litauer, Muselmanen, Juden und so weiter. Um den Zaren nicht durch die Formel des verantwortlichen Ministeriums abzuschrecken, forderte der Block „eine vereinigte Regierung aus Personen, die das Vertrauen des Landes genießen“. Der Innenminister, Fürst Schtscherbatow, bezeichnete den progressiven Block schon damals als eine zeitweilige „Vereinigung, hervorgerufen durch die Gefahren der sozialen Revolution“. Um dies zu begreifen, war übrigens nicht viel Scharfsinn notwendig. Miljukow, der an der Spitze der Kadetten und damit auch des oppositionellen Blocks stand, sagte auf der Konferenz seiner Partei: „Wir schreiten über einen Vulkan ... Die Spannung hat die letzte Grenze erreicht ... es genügt ein unvorsichtig hingeworfenes Zündholz, um einen schrecklichen Brand zu entfachen ... Wie die Macht auch sein mag – gut oder schlecht –, aber mehr denn je ist jetzt eine feste Macht nötig.“

Die Hoffnung, der Zar werde unter der Last der Niederlagen zu Konzessionen bereit sein, war so groß, daß die liberale Presse im August eine fertige Liste des geplanten „Kabinetts des Vertrauens“ veröffentlichte, mit dem Dumavorsitzenden Rodsjanko als Premierminister (nach einer anderen Version war für diese Rolle der Vorsitzende des Semstwoverbandes, Fürst Lwow, auserkoren), Gutschkow als Innenminister, Miljukow als Außenminister, und so weiter. Die Mehrzahl dieser Personen, die für ein Bündnis mit dem Zaren gegen die Revolution vorgesehen waren, wurden anderthalb Jahre später Mitglieder der „revolutionären“ Regierung. Solche Späße erlaubte sich die Geschichte mehr als einmal. Diesmal war der Scherz zumindest kurz.

Durch den Gang der Ereignisse nicht weniger erschrocken als die Kadetten, neigte die Mehrzahl der Minister des Kabinetts Goremykin zu einer Verständigung mit dem progressiven Block. „Eine Regierung, hinter der weder das Vertrauen des Trägers der obersten Macht steht, noch der Armee, der Städte, der Semstwos, des Adels, der Kaufleute oder der Arbeiter, kann nicht nur nicht arbeiten, sondern auch nicht existieren. Das ist eine offensichtliche Absurdität.“ Mit solchen Worten schätzte Fürst Schtscherbatow im August 1915 jene Regierung ein, deren Innenminister er selbst war. „Man muß nur alles anständig einrichten und ein Schlupfloch offenlassen“, sagte der Außenminister Sasonow, „und die Kadetten werden als erste auf eine Verständigung eingehen: Miljukow ist der größte Bourgeois und fürchtet nichts mehr als die soziale Revolution. Wie überhaupt die Mehrzahl der Kadetten um ihr Kapital zittert.“ Auch Miljukow seinerseits war der Meinung, der progressive Block werde in „manchem nachgeben“ müssen. Beide Parteien waren somit bereit, mit sich handeln zu lassen, und alles schien wie geölt. Aber am 29. August reiste der Premier Goremykin – ein von Jahren und Würden beschwerter Bürokrat, ein alter Zyniker, der Politik zwischen zwei Grandes Patiencen machte und für alle Klagen die Ausrede hatte, daß der Krieg ihn „nichts angeht“ – mit einem Bericht für den Zaren ins Hauptquartier und kehrte mit der Nachricht zurück, alles und alle müßten auf den Plätzen verbleiben, außer der widerspenstigen Duma, die am 3. September aufzulösen sei. Das Verlesen des Zarenukases über die Dumaauflösung wurde ohne ein Wort des Protestes angehört: die Deputierten brachten ein „Hurra“ auf den Zaren aus und gingen auseinander.

Wie aber konnte die Zarenregierung, die nach ihrem eigenen Geständnis nirgends eine Stütze hatte, sich danach noch über anderthalb Jahre halten? Vorübergehende Erfolge der russischen Truppen übten zweifellos ihre Wirkung, verstärkt durch die des segenspendenden goldenen Regens. Die Erfolge an der Front hörten zwar bald auf, aber die Gewinne im Hinterlande hielten an. Jedoch die Hauptursache für die Festigung der Monarchie zwölf Monate vor ihrem Sturze wurzelte in der scharfen Differenzierung der Volksunzufriedenheit. Der Chef der Moskauer Ochrana berichtete im Juli über die Zunahme rechter Stimmungen bei der Bourgeoisie unter dem Einfluß „der Angst vor der Möglichkeit revolutionärer Exzesse nach dem Kriege“. Eine Revolution während des Krieges hielt man, wie wir sehen, noch immer für ausgeschlossen. Obendrein waren die Industriellen „über das Anbändeln einiger Führer der Kriegsindustriekomitees mit dem Proletariat“ besorgt. Die allgemeine Schlußfolgerung des Gendarmerieobersten Martynow, an dem die berufliche Lektüre der marxistischen Literatur nicht spurlos vorbeigegangen war, lautete, daß die Ursache einer gewissen Besserung der politischen Lage zu suchen sei „in der mehr und mehr fortschreitenden Differenzierung der Gesellschaftsklassen, welche die in der gegenwärtigen Zeit besonders fühlbaren scharfen Interessengegensätze aufdeckt“.

Die Dumaauflösung im September 1915 war eine direkte Herausforderung der Bourgeoisie und nicht der Arbeiter. Aber während die Liberalen unter allerdings nicht sehr begeisterten Hurrarufen auseinandergingen, antworteten die Arbeiter Petrograds und Moskaus mit Proteststreiks. Das kühlte die Liberalen noch mehr ab: sie hatten am meisten Furcht vor der Einmischung des unerbetenen Dritten in ihren Familiendialog mit der Monarchie. Aber was blieb zu tun? Unter leisem Murren seines linken Flügels traf der Liberalismus die Wahl nach erprobtem Rezept: ausschließlich auf legalem Boden stehen und durch Erfüllung der patriotischen Funktionen die Bürokratie „gleichsam überflüssig“ machen. Die Liste eines liberalen Ministeriums mußte man jedenfalls zurücklegen.

Die Lage verschlechterte sich inzwischen automatisch. Im Mai 1916 trat die Duma wieder zusammen, aber niemand wußte eigentlich wozu. Zur Revolution aufzurufen, das lag am allerwenigsten in ihrer Absicht. Sonst aber hatte sie nichts zu sagen. „In dieser Session“, erinnerte sich später Rodsjanko, „ging die Arbeit lau vonstatten, die Deputierten besuchten die Sitzungen unpünktlich ... Der ewige Kampf schien fruchtlos, die Regierung wollte von nichts hören, die Mißwirtschaft nahm zu, und das Land ging dem Untergange entgegen.“ Aus der Angst der Bourgeoisie vor der Revolution und aus der Ohnmacht der Bourgeoisie ohne Revolution schöpfte die Monarchie während des Jahres 1916 eine Art gesellschaftlicher Unterstützung.

Zum Herbst verschärfte sich die Lage noch mehr. Die Hoffnungslosigkeit des Krieges wurde für alle offenbar, die Entrüstung der Volksmassen drohte jeden Augenblick überzulaufen. Die Hofpartei weiter wegen „Germanophilentums“ attackierend, erachteten es die Liberalen gleichzeitig als notwendig, die Friedenschancen abzutasten, ihren morgigen Tag vorzubereiten. Nur so lassen sich auch die Verhandlungen eines Führers des progressiven Blocks, des Deputierten Protopopow, mit dem deutschen Diplomaten Warburg im Herbst 1916 in Stockholm erklären. Eine Dumadelegation, die den Franzosen und Engländern Freundschaftsbesuche abstattete, hatte sich in Paris und London mühelos davon überzeugen können, daß die teuren Verbündeten die Absicht hegten, während des Krieges alle Lebenssäfte aus Rußland auszupressen, um nach dem Siege das rückständige Land zum wichtigsten Feld ökonomischer Ausbeutung zu machen. Das geschlagene Rußland im Schlepptau der siegreichen Entente hätte ein Kolonialrußland bedeutet. Es blieb den russischen besitzenden Klassen kein anderer Ausweg, als zu versuchen, sich aus den zu engen Umarmungen der Entente zu befreien und, den Antagonismus der zwei mächtigen Lager ausnutzend, einen eigenen Weg zum Frieden zu finden. Die Zusammenkunft des Vorsitzenden der Dumadelegation mit dem deutschen Diplomaten, als erster Schritt auf diesem Wege, bedeutete sowohl eine Drohung an die Adresse der Alliierten zu dem Zwecke, Konzessionen zu erlangen, als auch eine Abtastung der realen Möglichkeiten einer Annäherung an Deutschland. Protopopow handelte mit Zustimmung nicht nur der zaristischen Diplomatie – die Zusammenkunft selbst fand in Gegenwart des russischen Gesandten in Schweden statt –, sondern auch der gesamten Delegation der Reichsduma. Nebenbei verfolgten die Liberalen mit dieser Sondierung kein minder wichtiges inneres Ziel: Verlasse dich auf uns – deuteten sie dem Zaren an und wir werden dir einen Separatfrieden besorgen, besser und sicherer als Stürmer.* Nach dem Plan Protopopows, das heißt seiner Inspiratoren, sollte die russische Regierung die Alliierten „einige Monate zuvor“ verständigen, daß sie gezwungen sei, den Krieg zu beenden, und daß Rußland, falls die Alliierten sich weigern sollten Friedensverhandlungen aufzunehmen, einen Separatfrieden mit Deutschland schließen müsse. In seiner schon nach der Revolution verfaßten Beichte spricht Protopopow wie von etwas Selbstverständlichem: „Alle vernünftigen Menschen in Rußland, darunter wohl sämtliche Führer der Partei der „Volksfreiheit“ (Kadetten), waren überzeugt, daß Rußland nicht imstande sei, den Krieg fortzusetzen.“

Der Zar, dem Protopopow nach der Rückkehr über Reise und Verhandlungen Bericht erstattete, verhielt sich durchaus zustimmend zur Idee eines Separatfriedens. Nur sah er keinen Grund, die Liberalen zu dieser Sache hinzuzuziehen. Daß Protopopow sich beiläufig selbst der Hofkamarilla anschloß und mit dem progressiven Block brach, ist aus dem persönlichen Charakter dieses Gecken zu erklären, der sich, nach seinen eigenen Worten, in Zar und Zarin und gleichzeitig – in das unerwartet gekommene Ministerportefeuille des Inneren verliebt hatte. Doch die Episode des Protopopowschen Verrats am Liberalismus ändert nicht im geringsten den Sinn der liberalen Außenpolitik, als einer Vereinigung aus Habgier, Feigheit und Treuebruch.

Am 1. November versammelte sich wieder die Duma. Die Spannung im Lande war unerträglich geworden. Man erwartete von der Duma entschlossene Schritte. Man mußte etwas tun oder wenigstens sagen. Der progressive Block war wieder einmal gezwungen, zu parlamentarischen Enthüllungen zu greifen. Die wichtigsten Schritte der Regierung von der Tribüne herab aufzählend, fragte Miljukow jedesmal: „Ist es Dummheit oder Verrat?“ Hohe Töne verwandten auch die übrigen Deputierten. Die Regierung fand fast keine Verteidiger. Sie antwortete auf ihre Art: Die Dumareden zu drucken wurde untersagt. Darum fanden sie Absatz in Millionen von Exemplaren. Es gab keine Regierungskanzlei, weder im Hinterlande noch an der Front, in der man die verbotenen Reden nicht abschrieb, häufig mit Anmerkungen, die dem Temperament des Abschreibers entsprachen. Das Echo der Debatten vom 7. November war derart, daß die Enthüller selbst das Gruseln überkam.

Eine Gruppe äußerster Rechter, eingefleischter Bürokraten, inspiriert von Durnowo, dem Bezwinger der Revolution von 1905, überreichte in diesem Moment dem Zaren eine programmatische Denkschrift. Das Auge der reicherfahrenen Würdenträger, die eine ernste Polizeischule durchgemacht hatten, sah weit genug und manches nicht schlecht, und wenn ihre Heilrezepte untauglich waren, so nur, weil es gegen die Krankheiten des alten Regimes überhaupt kein Heilmittel gab. Die Autoren der Denkschrift traten gegen jegliche Konzessionen an die bürgerliche Opposition auf, nicht weil die Liberalen etwa zu weit gehen könnten, wie die vulgären Schwarzhundert wähnten, auf die die hohen Reaktionäre von oben herabblickten, nein, das Unglück sei, daß die Liberalen „so schwach, so uneinig und, man muß offen sagen, so unfähig sind, daß ihr Sieg ebenso kurz wie unsicher wäre“. Die Schwäche der wichtigsten oppositionellen Partei, der „konstitutionell-demokratischen“ (kadettischen), sei schon durch ihren Namen gekennzeichnet: sie nenne sich demokratisch, obwohl sie ihrem Wesen nach bürgerlich sei, während sie in hohem Maße die Partei der liberalen Gutsbesitzer darstelle, habe sie in ihr Programm die zwangsweise Bodenablösung aufgenommen. „Ohne diese Trümpfe aus fremdem Kartenspiel“, schrieben die Geheimräte, die ihnen gewohnte Bildersprache gebrauchend, „sind die Kadetten nichts anderes als eine zahlreiche Gesellschaft liberaler Advokaten, Professoren und Beamten verschiedener Ressorts – nichts mehr.“ Anders die Revolutionäre. Die Anerkennung der Bedeutung der revolutionären Parteien begleitet die Denkschrift mit Zähneknirschen: „Die Gefahr und die Macht dieser Parteien besteht darin, daß sie eine Idee, Geld [!], eine bereite und gutorganisierte Masse besitzen.“ Die revolutionären Parteien „dürfen auf die Sympathie der Mehrheit der Bauernschaft rechnen, die sogleich mit dem Proletariat gehen wird, wenn die revolutionären Führer ihr fremden Grund und Boden zeigen werden“. Was würde unter diesen Bedingungen die Errichtung eines verantwortlichen Ministeriums ergeben? „Die volle und endgültige Zerschlagung der Parteien der Rechten, das allmähliche Verschlingen der Mittelparteien des Zentrums, der liberalen Konservativen, Oktobristen und Progressisten – durch die Kadettenpartei, die anfangs entscheidende Bedeutung bekäme. Doch den Kadetten würde das gleiche Schicksal drohen ... Und danach? Danach würde die revolutionäre Masse auf den Plan treten, die Kommune folgen, der Untergang der Dynastie, Pogrome auf die besitzenden Klassen und schließlich der Räuber-Muschik.“ Man kann nicht leugnen, daß die reaktionär-polizeiliche Wut sich hier zu eigenartigem historischen Weitblick erhebt.

Das positive Programm der Denkschrift ist nicht neu, aber konsequent: eine Regierung aus unnachgiebigen Anhängern des Selbstherrschertums; Abschaffung der Duma; Belagerungszustand in beiden Hauptstädten; Vorbereitung der Kräfte zur Unterdrückung der Rebellion. Im wesentlichen bildete denn auch dieses Programm die Grundlage der Regierungspolitik der letzten vorrevolutionären Monate. Doch setzte ihr Erfolg eine Macht voraus die Durnowo im Winter 1905 in Händen hatte, die aber im Herbst 1917 bereits nicht mehr existierte. Die Monarchie versuchte deshalb, das Land verstohlen und stückweise zu ersticken. Das Ministerium wurde erneuert nach dem Prinzip der „eigenen“ Leute, die dem Zaren und der Zarin bedingungslos ergeben waren. Doch diese „Eigenen“, vor allem der Überläufer Protopopow, waren nichtig und kläglich. Die Duma wurde nicht abgeschafft, aber wieder aufgelöst, die Verkündung des Belagerungszustandes in Petrograd bis zu dem Moment aufgespart, wo die Revolution bereits gesiegt hatte. Und die für die Unterdrückung der Meuterei bereitgehakenen Militärkräfte wurden selbst von der Meuterei erfaßt. Das alles zeigte sich bereits nach zwei bis drei Monaten.

Der Liberalismus machte inzwischen letzte Anstrengungen, die Lage zu retten. Alle Organisationen der Großbourgeoisie unterstützten die Novemberreden der Dumaopposition durch eine Reihe weiterer Erklärungen. Die herausforderndste war die Resolution des Städtebundes vom 9. Dezember: „Unverantwortliche Verbrecher, wahnsinnige Fanatiker bereiten Rußlands Niederlage, Schande und Knechtschaft vor.“ Die Reichsduma wird aufgefordert, „solange nicht auseinanderzugehen, bis eine verantwortliche Regierung erreicht ist“. Sogar der Staatsrat, das Organ der Bürokratie und des Großbesitzes, sprach sich dafür aus, Menschen in die Regierung zu berufen, die das Vertrauen des Landes besitzen. Ein ähnliches Gesuch stellte der Kongreß des Vereinigten Adels: die moosbedeckten Steine begannen zu reden. Doch nichts änderte sich. Die Monarchie ließ den Rest der Macht nicht aus den Händen.

Die letzte Session der letzten Duma wurde, nach Schwankungen und Verzögerungen, auf den 14. Februar 1917 angesetzt. Bis zum Ausbruch der Revolution verblieben weniger als zwei Wochen. Man erwartete Demonstrationen. In der Rjetsch, dem Organ der Kadetten, wurde, neben der Anzeige des Chefs des Petrograder Militärbezirks, des Generals Chabalow, über das Demonstrationsverbot, ein Brief Miljukows abgedruckt, der die Arbeiter vor „schlechten und gefährlichen Ratschlägen“, die „dunklen Quellen“ entstammten, warnte. Trotz der Streiks verlief die Dumaeröffnung verhältnismäßig ruhig. Indem sie sich den Anschein gab, als interessiere sie die Regierungsfrage nicht mehr, beschäftigte sich die Duma mit einer akuten, aber rein praktischen Frage: der Ernährung. Die Stimmung sei flau gewesen, erinnerte sich später Rodsjanko, „man empfand die Ohnmacht der Duma und Müdigkeit vom vergeblichen Kampfe“. Miljukow wiederholte mehrmals, daß der progressive Block „mit dem Wort und nur mit dem Wort wirken wird“. In solcher Gestalt trat die Duma in den Strudel der Februarrevolution.

 


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008