Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 1: Februarrevolution

 

Kapitel 4:
Der Zar und die Zarin

Dieses Buch hat am allerwenigsten die Aufgabe, psychologische Untersuchungen als Selbstzweck anzustellen, durch die man jetzt nicht selten die soziale und historische Analyse zu ersetzen versucht. In unserem Gesichtsfelde stehen vor allem die großen bewegenden Kräfte der Geschichte, die einen überpersönlichen Charakter tragen. Eine von ihnen ist die Monarchie. Jedoch wirken alle diese Kräfte sich durch Menschen aus. Die Monarchie aber ist ihrem Wesen nach mit dem persönlichen Prinzip verbunden. Das rechtfertigt an sich das Interesse für die Person eines Monarchen, den der Gang der Entwicklung mit einer Revolution zusammenstoßen ließ. Wir hoffen – außerdem – in der weiteren Darstellung wenigstens teilweise zeigen zu können, wo in der Persönlichkeit das Persönliche aufhört – nicht selten viel früher, als es scheint – und wie oft das „besondere Merkmal“ einer Person nichts weiter darstellt als den individuellen Kratzer einer höheren Gesetzmäßigkeit.

Seine Ahnen hinterließen Nikolaus II. als Erbschaft nicht nur das gewaltige Reich, sondern auch die Revolution. Sie bedachten ihn mit keiner einzigen Eigenschaft, die ihn befähigt hätte, ein Reich zu verwalten oder auch nur ein Gouvernement oder einen Kreis. Der historischen Brandung, die ihre Wogen immer näher an die Tore des Palastes heranwälzte, brachte der letzte Romanow eine dumpfe Teilnahmslosigkeit entgegen. Es war, als trenne sein Bewußtsein und seine Epoche eine durchsichtige, aber völlig undurchdringliche Sphäre.

Die Personen, die mit dem Zaren in Berührung gekommen waren, vermerkten nach dem Umsturz wiederholt, daß in den tragischsten Augenblicken seiner Regierung während der Übergabe Port Arthurs und des Unterganges der Flotte bei Zussima, zehn Jahre später, während des Rückzuges der russischen Truppen aus Galizien, und, nach weiteren zwei Jahren, in jenen Tagen, die dem Thronverzicht vorangingen, als rings um ihn alles bedrückt, erschrocken, erschüttert war, Nikolaus II. allein die Ruhe bewahrte. Wie bisher, erkundigte der Zar sich nach der Zahl der Werst, die er während seiner Reisen durch Rußland zurückgelegt hatte, erinnerte sich an Episoden aus einstigen Jagden, an Anekdoten bei offiziellen Begegnungen; er zeigte überhaupt Interesse für den Kehricht seines Alltagslebens, während über ihm Donner rollten und Blitze zuckten. „Was ist das?“ fragte sich einer seiner vertrauten Generale, „eine ungeheure, fast unwahrscheinliche Haltung, erreicht durch Erziehung? Glaube an eine göttliche Vorbestimmung der Ereignisse? Oder mangelnde Denkfähigkeit?“ Die Antwort ist zur Hälfte schon in der Frage enthalten. Die sogenannte „gute Erziehung“ des Zaren, seine Selbstbeherrschung auch unter den außerordentlichsten Umständen, lassen sich keinesfalls durch äußere Dressur allein erklären: der Kern lag in der inneren Gleichgültigkeit, in der Dürftigkeit der seelischen Kräfte, in der Schwäche der Willensimpulse. Die Maske der Gleichgültigkeit, die man in gewissen Kreisen als „gute Erziehung“ bezeichnet, verschmolz bei Nikolaus auf natürliche Weise mit dem ihm angeborenen Gesicht.

Das Tagebuch des Zaren ist wertvoller als alle Zeugenaussagen: tagein, tagaus, jahrein, jahraus folgen auf diesen Blättern trostlose Eintragungen seelischer Leere. „Ging lange spazieren und tötete zwei Krähen. Trank Tee bei Tageslicht.“ Ein Spaziergang zu Fuß, eine Kahnfahrt. Und wieder Krähen und wieder Tee. Alles an der Grenze der Physiologie. Die Erwähnung kirchlicher Feierlichkeiten geschieht. im gleichen Tone wie die einer Zecherei.

In den Tagen vor der Eröffnung der Reichsduma, als das ganze Land in Konvulsionen erschauerte, schrieb Nikolaus: „14. April. Ging spazieren in einer leichten Hemdbluse und nahm die Spazierfahrten mit dem Paddelboot wieder auf. Trank Tee auf dem Balkon. Stana aß mit uns zu Mittag und fuhr mit uns spazieren. Habe gelesen.“ Nicht ein Wort über den Gegenstand der Lektüre: ein sentimentaler englischer Roman oder ein Bericht des Polizeidepartements? „15. April. Nahm die Entlassung Wittes an. Marie und Dmitrij aßen mit uns. Haben [1] sie ins Schloß begleitet.“

An dem Tage, an dem die Auflösung der Duma beschlossen wurde und die hohen Würdenträger wie die Liberalen einen Angstparoxismus durchmachten, schrieb der Zar in sein Tagebuch: „7. Juli. Freitag. Ein sehr beschäftigter Morgen. Haben uns zum Frühstück mit den Offizieren um eine halbe Stunde verspätet ... Es war Gewitter und sehr schwül. Gingen zusammen spazieren. Empfing Goremykin; unterschrieb den Befehl zur Auflösung der Duma! Haben Mittag gegessen bei Olga und Petja. Den ganzen Abend gelesen.“ Ein Ausrufungszeichen anläßlich der bevorstehenden Dumaauflösung ist der höchste Ausdruck seiner Gefühlsregungen.

Die Deputierten der auseinandergejagten Duma riefen das Volk auf, Steuerzahlungen und Militärpflicht zu verweigern. Eine Reihe militärischer Aufstände brach aus: in Sweaborg, in Kronstadt, auf den Schiffen, bei Armeeteilen; der revolutionäre Terror gegen hohe Beamte lebte in nie dagewesenem Maße auf Der Zar schreibt: „9. Juli. Sonntag. Es ist geschehen! Die Duma ist heute aufgelöst worden. Beim Frühstück nach der Messe sah man viele lange Gesichter ... Das Wetter war herrlich. Trafen beim Spaziergange Onkel Mischa, der gestern aus Gatschina hierher übergesiedelt ist. Bis zum Mittagessen und den ganzen Abend ruhig gearbeitet. Fuhr Paddelboot.“ Daß er ausgerechnet Paddelboot fuhr, ist vermerkt, womit er sich aber beschäftigte, ist nicht gesagt. Und so immer wieder.

Weiter, aus den gleichen schicksalsvollen Tagen: „14. Juli. Nachdem ich mich angezogen hatte, fuhr ich per Rad zur Badeanstalt und badete mit Genuß im Meere.“ – „15. Juli. Zweimal gebadet. Es war sehr heiß. Aßen zu Mittag zu zweien. Das Gewitter ist vorüber.“ – „19. Juli. Morgens gebadet. Empfang auf der Farm: Onkel Wladimir und Tschagin waren zum Frühstück da.“ Aufstände und Dynamitexplosionen werden in einer einzigen Wertung gestreift – „Nette Ereignisse!“ –, verblüffend durch eine niedrige Teilnahmslosigkeit, die sich nicht mal bis zum bewußten Zynismus entwickelt.

„Um 9.30 Uhr morgens fuhren wir zum Kaspischen Regiment ... Ging lange spazieren. Das Wetter war herrlich. Badete im Meere. Empfing nach dem Tee Lwow und Gutschkow.“ Kein Wort darüber, daß dieser so gewöhnliche Empfang zweier Liberaler mit dem Versuch Stolypins zusammenhing, in sein Ministerium oppositionelle Politiker einzubeziehen. Fürst Lwow, das spätere Haupt der Provisorischen Regierung, berichtete damals über den Empfang beim Zaren: „Ich hatte erwartet, den Kaiser vom Unglück niedergeschlagen vorzufinden, statt dessen kam ein lustiges, munteres Kerlchen in einem himbeerroten Blusenhemd zu mir heraus.“

Der geistige Horizont des Zaren reichte nicht weiter als der eines kleineren Polizeibeamten, mit dem Unterschiede, daß dieser immerhin die Wirklichkeit besser kannte und von Aberglauben weniger belastet war. Die einzige Zeitung, die Nikolaus während einer Reihe von Jahren las und aus der er seine Ideen schöpfte, war eine Wochenschrift, die Fürst Meschtscherski auf Staatskosten herausgab, ein niedriger, käuflicher, selbst im eigenen Kreise der reaktionären Bürokratencliquen verachteter Journalist. Seinen Horizont hat der Zar über zwei Kriege und zwei Revolutionen hinweg sich unverändert bewahrt: zwischen seinem Bewußtsein und den Ereignissen stand stets trennend die undurchdringliche Sphäre der Gleichgültigkeit.

Nicht ohne Grund nannte man Nikolaus einen Fatalisten. Man muß nur hinzufügen, daß dieser Fatalismus das gerade Gegenteil eines aktiven Glaubens an seinen „Stern“ war. Nikolaus selbst hielt sich vielmehr für einen Pechvogel. Sein Fatalismus war lediglich die Form eines passiven Selbstschutzes gegen die geschichtliche Entwicklung und ging Hand in Hand mit einer Willkür, die ihren psychologischen Motiven nach kleinlich, ihren Folgen nach ungeheuerlich war.

„Ich will, und darum muß es so sein“, schreibt Graf Witte, „diese Parole äußerte sich in allen Handlungen dieses willensschwachen Herrschers, der nur infolge seiner Schwäche all das getan hat, was seine Regierung charakterisierte – ein fortwährendes und in den meisten Fällen völlig zweckloses Vergießen mehr oder minder unschuldigen Blutes ...“

Man verglich Nikolaus manchmal mit seinem halbirrsinnigen Ururgroßvater Paul, der, mit Zustimmung des eigenen Sohnes, Alexander des „Gesegneten“, von einer Kamarilla erdrosselt wurde. Diese zwei Romanows gleichen sich tatsächlich in dem Mißtrauen gegen alle, das aus ihrem Mißtrauen gegen sich selbst erwuchs; in dem Argwohn einer allmächtigen Null; in dem Gefühl des Ausgestoßenseins, man könnte sagen, in dem Bewußtsein gekrönter Parias. Jedoch war Paul unvergleichlich farbiger. In seinem Wahnsinn war ein Element von Phantasie, wenn auch von unzurechnungsfähiger. An seinem Nachfahren ist alles farblos, ist kein greller Zug.

Nikolaus war nicht nur unbeständig, sondern auch treubrüchig. Die Schmeichler nannten ihn für seine Sanftmut gegen Hofleute: „Charmeur.“ Besondere Freundlichkeit jedoch erwies der Zar jenen Würdenträgern, die er davonzujagen beschlossen hatte: ein von ihm beim Empfang über alle Maßen bezauberter Minister konnte zu Hause den Entlassungsbrief vorfinden. Das war eine Art Rache für die eigene Minderwertigkeit.

Nikolaus wandte sich feindselig von allen Begabten und Bedeutenden ab. Es behagte ihm nur unter unfähigen, geistig minderwertigen Menschen, Scheinheiligen, Schwächlingen, zu denen er nicht emporzublicken brauchte. Er besaß Ehrgeiz, einen sogar raffinierten, aber nicht aktiven Ehrgeiz, der, ohne ein Körnchen Initiative nur der neidischen Selbstverteidigung diente. Seine Minister wählte er nach dem Prinzip des ständigen Abwärtsgleitens aus. Menschen von Geist und Charakter holte er nur in äußerstem Falle, wenn es keinen anderen Ausweg gab, etwa wie man einen Chirurgen zur Rettung des Lebens holt. So war es mit Witte und später mit Stolypin. Der Zar verhielt sich zu beiden mit schlecht verborgener Feindseligkeit. Sobald die zugespitzte Situation vorüber war, beeilte er sich, die Ratgeber loszuwerden, die ihm zu offensichtlich überlegen waren. Die Auswahl wirkte sich so systematisch aus, daß der Vorsitzende der letzten Duma, Rodsjanko, am 7. Januar 1917, als die Revolution an die Türen pochte, es wagen durfte, dem Zaren zu sagen: „Majestät, es ist kein einziger zuverlässiger und ehrlicher Mensch in Ihrer Umgebung geblieben, die Besten sind entfernt worden oder gegangen, es sind nur solche geblieben, die in schlechtem Rufe stehen.“

Alle Bemühungen der liberalen Bourgeoisie, mit dem Hof eine gemeinsame Sprache zu finden, scheiterten. Der unermüdliche, polternde Rodsjanko versuchte durch seine Vorträge den Zaren aufzurütteln. Vergeblich! Dieser überging schweigend nicht nur alle Argumente sondern auch Anmaßungen und bereitete im stillen die Auflösung der Duma vor. Der Großfürst Dmitrij, der damalige Liebling des Zaren und spätere Teilnehmer an der Ermordung Rasputins, klagte seinem Mitverschworenen, dem Fürsten Jussupow, daß der Zar im Hauptquartier mit jedem Tage gleichgültiger gegen seine ganze Umgebung werde. Nach Dmitrijs Meinung gäbe man dem Zaren irgendein Getränk ein, das dessen geistige Fähigkeiten abstumpfe. „Es gingen Gerüchte“, schreibt der liberale Historiker Miljukow seinerseits, „daß der Zustand der geistigen und moralischen Apathie beim Zaren durch starken Genuß von Alkohol aufrechterhalten würde.“ Das aber waren alles Erfindungen oder Übertreibungen. Der Zar brauchte nicht zu Narkotika zu greifen: er hatte das tödliche „Getränk“ schon im Blute. Nur waren dessen Wirkungen besonders verblüffend auf dem Hintergrunde der großen Ereignisse des Krieges und der inneren Krise, die zur Revolution geführt hat. Rasputin, der ein guter Psychologe war, pflegte vom Zaren kurz zu sagen, daß ihm „im Innern etwas fehlt“.

Dieser farblose, gleichmäßige, „guterzogene“ Mann war grausam. Es war aber nicht die aktive, historische Ziele verfolgende Grausamkeit eines Iwan des Schrecklichen oder Peter – was hatte Nikolaus II. mit diesen gemein! –, sondern die feige Grausamkeit eines Letztgeborenen, dem vor seinem Geschick bange war. Schon in der Morgenröte seiner Regierung lobte Nikolaus die „braven Fanagorier“ für die Niederschießung von Arbeitern. Er „las mit Vergnügen“, wie man mit Nagajkas die „kurzgeschorenen“ Studentinnen peitschte oder während der jüdischen Pogrome hilflosen Menschen die Schädel einschlug. Der Ausgestoßene auf dem Throne hatte stets eine Neigung für den Auswurf der Gesellschaft, für die Plünderer der Schwarzen Hundert; er zahlte ihnen nicht nur freigebig einen Sold aus der Staatskasse, sondern liebte es auch, sich mit ihnen über ihre Heldentaten zu unterhalten, ihnen Gnaden zu erweisen, besonders wenn sie zufällig bei einem Mord an dem einen oder anderen oppositionellen Deputierten erwischt worden waren. Witte, der während der Niederwerfung der ersten Revolution an der Spitze der Regierung stand, schreibt in seinen Memoiren: „Wenn nutzlose, grausame Ausschreitungen der Anführer von Strafexpeditionen dem Kaiser bekannt wurden, fanden sie seine Billigung, jedenfalls seinen Schutz.“ In Beantwortung einer Forderung des baltischen Generalgouverneurs, einen gewissen Kapitänleutnant Richter zur Räson zu bringen, der „aus eigener Ermächtigung ohne jegliches Gerichtsverfahren auch Personen hinrichtete, die keinen Widerstand geleistet hatten“, schrieb der Zar auf den Bericht: „Braver Kerl!“ Solche Aufmunterungen gibt es ohne Zahl. Dieser „Charmeur“ ohne Willen, ohne Ziel, ohne Phantasie war schrecklicher als alle Tyrannen der alten und der neuen Geschichte.

Der Zar stand unter dem ungeheuren Einfluß der Zarin, der mit den Jahren und mit den Schwierigkeiten stetig zunahm. Zusammen bildeten sie irgendwie ein Ganzes. Schon diese Verbindung zeigt, in welch hohem Maße unter dem Druck der Verhältnisse das Persönliche durch das Gruppenmäßige ergänzt wird. Vorerst aber muß man einiges über die Zarin sagen.

Maurice Paléologue, während des Krieges französischer Gesandter in Petrograd, ein feiner Psychologe für französische Akademiker und Portierfrauen, gibt ein sorgsam gelecktes Porträt der letzten Zarin: „Moralische Ruhelosigkeit, chronische Traurigkeit, grenzenlose Wehmut, wechselnde Ab- und Zunahme der Kräfte, quälende Gedanken über die jenseitige, unsichtbare Welt, Aberglaube – bilden denn nicht alle diese Züge, die an der Persönlichkeit der Zarin so scharf hervortreten, die charakteristischen Eigenschaften des russischen Volkes?“ So seltsam das ist, in dieser süßlichen Lüge ist ein Körnchen Wahrheit. Nicht umsonst hat der russische Satiriker Saltykow die Minister und Gouverneure aus den Reihen der baltischen Barone „Deutsche mit russischer Seele“ genannt: zweifellos haben gerade die Fremden, die nichts mit dem Volke verband, den „echtrussischen“ Administrator in Reinkultur hochgezüchtet.

Weshalb aber zollte das Volk, dessen Seele die Zarin, nach den Worten Paléologues, so vollkommen in sich aufgenommen hatte, ihr so unverhüllten Haß? Die Antwort ist einfach: zur Rechtfertigung ihrer neuen Lage hatte sich diese Deutsche mit kühler Besessenheit alle Traditionen und Eingebungen des russischen Mittelalters, des dürftigsten und rauhesten von allen, angeeignet, in einer Periode, in der das Volk gewaltige Anstrengungen machte, um sich von der eigenen mittelalterlichen Barbarei zu befreien. Diese hessische Prinzessin war buchstäblich vom Dämon des Selbstherrschertums erfüllt. Aus ihrem Krähwinkel zu den Höhen eines byzantinischen Despotismus emporgekommen, wollte sie von diesen um keinen Preis hinabsteigen. In dem orthodoxen Glauben fand sie die Mystik und die Magie, die ihrem neuen Schicksal angepaßt waren. Sie glaubte um so fester an ihre Berufung, je unverhüllter die Abscheulichkeit des alten Regimes zutage trat. Von starkem Charakter und mit der Fähigkeit zu trockener, gefühlloser Exaltation, ergänzte die Zarin den willenlosen Zaren, indem sie ihn beherrschte.

Am 17. März 1916, ein Jahr vor der Revolution, als das zerrüttete Land sich bereits in der Zange der Niederlagen und Zerstörung wand, schrieb die Zarin ihrem Manne ins Hauptquartier: „... Du darfst keine Nachgiebigkeit zeigen, verantwortliches Ministerium und so weiter – alles was sie wollen. Das muß Dein Krieg und Dein Friede sein, Deine Ehre und die unserer Heimat, keinesfalls die der Duma. Sie haben kein Recht, auch nur ein einziges Wort in diese Frage hineinzureden.“ Das war jedenfalls ein geschlossenes Programm, und gerade dieses Programm obsiegte über alle Schwankungen des Zaren.

Nach der Abreise Nikolaus zur Armee in seiner Eigenschaft des fiktiven Oberkommandierenden begann die Zarin offen über die inneren Angelegenheiten zu verfügen. Die Minister erstatteten ihr Bericht wie einer Regentin. Mit einer engen Kamarilla bildete sie eine Verschwörung gegen die Duma, gegen die Minister, gegen die Generale des Hauptquartiers, gegen die ganze Welt, teilweise auch gegen den Zaren. Am 6. Dezember 1916 schrieb die Zarin an den Zaren: „... da Du einmal gesagt hast, Du willst Protopopow behalten, wie wagt er (der Premier Trepow) gegen Dich zu sein, – schlag mal mit der Faust auf den Tisch, bleibe fest, sei der Herr, höre auf Dein hartes Weibchen und auf unseren Freund, vertraue uns.“ Nach drei Tagen abermals: „Du weißt, daß Du im Recht bist, trage den Kopf hoch, befiehl Trepow, mit ihm zu arbeiten ... schlag mit der Faust auf den Tisch.“ Diese Sätze scheinen wie erfunden. Sie sind jedoch den echten Briefen entnommen. Man könnte sie auch nicht erfinden.

Am 13. Dezember suggeriert die Zarin dem Zaren wieder: „Nur kein verantwortliches Ministerium, auf das jetzt alle versessen sind. Alles wird ruhiger und besser, man will aber Deinen Arm fühlen. Wie lange Jahre schon sagt man mir immer dasselbe: „Rußland liebt es, die Peitsche zu fühlen“, das ist seine Natur!“ Die rechtgläubige Hessin mit der Erziehung von Windsor und der Krone von Byzanz auf dem Haupte „verkörpert“ nicht nur die russische Seele, sondern verachtet sie auch organisch: seine Natur verlange die Peitsche, schreibt die russische Zarin dem russischen Zaren über das russische Volk, zweieinhalb Monate bevor die Monarchie in den Abgrund stürzt.

Ihm an Charakterstärke überlegen, steht die Zarin geistig nicht über ihrem Mann, eher sogar unter ihm; mehr noch als er sucht sie die Gesellschaft von Einfältigen. Die enge langjährige Freundschaft, die den Zaren und die Zarin mit dem Hoffräulein Wyrubowa verbindet, zeigt das Maß der geistigen Größe des Selbstherrscherpaares. Wyrubowa nannte sich selber einen Dummkopf, und das war nicht Bescheidenheit. Witte, dem man ein scharfes Auge nicht absprechen kann, charakterisierte sie als „ein ganz gewöhnliches, dummes Petersburger Fräulein, nicht schön, einer Blase aus Butterteig ähnlich“. In Gesellschaft dieser Person, der betagte Würdenträger, Gesandte und Finanzleute vor Ehrfurcht vergehend, den Hof machten und die immerhin gescheit genug war, die eigenen Taschen nicht zu vergessen, verbrachten Zar und Zarin ungezählte Stunden, berieten mit ihr Geschäfte, korrespondierten mit ihr und über sie. Sie war einflußreicher als die Reichsduma und selbst die Ministerien.

Aber die Wyrubowa war nur das Medium des „Freundes“, dessen Autorität über den dreien stand. „... das ist meine private Meinung“, schreibt die Zarin an den Zaren, „ich werde erfahren, was unser Freund denkt.“ Die Meinung des Freundes ist nicht privat, sie entscheidet. „... Ich bleibe fest“, wiederholt die Zarin nach einigen Wochen, „aber höre auf mich, das heißt auf unseren Freund, und vertraue Dich uns in allem an ... Ich leide für Dich, wie für ein zartes, weichherziges Kind, das der Leitung bedarf, aber auf schlechte Ratgeber hört, während der Mann, der von Gott gesandt, ihm sagt, was zu tun ist.“

„... Gebete und Hilfe unseres Freundes – dann wird alles gut gehen.“

„Wenn wir ihn nicht hätten, alles wäre längst zu Ende, davon bin ich fest überzeugt.“

Der Freund, der von Gott Gesandte, ist Grigorij Rasputin.

Während der ganzen Regierung Nikolaus’ und Alexandras brachte man Wahrsager und Fallsüchtige an den Hof, nicht nur aus ganz Rußland, sondern auch aus anderen Ländern. Es gab besondere hochgestellte Lieferanten, die sich um das jeweilige Orakel gruppierten und neben dem Monarchen ein allmächtiges Oberhaus bildeten. Es mangelte hier nicht an alten Frömmlerinnen gräflichen Namens, an Würdenträgern, die sich nach Ämtern sehnten, an Finanzleuten, die ganze Ministerien pachteten. Die unpatentierte Konkurrenz von seiten der Hypnotiseure und Zauberer eifersüchtig verfolgend, beeilten sich die Hierarchen der orthodoxen Kirche, eigene Wege in das zentrale Heiligtum der Intrige anzulegen. Witte nannte diese regierende Clique, an der er zweimal zerschellte, „die aussätzige Palastkamarilla“.

Je mehr sich die Dynastie isolierte und je verwahrloster der Monarch sich fühlte, um so größer wurde sein Bedürfnis nach jenseitiger Hilfe. Es gibt Wilde, die, um gutes Wetter hervorzurufen, ein an einem Strick befestigtes Brettchen in der Luft herumschwingen. Zar und Zarin nahmen Brettchen zu Hilfe für die mannigfaltigsten Zwecke. Im Zarenwaggon befand sich ein Betraum, ausstaffiert mit Heiligenbildern und -bildchen so wie anderen Kultgegenständen, die zuerst der japanischen Artillerie entgegengestellt worden waren und später der deutschen.

Das Niveau des Hofkreises hatte sich eigentlich von Generation zu Generation nicht sonderlich verändert. Unter Alexander II., dem „Befreier“, glaubten die Großfürsten aufrichtig an Hausgeister und Hexen. Unter Alexander III. war es nicht besser, nur ruhiger. „Die aussätzige Kamarilla“ existierte stets, sie wechselte bloß die Zusammensetzung und erneuerte ihre Methoden. Nikolaus II. hatte die höfische Atmosphäre des wilden Mittelalters nicht geschaffen, sondern von seinen Ahnen übernommen. Das Land veränderte sich in diesen Jahrzehnten, die Aufgaben wurden komplizierter, die Kultur stieg, doch der Hof blieb weit zurück. Wenn auch die Monarchie unter den Schlägen der neuen Mächte Zugeständnisse machte, so hatte sie doch keine Zeit, sich innerlich zu modernisieren; im Gegenteil, sie schloß sich immer mehr ab, der Geist des Mittelalters verdichtete sich unter dem Druck der Feindschaft und Furcht, bis er den Charakter eines widerlichen Alpdruckes bekam, der sich auf das Land legte.

Am 1. November 1905, das heißt im kritischsten Augenblick der ersten Revolution, schreibt der Zar in sein Tagebuch: „Lernte einen Mann Gottes, Grigorij, aus dem Gouvernement Tobolsk kennen.“ Das war Rasputin, ein sibirischer Bauer mit nicht verheilenden Schrammen am Kopfe, herrührend von Schlägen wegen Pferdediebstahls. Im rechten Augenblick aufgetaucht, fand der „Mann Gottes“ bald hochgestellte Helfer, richtiger, sie fanden ihn, und so entstand eine neue regierende Clique, die die Zarin und durch sie den Zaren fest in ihre Hände bekam.

Seit dem Winter der Jahre 1913/14 sprach man in der Petersburger Gesellschaft bereits offen davon, daß alle höheren Ernennungen, Lieferungen und Aufträge von der Rasputinclique abhängig seien. Der „Starez“ selbst verwandelte sich allmählich in eine Staatsinstitution. Er wurde sorgsam bewacht und von den rivalisierenden Ministerien nicht weniger sorgsam beobachtet. Die Spitzel des Polizeidepartements führten nach Stunden Tagebuch über sein Leben und versäumten nicht zu berichten, daß sich Rasputin beim Besuch seines Heimatdorfes Pokrowskoje betrunken auf der Straße mit seinem Vater blutig prügelte. Am gleichen Tage, dem 9. September 1915, schickte Rasputin zwei freundschaftliche Telegramme ab, eines nach Zarskoje Selo, der Zarin, das andere in das Hauptquartier, dem Zaren.

In epischer Sprache registrierten die Spitzel tagein tagaus die Völlereien des „Freundes“. „Kehrte heute um 5 Uhr morgens heim, stockbetrunken.“ „In der Nacht vom 25. zum 26. übernachtete bei Rasputin die Schauspielerin W.“ „Ist mit der Fürstin D. (der Frau des Kammerjunkers beim Zarenhof) im Hotel Astoria angekommen ...“ Gleich hierauf: „Kehrte aus Zarskoje Selo um 11 Uhr abends heim.“ „Rasputin kam mit der Fürstin Sch. sehr betrunken nach Hause. Sie gingen bald zusammen weg.“ Am Morgen oder am Abend des nächsten Tages eine Reise nach Zarskoje Selo. Auf die teilnehmende Frage des Spitzels, weshalb er heute so nachdenklich sei, antwortet der „Starez“: „Kann mich nicht entschließen, soll die Duma einberufen werden oder nicht.“ Dann wieder: „Kehrte um 5 Uhr morgens heim, ziemlich betrunken.“ So wurde monate- und jahrelang auf drei Tasten immer die gleiche Melodie gespielt: „Ziemlich betrunken“, „sehr betrunken“, „stockbetrunken“. Diese staatswichtigen Nachrichten verband zu einer Einheit und bekräftigte mit seiner Unterschrift der Gendarmeriegeneral Globatschew.

Die Blüte des Rasputinschen Einflusses währte sechs Jahre, die letzten Jahre der Monarchie. „Sein Leben in Petersburg“, erzählt Fürst Jussupow, bis zu einem gewissen Grade Teilnehmer dieses Lebens und später Rasputins Mörder, „verwandelte sich in ein ununterbrochenes Fest, in die wüste Orgie eines Zuchthäuslers, dem unverhofft das Glück in den Schoß gefallen war.“ „In meinem Besitze befand sich“, schreibt der Dumavorsitzende Rodsjanko, „eine Unmenge Briefe von Müttern, deren Töchter dieser schamlose Wüstling mißbraucht hatte.“ Gleichzeitig verdankten der Petersburger Metropolit Pitirin und der kaum des Lesens und Schreibens kundige Erzbischof Warnawa ihre Ämter Rasputin. Durch ihn hielt sich auch lange Zeit der Oberprokureur des Heiligen Synods, Sabler, im Amte, auf Rasputins Wunsch und Willen wurde der Premier Kokowzew entlassen, der sich geweigert hatte, den „Starez“ zu empfangen. Rasputin ernannte Stürmer zum Vorsitzenden des Ministerrats, Protopopow zum Minister des Innern, den neuen Oberprokureur des Synods, Rajew, und viele andere. Der Gesandte der Französischen Republik, Paléologue, bemühte sich um eine Zusammenkunft mit Rasputin, er küßte sich mit ihm und rief aus: „Voilà un véritable illuminé!“, um so der Zarin Herz für die Sache Frankreichs zu erobern. Der Jude Simanowitsch, des „Starez“ Finanzagent, den die Kriminalpolizei als einen Spieler und Wucherer in ihren Listen führte, setzte mit Rasputins Hilfe durch, daß ein völlig ehrloses Subjekt, Dobrowolski, zum Justizminister ernannt wurde. „Sieh Dir die kleine Liste an“, schreibt die Zarin an den Zaren über die neuen Ernennungen, „unser Freund bittet, daß Du Dich über all dies mit Protopopow besprichst.“ Nach zwei. Tagen: „Unser Freund sagt, Stürmer könne noch einige Zeit Vorsitzender des Ministerrats bleiben.“ Und wieder: „Protopopow verehrt ehrfurchtsvoll unsern Freund und wird gesegnet werden.“

An einem jener Tage, als die Spitzel die Zahl der Flaschen und Frauen registrierten, schrieb die Zarin wehmütig an den Zaren: „Rasputin wird beschuldigt, daß er Frauen geküßt habe, und so weiter. Lies die Apostel – sie haben alle zum Gruße geküßt.“ Der Hinweis auf die Apostel hätte die Spitzel kaum zu überzeugen vermocht. In einem anderen Briefe geht die Zarin noch weiter: „Während des abendlichen Evangeliums habe ich soviel über unseren Freund nachdenken müssen: wie doch die Buchgelehrten und Pharisäer Christus verfolgen und sich verstellen, als wären sie Vollkommenheiten ... Ja, wahrhaftig, es gilt kein Prophet in seinem Vaterlande.“

Der Vergleich Rasputins mit Christus war in diesem Kreise üblich und nicht zufällig. Die Angst vor den mächtigen Kräften der Geschichte war zu stark, als daß sich das Zarenpaar mit dem unpersönlichen Gott und dem körperlosen Schatten des Christus aus dem Evangelium begnügen konnte. Es bedurfte einer Wiederkunft des „Menschensohnes“. Die ausgestoßene, in Agonie liegende Monarchie fand in Rasputin einen Christus nach ihrem Ebenbilde.

„Hätte es Rasputin nicht gegeben“, sagte ein Mann des alten Regimes, der Senator Taganzew. „dann hätte man ihn erfinden müssen.“ Diese Worte enthalten viel mehr, als ihr Autor geglaubt haben mag. Versteht man unter Hooliganentum den krassesten Ausdruck antisozialer, parasitärer Züge in den Tiefen der Gesellschaft, kann man die Rasputiniade mit vollem Recht als das gekrönte Hooliganentum auf seinem höchsten Gipfel bezeichnen.


Fußnote von Trotzki

1. Es sind immer Zar und Zarin gemeint.

 


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008