Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 1: Februarrevolution

 

Kapitel 23:
Schlußbetrachtung

Auf den ersten Seiten dieser Arbeit haben wir uns bemüht zu zeigen, wie tief die Oktoberrevolution in den sozialen Verhältnissen Rußlands begründet war. Keinesfalls den vollzogenen Ereignissen nachträglich angepaßt, war unsere Analyse schon vor der Revolution und sogar schon vor ihrem Prolog im Jahre 1905 gegeben.

Auf den weiteren Seiten waren wir bestrebt nachzuweisen, wie sich die sozialen Kräfte Rußlands in den Revolutionsereignissen ausgewirkt haben. Wir registrierten die Tätigkeit der politischen Parteien in deren Verhältnis zu den Klassen. Die Sympathien und Antipathien des Autors können beiseite gelassen werden. Eine historische Darstellung hat das Recht, Anspruch auf Zuerkennung der Objektivität zu erheben, wenn sie, gestützt auf präzis festgestellte Tatsachen, deren inneren Zusammenhang auf Grundlage der realen Entwicklung der sozialen Beziehungen aufzeigt. Die innere Gesetzmäßigkeit des Prozesses, die dabei zum Vorschein kommt, ist an sich die beste Nachprüfung der Objektivität der Darstellung.

Die an dem Leser vorübergezogenen Ereignisse der Februarrevolution bestätigten die theoretische Prognose, vorläufig wenigstens zur Hälfte, durch die Methode aufeinanderfolgender Streichungen: noch bevor das Proletariat zur Macht kam, wurden alle anderen Varianten der politischen Entwicklung vom Leben nachgeprüft und als untauglich verworfen.

Die Regierung der liberalen Bourgeoisie mit der demokratischen Geisel Kerenski erweist sich als ein vollständiges Fiasko. Die „Apriltage“ sind die erste offene Warnung seitens der Oktoberrevolution an die Adresse des Februar. Die bürgerliche Provisorische Regierung wird hierauf von der Koalition abgelöst, deren Fruchtlosigkeit sich mit jedem Tag ihres Bestehens neu enthüllt. In der vom Exekutivkomitee aus eigener Initiative, wenn auch nicht ganz freiwillig, anberaumten Junidemonstration, versucht die Februarrevolution mit der des Oktober ihre Kräfte zu messen und erleidet eine grausame Niederlage. Diese war um so fataler, als sie sich in der Arena von Petrograd abspielte und von den gleichen Arbeitern und Soldaten bereitet wurde, die die Februarumwälzung vollbracht hatten, die dann vom übrigen Lande übernommen worden war. Die Junidemonstration hatte gezeigt, daß die Arbeiter und Soldaten Petrograds einer zweiten Revolution entgegengingen, deren Ziele auf ihren Bannern geschrieben waren. Untrügbare Anzeichen bewiesen, daß sich das ganze übrige Land, wenn auch mit unvermeidlicher Verspätung, Petrograd anpaßte. Somit hatte sich die Februarrevolution am Ende des vierten Monats politisch erschöpft. Die Versöhnler verloren das Vertrauen der Arbeiter und Soldaten. Ein Zusammenstoß der führenden Sowjetparteien mit den Sowjetmassen wird von nun an unvermeidlich. Nach der Demonstration vom 18. Juni, die eine friedliche Nachprüfung des Kräfteverhältnisses zweier Revolutionen war, mußte der Gegensatz unvermeidlich offenen und gewaltsamen Charakter annehmen.

So erwuchsen die „Julitage“. Zwei Wochen nach der von oben organisierten Demonstration gingen die gleichen Arbeiter und Soldaten, nun aus eigener Initiative, auf die Straße und verlangten vom Zentral-Exekutivkomitee, daß es die Macht übernehme. Die Versöhnler lehnten rundweg ab. Die Julitage führten zu Straßenzusammenstößen und Opfern und endeten mit der Niederschlagung der Bolschewiki, die man für den Bankrott des Februarregimes verantwortlich erklärte. Der Antrag, die Bolschewiki außer Gesetz zu stellen und zu entwaffnen, den Zeretelli am 11. Juli eingebracht hatte und der damals abgelehnt worden war, wurde Anfang Juli restlos verwirklicht. Die bolschewistischen Zeitungen wurden verboten. Die bolschewistischen Truppenteile aufgelöst. Man nahm den Arbeitern die Waffen weg. Die Parteiführer wurden für Mietlinge des deutschen Generalstabs erklärt. Die einen mußten sich verbergen, die anderen saßen in Gefängnissen.

Aber gerade der „Juli“-Sieg der Versöhnler über die Bolschewiki enthüllte restlos die Ohnmacht der Demokratie. Die Demokraten mußten gegen Arbeiter und Soldaten offen konterrevolutionäre, nicht nur den Bolschewiki, sondern auch den Sowjets feindliche Truppen werfen: über eigene Truppen verfügte das Exekutivkomitee bereits nicht mehr.

Die Liberalen zogen daraus die richtige Schlußfolgerung, die Miljukow in der Alternative formulierte: Kornilow oder Lenin! Tatsächlich ließ die Revolution für die goldene Mitte keinen Platz mehr. Die Konterrevolution sagte sich: jetzt oder nie. Unter dem Vorwand eines Feldzuges gegen die Bolschewiki entfesselte der Oberkommandierende Kornilow die Rebellion gegen die Revolution. Wie vor der Umwälzung jede Form von legaler Opposition sich mit Patriotismus umhüllte, das heißt mit den Erfordernissen des Kampfes gegen die Deutschen, so deckte sich nach der Umwälzung jede Form von legaler Konterrevolution mit Erfordernissen des Kampfes gegen die Bolschewiki. Kornilow genoß die Unterstützung der besitzenden Klassen und deren Partei, der Kadetten. Dies hat nicht nur nicht verhindert, sondern im Gegenteil dazu beigetragen, daß die von Kornilow gegen Petrograd gesandten Truppen ohne Kampf besiegt wurden, ohne Zusammenstoß kapitulierten, verdampften wie ein Wassertropfen auf einem glühenden Herd. Auf diese Weise wurde auch der Versuch einer Umwälzung von rechts ausprobiert, und zwar von einer Person, die an der Spitze der Armee stand; das Kräfteverhältnis zwischen den besitzenden Klassen und dem Volke wurde durch die Aktion nachgeprüft, und bei der Alternative „Kornilow oder Lenin“ fiel Kornilow wie eine faule Frucht ab, obwohl Lenin zu jener Zeit noch gezwungen war, sich in tiefstem Unterschlupf zu verbergen.

Welche Variante blieb danach noch unausgenutzt, unerprobt, unversucht? Die Variante des Bolschewismus. Und in der Tat, nach dem Kornilowschen Versuch und dessen ruhmlosem Zusammenbruch wenden sich die Massen stürmisch und endgültig den Bolschewiki zu. Die Oktoberrevolution naht mit physischer Notwendigkeit. Zum Unterschiede von der Februarumwälzung, die man unblutig genannt hat, obwohl sie in Petrograd viele Opfer kostete, vollzieht sich die Oktoberumwälzung in der Hauptstadt tatsächlich unblutig. Haben wir da nicht das Recht zu fragen: welche Beweise für die tiefe Gesetzmäßigkeit der Oktoberrevolution sind noch zu erbringen notwendig? Und ist es nicht klar, daß sie nur jenen als Frucht von Abenteuer oder Demagogie erscheinen konnte, die sie an der empfindlichsten Stelle traf: am Geldbeutel. Der blutige Kampf begann erst nach der Eroberung der Macht durch die bolschewistischen Sowjets, als die gestürzten Klassen mit materieller Unterstützung der Ententeregierung verzweifelte Anstrengungen machten, das Verlorene zurückzugewinnen. Es beginnen die Jahre des Bürgerkrieges. Die Rote Armee wird aufgebaut. Das hungernde Land wird auf das Regime des Kriegskommunismus übergeleitet und in ein spartanisches Lager verwandelt. Schritt für Schritt bahnt sich die Oktoberrevolution den Weg, schlägt alle Feinde zurück, geht zur Lösung ihrer Wirtschaftsaufgaben über, heilt die schwersten Wunden des imperialistischen und des Bürgerkrieges, erringt größte Erfolge auf dem Gebiete der Industrieentwicklung. Vor ihr erstehen jedoch neue Schwierigkeiten, die sich aus ihrer isolierten Lage in der Umkreisung mächtiger kapitalistischer Länder ergeben. Die verspätete Entwicklung, die das russische Proletariat an die Macht brachte, hat diese Macht vor Aufgaben gestellt, die ihrem Wesen nach im Rahmen eines isolierten Staates nicht restlos gelöst werden können. Das Schicksal dieses Staates ist folglich ganz und gar mit dem weiteren Gang der Weltgeschichte verbunden.

Dieser erste, der Februarrevolution gewidmete Band beweist, wie und weshalb sie in nichts verrinnen mußte. Der zweite Band wird zeigen, wie die Oktoberrevolution siegte.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003