Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 2: Oktoberrevolution

 

Anhang zu Band 2

Außer der geschichtlichen Information zur Frage über die Theorie der „Permanenten Revolution“ haben wir in diesem Anhang zwei selbständige Kapitel verlegt: „Legenden der Bürokratie“ und „Sozialismus in einem Lande?“ Das Kapitel „Legenden“ ist der kritischen Wiederherstellung einer Reihe von Tatsachen und Episoden der Oktoberumwälzung gewidmet, die von der Epigonen-Historiographie entstellt wurden. Einer der Nebenzwecke dieses Kapitels besteht darin, träge Gehirne zu hindern, statt an eine Durcharbeitung des Tatsachenmaterial heranzugehen, sich von vornherein bei der billigen Schlußfolgerung zu beruhigen: „Die Wahrheit wird schon irgendwo in der Mitte liegen.“

Das Kapitel „Sozialismus in einem Lande?“ ist der wichtigen Frage in der Ideologie und dem Programm der bolschewistischen Partei gewidmet. Die von uns historisch beleuchtete Frage behält heute nicht nur ihr volles theoretisches Interesse, sondern hat in den letzten Jahren praktische Bedeutung ersten Ranges gewonnen.

Wir haben die zwei genannten Kapitel aus dem Gesamttext, dessen integralen Teil sie bilden, nur deshalb abgesondert, um jenem Leser die Sache zu erleichtern, der nicht dazu neigt, sieh mit strittigen Fragen zweiter Ordnung oder mit komplizierten theoretischen Problemen zu beschäftigen. Wenn aber der zehnte oder auch nur der hundertste Teil der Leser dieses Buches sich die Mühe nehmen wird, diesen Anhang aufmerksam zu lesen, wird sich der Autor als völlig belohnt betrachten für die von ihm ausgeführte große Arbeit: durch den nachdenkenden, fleißigen und kritischen Menschen bahnt sich die Wahrheit schließlich den Weg zu breiteren Kreisen.

 

 

Anhang 1 zu Band 2:
Legenden der Bürokratie

Die in diesem Buch entwickelte Konzeption der Oktoberumwälzung hat der Autor wiederholt, allerdings nur in allgemeinen Zügen, bereits in den ersten Jahren des Sowjetregimes dargestellt. Um seinen Gedanken greller zu beleuchten, gab er ihm mitunter quantitativen Ausdruck: die Aufgabe der Umwälzung, schrieb er, „war zu drei Viertel, wenn nicht zu neun Zehntel“ bereits vor dem 25. Oktober gelöst durch die Methode des „stillen“ oder „trockenen“ Aufstandes. Verleiht man Zahlen keine größere Bedeutung als jene, auf die sie in diesem Falle Anspruch erheben dürfen, bleibt der Gedanke an sich unbestreitbar. Seit der Zeit jedoch, wo die Umwertung der Werte begann, wurde unsere Konzeption auch in diesem ihrem Teil einer erbitterten Kritik ausgesetzt.

„... War am 9. Oktober der „siegreiche“ Aufstand zu neun Zehntel bereits vollzogene Tatsache“, schrieb Kamenjew, „wie soll man dann die geistigen Fähigkeiten jener einschätzen, die im Zentralkomitee der Bolschewiki saßen und am 10. Oktober leidenschaftlich darüber stritten, ob man den Aufstand beginnen und wann man ihn beginnen solle? Was kann man von Menschen sagen, die sich am 16. Oktober versammelten ... und wieder und wieder die Chancen des Aufstandes berieten? ... Es stellt sich ja heraus, er war bereits am 9. „still“ und „legal“ durchgeführt, und zwar so still, daß weder die Partei noch das Zentralkomitee es erfahren hatten.“ Dieses äußerlich so effektvolle Argument, das von der Literatur des Epigonentums kanonisiert wurde und seinen Autor politisch überlebt hat, ist in Wahrheit eine bestechende Anhäufung von Irrtümern.

Am 9. Oktober konnte der Aufstand noch keinesfalls „zu neun Zehntel vollzogene Tatsache gewesen sein, denn erst an diesem Tage wurde die Frage der Versetzung der Garnison im Sowjet gestellt, und man konnte nicht wissen, welche Entwicklung sie in der Folge nehmen würde. Gerade deshalb hatte Trotzki am nächsten Tage, dem 10., als er die Wichtigkeit der Frage der Truppenversetzung betonte, noch keine genügenden Gründe für die Forderung, den Konflikt der Garnison mit dem Kommando zur Grundlage des gesamten Planes zu machen. Erst nach zwei Wochen hartnäckiger täglicher Arbeit war die Hauptaufgabe des Aufstandes – die feste Gewinnung der Regierungstruppen für die Sache des Volkes – „zu drei Viertel, wenn nicht zu neun Zehntel“ gelöst. Dies war noch nicht der Fall am 10., auch nicht am 16. Oktober, als das Zentralkomitee zum zweiten Male die Frage des Aufstandes beriet und Krylenko bereits mit voller Bestimmtheit die Frage der Garnison in den Mittelpunkt stellte.

Aber selbst wenn die Umwälzung schon am 9. zu neun Zehntel gesiegt hätte, wie Kamenjew unseren Gedanken irrtümlich wiedergibt, dies mit Sicherheit festzustellen, wäre nicht durch Vermutungen möglich gewesen, sondern einzig durch die Tat, das heißt durch den Aufstand: die „geistigen Fähigkeiten“ der Zentralkomiteemitglieder sind auch in diesem rein hypothetischen Falle durch die Teilnahme an den leidenschaftlichen Debatten vom 10. und 16. Oktober nicht im mindesten kompromittiert. Aber auch wenn die Mitglieder des Zentralkomitees schon am 10. durch apriorische Einschätzungen vermocht hätten, unerschütterlich festzustellen, der Sieg sei tatsächlich zu neun Zehntel errungen, wäre noch nötig geblieben, das letzte Zehntel zu vollbringen; und dies hätte die gleiche Aufmerksamkeit erfordert, als wenn es sich um alle zehn Zehntel handelte. Wieviel solcher „fast“ gewonnenen Schlachten und Aufstände zeigt die Geschichte, die Niederlagen brachten nur deshalb, weil sie nicht rechtzeitig bis zur völligen Zerschmetterung des Gegners durchgeführt wurden! Schließlich – Kamenjew gelingt es, auch dies zu vergessen – war der Wirkungskreis des Militärischen Revolutionskomitees auf Petrograd beschränkt. So groß auch die Bedeutung der Hauptstadt ist, es exekutiert außer ihr immerhin noch das Land. Und unter diesem Gesichtspunkte hatte das Zentralkomitee Grund genug, die Chancen des Aufstandes sorgfältigst zu erwägen, nicht nur am 10. und 16., sondern auch noch am 26., das heißt nach dem Siege in Petrograd.

In der untersuchten Abhandlung nimmt Kamenjew Lenin in Schutz – alle Epigonen verteidigen sich unter diesem wirkungsvollen Pseudonym –: wie hätte denn Lenin so leidenschaftlich für den Aufstand kämpfen können, wenn dieser bereits zu neun Zehntel vollzogen gewesen wäre! Doch schrieb Lenin selbst Anfang Oktober: „Es ist sehr möglich, daß man gerade jetzt die Macht ohne Aufstand übernehmen kann ...“ Mit anderen Worten, Lenin ließ den Gedanken zu, daß eine „stille“ Umwälzung schon vor dem 9. sich vollzogen hätte, und zwar nicht zu neun, sondern zu zehn Zehntel, Er begriff jedoch, daß man diese optimistische Hypothese nicht anders als durch die Tat nachprüfen könne. Deshalb sagte Lenin im gleichen Brief: „Kann man die Macht nicht ohne Aufstand übernehmen, dann muß man an den Aufstand sofort herangehen.“ Und ebendiese Frage wurde am 10., 16. und an den übrigen Tagen erwogen.

Die neueste Sowjet-Historiographie hat aus der Oktoberrevolution völlig das äußerst bedeutsame und lehrreiche Kapitel über Lenins Meinungsverschiedenheiten mit dem Zentralkomitee gestrichen, sowohl im Grundsätzlichen und Prinzipiellen, wo Lenin recht hatte, wie auch in jenen partiellen, aber äußerst wichtigen Fragen, wo das Recht auf seiten des Zentralkomitees war: nach der neuen Doktrin konnten weder das Zentralkomitee noch Lenin irren, mithin konnte es zwischen ihnen auch keine Konflikte geben. In den Fällen, wo Meinungsverschiedenheiten nicht abzuleugnen sind, werden sie, einer allgemeinen Vorschrift entsprechend, auf Trotzki übertragen.

Die Tatsachen aber sprechen anders. Lenin drängte auf Einleitung des Aufstandes in den Tagen der Demokratischen Beratung: nicht ein Mitglied des Zentralkomitees unterstützte ihn. Eine Woche später schlug Lenin Smilga vor, den Aufstandsstab in Finnland zu organisieren und von dort mit den Kräften der Seeleute einen Schlag gegen die Regierung zu führen. Nach weiteren zehn Tagen drängte er darauf; den Nordkongreß zum Ausgangsmoment des Aufstandes zu machen. Auf dem Kongreß unterstützte niemand diesen Vorschlag. Lenin betrachtete Ende September ein Hinausziehen des Aufstandes um drei Wochen, bis zum Sowjetkongreß, als verhängnisvoll. Indes endete der Aufstand, vertagt bis zum Vorabend des Kongresses, während dessen Tagung. Lenin hatte vorgeschlagen, den Kampf in Moskau zu eröffnen, in der Annahme, dort werde sich die Sache ohne Waffengang entscheiden. In Wirklichkeit dauerte der Aufstand in Moskau, trotz dem vorangegangenen Sieg in Petrograd, acht Tage und forderte viele Opfer.

Lenin war kein Automat für unfehlbare Beschlüsse. Er war „nur“ ein genialer Mensch, und nichts Menschliches war ihm fremd, darunter auch nicht die Eigenschaft, zu irren. Lenin sagt über das Verhältnis von Epigonen zu großen Revolutionären: „Nach ihrem Tode versucht man, sie in harmlose Heiligenbilder zu verwandeln, sozusagen sie zu kanonisieren, ihrem Namen einen gebührenden Ruhm zu belassen ...“, um sie in Wirklichkeit desto gefahrloser zu verraten. Die Epigonen fordern Anerkennung der Unfehlbarkeit Lenins, um desto leichter dieses Dogma auf sich selbst übertragen zu können. [1]

Was Lenins Politik charakterisierte, war die Verbindung von kühnen Perspektiven mit sorgfältiger Einschätzung kleiner Tatsachen und Symptome. Lenins Isoliertheit hinderte ihn nicht, mit unvergleichlicher Tiefe die grundlegenden Etappen und Wendungen der Bewegung festzustellen, nahm ihm aber die Möglichkeit, episodische Faktoren und konjunkturmäßige Veränderungen rechtzeitig einzuschätzen. Die politische Situation war im allgemeinen derart günstig für den Aufstand, daß sie die Möglichkeit eines Sieges unter mannigfachen Varianten zuließ. Wäre Lenin in Petrograd gewesen und hätte er Anfang Oktober den Beschluß über den sofortigen Aufstand durchgesetzt, unabhängig vom Sowjetkongreß, er hätte zweifellos die Durchführung seines eigenen Planes politisch derart gestaltet, daß dessen Nachteile auf ein Minimum hinausgelaufen wären. Aber es ist mindestens ebenso wahrscheinlich, daß er in diesem Falle selbst jenen Plan gewählt hätte, der tatsächlich durchgeführt wurde.

Die Einschätzung der Rolle Lenins in der Gesamtstrategie der Umwälzung haben wir in einem besonderen Kapitel gegeben. Um unsern Gedanken über die taktischen Vorschläge Lenins zu präzisieren, wollen wir hinzufügen: ohne Lenins Druck, ohne sein Drängen, seine Vorschläge und Varianten würde sich das Beschreiten des Weges zum Aufstande mit unermeßlich größeren Schwierigkeiten vollzogen haben; wäre Lenin in den kritischen Wochen im Smolny gewesen, die Gesamtleitung des Aufstandes hätte, und zwar nicht nur in Petrograd, sondern auch in Moskau, ein bedeutend höheres Niveau gehabt; doch Lenin in der „Emigration“ konnte nicht Lenin im Smolny ersetzen.

Am schärfsten empfand seine ungenügende taktische Orientiertheit Lenin selbst. Am 24. September schreibt er im Rabotschyj Putj: „offenkundig wächst eine neue Revolution heran wir wissen leider wenig über Ausdehnung und Tempo dieses Anwachsens“. Diese Worte bilden sowohl einen Vorwurf an die Adresse der Parteileitung wie Klage über die eigene Uninformiertheit. In seinen Briefen an die wichtigsten Aufstandsregeln erinnernd, vergißt Lenin nicht, hinzuzufügen: „Das alles als Beispiel, nur zur Illustration natürlich.“ Am 8. Oktober schreibt Lenin an den Sowjetkongreß des Norddistrikts: „Ich will versuchen, mit meinen Ratschlägen eines Außenstehenden hervorzutreten, für den Fall, daß die wahrscheinliche Aktion der Arbeiter und Soldaten Petrograds ... bald stattfinden wird, aber noch nicht stattgefunden hat.“ Seine Polemik gegen Sinowjew und Kamenjew beginnt Lenin mit den Worten: „Der Publizist, der durch den Willen des Geschicks ein wenig abseits vom Hauptstrom der Geschichte gestellt ist, läuft ständig Gefahr, sich zu verspäten oder sich uninformiert zu erweisen, besonders wenn seine Beiträge mit Verspätung das Licht der Welt erblicken.“ Hier wiederum die Klage über seine Isoliertheit neben dem Vorwurf an die Redaktion, die die Veröffentlichung allzu scharfer Artikel Lenins zurückhält oder die stacheligsten Stellen aus ihnen hinauswirft. Eine Woche vor der Umwälzung schreibt Lenin in einem konspirativen Brief an die Parteimitglieder: „Was die Frage des Aufstandes betrifft, jetzt, so nah an den 20. Oktober, so kann ich aus der Ferne nicht beurteilen, wieweit die Sache durch das streikbrecherische Auftreten (Sinowjews und Kamenjews) in der außerparteilichen Presse verdorben ist.“ Die Worte „aus der Ferne“ hat Lenin selbst unterstrichen.

Wie erklärt nun die Epigonenschule das Mißverhältnis zwischen Lenins taktischen Vorschlägen und dem tatsächlichen Verlauf des Aufstandes in Petrograd? Sie verleiht den Konflikten entweder anonymen und formlosen Charakter oder geht an den Meinungsverschiedenheiten vorüber, mit der Erklärung, daß sie keine Aufmerksamkeit verdienten; oder versucht, feststehende Tatsachen zu bestreiten; oder Trotzkis Namen dort vorzuschieben, wo bei Lenin die Rede vom Zentralkomitee als Ganzem oder von den Gegnern des Aufstandes innerhalb des Zentralkomitees die Rede ist; oder aber sie kombiniert schließlich alle diese Methoden, ohne um deren Übereinstimmung besorgt zu sein.

„Als Muster der (bolschewistischen) Strategie“, schreibt Stalin, „kann man die Durchführung des Oktoberaufstandes betrachten. Die Verletzung dieser Bedingung (der richtigen Wahl des Moments) führt zu dem gefährlichen Fehler, der sich „Tempoverlust“ nennt, wo die Partei- hinter dem Gang der Bewegung zurückbleibt oder ihr vorauseilt und dabei die Gefahr des Zusammenbruchs heraufbeschwört. Als Beispiel eines solchen „Tempoverlusts“, als Beispiel dafür, wie man den Zeitpunkt des Aufstandes nicht wählen darf; kann der Versuch eines Teiles der Genossen gelten, den Aufstand mit der Verhaftung der Demokratischen Beratung im August 1917 zu beginnen.“ Unter der Bezeichnung „eines Teiles der Genossen“ figuriert in diesen Zeilen Lenin. Niemand außer ihm hat vorgeschlagen, den Aufstand mit der Verhaftung der Demokratischen Beratung zu beginnen, und niemand hat diesen Vorschlag unterstützt. Lenins taktischen Plan empfiehlt Stalin als „Beispiel dafür, wie man den Zeitpunkt des Aufstandes nicht wählen darf“. Die anonyme Formel der Darstellung erlaubt Stalin gleichzeitig, die Meinungsverschiedenheiten zwischen Lenin und dem Zentralkomitee rundweg abzuleugnen.

Noch einfacher zieht sich Jaroslawski aus den Schwierigkeiten. „Es handelt sich natürlich nicht um Einzelheiten“, schreibt er, „es handelt sich nicht darum, ob der Aufstand in Moskau oder Petrograd begonnen hat“, es handelt sich darum, daß der gesamte Verlauf der Ereignisse „die Richtigkeit der Leninschen Linie unserer Partei“ bewies. Der findige Historiker vereinfacht aufs äußerste seine Aufgabe. Daß der Oktober eine Nachprüfung der Leninschen Strategie gegeben und im besonderen gezeigt hat, welche Bedeutung sein Aprilsieg über die führende Schicht der „alten Bolschewiki“ hatte – ist unbestreitbar. Handelt es sich aber überhaupt nicht darum, wo zu beginnen, wann zu beginnen und wie zu beginnen, so bleibt nicht nur von den episodischen Meinungsverschiedenheiten mit Lenin, sondern auch von der Taktik überhaupt nichts übrig.

In John Reeds Buch gibt es eine Schilderung, wonach die Führer der Bolschewiki angeblich am 21. Oktober eine „zweite historische Sitzung“ gehabt hätten, in der, wie man Reed berichtete, Lenin gesagt haben soll: „Am 24. Oktober zu beginnen, ist verfrüht: für den Aufstand ist eine allrussische Basis notwendig, am 24. aber werden noch nicht alle Kongreß-Delegierten eingetroffen sein. Andererseits wird der 26. zu spät sein zur Einleitung der Aktion ... Wir müssen am 25. beginnen, am Eröffnungstage des Kongresses .,,“ Reed war ein außerordentlich feiner Beobachter, der es vermocht hat, auf die Seiten seines Buches Gefühle und Leidenschaften der entscheidenden Revolutionstage zu bannen. Ebendeshalb wünschte Lenin seinerzeit Reeds unvergleichlicher Chronik eine Verbreitung in Millionen Exemplaren in allen Ländern der Welt. Doch Arbeit im Feuer der Ereignisse, Notizen, aufgezeichnet in Korridoren, auf der Straße, an Wachtfeuern, im Fluge erfaßte Gespräche oder Bruchteile von Sätzen, die Notwendigkeit, Hilfe von Dolmetschern in Anspruch zu nehmen, all das machte einzelne Irrtümer unvermeidlich. Der Bericht über die Sitzung vom 21. Oktober bildet einen der krassesten Irrtümer in Reeds Buch. Die Erwägung der Notwendigkeit einer „allrussischen Sowjetbasis“ für den Aufstand konnte keinesfalls von Lenin stammen, denn mehr als einmal hatte dieser die Jagd nach einer solchen Basis glattweg als „vollkommenen Idiotismus und vollkommenen Verrat“ bezeichnet. Lenins konnte nicht sagen, am 24. sei es verfrüht, sich zu erheben, denn schon seit Ende September hatte er die Verschiebung des Aufstandes auch nur um einen Tag für unzulässig gehalten: eine Verspätung ist möglich, aber „Verfrühtes kann es in dieser Hinsicht jetzt nicht geben“. Jedoch außer diesen an sich entscheidenden Erwägungen wird Reeds Bericht durch die einfache Tatsache widerlegt, daß am 21. keine „zweite historische Sitzung“ stattgefunden hat: eine solche Beratung würde Spuren in Dokumenten und im Gedächtnis der Teilnehmer hinterlassen haben. Es gab nur zwei Beratungen unter Lenins Teilnahme: am 10. und am 16. Reed konnte das nicht wissen. Doch die danach veröffentlichten Dokumente lassen keinen Platz für die „historische Sitzung“ vom 21. Oktober. Die Epigonenhistoriographie jedoch hat unbedenklich Reeds offenkundig irrige Angabe in sämtliche offiziellen Veröffentlichungen übernommen: dadurch wird das zeitliche Zusammentreffen der Leninschen Direktiven mit dem wirklichen Verlauf der Ereignisse äußerlich erreicht. Zwar bringen dabei die offiziellen Historiographen Lenin in unverständliche und unerklärliche Widersprüche mit sich selbst. Doch handelt es sich im Grunde ja gar nicht um Lenin: die Epigonen haben Lenin einfach in ihr eigenes historisches Pseudonym verwandelt und bedienen sich seiner ungeniert zur nachträglichen Bestätigung der eigenen Unfehlbarkeit.

Die offiziellen Historiker gehen in der Anpassung der Tatsachen an die Marschroute noch weiter. So schreibt Jaroslawski in seiner Geschichte der Partei: „In der Sitzung des Zentralkomitees vom 24. Oktober, der letzten vor dem Aufstande, war Lenin anwesend.“ Die offiziellen Protokolle, die eine genaue namentliche Aufzählung der Teilnehmer enthalten, beweisen, daß Lenin nicht anwesend war. „Lenin und Kamenjew wurden beauftragt, Verhandlungen mit den linken Sozialrevolutionären zu führen“, schreibt Jaroslawski. Die Protokolle sagen, dieser Auftrag sei Kamenjew und Bersin erteilt worden. Aber auch ohne die Protokolle dürfte es klar sein, daß das Zentralkomitee mit zweitrangigen „diplomatischen“ Aufträgen nicht Lenin bedacht hätte. Die entscheidende Zentralkomiteesitzung fand morgens statt. Lenin traf im Smolny erst in der Nacht ein. Ein Mitglied des Petrograder Komitees, Sweschnikow, erzählt, daß Lenin „am Abend (des 24.) sich entfernte und im Zimmer einen Zettel gelassen hatte, er sei dann und dann weggegangen. Als wir es erfuhren, ängstigten wir uns in der Seele um Iljitsch ...“ Im Bezirk wurde bereits „spät abends“ bekannt, daß Lenin sich ins Militärische Revolutionskomitee begeben hatte.

Am seltsamsten jedoch ist, daß Jaroslawski ein politisch und menschlich höchst wichtiges Dokument unbeachtet läßt: den Brief an die Bezirksleiter, geschrieben von Lenin in den Stunden, wo der offene, Aufstand eigentlich schon begonnen hatte. „Genossen! Ich schreibe diese Zeilen am Abend des 24. ... Mit Aufbietung all meiner Kräfte möchte ich die Genossen davon überzeugen, daß jetzt alles an einem Haar hängt, daß auf der Tagesordnung Fragen stehen, die nicht durch Beratungen, nicht durch Kongresse (seien es auch Sowjetkongresse) entschieden werden, sondern ausschließlich durch die Völker, durch die Masse, durch den Kampf bewaffneter Massen ... Man muß um jeden Preis heute abend, heute nacht die Regierung verhaften, indem man die Junker und so weiter entwaffnet (wenn sie Widerstand leisten, sie niederringt).“ Lenin befürchtet in solchem Maße Unentschlossenheit seitens des Zentralkomitees, daß er versucht, im allerletzten Moment einen Druck von unten zu organisieren. „Es ist notwendig“, schreibt er, „daß alle Bezirke, alle Regimenter, alle Kräfte sofort mobilisiert werden und unverzüglich Delegationen in das Militärische Revolutionskomitee, in das Zentralkomitee der Bolschewiki entsenden mit der dringenden Forderung: auf keinen Fall die Macht in den Händen der Kerenski & Co. bis zum 25. zu lassen, unter keinen Umständen – die Sache muß unbedingt heute, abends oder nachts, entschieden werden.“ Während Lenin diese Zeilen schrieb, waren die Regimenter und Bezirke, die er aufrief; sich für einen Druck auf das Militärische Revolutionskomitee zu mobilisieren, von diesem bereits mobilisiert für die Eroberung der Stadt und den Sturz der Regierung. Aus dem Brief, in dem jede Zeile von Besorgnis und Leidenschaft bebt, ist jedenfalls erkennbar, daß Lenin weder am 21. die Verschiebung des Aufstandes bis zum 25. vorgeschlagen noch an der Morgensitzung vom 24. teilgenommen haben konnte, wo beschlossen worden war, sofort zum Angriff überzugehen.

Der Brief enthält immerhin ein rätselhaftes Element: wie konnte Lenin, der sich im Wyborger Bezirk verbarg, bis zum Abend von einem so außerordentlich wichtigen Beschluß keine Kenntnis gehabt haben? Aus der Erzählung des gleichen Sweschnikow wie aus anderen Quellen ist ersichtlich, daß die Verbindung mit Lenin an diesem Tage durch Stalin unterhalten wurde. Es bleibt nur die Vermutung übrig, daß Stalin, der in der Morgensitzung des Zentralkomitees nicht erschienen war, bis zum Abend von dem gefaßten Beschluß nichts erfahren hatte.

Unmittelbarer Anstoß zu Lenins Besorgnis konnten auch die bewußt und beharrlich an diesem Tage vom Smolny aus verbreiteten Gerüchte gewesen sein, vor Beschluß des Sowjetkongresses würden keine entscheidenden Schritte unternommen werden. Am Abend dieses Tages sagte Trotzki in einer außerordentlichen Sitzung des Petrograder Sowjets bei einem Bericht über die Tätigkeit des Militärischen Revolutionskomitees: „Ein bewaffneter Konflikt heute oder morgen gehört nicht in unsere Pläne hinein – an der Schwelle des allrussischen Sowjetkongresses. Wir glauben, daß der Kongreß unsere Parole mit größter Kraft und Autorität durchführen wird. Wenn die Regierung aber versuchen sollte, die Frist, die ihr zu leben noch geblieben ist – vierundzwanzig, achtundvierzig oder zweiundsiebzig Stunden –, auszunutzen, um der Revolution das Messer in den Rücken zu stoßen, so werden wir Schlag mit Schlag und Eisen mit Stahl parieren.“ Das war das Leitmotiv des ganzen Tages. Die Defensiverklärungen hatten zur Aufgabe, im letzten Moment vor dem Schlage die ohnehin nicht übermäßig aktive Wachsamkeit des Gegners einzuschläfern. Und ebendieses Manöver gab aller Wahrscheinlichkeit nach Dan Veranlassung, Kerenski in der Nacht auf den 25. zu versichern, die Bolschewiki dächten in diesem Augenblick keinesfalls an einen Aufstand. Andererseits aber konnte auch Lenin, wenn ihn eine dieser beruhigenden Erklärungen des Smolny erreichte, im Zustande gespannten Mißtrauens die Kriegslist für bare Münze nehmen.

List bildet ein notwendiges Element der Kriegskunst. Schlimm indes ist jene List, die gleichzeitig das eigene Lager zu täuschen vermag. Hätte es sich darum gehandelt, die Massen insgesamt auf die Straße zu rufen, die Worte von den „nächsten zweiundsiebzig Stunden“ hätten unheilvolle Wirkung ausüben können. Doch am 24. bedurfte die Umwälzung bereits nicht mehr revolutionärer Aufrufe ohne Adresse. Bewaffnete Abteilungen, bestimmt für Besetzung der wichtigsten Punkte der Hauptstadt, standen bereit und warteten auf das Aufstandssignal ihrer durch Telephon mit den nächsten revolutionären Stäben verbundenen Kommandeure. Unter diesen Umständen war die zweischneidige Kriegslist des Revolutionsstabes durchaus am richtigen Platze.

In den Fällen, wo die offiziellen Forscher auf ein unangenehmes Dokument stoßen, ändern sie auf ihm die Adresse. So schreibt Jakowljew: „Die Bolschewiki fielen auf die „konstitutionellen Illusionen“ nicht hinein, als sie Trotzkis Vorschlag, den Aufstand unbedingt dem zweiten Sowjetkongreß anzupassen, ablehnten und die Macht vor Kongreßbeginn übernahmen.“ Von welchem Vorschlag Trotzkis hier die Rede ist, wo und wann er beraten wurde, welche Bolschewiki ihn ablehnten – vermerkt der Autor nicht, und keinesfalls zufällig: vergeblich würde man in Protokollen oder in beliebigen Erinnerungen Hinweise suchen auf Trotzkis Vorschlag, den Aufstand „unbedingt dem zweiten Sowjetkongreß anzupassen“. Jakowljews Behauptung beruht auf einem etwas stilisierten Mißverständnis, das längst von niemand anderem als Lenin aufgeklärt worden ist.

Wie aus verschiedenen vor langer Zeit veröffentlichten Erinnerungen ersichtlich ist, hatte Trotzki seit Ende September die Gegner des Aufstandes wiederholt darauf verwiesen, daß die Festsetzung eines Termins des Sowjetkongresses für die Bolschewiki gleichbedeutend sei mit der Festsetzung des Aufstandes. Das sollte natürlich nicht heißen, die Umwälzung dürfe nicht anders als auf Beschluß des Sowjetkongresses erfolgen – von solch kindlichem Formalismus konnte nicht die Rede sein. Es handelte sich um die letzte Frist: man durfte den Aufstand nicht auf unbestimmte Zeit nach dem Sowjetkongreß verschieben. Durch wen und in welcher Form diese Diskussionen im Zentralkomitee Lenin erreicht hatten, ist aus den Dokumenten nicht ersichtlich. Zusammenkünfte mit Trotzki, der den Augen der Feinde zu stark ausgesetzt war, hätten eine zu große Gefahr für Lenin gebildet. Bei seinem damaligen Argwohn konnte Lenin leicht befürchten, Trotzki lege die Betonung auf Kongreß und nicht auf Aufstand, leiste jedenfalls Sinowjews und Kamenjews „konstitutionellen Illusionen“ nicht den nötigen Widerstand. Auch die ihm wenig bekannten neuen Zentralkomiteemitglieder, frühere Interrayonisten (oder Vereinigungsanhänger), Joffe und Uritzki, mochten Lenins Besorgnis erregt haben. Einen direkten Hinweis darauf enthält Lenins Rede nach dein Siege in der Sitzung des Petrograder Komitees vom 1. November. „Es wurde in der Sitzung (vom 10. Oktober) die Frage des Aufstandes erhoben. Ich befürchtete Opportunismus seitens der auf dem Boden der Vereinigung stehenden Internationalisten, doch die Befürchtungen zerstreuten sich; in unserer Partei waren etliche Mitglieder (des Zentralkomitees) nicht einverstanden. Das hatte mich aufs äußerste betrübt.“ Am 10. überzeugte sich Lenin, nach seinen eigenen Worten, daß nicht nur Trotzki, sondern auch die unter dessen direktem Einfluß stehenden Joffe und Uritzki entschieden für den Aufstand eintraten. Die Frage der Termine wurde überhaupt zum erstenmal in jener Sitzung gestellt. Wann also und von wem wurde „Trotzkis Vorschlag“ abgelehnt, den Aufstand nicht ohne vorherigen Beschluß des Sowjetkongresses zu beginnen? Gleichsam speziell zu dem Zwecke, dem Radius des Wirrwarrs noch zu vergrößern, schieben die offiziellen Nachschlagwerke, wie wir bereits wissen, einen gleichen Vorschlag Lenin zu, unter Berufung auf den apokryphen Beschluß vom 21. Oktober.

Hier greift Stalin in den Streit ein mit einer neuen Version, die Jakowljew und mit ihm vieles andere umwirft. Es stellt sich heraus, daß die Verschiebung des Aufstandes bis zum Tage des Kongresses, das heißt bis zum 25., an sich Lenins Widerspruch nicht hervorgerufen hat; die Sache wurde aber verdorben durch die vorzeitige Veröffentlichung des Aufstandstermins. Überlassen wir jedoch das Wort Stalin selbst: „Der Fehler des Petrograder Sowjets, der den Tag des Aufstandes (den 25. Oktober) offen angesetzt und veröffentlicht hatte, konnte nicht anders gut gemacht werden als durch den faktischen Aufstand vor diesem legalen Aufstandsdatum.“ Diese Behauptung entwaffnet durch ihre Unzulänglichkeit. Als habe es sich bei dem Streit mit Lenin um die Wahl zwischen dem 24. und 25. Oktober gehandelt! In Wirklichkeit schrieb Lenin fast einen Monat vor dem Aufstande; „Auf den Sowjetkongreß zu warten, ist völlige Idiotie, denn das heißt Wochen verstreichen lassen, aber Wochen und sogar Tage entscheiden jetzt alles.“ Wo und wann hatte andererseits der Sowjet das Datum des Aufstandes veröffentlicht? Es ist sogar schwer, Motive auszudenken, aus denen heraus er einen solchen Unsinn hätte begehen können. In Wahrheit war auf den 25. im voraus und öffentlich nicht der Aufstand, sondern der Sowjetkongreß angesetzt; das geschah nicht durch den Petrograder Sowjet, sondern durch das versöhnlerische Zentral-Exekutivkomitee. Aus dieser Tatsache heraus, und nicht aus angeblicher Unvorsichtigkeit des Sowjets, ergaben sich für den Gegner gewisse Schlußfolgerungen: Die Bolschewiki werden, wollen sie nicht von der Bühne verschwinden, versuchen müssen, im Augenblick des Kongresses die Macht zu erobern. „Aus der Logik der Dinge“, schrieben wir später, „ergab sich, daß wir den Aufstand auf den 25. Oktober ansetzten. So verstand die Sache auch die gesamte bürgerliche Presse.“ Verschwommene Erinnerungen an die „Logik der Dinge“ verwandelten sich bei Stalin in „unvorsichtige“ Bekanntgabe des Aufstandstages. So wird Geschichte geschrieben!

Am zweiten Jahrestag der Umwälzung verwies der Autor dieses Buches in dem soeben dargelegten Sinne darauf; daß der „Oktoberaufstand sozusagen im voraus auf ein bestimmtes Datum, den 25. Oktober, festgesetzt“ und an diesem Tage auch vollbracht war, und fügte hinzu; vergeblich würden wir in der Geschichte das zweite Beispiel eines Aufstandes suchen, der durch den Gang der Dinge von vornherein einem bestimmten Datum angepaßt war. Diese Behauptung ist irrig: der Aufstand vom 10. August 1792 war ebenfalls etwa acht Tage zuvor auf ein bestimmtes Datum festgelegt worden, und gleichfalls nicht aus Unvorsichtigkeit, sondern aus der Logik der Dinge heraus.

Am 3. August beschloß die Gesetzgebende Versammlung, die Petitionen der Pariser Sektionen, die die Absetzung des Königs forderten, am 9. zur Beratung zu stellen. „Indem sie den Tag der Beratung festlegte“, schreibt Jaurès, der manches bemerkt hat, was den alten Historikern entgangen war, „setzte sie damit allein auch den Tag des Aufstandes an.“ Der Führer der Sektionen, Danton, nahm eine Defensivposition ein: „Bricht eine neue Revolution aus“, erklärte er beharrlich, „so wird sie ... eine Antwort auf den Treubruch der Regierung sein.“ Die Verweisung der Frage durch die Sektionen zur Beratung an die Gesetzgebende Versammlung war keinesfalls eine „konstitutionelle Illusion“: sie war nur eine Methode der Vorbereitung des Aufstandes und gleichzeitig dessen legale Deckung. Zur Unterstützung ihrer Positionen erhoben sich bekanntlich die Sektionen auf ein Sturmläuten mit der Waffe in der Hand.

Der Ähnlichkeitszug der zwei voneinander durch einen Abstand von 125 Jahren getrennten Umwälzungen ergibt sich keineswegs zufällig. Beide Aufstände spielen sich nicht zu Beginn der Revolution ab, sondern an deren zweiter Etappe, was sie politisch viel bewußter und planvoller macht. In beiden Fällen erreicht die revolutionäre Krise hohe Reife. Die Massen legen sich im voraus Rechenschaft ab über die Unabwendbarkeit und Nähe der Umwälzung. Das Bedürfnis nach Tateinheit zwingt sie, ihre ganze Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes „legales“ Datum zu konzentrieren als auf den Brennpunkt der heranrückenden Ereignisse. Dieser Logik der Massenbewegung unterwirft sich die Leitung. Bereits die politische Lage beherrschend, schon fast die Hand auf dem Sieg, nimmt sie nach außen hin eine Defensivposition ein. Den geschwächten Gegner provozierend, wälzt sie auf ihn im voraus die Verantwortung für die nahenden Zusammenstöße. So vollzieht sich ein Aufstand an einem „im voraus bestimmten Datum“.

Die durch ihre Ungereimtheiten verblüffenden Behauptungen Stalins – einige von ihnen sind in den vorangegangenen Kapiteln angeführt – beweisen, wie wenig er über die Ereignisse von 1917 in ihrem inneren Zusammenhang nachgedacht und welch summarische Spur sie in seinem Gedächtnis hinterlassen haben. Wie das erklären? Es ist bekannt, daß Menschen Geschichte machen, ohne deren Gesetze zu kennen, wie sie Speisen verdauen, ohne einen Begriff von der Physiologie der Verdauung zu haben. Es mag scheinen, dieses könne sich nicht auf führende Politiker, dazu noch Führer einer Partei beziehen, die sich auf ein wissenschaftlich fundiertes Programm stützt. Indes bleibt es Tatsache, daß viele Revolutionäre, die auf sichtbaren Posten an der Revolution teilnahmen, schon nach sehr kurzer Zeit nicht mehr die Fähigkeiten besitzen, den inneren Sinn dessen zu begreifen, was unter ihrer unmittelbaren Teilnahme geschah. Der außerordentliche Reichtum der Literatur des Epigonentums erweckt den Eindruck, als seien die gewaltigen Ereignisse über menschliche Gehirne hinweggegangen und hätten sie zerquetscht, wie eine Eisenwalze Hände und Füße zerquetscht. Bis zu einem gewissen Grade ist es auch so: eine außerordentlich psychische Spannung verbraucht die Menschen schnell. Viel wichtiger ist jedoch ein anderer Umstand: die siegreiche Revolution verändert radikal die Lage der gestrigen Revolutionäre, schläfert deren wissenschaftlichen Eifer ein, versöhnt sie mit der Schablone und läßt sie den gestrigen Tag unter dem Einfluß neuer Interessen einschätzen. So verschleiert das Gewebe der bürokratischen Legende immer dichter die wirklichen Umrisse der Ereignisse.

Im Jahre 1924 versuchte der Autor dieses Buches in seiner Arbeit Die Lehren des Oktober klarzulegen, weshalb Lenin gezwungen war, während er die Partei zum Aufstande führte, mit solcher Schärfe gegen den rechten Flügel, verkörpert durch Sinowjew und Kamenjew, zu kämpfen. Stalin erwiderte darauf: „Waren damals Meinungsverschiedenheiten in unserer Partei? Ja; sie waren da. Doch trugen sie ausschließlich sachlichen Charakter, entgegen den Behauptungen Trotzkis, der einen „rechten“ und einen „linken“ Flügel der Partei zu entdecken bemüht ist ...“ „Trotzki versichert, daß wir in der Person Kamenjews und Sinowjews im Oktober einen rechten Flügel unserer Partei hatten ... Wie konnte es geschehen, daß die Meinungsverschiedenheiten mit Kamenjew und Sinowjew nur wenige Tage dauerten? ... Eine Spaltung hat es nicht gegeben, die Meinungsverschiedenheiten aber währten deshalb und nur deshalb im ganzen wenige Tage, weil wir in Kamenjew und Sinowjew Leninisten, Bolschewiki besaßen.“ Hat nicht Stalin genauso sieben Jahre zuvor, fünf Tage vor dem Aufstand, Lenin übertriebener Schärfe beschuldigt und behauptet, Sinowjew und Kamenjew ständen auf dem gemeinsamen Boden des „Bolschewismus“? Durch Stalins sämtliche Zickzacks zieht sieh eine gewisse Kontinuität, die sieh nicht aus durchdachter Weltanschauung, sondern aus der gesamten Charakteranlage ergibt. Sieben Jahre nach der Umwälzung, wie am Vorabend des Aufstandes, konnte er sich in gleicher Weise nur unklar die Tiefe der Meinungsverschiedenheiten in der Partei vorstellen.

Prüfstein für einen revolutionären Politiker ist die Frage des Staates. In ihrem gegen den Aufstand gerichteten Brief vom 11. Oktober schrieben Sinowjew und Kamenjew: „Bei einer richtigen Taktik können wir ein Drittel und auch mehr Plätze in der Konstituierenden Versammlung bekommen ... Konstituierende Versammlung und Sowjets – das ist jener kombinierte Typus der Staatsinstitution, dem wir entgegengehen.“ „Richtige Taktik“ bedeutete Verzieht auf Machteroberung durch das Proletariat. „Kombinierter Typus“ des Staates bedeutete Verbindung der Konstituierenden Versammlung, in der die bürgerlichen Parteien zwei Drittel bilden, mit den Sowjets, in denen die Partei des Proletariats herrscht. Dieser Typus des kombinierten Staates lag späterhin der Hilferdingschen Idee zugrunde, die Räte in der Weimarer Verfassung zu verankern. General von Lissingen, Oberbefehlshaber in den Marken, der am 7. November 1918 die Bildung von Räten aus dem Grunde verbot, „weil diese Institutionen der bestehenden Staatsordnung widersprechen“, bewies jedenfalls unvergleichlich größten Scharfsinn als die Austromarxisten und die deutsche Unabhängige Partei.

Daß die Konstituierende Versammlung in den Hintergrund treten würde, hatte Lenin bereits seit April vorausgesagt; dennoch verzichteten weder er noch die Partei in ihrer Gesamtheit während des ganzen Jahres 1917 formell auf die Idee der demokratischen Vertretung: man konnte nicht im voraus mit Bestimmtheit sagen, wie weit die Revolution kommen würde. Man nahm an, es würde den Sowjets nach Übernahme der Macht schnell genug gelingen, Armee und Bauern zu gewinnen, so daß die Konstituierende Versammlung, vor allem bei Erweiterung des Wahlrechts (Lenin schlug insbesondere vor, das Wahlalter auf achtzehn Jahre herabzusetzen), den Bolschewiki eine Mehrheit bringen und nur die formelle Krönung des Sowjetregimes darstellen würde. In diesem Sinne sprach Lenin manchmal vom „kombinierten Typus“ des Staates, das heißt von der Anpassung der Konstituierenden Versammlung an die Sowjetdiktatur. In Wirklichkeit nahm die Entwicklung einen anderen Weg. Trotz Lenins Drängen entschloß sich das Zentralkomitee nach der Machteroberung nicht, die Einberufung der Konstituierenden Versammlung um einige Wochen zu vertagen, und anders war es unmöglich, das Wahlrecht zu erweitern und vor allem den Bauern Gelegenheit zu geben, ihre Stellung zu den Sozialrevolutionären und Bolschewiki auf neue Art festzulegen. Die Konstituierende Versammlung kam in Konflikt mit den Sowjets und wurde aufgelöst. Die in der Versammlung vorhandenen feindlichen Lager traten in den Zustand des Bürgerkrieges ein, der Jahre andauerte. Im System der Sowjetdiktatur fand sich für die demokratische Vertretung kein noch so untergeordneter Platz. Die Frage des „kombinierten Typus“ war praktisch von der Tagesordnung abgesetzt. Theoretisch jedoch behielt sie ihre ganze Bedeutung, wie nachträglich die Erfahrung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei in Deutschland zeigte.

Im Jahre 1924, als Stalin, den Forderungen des innerparteilichen Kampfes gehorchend, zum erstenmal versuchte, die Erfahrung der Vergangenheit selbständig zu bewerten, nahm er Sinowjews „kombinierten Staat“ unter seinen Schutz und berief sich dabei auf – Lenin. „Trotzki begreift nicht ... die Besonderheiten der bolschewistischen Taktik, wenn er gegen die Theorie der Verbindung von Konstituierender Versammlung und Sowjets wie gegen eine Hilferdingiade schnaubt“, schrieb in der ihm eigenen Manier Stalin. „Sinowjew, den Trotzki bereit ist, in einen Hilferdingianer zu verwandeln, hatte voll und ganz Lenins Standpunkt geteilt.“ Das bedeutet: sieben Jahre nach den theoretischen und politischen Kämpfen Von 1917 hatte Stalin noch immer absolut nicht begriffen, daß bei Sinowjew wie bei Hilferding die Rede war von der Übereinstimmung und Versöhnung der Macht zweier Klassen, der Bourgeoisie durch die Konstituierende Versammlung, des Proletariats durch die Sowjets; während bei Lenin die Rede war von einer kombinierten Institution, die die Macht ein und derselben Klasse, des Proletariats, ausdrückt. Sinowjews Idee stand, wie Lenin schon damals auseinandersetzte, im Gegensatz zu den marxistischen Elementarlehren vom Staate. „Wenn die Macht in den Händen der Sowjets ist ...“, schreibt Lenin am 17. Oktober gegen Sinowjew und Kamenjew, „lassen alle diesen „kombinierten Typus“ gelten; aber mit dem Wörtchen „kombinierter Typus“ jetzt den Verzicht auf die Übergabe der Macht an die Sowjets einschmuggeln ... läßt sich zur Charakterisierung dieses Verhaltens ein parlamentarischer Ausdruck finden?“ Wir sehen: zur Kennzeichnung der Sinowjewschen Idee, die Stalin für eine von Trotzki angeblich nicht begriffene „Besonderheit der bolschewistischen Taktik“ erklärt, fällt es Lenin sogar schwer, einen parlamentarischen Ausdruck zu finden, obwohl er sich in dieser Hinsicht durch übermäßige Hemmungen nicht auszuzeichnen pflegte. Über ein Jahr später schrieb Lenin unter Hinweis auf Deutschland: „... Der Versuch, die Diktatur der Bourgeoisie mit der Diktatur des Proletariats zu verbinden, ist völlige Preisgabe sowohl des Marxismus wie des Sozialismus überhaupt ...“ Und hätte Lenin anders schreiben können?

Sinowjews „kombinierter Typus“ bedeutete seinem Wesen nach den Versuch, die Doppelherrschaft zu verewigen, das heißt die Wiederbelebung des von den Menschewiki restlos erschöpften Experiments. Und wenn Stalin im Jahre 1924 wie früher in dieser Frage auf gemeinsamem Boden mit Sinowjew stand, so hieß das, daß er, obwohl er sich Lenins Thesen angeschlossen hatte, noch immer, wenigstens zur Hälfte, jener Philosophie der Doppelherrschaft treugeblieben war, die er selbst in seiner Rede vom 29. März 1917 entwickelt hatte: „Die Rollen sind verteilt, der Sowjet hat faktisch die Initiative zu revolutionären Umgestaltungen ergriffen ... Die Provisorische Regierung dagegen hat faktisch die Rolle des Befestigers der Errungenschaften des revolutionären Volkes übernommen.“ Die gegenseitigen Beziehungen zwischen Bourgeoisie und Proletariat werden hier als einfache politische Arbeitsteilung gedeutet.

In der letzten Woche vor dem Aufstande manövrierte Stalin offensichtlich zwischen Lenin, Trotzki und Swerdlow einerseits, Kamenjew und Sinowjew andererseits. Die redaktionelle Erklärung vom 20., die die Gegner des Aufstandes vor Lenins Schlägen in Schutz nahm, konnte gerade bei Stalin kein Zufall sein: in Fragen innerparteilichen Manövrierens ist seine Meisterschaft unbestreitbar. Wie im April, nach Lenins Ankunft, Stalin vorsichtig Kamenjew vorschob und selbst schweigend abseits wartete, bevor er sich neu engagierte, so bereitete er sich offensichtlich auch jetzt, am Vorabend der Umwälzung, für den eventuellen Fall eines Mißerfolges den Rückzug auf die Linie Sinowjew-Kamenjew vor. Stalin erreicht auf diesem Wege die Grenze, hinter der der Bruch mit der Mehrheit des Zentralkomitees beginnt. Diese Perspektive schreckt ihn. In der Sitzung vom 21. stellt Stalin die halbabgebrochene Brücke zum linken Flügel des Zentralkomitees wieder her, indem er vorschlägt, Lenin mit der Vorbereitung der Thesen über die Kernfragen des Sowjetkongresses zu beauftragen und Trotzki mit dem politischen Referat zu betrauen. Das eine wie das andere wird einstimmig angenommen. Nachdem er sich nach links gesichert hat, tritt Stalin im letzten Augenblick in den Schatten: er wartet ab. Alle neueren Historiker, beginnend mit Jaroslawski, umgehen sorgsamst die Tatsache, daß Stalin bei der Sitzung des Zentralkomitees vom 24. im Smolny nicht anwesend war und keine Funktion bei der Organisierung des Aufstandes übernahm! Indes charakterisiert diese dokumentarisch unwiderlegbar festzustellende Tatsache am allerbesten Stalins politische Persönlichkeit und Methoden.

Seit dem Jahre 1924 wurden unzählige Anstrengungen gemacht, den leeren Platz, den der Oktober in Stalins politischer Biographie darstellt, auszufüllen. Das geschah unter zwei Pseudonymen: „Zentralkomitee“ und „praktisches Zentrum“. Wir würden weder die Mechanik der Oktoberleitung noch die Mechanik der späteren Epigonenlegende verstehen, wollten wir nicht an die personelle Zusammensetzung des damaligen Zentralkomitees etwas näher herangehen.

Lenin, anerkannter Führer, Autorität für alle, doch, wie die Tatsachen beweisen, keinesfalls „Diktator“ in der Partei, beteiligte sich vier Monate lang an der Arbeit des Zentralkomitees nicht unmittelbar und stand in einer Reihe taktischer Fragen zu diesem in scharfer Opposition. Als angesehene Führer galten im alten bolschewistischen Kern, in großem Abstande von Lenin, aber auch von jenen, die nach ihnen kamen, Sinowjew und Kamenjew. Sinowjew hielt sich, wie Lenin, verborgen. Vor dem Oktober standen Sinowjew und Kamenjew in entschiedener Opposition zu Lenin und der Mehrheit des Zentralkomitees: das entfernte beide aus der Front. Von den alten Bolschewiki tat sich schnell Swerdlow hervor. Doch war er damals noch Neuling im Zentralkomitee. Seine Begabung als Organisator entfaltete sich erst später, in den Aufbaujahren des Sowjetstaates. Dserschinski, der sich kurz vorher der Partei angeschlossen hatte, zeichnete sich durch revolutionäres Temperament aus, erhob jedoch keinen Anspruch auf selbständige politische Autorität. Bucharin, Rykow und Nogin lebten in Moskau, Bucharin galt als begabter, aber unzuverlässiger Theoretiker. Rykow und Nogin waren Gegner des Aufstandes. Lomow, Bubnow und Miljutin wurden bei Entscheidung großer Fragen kaum von jemand in Rechnung gezogen; außerdem arbeitete Lomow in Moskau, Miljutin war meist auf Reisen. Joffe und Uritzki waren durch ihre Emigrantenvergangenheit eng mit Trotzki verbunden und handelten im Einvernehmen mit ihm. Der junge Smilga arbeitete in Finnland. Zusammensetzung und innerer Zustand des Zentralkomitees erklären zur Genüge, weshalb der Parteistab vor Lenins Rückkehr an die unmittelbare Leitung auch nicht im entferntesten jene Rolle spielte und spielen konnte, die ihm später zuteil wurde. Die Protokolle beweisen, daß die wichtigsten Fragen: des Sowjetkongresses, der Garnison, des Militärischen Revolutionskomitees, nicht vorher im Zentralkomitee beraten wurden, nicht seiner Initiative entsprangen, sondern im Smolny, aus der Praxis des Sowjets entstanden und im Kreise der Sowjetführer, am häufigsten unter Swerdlows Mitwirkung ausgearbeitet wurden.

Stalin ließ sich im Smolny überhaupt nicht blicken. Je entschiedener der Druck der revolutionären Massen, je größer der Schwung der Ereignisse, um so mehr taucht Stalin unter, um so mehr verblaßt sein politischer Gedanke, um so schwächer wird seine Initiative. So war es im Jahre 1905. So im Herbst 1917. Das gleiche wiederholte sich auch später jedesmal, wenn große historische Fragen in der Weltarena auftauchten. Als es sich ergab, daß die Veröffentlichung der Protokolle des Zentralkomitees über das Jahr 1917 die Oktoberlücke in Stalins Biographie nur entblößte, schuf die bürokratische Historiographie die Legende vom „praktischen Zentrum“, Die Aufklärung dieser in den letzten Jahren breit popularisierten Version bildet ein notwendiges Element der kritischen Geschichte der Oktoberumwälzung.

Bei der Beratung des Zentralkomitees im Lessnoy, am 16. Oktober, war eines der Argumente gegen die Forcierung des Aufstandes der Hinweis, daß „wir noch nicht mal ein Zentrum haben“. Auf Lenins Antrag beschloß das Zentralkomitee an Ort und Stelle, in einer im Winkel abgehaltenen fliegenden Sitzung, diese Lücke auszufüllen. Das Protokoll lautet: „Das Zentralkomitee organisiert ein militärisch-revolutionäres Zentrum in folgender Zusammensetzung: Swerdlow, Stalin, Bubnow, Uritzki und Dserschinski. Dieses Zentrum wird dem Revolutionären Sowjetkomitee einverleibt,“ Die von allen vergessene Verfügung wurde in den Archiven zum erstenmal im Jahre 1924 entdeckt. Man begann sie zu zitieren wie ein wichtiges historisches Dokument. So schrieb Jaroslawski: „Dieses Organ (und kein anderes) leitete alle Organisationen, die am Aufstande teilnahmen (revolutionäre Truppenteile, Rote Garde).“ Die Worte „und kein anderes“ zeigen freimütig genug den Zweck dieser ganzen nachträglichen Konstruktion. Noch freimütiger schrieb Stalin: „In das praktische Zentrum, berufen, den Aufstand zu leiten, kam seltsamerweise nicht hinein ... Trotzki.“ Um die Möglichkeit zu haben, sich über dieses Thema zu verbreiten, war Stalin gezwungen, die zweite Hälfte der Verfügung wegzulassen: „Dieses Zentrum wird dem Revolutionären Sowjetkomitee einverleibt.“ Berücksichtigt man, daß an der Spitze des Militärischen Revolutionskomitees Trotzki stand, dann ist nicht schwer zu begreifen, weshalb sich das Zentralkomitee beschränkte auf Ernennung neuer Arbeiter zur Unterstützung jener, die bereits ohnehin im Mittelpunkt der Arbeit standen. Weder Stalin noch Jaroslawski erklärten darüber hinaus, weshalb man sich des „praktischen Zentrums“ zum erstenmal ins Jahre 1924 erinnerte.

Zwischen dem 16. und 20. Oktober stellt sich der Aufstand, wie wir gesehen haben, endgültig auf das Sowjet-Geleise. Das Militärische Revolutionskomitee konzentriert in seinen Händen von den ersten Schritten an die unmittelbare Leitung nicht nur der Garnison, sondern auch der Roten Garde, die schon seit dem 13. Oktober dem Petrograder Exekutivkomitee untersteht. Für irgendein anderes leitendes Zentrum bleibt kein Platz übrig. Jedenfalls kann man weder in den Protokollen des Zentralkomitees noch in irgendwelchen anderen Materialien aus der zweiten Oktoberhälfte die geringste Spur finden von der Tätigkeit eines, wie man doch meinen müßte, so wichtigen Organs. Niemand berichtet über seine Arbeit, keine Aufträge werden ihm zugeteilt, selbst sein Name wird von keinem erwähnt, obwohl seine Mitglieder in den Sitzungen des Zentralkomitees anwesend sind und an der Lösung jener Fragen teilnehmen, die die direkte Kompetenz des „praktischen Zentrums“ bilden müßten.

Sweschnikow, Mitglied des Petrograder Parteikomitees, der während der zweiten Oktoberhälfte fast ununterbrochen im Smolny als Verbindungsmann Wachdienst tat, müßte doch jedenfalls wissen, wo praktische Anweisungen in Fragen des Aufstandes zu suchen gewesen waren. Er schreibt folgendes: „Es entsteht das Militärische Revolutionskomitee. Mit seiner Entstehung gewinnt das Elementare der revolutionären Aktivität des Proletariats ein führendes Zentrum.“ Kajurow, den wir aus den Februartagen gut kennen, erzählt, wie der Wyborger Bezirk gespannt auf das Signal aus dem Smolny wartete: „gegen Abend (des 24.) kam die Antwort des Militärischen Revolutionskomitees – die Rote Garde für den Kampf bereitzuhalten“. Kajurow weiß nichts von irgendeinem anderen Zentrum im Moment des Übergangs zum offenen Aufstand. Mit gleichem Recht kann man auf die Erinnerungen Sadowskis, Podwojskis, Antonows, Mechonoschins, Blagonrawows und anderer unmittelbarer Teilnehmer der Umwälzung verweisen: nicht einer von ihnen erwähnt das „praktische Zentrum“, das nach Jaroslawskis Behauptung sämtliche Organisationen geleitet haben soll. Schließlich begnügt sich Jaroslawski selbst in seiner Geschichte mit der nackten Mitteilung von der Schaffung des Zentrums: über dessen Tätigkeit sagt er kein Wort. Die Schlußfolgerung drängt sich von selbst auf: ein leitendes Zentrum, das keiner der Geleiteten kennt, existiert für die Geschichte nicht. Doch lassen sich auch direktere Beweise für das Scheindasein des „praktischen Zentrums“ anführen. In der Sitzung des Zentralkomitees vom 20. Oktober verliest Swerdlow eine Erklärung der Militärischen Organisation, die, wie aus der Diskussion ersichtlich ist, die Forderung enthält, die Leiter der Militärischen Organisation bei Entschließungen in Fragen des Aufstandes hinzuzuziehen. Joffe schlägt vor, diese Forderung abzulehnen: „Alle, die den Willen zur Arbeit haben, können in das im Sowjet bestehende Revolutionäre Zentrum hineingehen.“ Trotzki verleiht Joffes Vorschlag eine gemilderte Formulierung: „Alle unsere Organisationen können in das Revolutionäre Zentrum hineingehen und dort in unserer Fraktion sämtliche sie interessierenden Fragen behandeln.“ Der in dieser Form angenommene Beschluß zeigt, daß es nur ein Revolutionäres Zentrum gab: beim Sowjet, das heißt das Militärische Revolutionskomitee. Hätte für die Leitung des Aufstandes irgendein anderes revolutionäres Zentrum existiert, irgendwer hätte mindestens an seine Existenz erinnert. Doch es erinnerte niemand daran, auch nicht Swerdlow, dessen Name in der Mitgliederreihe des „praktischen Zentrums“ an erster Stelle stand.

Womöglich noch lehrreicher ist in dieser Hinsicht das Sitzungsprotokoll vom 24. Oktober: In den Stunden, die der Einnahme der Stadt unmittelbar vorangingen, ist nicht nur keine Rede von dem „praktischen Zentrum“ des Aufstandes, auch der Beschluß über seine Schaffung ist im Trubel der verflossenen acht Tage derart in Vergessenheit geraten, daß auf Trotzkis Antrag „zur Verfügung des Militärischen Revolutionskomitees“ ernannt werden: Swerdlow, Dserschinski und Bubnow, das heißt jene Mitglieder des Zentralkomitees, die nach dem Sinn des Beschlusses vom 16. Oktober ohnehin zum Militärischen Revolutionskomitee gehören sollten. Die Möglichkeit eines solchen Mißverständnisses selbst läßt sich so erklären, daß das kaum aus der Illegalität herausgenommene Zentralkomitee sehr wenig der gewaltigen allumfassenden Kanzlei späterer Jahre ähnlich war. Den Hauptteil des Zentralkomitee-Apparats trug Swerdlow in der Brusttasche.

Episodische Organe, entstanden am Ende einer Sitzung und sofort in Vergessenheit versunken, hat es in jener heißen Zeit nicht wenig gegeben. In der Sitzung des Zentralkomitees vom 7. Oktober wurde geschaffen ein „Informationsbüro zum Kampf gegen die Konterrevolution“: das war die Chiffre des ersten Organs zur Bearbeitung von Fragen des Aufstandes. Über seine Zusammensetzung sagt das Protokoll: „Vom Zentralkomitee werden in das Büro drei Mann gewählt: Trotzki, Swerdlow und Bubnow, die mit der Zusammensetzung des Büros beauftragt sind.“ Hat dieses erste „praktische Zentrum“ des Aufstandes existiert? Offenbar nicht, da es keine Spuren hinterlassen hat. Das politische Büro, das in der Sitzung vom 10. geschaffen wurde, erwies sich ebenfalls als lebensunfähig, denn es trat in keiner Weise hervor: es hat wohl kaum auch nur ein einziges Mal getagt. Damit die Petrograder Parteiorganisation, die in den Bezirken die Arbeit unmittelbar leitete, nicht die Verbindung mit dem Militärischen Revolutionskomitee verlöre, wurde auf Lenins Initiative, der das System der doppelten und dreifachen Sicherung liebte, Trotzki für die kritischen Wochen in die leitende Spitze des Petrograder Komitees hineingewählt. Auch dieser Beschluß blieb jedoch auf dem Papier: nicht eine Sitzung hat unter Trotzkis Beteiligung stattgefunden. Das gleiche Schicksal ereilte auch das sogenannte „praktische Zentrum“. Als selbständige Institution sollte es ja seiner Bestimmung nach ohnehin nicht existieren, aber auch als Hilfsorgan hat es nicht existiert.

Von den für die Zusammensetzung des „Zentrums“ vorgesehenen Fünf widmeten sich Dserschinski und Uritzki der Arbeit des Militärischen Revolutionskomitees völlig erst nach der Umwälzung. Swerdlow spielte die größte Rolle im Verbindungsdienst zwischen Militärischem Revolutionskomitee und Partei. Stalin nahm an der Arbeit des Militärischen Revolutionskomitees keinen Anteil und erschien niemals in dessen Sitzungen. In den zahlreichen Dokumenten, Zeugen- und Teilnehmerangaben wie in späteren Erinnerungen kommt Stalins Name kein einziges Mal vor.

In dem offiziellen Nachschlagewerk für die Geschichte der Revolution ist dem Monat Oktober ein selbständiger Band gewidmet, der nach Tagen alle tatsächlichen Berichte aus Zeitungen, Protokollen, Archiven, Erinnerungen der Teilnehmer und so weiter gruppiert. Obwohl das Sammelwerk im Jahre 1925 erschien, als die Revision der Vergangenheit bereits in voller Entfaltung war, versieht das Personenregister am Ende des Buches Stalins Namen nur mit einer einzigen Zahl, und schlagen wir die entsprechende Seite auf; so finden wir immer den gleichen Text des Zentralkomiteebeschlusses über das „praktische Zentrum“ mit der Erwähnung des Namens Stalin als eines der fünf Mitglieder. Vergeblich würden wir in diesem, sogar an drittrangigem Material so reichhaltigen Sammelwerk Angaben darüber suchen, welche Arbeit eigentlich Stalin im Oktober innerhalb des „Zentrums“ oder außerhalb desselben geleistet hat.

Um Stalins politische Physiognomie mir einem Wort zu kennzeichnen: er war stets „Zentrist“ im Bolschewismus, das heißt organisch bestrebt, zwischen Marxismus und Opportunismus zu stehen. Doch es war ein Zentrist, der Lenin fürchtete. Jeder Abschnitt der Stalinschen Kreisbahn bis zum Jahre 1924 läßt sich stets in folgende zwei Kräfte zerlegen in die eigene zentristische Natur und den revolutionären Druck Lenins. Die Unzulänglichkeit des Zentrismus zeigt sich am vollkommensten bei der Nachprüfung durch große historische Ereignisse. „Unsere Lage ist widerspruchsvoll“, sagte Stalin am 20. Oktober zur Rechtfertigung Sinowjews und Kamenjews. In Wirklichkeit verhinderte die widerspruchsvolle Natur des Zentrismus Stalin, einen einigermaßen selbständigen Platz in der Revolution einzunehmen. Dagegen mußten die gleichen Züge, die ihn an großen geschichtlichen Kreuzungspunkten paralysierten – Abwarten und empirisches Lavieren –, ihm ernstliche Vorteile sichern, sobald die Massenbewegung wieder in die Ufer zurückzutreten begann und in den Vordergrund der Beamte rückte, der danach strebte, das Errungene zu festigen, das heißt, vor allem seine eigene Lage gegen neue Erschütterungen zu sichern. Der im Namen der Revolution herrschende Tschinownik bedarf der revolutionären Autorität. Als „alter Bolschewik“ war Stalin die geeignetste Verkörperung dieser Autorität. Indem er die Massen zurückdrängt, sagt ihnen der Kollektiv-Tschinownik: „Das alles haben wir für euch getan.“ Er beginnt nicht nur über die Gegenwart zu verfügen, sondern auch über die Vergangenheit. Der beamtete Historiker modelt die Geschichte um, repariert Biographien, schafft Reputationen. Es war notwendig, die Revolution zu bürokratisieren, bevor Stalin sie krönen konnte.

In Stalins persönlichem Schicksal, das für die marxistische Analyse von hervorragendem Interesse ist, besitzen wir eine neue Brechung der Gesetze aller Revolutionen die Entwicklung des durch den Umsturz geschaffenen Regimes verläuft unvermeidlich durch Ebben und Fluten, die nach Jahren zählen, wobei Perioden geistiger Reaktion jene Figuren in den Vordergrund rücken, die nach all ihren Haupteigenschaften eine führende Rolle während des Aufstiegs weder gespielt noch zu spielen vermocht hatten.

Die bürokratische Revidierung der Partei- und Revolutionsgeschichte leitet Stalin unmittelbar. Die Marksteine dieser Arbeit bezeichnen grell die Entwicklungsetappen des Sowjetapparats. Am 6. November (neuen Stils) 1918 schrieb Stalin in einem Jubiläumsartikel der Prawda: „Seele der Umwälzung war von Anfang bis zu Ende das Zentralkomitee der Partei mit Genossen Lenin an der Spitze. Wladimir Iljitsch lebte damals in Petrograd, auf der Wyborger Seite, in einer konspirativen Wohnung. Am 24. Oktober abends wurde er nach dem Smolny gerufen, um die gesamte Bewegung zu leiten. Die ganze Arbeit der praktischen Organisierung des Aufstandes ging unter der unmittelbaren Leitung des Vorsitzenden des Petrograder Sowjets, des Genossen Trotzki. Man darf mit Bestimmtheit behaupten, daß die Partei den schnellen Übergang der Garnison auf die Seite des Sowjets und die geschickte Arbeitsmethode des Militärischen Revolutionskomitees vor allem und hauptsächlich dem Genossen Trotzki verdankt. Die Genossen Antonow und Podwojski waren die Haupthilfskräfte des Genossen Trotzki.“

Weder der Autor dieses Buches noch, wie anzunehmen ist, Lenin, der sich von den sozialrevolutionären Kugeln erholte, beachteten in jenen Tagen diese retrospektive Rollen- und Verdienstverteilung. Der Artikel erschien erst einige Jahre später in anderem Lichte und zeigte, daß Stalin schon in den schweren Herbstmonaten 1918 eine neue, vorläufig äußerst behutsame Darstellung der Parteiführung vom Oktober vorbereitete. „Seele der Umwälzung war von Anfang bis zu Ende das Zentralkomitee der Partei mit Lenin an der Spitze.“ Dieser Satz enthält eine Polemik gegen jene, die berechtigterweise glaubten, die wirkliche Seele des Aufstandes sei Lenin gewesen, in hohem Maße im Kampfe gegen das Zentralkomitee. In dieser Periode konnte Stalin seine Oktoberschwankungen nicht anders verschleiern als durch das unpersönliche Pseudonym Zentralkomitee. Die weiteren zwei Sätze, wonach Lenin in einer konspirativen Wohnung in Petrograd lebte und am Abend des 24. nach dem Smolny gerufen wurde, um die gesamte Bewegung zu leiten, verfolgen den Zweck, die in der Partei vorherrschende Ansicht, die Umwälzung hätte Trotzki geleitet, abzuschwächen. Die dann folgenden Trotzki gewidmeten Sätze klingen in der heutigen politischen Akustik wie Panegyrik; in Wirklichkeit waren sie das mindeste, was Stalin, und seine polemischen Anspielungen zu verschleiern, zu sagen gezwungen war. Die Kompliziertheit der Konstruktion und die vorsorglich gönnerhafte Färbung dieses „Jubiläums“-Artikels gehen an sich keine schlechte Vorstellung von der damaligen öffentlichen Parteimeinung.

Im Artikel wird, nebenbei gesagt, das „praktische Zentrum“ mit keinem Wort erwähnt. Im Gegenteil, Stalin erklärt kategorisch: „die ganze Arbeit der praktischen Organisierung des Aufstandes ging unter der unmittelbaren Leitung von ... Trotzki“. Trotzki aber gehörte doch dem praktischen Zentrum nicht an; und von Jaroslawski haben wir ja vernommen, daß angeblich „dieses Organ (und kein anderes) sämtliche am Aufstand beteiligten Organisationen leitete“. Die Lösung des Widerspruchs ist einfach: im Jahre 1918 waren die Ereignisse allen noch zu frisch im Gedächtnis, und ein Versuch, aus den Protokollen den Beschluß über ein „Zentrum“ herauszuziehen, das nie existierte, hätte nicht auf Erfolg rechnen können.

Im Jahre 1924, als vieles bereits vergessen war, erklärte Stalin folgendermaßen, weshalb Trotzki nicht in das „praktische Zentrum“ hineinkam: „Ich muß sagen, daß Trotzki im Oktoberaufstand keine besondere Rolle gespielt hat und auch nicht spielen konnte.“ Stalin verkündete in diesem Jahre direkt als Aufgabe der Historiker die Zerstörung „der Legende von Trotzkis besonderer Rolle im Oktoberaufstand“. Wie aber bringt Stalin diese neue Version in Einklang mit seinem eigenen Artikel von 1918? Sehr einfach: er verbietet, seinen alten Artikel zu zitieren. Historiker, die den Versuch machen, eine Mittellinie zwischen Stalin von 1918 und Stalin von 1924 zu nehmen, werden unverzüglich aus der Partei ausgeschlossen.

Es existieren jedoch autoritärere Zeugnisse als Stalins erster Jubiläumsartikel. In den Anmerkungen zur offiziellen Ausgabe der Werke Lenins heißt es unter dem Wort Trotzki: „Wurde, nachdem der Petrograder Sowjet in die Hände der Bolschewiki übergegangen war, zu dessen Vorsitzenden gewählt, in welcher Eigenschaft er den Aufstand vom 25. Oktober organisiert und geleitet hat.“ Auf diese Weise ist die „Legende von der besonderen Rolle“ fest eingegangen in Lenins Werke zu Lebzeiten ihres Autors.

An Hand der offiziellen Nachschlagewerke läßt sich der Bearbeitungsprozeß des historischen Materials von Jahr zu Jahr verfolgen. So schreibt noch im Jahre 1925, als die Kampagne gegen Trotzki bereits in voller Blüte war, das offizielle Jahrbuch Kalender des Kommunisten: „An der Oktoberrevolution nimmt Trotzki aktivsten führenden Anteil. Im Oktober 1917 wird er zum Vorsitzenden des Petrograder Revolutionskomitees gewählt, das den bewaffneten Aufstand organisierte.“ In der Ausgabe von 1926 ist diese Stelle durch einen kurzen neutralen Satz abgelöst: „Oktober 1917 – Vorsitzender des Leningrader Revolutionskomitees.“ Seit 1927 stellt Stalins Schule eine neue Version auf; die in alle Sowjetlehrbücher einging: als Gegner des „Sozialismus in einem Lande“ mußte Trotzki Gegner des Oktoberaufstandes sein. Glücklicherweise existierte ja das „praktische Zentrum“, das die Sache einem glücklichen Ende zuführte! Die findigen Historiker unterlassen nur zu erklären, weshalb der bolschewistische Sowjet Trotzki zum Vorsitzenden gewählt und weshalb der gleiche Sowjet, von der Partei geleitet, Trotzki an die Spitze des Militärischen Revolutionskomitees gestellt hat.

Lenin war nicht vertrauensselig, besonders in einer Frage, wo es um das Schicksal der Revolution ging. Mit Wortversicherungen konnte man ihn nicht beruhigen. Aus der Ferne war er geneigt, jedes Anzeichen nach der schlimmeren Seite hin zu deuten. Er gewann erst dann endgültig den Glauben, daß die Sache richtig geführt wird, als er sich mit eigenen Augen davon hatte überzeugen können, das heißt, als er selbst im Smolny erschien. Trotzki erzählt darüber in seinen Erinnerungen von 1924: „Ich entsinne mich, welch gewaltigen Eindruck es auf Lenin machte, als er vernahm, wie ich durch schriftlichen Befehl eine Kompanie des Litowsker Regiments herbeigeholt hatte, um das Erscheinen unserer Partei- und Sowjetzeitung zu sichern ... Lenin war begeistert, was sich in Ausrufen, Lachen und Händereiben äußerte. Dann wurde er schweigsam, dachte nach und sagte: „Nun, man kann auch so. Es kommt nur darauf an, die Macht zu ergreifen.“ Mir wurde klar, daß er sich erst in diesem Augenblick mit unserem Verzicht, die Macht durch konspirative Verschwörung zu ergreifen, aussöhnte. Bis zur letzten Stunde hatte er befürchtet, der Feind könnte uns den Weg abschneiden und überrumpeln. Erst jetzt ... beruhigte er sich und sanktionierte endgültig die Bahn, die die Ereignisse genommen hatten.“

Auch diese Darstellung wurde später bestritten. Indes stützt sie sich unerschütterlich auf die objektive Lage. Am Abend des 24. wurde Lenin vom letzten Ausbruch der Besorgnis derart erfaßt, daß er den verspäteten Versuch machte, Soldaten und Arbeiter für einen Druck auf das Smolny zu mobilisieren. Wie stürmisch mußte seine Stimmung umschlagen, als er, einige Stunden später die tatsächliche Lage im Smolny erfuhr! Ist es da nicht klar, daß er, wenn auch nur in einigen Sätzen, in einigen Worten ein Fazit ziehen mußte unter seine Besorgnis, seine direkten und indirekten Vorwürfe an die Adresse des Smolny? Komplizierte Erklärungen waren nicht nötig! Jedem der beiden Gesprächspartner, die sich in dieser ungewöhnlichen Stunde Auge in Auge trafen, waren die Quellen der Mißverständnisse vollkommen klar. Jetzt waren sie liquidiert. Es verlohnte nicht, zu ihnen zurückzukehren. Der eine Satz genügte: „Man kann auch so!“ Das hieß: „Vielleicht war ich zu weit gegangen in nörglerischem Argwohn, aber Sie verstehen doch? ...“ Wer hätte auch nicht verstehen können! Lenin neigte nicht zu Sentimentalitäten. Sein Satz: „Man kann auch so“, mit dem besonderen Lächeln, genügte vollkommen, um die episodischen Mißverständnisse des gestrigen Tages wegzuräumen und die Bande des Vertrauens fester zu knüpfen.

Lenins Stimmung am Tage des 25. zeigte sich am krassesten in der durch Wolodarski eingebrachten Resolution, die den Aufstand charakterisierte als „ausnehmend unblutig und ausnehmend erfolgreich“. Die Tatsache, daß Lenin diese, wie immer bei ihm, an Worten karge, dem Wesen nach aber sehr hohe Bewertung der Umwälzung auf sich nahm, ist kein Zufall. Gerade er, als Autor der „Ratschläge eines Außenstehenden“, hielt sich für unabhängig genug, um nicht nur dem Heroismus der Massen, sondern auch den Verdiensten der Führung den gebührenden Tribut zu entrichten. Man braucht wohl kaum daran zu zweifeln, daß Lenin dafür auch ergänzende psychologische Motive besaß: er hatte die ganze Zeit hindurch den vom Smolny zu langsam genommenen Kurs gefürchtet, und er beeilte sich nun als erster, dessen durch die Wirklichkeit bewiesene Vorzüge anzuerkennen.

Von dem Augenblick an, wo Lenin im Smolny erscheint, stellt er sich naturnotwendig an die Spitze der gesamten Arbeit: der politischen, organisatorischen und technischen. Am 29. findet in Petrograd ein Aufstand der Junker statt. Kerenski greift an der Spitze einiger Kosakenhundertschaften Petrograd an. Das Militärische Revolutionskomitee steht vor der Aufgabe der Verteidigung. Diese Arbeit leitet Lenin. In seinen Erinnerungen schreibt Trotzki: „Ein schneller Erfolg entwaffnet, genau wie eine Niederlage. Den Hauptfaden der Ereignisse nicht aus den Augen verlieren; nach jedem Erfolg sich sagen: es ist noch nichts erreicht, noch nichts gesichert; fünf Minuten vor dem entscheidenden Sieg mit der gleichen Sorgfalt, Energie, mit dem gleichen Druck wie fünf Minuten vor dem Beginn der bewaffneten Handlungen; fünf Minuten nach dem Siege, noch ehe die ersten Begrüßungsworte verklungen sind, sich sagen: das Errungene ist noch nicht gesichert, man darf keine Minute verlieren das ist die Einstellung, das ist die Handlungsweise, das ist die Methode Lenins, das ist das organische Wesen seines politischen Charakters, seines revolutionären Geistes.“

Die oben erwähnte Sitzung des Petrograder Komitees vom 1. November, wo Lenin über seine unberechtigt gewesenen Befürchtungen bezüglich der Interrayonisten sprach, war der Frage der Koalitionsregierung mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären gewidmet. Auf eine Koalition drängen nach dem Siege die Rechten: Sinowjew, Kamenjew, Rykow, Lunatscharski, Rjasanow, Miljutin und andere. Lenin und Trotzki treten entschieden gegen jegliche Koalition auf; die über den Rahmen des zweiten Sowjetkongresses hinausgeht. „Die Meinungsverschiedenheiten“, erklärt Trotzki, „waren von bedeutender Tiefe vor dem Aufstande – im Zentralkomitee wie in breiten Kreisen unserer Partei ... Man sagte dasselbe, wie jetzt nach dem siegreichen Aufstand: es werde der technische Apparat fehlen. Man trug die Farben dick auf, um zu schrecken, wie jetzt, um den Sieg nicht auszunutzen.“ Hand in Hand mit Lenin führt Trotzki gegen die Anhänger der Koalition den gleichen Kampf; den er vor dem Umsturz gegen die Gegner des Aufstandes geführt hatte. Lenin sagt in dieser Sitzung: „Verständigung? Ich kann darüber nicht mal ernsthaft sprechen. Trotzki hat längst gesagt, eine Vereinigung ist unmöglich. Trotzki hat das begriffen, und seitdem hat es keinen besseren Bolschewik gegeben.“

Unter den wichtigsten Bedingungen einer Verständigung stellten die Sozialrevolutionäre und Menschewiki die Forderung auf, aus der Regierung die zwei ihnen verhaßtesten Figuren zu entfernen, „die persönlichen Urheber der Oktoberumwälzung, Lenin und Trotzki“. Das Verhalten des Zentralkomitees und der Partei zu dieser Forderung war so, daß Kamenjew, äußerster Anhänger der Verständigung, persönlich auch zu dieser Konzession bereit, es als notwendig erachtete, in der Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees vom 2. November zu erklären: „Der Vorschlag, Lenin und Trotzki auszuschließen, ist ein Vorschlag zur Enthauptung unserer Partei, und wir nehmen ihn nicht an.“

Den revolutionären Standpunkt – für den Aufstand, gegen die Koalition mit den Versöhnlern – nannte man in den Bezirken „Lenins und Trotzkis Standpunkt“. Dieser Ausdruck wurde, wie Dokumente und Protokolle bezeugen, allgemein gebräuchlich. Im Augenblick der Krise innerhalb des Zentralkomitees nahm eine überfüllte Arbeiterinnenkonferenz in Petrograd einstimmig die Resolution an: „Wir begrüßen die Politik des Zentralkomitees unserer Partei, geführt von Lenin und Trotzki.“ Baron Budberg schrieb bereits im November 1917 in seinem Tagebuch von den „neuen Duumvirn Lenin und Trotzki“. Als eine Gruppe von Sozialrevolutionären im Dezember beschloß, „den bolschewistischen Kopf abzuschneiden“, da war es für sie, nach den Worten Boris Sokolows, eines der Verschwörer, „klar, daß die schädlichsten und bedeutendsten der Bolschewiki Lenin und Trotzki sind. Man muß mit ihnen beginnen.“ In den Jahren des Bürgerkrieges wurden diese zwei Namen stets zusammen genannt, als wäre die Rede von einer Person. Parvus, ehemals revolutionärer Marxist und später wütender Feind der Oktoberrevolution, schrieb: „Lenin und Trotzki, das ist der Sammelname für alle jene, die aus Idealismus den bolschewistischen Weg gegangen sind ...“ Rosa Luxemburg, die die Politik der Oktoberrevolution hart kritisiert hat, bezog ihre Kritik in gleicher Weise auf Lenin wie auf Trotzki. Sie schrieb: „Lenin und Trotzki mit ihren Freunden waren die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangingen. Sie sind auch jetzt noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab’s gewagt!„ Im Oktober 1918 zitierte Lenin in einer feierlichen Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees die ausländische bürgerliche Presse: „Die italienischen Arbeiter benehmen sich so, daß sie, scheint’s, nur Lenin und Trotzki das Reisen in Italien erlauben würden.“ Solche Zeugnisse sind zahllos. Sie ziehen sieh wie ein Leitmotiv durch die ersten Jahre des Sowjetregimes und der Kommunistischen Internationale. Teilnehmer und Beobachter, Freunde und Feinde, Nah- und Fernstehende haben Lenins und Trotzkis Tätigkeit in der Oktoberumwälzung mit einem so festen Knoten verknüpft, daß ihn zu lösen oder zu durchhauen der Epigonen-Historiographie nicht gelingen wird.

 

Fußnote von Trotzki

1. Während des Dritten Kongresses der Kommunistischen Internationale berief sich Lenin, um seine Schläge gegen einige „Ultralinke“ zu mildern, darauf, daß auch er ultralinke Fehler begangen hätte, besonders in der Emigration, darunter auch in der letzten „Emigration“, im Jahre 1917 in Finnland, als er einen ungünstigeren Aufstandsplan verteidigte als jenen, der tatsächlich verwirklicht wurde. Auf diesen seinen Fehler verwies Lenin, wenn uns das Gedächtnis nicht trügt, auch in einer schriftlichen Erklärung in der Kommission des Kongresses für deutsche Angelegenheiten. Leider ist uns das Archiv der Kommunistischen Internationale nicht zugänglich; die uns hier interessierenden Erklärung Lenins ist aber offenbar nicht veröffentlicht worden.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.1.2005