Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 2: Oktoberrevolution

 

Anhang 3 zu Band 2:
Eine geschichtliche Information zur Frage über die Theorie der „permanenten Revolution“

Im Anhang zum ersten Band der Geschichte brachten wir längere Auszüge aus einer Artikelserie, geschrieben vom Autor dieser Arbeit im März 1917 in New York, und aus seinen späteren polemischen Aufsätzen gegen Professor Pokrowski. In beiden Fällen handelt es sich um die Analyse der Triebkräfte der russischen, zum Teil auch der internationalen Revolution. Am Wetzstein dieser Frage wurden im russischen revolutionären Lager seit Beginn des Jahrhunderts grundlegende prinzipielle Gruppierungen festgelegt. Mit dem Anwachsen der revolutionären Flut gewannen sie immer mehr programmatisch-strategischen und schließlich auch unmittelbar taktischen Charakter. Die Jahre 1903-1906 bilden eine Periode intensiver Formierung der politischen Richtungen in der damaligen russischen Sozialdemokratie. Auf jene Zeit bezieht sieh unsere Arbeit Ergebnisse und Perspektiven. Sie wurde bruchstückweise und aus verschiedenartigen Anlässen geschrieben. Die Gefängnishaft von Dezember 1905 erlaubte dem Autor, seine Ansichten über den Charakter der russischen Revolution und deren Perspektiven systematischer darzustellen. Als Buch erschien diese Gesamtarbeit russisch im Jahre 1906. Damit die aus ihm unten abgedruckten Auszüge im Bewußtsein des Lesers den richtigen Platz finden, möchten wir noch einmal daran erinnern, daß in den Jahren 1904/05 keiner von den russischen Marxisten den Gedanken an die Möglichkeit des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft in einem Lande überhaupt, und in Rußland im besonderen, verteidigte oder aufstellte. Diese Konzeption wurde zum erstenmal in der Presse vertreten, etwa zwanzig Jahre später, im Herbst 1924. In der Periode der ersten Revolution wie in den Jahren zwischen den zwei Revolutionen wurde der Streit um die Dynamik der bürgerlichen Revolution, nicht aber um die Chancen und Möglichkeiten einer sozialistischen Revolution geführt. Alle heutigen Anhänger der Theorie des Sozialismus in einem Lande, ohne Ausnahme, beschränkten in jener Periode die Perspektive der russischen Revolution auf die bürgerlich-demokratische Republik und hielten bis April 1917 nicht nur den Aufbau des nationalen Sozialismus für unmöglich, sondern auch die Machteroberung durch das russische Proletariat, solange nicht die Diktatur des Proletariats in den fortgeschritteneren Ländern errichtet wäre.

Unter „Trotzkismus“ verstand man in der Periode 1905–1917 jene revolutionäre Konzeption, nach der die bürgerliche Revolution in Rußland ihre Aufgaben zu lösen nicht anders imstande sein würde, als indem sie das Proletariat an die Macht stellt. Erst im Herbst 1924 begann man unter „Trotzkismus“ eine Konzeption zu verstehen, nach der das russische Proletariat, an die Macht gekommen, nicht imstande sein würde, mit eigenen Kräften die nationale sozialistische Gesellschaft aufzubauen.

Zur Bequemlichkeit des Lesers wollen wir den Streit schematisch darstellen, in Form eines Dialogs, wobei unter T. der Vertreter der „trotzkistischen“ Konzeption figuriert und unter S. einer jener russischen „Praktiker“, die heute die Sowjetbürokratie verkörpern.

 

 

1905-1917

T. Die russische Revolution wird ihre demokratischen Aufgaben, vor allem die Agrarfrage, nicht lösen können, ohne die Arbeiterklasse an die Macht zu stellen.

S. Aber das bedeutet ja Diktatur des Proletariats!

T. Zweifelsohne.

S. Im rückständigen Rußland? Früher als in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern?

T. Allerdings.

S. Aber Sie ignorieren das russische Dorf, das heißt die rückständige Bauernschaft, die noch in Halbleibeigenschaft steckt.

T. Im Gegenteil: eben die Tiefe der Agrarfrage ergibt die unmittelbare Perspektive der Diktatur des Proletariats in Rußland.

S. Sie verneinen mithin die bürgerliche Revolution?

T. Nein, ich versuche nur zu beweisen, daß ihre Dynamik zur Diktatur des Proletariats führt.

S. Aber das heißt ja, daß Rußland für den Aufbau des Sozialismus reif sei?

T. Nein, das heißt es nicht. Die historische Entwicklung hat keinen so planmäßigen und harmonischen Charakter. Die Machteroberung durch das Proletariat im rückständigen Rußland ergibt sich unvermeidlich aus dem Kräfteverhältnis in der bürgerlichen Revolution. Welche weiteren ökonomischen Perspektiven die Diktatur des Proletariats dann eröffnet, hängt von den russischen und internationalen Bedingungen ab, unter denen sie errichtet wird. Selbständig kann Rußland freilich nicht zum Sozialismus kommen. Aber indem es die Ära sozialistischer Umwandlungen eröffnet, kann es den Anstoß geben zur sozialistischen Entwicklung in Europa und damit zum Sozialismus kommen im Schlepptau der fortgeschrittenen Länder.

 

 

1917-1923

S. Trotzki „hat noch vor der Revolution von 1905 die eigenartige und besonders jetzt bemerkenswerte Theorie der permanenten Revolution aufgestellt, indem er behauptete, daß die bürgerliche Revolution in Rußland unmittelbar in die sozialistische übergehen und die erste in der Reihe der nationalen Revolutionen sein werde“. (Aus einer Anmerkung zu Lenins Werken, erschienen zu dessen Lebzeiten.)


1924-1932

S. Also Sie bestreiten, daß unsere Revolution zum Sozialismus führen kann?

T. Ich hin in alter Weise der Ansieht, daß unsere Revolution zum Sozialismus führen kann und führen muß, indem sie einen internationalen Charakter annimmt.

S. Sie glauben also nicht an die inneren Kräfte der russischen Revolution?

T. Seltsam, daß mich das nicht gehindert hat, die Diktatur des Proletariats vorauszusehen und zu propagieren zu einer Zeit, wo ihr sie als Utopie ablehntet.

S. Aber Sie verneinen immerhin die sozialistische Revolution in Rußland?

T. Bis April 1917 habt ihr mich beschuldigt, ich verneinte die bürgerliche Revolution. Das Geheimnis eurer theoretischen Widersprüche liegt darin, daß ihr sehr lange hinter dem historischen Prozeß zurückgeblieben watet und ihn jetzt überholen möchtet. Darin liegt, nebenbei gesagt, auch das Geheimnis eurer wirtschaftlichen Irrtümer.

Der Leser muß sich stets diese drei historischen Etappen in der Entwicklung der revolutionären Konzeptionen in Rußland vor Augen halten, um den wirklichen Inhalt des heutigen Kampfes der Fraktionen und Gruppierungen innerhalb des russischen Kommunismus richtig einschätzen zu können.

 

 

Auszüge aus der Arbeit von 1905,
“Ergebnisse und Perspektiven“

4. Revolution und Proletariat

Das Proletariat wächst und erstarkt zusammen mit dem Wachsen des Kapitalismus. In diesem Sinne ist die Entwicklung des Kapitalismus die Entwicklung des Proletariats zur Diktatur, Doch Tag und Stunde, wo die Macht in die Hände der Arbeiterklasse übergehen wird, hängen unmittelbar ab nicht vom Niveau der Produktivkräfte, sondern von den Bedingungen des Klassenkampfes, von der internationalen Situation und schließlich von einer Reihe subjektiver Momente: Tradition, Initiative, Kampfbereitschaft ...

In einem ökonomisch rückständigeren Lande kann dem Proletariat die Macht früher zufallen als in einem kapitalistisch fortgeschrittenen Lande ...


Die Vorstellung von irgendeiner automatischen Abhängigkeit der proletarischen Diktatur von den technischen Kräften und Mitteln des Landes bildet ein Vorurteil des aufs äußerste versimpelten „ökonomischen“ Materialismus. Mit Marxismus hat eine solche Ansicht nichts gemein.

Die russische Revolution schafft unserer Ansicht nach Bedingungen, unter denen die Macht in die Hände des Proletariats übergehen kann (beim Sieg der Revolution übergehen muß), noch bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus die Möglichkeit erhalten, ihr Staatsgenie in vollem Umfange zu entfalten.


Der Marxismus ist vor allem eine Methode der Analyse – nicht der Analyse von Texten, sondern der Analyse sozialer Beziehungen. Ist es, auf Rußland angewandt, richtig, daß die Schwäche des kapitalistischen Liberalismus unbedingt Schwäche der Arbeiterbewegung bedeutet?


Die zahlenmäßige Stärke des Industrieproletariats, seine Konzentriertheit, sein Kulturniveau, seine politische Bedeutung hängen zweifellos vom Entwicklungsgrad der kapitalistischen Industrie ab. Doch ist diese Abhängigkeit keine unmittelbare. Zwischen den Produktivkräften des Landes und den politischen Kräften seiner Klassen in jedem gegebenen Moment schneiden sich verschiedene sozialpolitische Faktoren nationalen und internationalen Charakters, und diese verbiegen oder verändern sogar völlig den politischen Ausdruck der ökonomischen Beziehungen. Obwohl die Produktivkräfte der Industrie in den Vereinigten Staaten zehnfach höher sind als bei uns, ist die politische Rolle des russischen Proletariats, sein Einfluß auf die Politik seines Landes, die Möglichkeit seines nahen Einflusses auf die Weltpolitik unvergleichlich größer als die Rolle und Bedeutung des amerikanischen Proletariats.

 

 

5. Das Proletariat an der Macht und die Bauernschaft

Im Falle eines entscheidenden Sieges der Revolution geht die Macht in die Hände der Klasse über, die im Kampfe die führende Rolle gespielt hat – mit anderen Worten, in die Hände des Proletariats. Selbstverständlich, wir wollen das gleich sagen, schließt das keinesfalls aus die Beteiligung revolutionärer Vertreter nichtproletarischer Gesellschaftsgruppen an der Regierung ... Die Frage ist nur, wer der Regierungspolitik Inhalt verleiht, wer in ihr die geschlossene Mehrheit darstellt. Es ist eines, ob an einer Regierung, die der Mehrheit ihrer Zusammensetzung nach eine Arbeiterregierung ist, Vertreter demokratischer Volksschichten teilnehmen – ein anderes, ob an einer ausgesprochen bürgerlich-demokratischen Regierung in der Rolle mehr oder minder ehrenwerter Geiseln Vertreter des Proletariats teilnehmen.


Das Proletariat wird seine Macht nicht festigen können, ohne die Basis der Revolution zu verbreitern. Viele Schichten der werktätigen Massen, hauptsächlich auf dem Lande, werden zum erstenmal in die Revolution einbezogen werden und eine politische Organisation erhalten erst nachdem die Avantgarde der Revolution, das Stadtproletariat, am Staatssteuer stehen wird.

... Der Charakter unserer sozial-historischen Beziehungen, der die ganze Schwere der bürgerlichen Revolution auf die Schultern des Proletariats wälzt, wird für die Arbeiterregierung nicht nur ungeheure Schwierigkeiten schaffen, sondern ihr auch, wenigstens in der ersten Periode ihres Bestehens, unschätzbare Vorteile bringen. Das wird sich in den Beziehungen zwischen Proletariat und Bauernschaft äußern.


Die russische Revolution verhindert und wird noch lange verhindern die Errichtung irgendeines bürgerlich-konstitutionellen Regimes, das die primitivsten Aufgaben der Demokratie lösen könnte ... Infolgedessen ist das Schicksal der elementarsten revolutionären Interessen der Bauernschaft – sogar der Gesamtbauernschaft als Stand – mit dem Schicksal der gesamten Revolution, das heißt mit dem Schicksal des Proletariats verbunden. Das Proletariat an der Macht wird der Bauernschaft als die Befreierklasse erscheinen.

Aber vielleicht wird die Bauernschaft das Proletariat verdrängen und dessen Platz einnehmen? Das ist unmöglich. Die gesamte historische Erfahrung lehnt sich gegen eine solche Annahme auf Sie zeigt, daß die Bauernschaft absolut unfähig ist zu einer selbständigen politischen Rolle.

Die russische Bourgeoisie tritt dem Proletariat alle revolutionären Positionen ab. Sie wird auch die revolutionäre Hegemonie über die Bauernschaft abtreten müssen. In der Situation, die durch den Übergang der Macht an das Proletariat entstehen wird, wird der Bauernschaft nur übrigbleiben, sieh dem Regime der Arbeiterdemokratie anzuschließen. Auch wenn sie es nicht mit größerer Einsicht tun sollte als der, mit der sie sich gewöhnlich dem bürgerlichen Regime anschließt! Doch während jede bürgerliche Partei im Besitz der Bauernstimmen sich beeilt, die Macht auszunutzen, um die Bauernschaft zu berauben und in all ihren Hoffnungen und Erwartungen zu betrügen, und danach, im schlimmsten Falle, den Platz einer anderen kapitalistischen Partei abzutreten, wird das Proletariat, gestützt auf die Bauernschaft, alle Kräfte in Bewegung setzen, um das Kulturniveau des Dorfes und die Entwicklung der politischen Erkenntnis der Bauernschaft zu heben.

 

 

6. Das proletarische Regime

Zur Macht gelangen kann das Proletariat nur gestützt auf einen nationalen Aufschwung, auf die Begeisterung des ganzen Volkes. Das Proletariat wird die Regierung übernehmen als revolutionärer Vertreter der Nation, als anerkannter Volksführer ins Kampfe gegen Absolutismus und Leibeigenschaftsbarharei. Aber an die Macht gekommen, wird das Proletariat eine neue Epoche eröffnen eine Epoche revolutionärer Gesetzgebung, positiver Politik –, und hier ist ihm die Beibehaltung der Rolle des anerkannten Repräsentanten der Nation keinesfalls gesichert.


Jeder neue Tag wird die Politik des an der Macht stehenden Proletariats vertiefen und ihren Klassencharakter immer stärker bestimmen. Gleichzeitig damit wird die revolutionäre Verbindung zwischen Proletariat und Nation Störung erleiden, die klassenmäßige Zergliederung der Bauernschaft wird in politischen Formen hervortreten, der Antagonismus zwischen den Bestandteilen. wird wachsen in gleichem Maße, wie die Politik der Arbeiterregierung aus einer allgemein demokratischen zu einer klassenmäßig bedingten sich entwickeln wird.

Die Abschaffung der ständischen Leibeigenschaft wird die Unterstützung der gesamten Bauernschaft als des Fronstandes finden ... Aber die gesetzgebenden Maßnahmen zum Schutze des landwirtschaftlichen Proletariats werden nicht nur diese aktive Sympathie bei der Mehrheit nicht finden, sondern sogar auf aktiven Widerstand der Minderheit stoßen. Das Proletariat wird sich gezwungen sehen, den Klassenkampf ins Dorf hineinzutragen und somit jene Interessengemeinschaft zu zerstören, die zweifellos bei der Gesamtbauernschaft besteht, wenn auch in verhältnismäßig engem Rahmen. Das Proletariat wird schon in den nächsten Monaten nach Antritt der Herrschaft eine Stütze suchen müssen in der Gegenüberstellung von Dorfarmut und Dorfreichen, landwirtschaftlichem Proletariat und ackerbauender Bourgeoisie.


Befindet sich die Macht in den Händen einer revolutionären Regierung mit sozialistischer Mehrheit, dann verliert der Unterschied zwischen Minimal- und Maximalprogramm sofort sowohl die prinzipielle wie die unmittelbar praktische Bedeutung. Im Rahmen dieser Abgrenzung sich zu halten, wird für eine proletarische Regierung völlig unmöglich sein.


Indem sie in die Regierung eintreten nicht als ohnmächtige Geiseln, sondern als führende Kraft, vernichten die Vertreter des Proletariats damit allein schon die Grenze zwischen Minimal- und Maximalprogramm, das heißt, sie stellen den Kollektivismus auf die Tagesordnung. An welchem Punkte das Proletariat auf diesem Wege aufgehalten werden wird, hängt von dem Kräfteverhältnis ab, keinesfalls aber von den ursprünglichen Absichten der proletarischen Partei.

Aus diesem Grunde kann nicht die Rede sein von irgendeiner besonderen Form der proletarischen Diktatur in der bürgerlichen Revolution, wie etwa von der demokratischen Diktatur des Proletariats (oder des Proletariats und der Bauernschaft). Die Arbeiterklasse wird nicht imstande sein, den demokratischen Charakter ihrer Diktatur zu sichern, ohne die Grenzen ihres demokratischen Programms zu überschreiten. Alle diesbezüglichen Illusionen wären nur unheilvoll.

Einmal im Besitze der Macht, wird die Partei des Proletariats um sie bis zum Ende kämpfen. Wird eines der Mittel dieses Kampfes um die Erhaltung und Sicherung der Macht Agitation und Organisation sein, besonders auf dem Lande, so wird das andere Mittel die kollektivistische Politik darstellen. Der Kollektivismus wird nicht nur unvermeidliche Schlußfolgerung aus der Stellung der Partei an der Macht werden, sondern auch Mittel, diese Stellung, gestützt auf das Proletariat, zu sichern.


Als in der sozialistischen Presse die Idee der ununterbrochenen Revolution formuliert wurde, die die Liquidierung des Absolutismus und der bürgerlichen Leibeigenschaft verband mit der sozialistischen Umwälzung durch eine Reihe anwachsender sozialer Zusammenstöße, Aufstände neuer Schichten der Massen, fortwährender Attacken des Proletariats gegen die politischen und ökonomischen Privilegien der herrschenden Klassen, erhob unsere „fortschrittliche“ Presse ein einmütiges Entrüstungsgeheul.

Die radikaleren Vertreter der gleichen Demokratie ... halten nicht nur schon die Idee einer Arbeiterregierung in Rußland für phantastisch, sondern lehnen auch die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution in Europa für die nächste historische Epoche ab. Noch seien die notwendigen „Voraussetzungen“ nicht gegeben. Stimmt das? Es handelt sich selbstverständlich nicht darum, Fristen für die sozialistische Revolution festzulegen, sondern darum, sie in ihre realen historischen Perspektiven hineinzustellen ...


Weiter folgen eine Analyse der allgemeinen Voraussetzungen der sozialistischen Wirtschaft und Beweise dafür, daß gegenwärtig – zu Beginn des XX. Jahrhunderts – diese Voraussetzungen, wenn man sie im europäischen und im Weltmaßstabe betrachtet, bereits gegeben sind.)


... Innerhalb der abgeschlossenen Grenzen einzelner Staaten könnte die sozialistische Produktion bereits nicht mehr Platz finden – sowohl aus ökonomischen wie aus politischen Gründen.

 

 

8. Arbeiterregierung in Rußland und Sozialismus

Wir haben oben gezeigt, daß objektive Voraussetzungen für die sozialistische Revolution bereits geschaffen sind durch die ökonomische Entwicklung der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder. Was aber kann man in dieser Hinsicht von Rußland sagen? Darf man erwarten, daß der Übergang der Macht in die Hände des russischen Proletariats der Beginn einer Umwandlung unserer Nationalwirtschaft auf sozialistischen Grundlagen sein wird?

Die Pariser Arbeiter haben, wie Marx sagte, von der Kommune keine Wunder verlangt. Man darf plötzliche Wunder von der Diktatur des Proletariats auch jetzt nicht erwarten. Die Staatsgewalt ist nicht allmächtig. Es wäre unsinnig, zu glauben, es genüge, daß das Proletariat die Macht bekommt – und es würde mittels einiger Dekrete Kapitalismus durch Sozialismus ersetzen. Ein ökonomisches Regime ist nicht Produkt einer Staatstätigkeit. Das Proletariat wird nichts weiter tun können, als mit aller Energie die Staatsmacht einzusetzen, um den Weg der wirtschaftlichen Evolution in Richtung zum Kollektivismus zu erleichtern und abzukürzen.

Die Vergesellschaftung der Produktion wird nur Zweigen beginnen, die dafür die geringsten Schwierigkeiten bieten. In der ersten Periode wird vergesellschaftete Produktion Oasen darstellen, die mit privatwirtschaftlichen Unternehmungen durch Gesetze des Warenverkehrs verbunden sind. Je breiter das Feld sein wird, das bereits von vergesellschafteter Wirtschaft erfaßt ist, um so offenbarer werden dessen Vorteile, um so sicherer wird sich das neue politische Regime fühlen, um so kühner werden die weiteren Wirtschaftsmaßnahmen des Proletariats sein. Bei diesen Maßnahmen wird es sich nicht nur auf die nationalen Produktivkräfte stützen können und stützen, sondern auch auf die internationale Technik, ähnlich, wie es sich in seiner revolutionären Politik nicht nur auf die Erfahrung der nationalen Klassenbeziehungen, sondern auch auf die gesamte historische Erfahrung des internationalen Proletariats stützt.

Das proletarische Regime wird gleich zu Beginn an die Lösung der Agrarfrage gehen müssen, mit der das Schicksal riesiger Bevölkerungsmassen Rußlands verknüpft ist. Bei Lösung dieser Frage, wie auch aller übrigen, wird das Proletariat ausgehen von der Grundbestrebung seiner ökonomischen Politik: ein möglichst breites Feld für die Organisierung der sozialistischen Wirtschaft zu gewinnen, – wobei Formen und Tempo dieser Politik in der Agrarfrage bestimmt werden müssen sowohl von jenen materiellen Hilfsquellen, die zu erobern dem Proletariat gelingt, wie auch von der Notwendigkeit, sein Handeln so zu gestalten, daß nicht eventuelle Verbündete in die Reihen der Konterrevolution zurückgestoßen werden.


Wie weit aber kann die sozialistische Politik der Arbeiterklasse unter Rußlands Wirtschaftsbedingungen gehen? Man darf mit Bestimmtheit sagen: Sie wird viel früher auf politische Hindernisse stoßen als auf die technische Rückständigkeit des Landes. Ohne direkte Staatshilfe seitens des europäischen Proletariats wird sich die Arbeiterklasse Rußlands nicht an der Macht halten und ihre vorübergehende Herrschaft nicht in eine langwährende sozialistische Diktatur verwandeln können ...


Politischer „Optimismus“ kann von zweierlei Art sein. Man kann übertrieben seine Kräfte und die Vorteile der revolutionären Situation einschätzen und sich Aufgaben stellen, deren Lösung das gegebene Kräfteverhältnis nicht zuläßt. Man kann aber auch umgekehrt optimistisch seinen revolutionären Aufgaben eine Schranke setzen, über die uns die Logik der Situation unvermeidlich hingeschleudert.

Man kann die Rahmen sämtlicher Fragen der Revolution durch die Behauptung einschränken, unsere Revolution sei ihren objektiven Zielen, folglich auch den unvermeidlichen Resultaten nach bürgerlich, und man kann dabei die Augen vor der Tatsache verschließen, daß die wesentlichste wirkende Kraft dieser bürgerlichen Revolution das Proletariat ist, das durch den ganzen Gang der Revolution zur Macht gestoßen wird ...

Man kann sich damit trösten, daß die sozialen Bedingungen Rußlands für die sozialistische Wirtschaft noch nicht reif seien – und man kann sich dabei Gedanken darüber ersparen, daß das Proletariat, an die Macht gelangt, unweigerlich durch die gesamte Logik seiner Lage dazu gestoßen werden wird, die Wirtschaft auf Kosten des Staates zu führen.

Die allgemeine soziologische Bezeichnung – bürgerliche Revolution – löst keinesfalls jene politisch-taktischen Aufgaben, Widersprüche und Schwierigkeiten, die von der Mechanik der gegebenen bürgerlichen Revolution gestellt werden.

Im Rahmen der bürgerlichen Revolution Ende des XVIII. Jahrhunderts, die zur objektiven Aufgabe die Herrschaft des Kapitals hatte, erwies sich die Diktatur der Sansculotten als möglich. In der Revolution zu Beginn des XX. Jahrhunderts, die nach ihren unmittelbaren objektiven Aufgaben ebenfalls bürgerlich ist, zeichnet sieh als nächste Perspektive die Unvermeidlichkeit oder wenigstens doch die Wahrscheinlichkeit der politischen Herrschaft des Proletariats ab. Daß diese Herrschaft nicht eine flüchtige „Episode“ bleibe, wie einige reale Philister hoffen, dafür wird das Proletariat selbst sorgen. Aber schon jetzt darf man sich die Frage stellen: Muß die Diktatur des Proletariats unvermeidlich an dem Rahmen der bürgerlichen Revolution zerschellen, oder kann sie sich auf den gegebenen weltgeschichtlichen Grundlagen die Perspektive des Sieges eröffnen, indem sie diesen einschränkenden Rahmen sprengt?


(Weiter folgt die Entwicklung des Gedankens, daß die russische Revolution die proletarische Revolution im Westen entfesseln könne und aller Wahrscheinlichkeit nach entfesseln werde, was seinerseits wieder die sozialistische Entwicklung Rußlands sichern würde.

Es bleibt noch hinzuzufügen, daß in den ersten Jahren des Bestehens der Kommunistischen Internationale die hier zitierte Arbeit offiziell in fremden Sprachen herausgegeben wurde als theoretische Deutung der Oktoberrevolution.)

 


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008