Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 2: Oktoberrevolution

 

Kapitel 23:
Oktoberaufstand

Naturgeschichtliche Analogien in bezug auf die Revolution drängen sich derart von selbst auf, daß einige von ihnen zu abgenutzten Metaphern geworden sind: „vulkanische Ausbrüche“, „Geburt einer neuen Gesellschaft“, „Siedepunkt“ ... Unter dem einfachen literarischen Bild verbergen sich da intuitiv erfaßte Gesetze der Dialektik, das heißt der Logik der Entwicklung.

Was die Revolution als ganzes – im Verhältnis zur Evolution –, ist der bewaffnete Aufstand – im Verhältnis zur Revolution selbst: der kritische Punkt, wo die angehäufte Quantität explodierend in Qualität übergeht. Aber auch der Aufstand selbst ist kein einheitlicher, ungeteilter Akt: er hat seine eigenen kritischen Punkte, eigenen inneren Krisen und Steigerungen.

Äußerst wichtig, sowohl politisch wie theoretisch, ist die kurze Periode, die dem „Siedepunkt“ unmittelbar vorangeht, das heißt, der Vorabend des Aufstandes. Die Physik lehrt, daß ein gleichmäßiger Erwärmungsprozeß plötzlich zum Stillstand kommt, die Flüssigkeit behält eine bestimmte Zeit unverändert die Temperatur, um erst nach Aufnahme einer ergänzenden Wärmemenge zu sieden. Die Umgangssprache kommt uns auch hier zu Hilfe, indem sie den Zustand der scheinbar ruhigen Konzentration vor der Explosion als „Ruhe vor dem Sturm“ bezeichnet.

Als auf die Seite der Bolschewiki die absolute Mehrheit der Arbeiter und Soldaten Petrograds übergegangen war, schien die Temperatur des Siedens erreicht. Eben in diesem Augenblick proklamierte Lenin die Notwendigkeit des sofortigen Aufstandes. Doch erstaunlich: es fehlte etwas für den Aufstand. Die Arbeiter und besonders die Soldaten mußten noch eine ergänzende Menge revolutionärer Energie in sich aufnehmen.

Bei den Massen gibt es keinen Widerspruch zwischen Wort und Tat. Doch erzeugt der Übergang vom Wort zur Tat, sogar zum einfachen Streik, um wieviel mehr zum Aufstand, unvermeidlich innere Reibungen und molekulare Umgruppierungen: die einen rücken vor, die anderen werden zurückgedrängt. Bei seinen ersten Schritten zeichnet sich der Bürgerkrieg überhaupt durch äußerste Unentschlossenheit aus. Beide Lager versinken gleichsam im selben nationalen Boden, können sich von der eigenen Peripherie mit ihren Zwischenschichten und versöhnlerischen Stimmungen nicht losreißen.

Die Ruhe vor dem Sturm in den unteren Schichten bedeutete schroffe Stockung in der führenden Schicht. Die Organe und Institutionen, die sich in der verhältnismäßig friedlichen Vorbereitungsperiode herausbildeten – die Revolution hat ihre friedlichen Perioden wie der Krieg seine Ruhetage –, erwiesen sich sogar bei der gestähltesten Partei als den Aufgaben des Aufstandes nicht entsprechend oder nicht völlig entsprechend: eine gewisse Verschiebung und Umbildung wird im allerkritischsten Augenblick unvermeidlich. Bei weitem nicht sämtliche Delegierten des Petrograder Sowjets, die für die Sowjetmacht gestimmt hatten, waren wahrhaft vom Gedanken durchdrungen, daß der bewaffnete Aufstand Tagesaufgabe geworden. Man mußte sie unter kleinsten Erschütterungen auf den neuen Weg hinüberleiten, um den Sowjet in einen Apparat des Aufstandes zu verwandeln. Unter den Bedingungen der herangereiften Krise waren dafür keine Monate, nicht einmal viele Wochen erforderlich. Aber gerade in den letzten Tagen war es am gefährlichsten, außer Schritt zu kommen, einen Sprung zu kommandieren einige Tage zu früh, bevor der Sowjet dafür fertig war, Verwirrung in den eigenen Reihen hervorzurufen, die Partei vom Sowjet auch nur für vierundzwanzig Stunden zu trennen.

Lenin hatte mehr als einmal wiederholt, die Massen seien unvergleichlich linker als die Partei, wie die Partei linker als das eigene Zentralkomitee. In bezug auf die Revolution als ganzes war das absolut richtig. Aber auch diese Wechselbeziehungen haben ihre eigenen tiefen inneren Schwankungen. Im April, Juni und besonders Anfang Juli stießen die Arbeiter und Soldaten die Partei ungeduldig auf den Weg entschiedener Taten. Nach der Juliniederschlagung wurden die Massen vorsichtiger. Sie wollten zwar in alter Weise und sogar stärker die Umwälzung. Doch nachdem sie sich die Finger tüchtig verbrannt, befürchteten sie einen neuen Mißerfolg. Juli, August und September hielt die Partei tagaus tagein die Arbeiter und Soldaten zurück, während die Kornilowianer dagegen sie mit allen Mitteln auf die Straße zu locken suchten. Die politische Erfahrung der letzten Monate hatte stark die Bremszentren nicht nur bei den Führern, sondern auch bei den Geführten entwickelt. Die dauernden Erfolge der Agitation nährten ihrerseits wiederum das Beharrungsvermögen der abwartenden Stimmungen. Den Massen genügte die neue politische Orientierung nicht: sie mußten sich psychologisch umstellen. Der Aufstand umfaßt um so breitere Massen, je mehr das Kommando der revolutionären Partei eins ist mit dem Kommando der Verhältnisse.

Die schwierige Frage des Übergangs von der Politik der Vorbereitung zur Technik des Aufstandes erhob sich im ganzen Lande, in verschiedenen Formen, doch im Kern einheitlich. Muralow erzählt, in der Moskauer Militärischen Organisation der Bolschewiki hätte über die Notwendigkeit der Machtergreifung eine Meinung geherrscht; jedoch „der Versuch, die Frage konkret zu entscheiden, wie diese Machtergreifung durchzuführen sei, blieb ungelöst“. Es fehlte das letzte verbindende Glied.

In jenen Tagen, als Petrograd im Zeichen der Versetzung der Garnison stand, lebte Moskau in der Atmosphäre ununterbrochener Streikzusammenstöße. Auf Initiative der Fabrikkomitees entwarf die bolschewistische Fraktion des Sowjets den Plan: ökonomische Konflikte auf dem Wege von Dekreten zu lösen. Die vorbereitenden Schritte erforderten nicht wenig Zeit. Erst am 23. Oktober nahmen die Moskauer Sowjetorgane das Revolutionäre Dekret Nr. 1 an: Arbeiter und Angestellte in Fabriken und Werken dürfen von nun an nur mit Zustimmung der Fabrik- und Werkkomitees eingestellt und entlassen werden. Das bedeutete, als Staatsmacht zu handeln beginnen. Der unvermeidliche Widerstand der Regierung mußte nach Ansicht der Initiatoren die Massen um den Sowjet enger zusammenschließen und zum offenen Konflikt führen. Der Plan fand keine Nachprüfung, da die Umwälzung in Petrograd Moskau wie dem ganzen übrigen Lande ein gebieterisches Argument für den Aufstand lieferte: man mußte sofort die soeben entstandene Sowjetregierung unterstützen.

Die angreifende Seite ist fast stets daran interessiert, in der Defensive zu erscheinen. Die revolutionäre Partei ist an legaler Deckung interessiert. Der bevorstehende Sowjetkongreß, im wesentlichen Kongreß der Umwälzung, war für die Massen gleichzeitig unbestrittener Träger, wenn nicht der gesamten, so doch mindestens einer guten Hälfte der Souveränität. Es ging um den Aufstand eines Elements der Doppelherrschaft gegen das andere. Während es an den Kongreß als an die Machtquelle appellierte, beschuldigte das Militärische Revolutionskomitee die Regierung von vornherein, sie bereite ein Attentat auf die Sowjets vor. Diese Beschuldigung ergab sich aus der ganzen Situation. Insofern die Regierung nicht die Absicht hatte, ohne Kampf zu kapitulieren, mußte sie sich auf Selbstverteidigung vorbereiten. Doch damit allein schon geriet sie unter die Beschuldigung der Verschwörung gegen das höchste Organ der Arbeiter, Soldaten und Bauern. Im Kampf gegen den Sowjetkongreß, der Kerenski stürzen sollte, erhob die Regierung die Hand gegen die Quelle der Macht, aus der Kerenski hervorgegangen war.

Es wäre grober Irrtum, in alldem nur juristische, dem Volke gleichgültige Finessen zu sehen: im Gegenteil, gerade so spiegelten sich die grundlegenden Tatsachen der Revolution im Bewußtsein der Massen wider. Diese außergewöhnlich günstige Verknüpfung mußte restlos ausgenutzt werden. Indem sie der natürlichen Unlust der Soldaten, aus den Kasernen in die Schützengräben zu wandern, ein großes politisches Ziel verlieh und die Garnison zur Verteidigung des Sowjetkongresses mobilisierte, band sich die revolutionäre Führung in keiner Weise die Hände in bezug auf die Frist des Aufstandes. Die Wahl des Tages und der Stunde hing vom weiteren Verlauf des Zusammenstoßes ab. Die Manövrierfreiheit war bei dem Stärkeren.

„Zuerst besiegt Kerenski, dann ruft den Kongreß ein“, wiederholte Lenin, der befürchtete, der Aufstand könnte in ein konstitutionelles Spiel umgefälscht werden. Offensichtlich hatte Lenin noch nicht Zeit genug gehabt, den neuen Faktor einzuschätzen, der in die Vorbereitung des Aufstandes einschnitt und deren gesamten Charakter veränderte, nämlich den scharfen Konflikt zwischen Petrograder Garnison und Regierung. Wenn der Sowjetkongreß über die Frage der Macht entscheiden soll; wenn die Regierung die Garnison zerschlagen will, um den Sowjet daran zu hindern, Macht zu werden; wenn die Garnison, ohne den Sowjetkongreß abzuwarten, sich weigert, der Regierung zu so bedeutet das ja dem Wesen nach, der Aufstand habe begonnen, ohne den Sowjetkongreß abzuwarten, wenn auch gedeckt durch dessen Autorität. Politisch die Vorbereitung des Aufstandes von der Vorbereitung des Sowjetkongresses zu trennen wäre deshalb falsch gewesen.

Am besten kann man die Besonderheiten der Oktoberumwälzung begreifen, wenn man diese der vom Februar gegenüberstellt. Bei Anwendung dieses Vergleiches ist es nicht notwendig, wie in anderen Fällen, die Identität einer ganzen Reihe von Umständen vorauszusetzen; sie sind tatsächlich identisch, da es in beiden Fällen um Petrograd geht: gleiche Kampfarena, gleiche soziale Gruppierungen, gleiches Proletariat und gleiche Garnison. Der Sieg wird in beiden Fällen erreicht durch Übergang der Mehrzahl der Reserveregimenter auf die Seite der Arbeiter. Doch im Rahmen dieser gemeinsamen Grundzüge – welch gewaltiger Unterschied! Historisch einander im Laufe von acht Monaten ergänzend, sind die zwei Petrograder Umwälzungen durch den Kontrast ihrer Züge gleichsam im voraus dazu ausersehen, zum besseren Verständnis der Natur eines Aufstandes überhaupt beizutragen.

Den Februaraufstand nennt man elementar. An anderer Stelle haben wir in diese Bezeichnung alle notwendigen Einschränkungen hineingebracht. Doch ist jedenfalls richtig, daß im Februar niemand die Wege der Umwälzung vorausgewiesen hat; niemand hat in Fabriken und Kasernen über die Frage der Revolution abgestimmt; niemand von oben zum Aufstande aufgerufen. Die in Jahren angesammelte Empörung explodierte, zum größten Teil unerwartet für die Masse selbst.

Ganz anders verhielt sich die Sache im Oktober. Während der acht Monate hatten die Massen ein gespanntes politisches Leben geführt. Sie schufen nicht nur die Ereignisse, sondern lernten auch deren Zusammenhänge begreifen; nach jeder Tat erwogen sie kritisch deren Ergebnisse. Der Sowjetparlamentarismus wurde die Alltagsmechanik des politischen Lebens des Volkes. Wenn durch Abstimmungen Fragen über Streiks, Straßenmanifestationen, Versetzung eines Regiments an die Front entschieden wurden, konnten da die Massen auf den selbständigen Beschluß in der Frage des Aufstandes etwa verzichten?

Aus dieser unschätzbaren und im wesentlichen einzigen Errungenschaft der Februarrevolution erwuchsen jedoch neue Schwierigkeiten. Man konnte nicht die Masse im Namen des Sowjets zum Kampf aufrufen, ohne die Frage formell vor dem Sowjet zu stellen, das heißt, ohne die Aufgabe des Aufstandes zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen zu machen, und überdies unter Beteiligung von Vertretern des kindlichen Lagers. Die Notwendigkeit, zur Leitung des Aufstandes ein besonderes, möglichst verschleiertes Sowjetorgan zu schaffen, war offensichtlich. Doch auch dies erforderte demokratische Wege mit all ihren Vorzügen und all ihren Verzögerungen. Der Beschluß des Militärischen Revolutionskomitees vom 9. Oktober erhält seine endgültige Verwirklichung erst am 20. Die Hauptschwierigkeit liegt jedoch nicht hier. Die Mehrheit des Sowjets ausnutzen und ein Komitee nur aus Bolschewiki schaffen, hätte bedeutet, die Unzufriedenheit der Parteilosen hervorzurufen, schon gar nicht zu sprechen von den linken Sozialrevolutionären und einigen Gruppen der Anarchisten. Die Bolschewiki innerhalb des Militärischen Revolutionskomitees unterwarfen sich dem Beschluß ihrer Partei, wenn auch nicht alle widerspruchslos. Aber es war unmöglich, Disziplin von Parteilosen und linken Sozialrevolutionären zu fordern. Von ihnen a priori einen Beschluß über den Aufstand für einen bestimmten Tag zu erlangen, war undenkbar; allein schon die Frage vor ihnen zu stellen, wäre äußerst unvorsichtig gewesen. Vermittels des Militärischen Revolutionskomitees konnte man die Massen in den Aufstand nur hineinziehen, indem man die Situation täglich schärfer zuspitzte und den Konflikt unausweichbar gestaltete.

War es da nicht einfacher gewesen, zum Aufstande unmittelbar im Namen der Partei aufzurufen? Ernsthafte Vorzüge eines solchen Vorgehens hegen auf der Hand. Doch vielleicht unverkennbarer sind auch die Nachteile. Unter den Millionen, auf die die Partei sich berechtigterweise stützen zu können glaubte, hat man drei Schichten zu unterscheiden: die eine, die bereits bedingungslos mit den Bolschewiki ging; die andere, zahlreichste, die die Bolschewiki unterstützte, insofern diese durch die Sowjets handelten; die dritte, die mit den Sowjets ging, obwohl die Bolschewiki in ihnen vorherrschten.

Diese drei Schichten unterschieden sich nicht nur nach ihrem politischen Niveau, sondern im großen Maße auch nach der sozialen Zusammensetzung Mit den Bolschewiki als Partei gingen vor allem die Industriearbeiter, in den ersten Reihen Petrograds Erbproletarier. Mit den Bolschewiki, sofern sie legale Deckung seitens des Sowjets besaßen, ging die Mehrheit der Soldaten. Mit den Sowjets, unabhängig davon oder trotzdem, daß darin die Bolschewiki stark vorherrschten, gingen die konservativsten Zwischenschichten der Arbeiter, frühere Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die sich fürchteten, von den übrigen Massen abgedrängt zu werden; die konservativeren Truppenteile der Armee einschließlich der Kosaken; die Bauern, die sich von der Führung der sozialrevolutionären Partei befreit hatten und sich an deren linken Flügel klammerten.

Es wäre ein offener Fehler, die Stärke der bolschewistischen Partei mit der Macht der von ihr geleiteten Sowjets zu identifizieren: die letztere war um vieles beträchtlicher, jedoch ohne die erste hätte sie sich in Ohnmacht verwandelt. Es ist dahinter nichts Geheimnisvolles. Die Wechselbeziehung zwischen Partei und Sowjets erwuchs aus dem in revolutionärer Epoche unvermeidlichen Mißverhältnis zwischen dem kolossalen politischen Einfluß des Bolschewismus und dessen engem organisatorischen Rahmen. Ein richtig angewandter Hebel verleiht der menschlichen Hand die Fähigkeit, eine ihre lebendige Kraft um ein Vielfaches übersteigende Last zu heben. Doch ohne die lebendige Hand ist der Hebel nur eine tote Stange.

In der Moskauer Distriktkonferenz der Bolschewiki, Ende September, berichtete ein Delegierter: „In Jegorjewsk ist der Einfluß der Bolschewiki ungeteilt ... An sich aber ist die Parteiorganisation schwach; völlig vernachlässigt; es gibt weder eine richtige Registrierung noch Mitgliedsbeiträge.“ Das Mißverhältnis zwischen Einfluß und Organisation, nicht überall derart kraß, war allgemeine Erscheinung. Die breiten Massen kannten die bolschewistischen Parolen und die Sowjetorganisation. Beides verschmolz für sie völlig in eins während der Monate September–Oktober. Das Volk erwartete, daß gerade die Sowjets bestimmen würden, wann und wie das bolschewistische Programm zu verwirklichen sei.

Die Partei selbst erzog die Massen systematisch in diesem Geiste. Als in Kiew das Gerücht entstand, es bereite sich ein Aufstand vor, trat das bolschewistische Exekutivkomitee sofort mit einem Widerruf auf: „keine bewaffnete Demonstration darf ohne Aufforderung des Sowjets stattfinden ... Kein Schritt ohne Sowjet!“ Die Gerüchte über einen angeblich auf den 22. angesetzten Aufstand widerlegend, sagte Trotzki am 18.: „Der Sowjet ist eine gewählte Institution und ... er kann keine Beschlüsse fassen, die den Arbeitern und Soldaten unbekannt bleiben können ...“ Täglich wiederholt und durch die Praxis bekräftigt, gingen solche Formeln in Fleisch und Blut über.

Nach der Erzählung des Fähnrichs Bersin äußerten die Delegierten in der Militärischen Oktoberkonferenz der Bolschewiki zu Moskau: „Es ist schwer zu sagen, ob die Truppen dem Ruf des Moskauer Komitees der Bolschewiki Folge leisten werden. Dem Ruf des Sowjets dürften wohl alle Folge leisten.“ Dabei hatte die Moskauer Garnison schon im September zu neunzig Prozent für die Bolschewiki gestimmt. In der Beratung vom 16. Oktober in Petrograd berichtete Bokij im Namen des Parteikomitees: im Moskauer Bezirk „wird man auf die Straße gehen auf Aufforderung des Sowjets, nicht aber der Partei“; im Newski-Bezirk „werden alle mit dem Sowjet gehen“. Wolodarski resümierte bei dieser Gelegenheit die Einschätzung der Stimmungen in Petrograd mit folgenden Worten: „Der Gesamteindruck ist, daß keiner darauf brennt, auf die Straße zu gehen, doch werden auf den Ruf des Sowjets alle erscheinen.“ Olga Rawitsch trägt eine Korrektur hinein: „Einige stellten fest, auch auf den Ruf der Partei hin.“ In der Petrograder Garnisonberatung vom 18. berichteten die Delegierten, daß ihre Regimenter auf den Ruf des Sowjets warten, um auf die Straße zu gehen; niemand sprach von der Partei, obwohl an der Spitze vieler Truppenteile Bolschewiki standen; die Einheit in der Kaserne konnte nur gewahrt werden, indem man die Sympathisierenden, Schwankenden und halbfeindlich Eingestellten durch die Disziplin des Sowjets verband. Das Grenadierregiment erklärte sogar, es werde auf die Straße gehen nur auf Befehl des Sowjetkongresses. Schon allein die Tatsache, daß die Agitatoren und Organisatoren bei der Einschätzung des Zustandes der Massen jedesmal einen Unterschied zwischen Sowjet und Partei machen, beweist, welch große Bedeutung dieser Frage vom Standpunkte des Aufrufs zum Aufstande zukam.

Der Chauffeur Mitrewitsch erzählt, wie in einer Lastauto-Kolonne, wo man einen Beschluß zugunsten des Aufstandes nicht erreichen konnte, die Bolschewiki einen Kompromißvorschlag durchbrachten. „Wir werden weder für die Bolschewiki noch für die Menschewiki auf die Straße gehen, werden aber ... unverzüglich alle Forderungen des zweiten Sowjetkongresses erfüllen.“ Die Bolschewiki der Lastauto-Kolonne wandten im kleinen die gleiche Vernebelungstaktik an, die das Militärische Revolutionskomitee übte. Mitrewitsch will nichts beweisen, sondern berichtet – um so überzeugender ist seine Aussage!

Versuche, den Aufstand unmittelbar durch die Partei zu führen, waren nirgends von Erfolg. Es ist ein im höchsten Grade interessantes Zeugnis erhalten geblieben in bezug auf die Vorbereitung der Umwälzung in Kineschma, einem bedeutenden Punkt der Textilindustrie. Nachdem der Aufstand im Moskauer Distrikt auf die Tagesordnung gestellt worden war, wählte das Parteikomitee in Kineschma für die Nachprüfung der militärischen Kräfte und Mittel und die Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes eine besondere Dreierkommission, die aus irgendeinem Grunde Direktorium genannt wurde. „Doch muß man sagen“, schreibt ein Mitglied des Direktoriums, „daß die gewählte Dreierkommission in Wirklichkeit anscheinend wenig getan hat. Die Ereignisse nahmen einen etwas anderen Weg ... Es überraschte uns der Distriktstreik, und im Augenblick der entscheidenden Ereignisse war das Organisationszentrum in das Streikkomitee und den Sowjet verlegt.“ – In bescheidenem Provinzmaßstabe wiederholte sich hier dasselbe wie in Petrograd.

Die Partei brachte den Sowjet in Bewegung. Der Sowjet brachte Arbeiter, Soldaten und teilweise auch die Bauern in Bewegung. Was man an Masse gewann, verlor man an Geschwindigkeit. Stellt man sich diesen Transmissionsapparat als Zahnradsystem vor – ein Vergleich, den Lenin bei anderem Anlasse und in einer anderen Periode anwandte –, dann kann man sagen, daß der ungeduldige Versuch, das Rad der Partei unter Weglassung Zwischenrades der Sowjets unmittelbar mit dem gigantischen der Massen zu verbinden, die Gefahr in sich barg, die Zähne Parteirades zu zerbrechen und dabei doch nur ungenügende Massen in Bewegung zu bringen.

Nicht weniger real jedoch war auch die entgegengesetzte Gefahr – der Versäumnis der günstigen Situation als Resultat innerer Reibungen des Sowjetsystems. Theoretisch betrachtet, läuft der günstigste Moment für den Aufstand auf einen bestimmten Punkt in der Zeit hinaus. Von der praktischen Erfassung dieses Idealpunktes kann selbstverständlich nicht die Rede sein. Der Aufstand kann sich erfolgreich entwickeln auf einer ansteigenden Kurve, die sich dem idealen Kulminationspunkt nähert, aber auch auf der absteigenden Kurve, falls das Kräfteverhältnis noch keine Zeit gehabt hat, sich radikal zu verändern. Statt des „Moments“ entsteht ein Zeitabschnitt, der sich nach Wochen, manchmal nach Monaten messen läßt. Die Bolschewiki wären imstande gewesen, in Petrograd die Macht bereits Anfang Juli zu erobern. Doch in diesem Falle hätten sie sie nicht halten können. Seit Mitte September konnten sie darauf hoffen, die Macht nicht nur zu erobern, sondern sie auch in ihren Händen zu behalten. Hätten die Bolschewiki Ende Oktober mit dem Aufstand gezögert, sie würden wahrscheinlich, aber bei weitem nicht sicher, innerhalb einer bestimmten Frist noch die Möglichkeit gehabt haben, das Versäumte nachzuholen. Es läßt sich bedingt annehmen, daß im Laufe von drei bis vier Monaten, beispielsweise von September bis Dezember, die politischen Voraussetzungen für die Umwälzung bestanden: bereits reif und noch nicht zerfallen. In diesem Rahmen, der nachträglich leichter festzustellen ist als im Prozeß des Handelns, besaß die Partei gewisse Wahlfreiheit, die unvermeidliche, mitunter scharfe Meinungsverschiedenheiten praktischen Charakters erzeugte.

Lenin hatte vorgeschlagen, den Aufstand bereits in den Tagen der Demokratischen Beratung zu beginnen. Ende September hielt er jedes Hinausschieben nicht nur für gefährlich, sondern für katastrophal. „Auf den Sowjetkongreß warten“, schrieb er Anfang Oktober, „ist kindliches Spiel mit Formalitäten, schändliches Spiel mit Formalitäten, Verrat der Revolution.“ Doch wohl kaum ließ sich jemand aus den bolschewistischen Spitzen in dieser Frage von formalen Erwägungen leiten. Als Sinowjew beispielsweise auf eine vorherige Beratung mit der bolschewistischen Fraktion des Sowjetkongresses bestand, suchte er keine formale Sanktion, sondern rechnete einfach auf politische Unterstützung der Provinzdelegierten gegen das Zentralkomitee. Doch Tatsache ist, daß die Abhängigkeit der Partei vom Sowjet, der seinerseits an den Sowjetkongreß appellierte, in die Frage des Aufstandtermins ein Element der Unbestimmtheit hineintrug, das Lenin aufs äußerste und nicht ohne Grund beunruhigte.

Die Frage, wann aufzurufen, war eng verbunden mit der Frage, wer aufrufen sollte. Lenin waren die Vorteile eines Aufrufs im Namen des Sowjets allzu klar; aber früher als die anderen erkannte er, welche Schwierigkeiten auf diesem Wege entstehen würden. Er mußte befürchten, besonders aus der Ferne, daß die Bremselemente noch stärker sein würden in der Sowjetspitze als im Zentralkomitee, dessen Politik er ohnehin für allzu unentschlossen hielt. An die Frage, wer beginnen solle, Sowjet oder Partei, ging Lenin alternativ heran, neigte jedoch in den ersten Wochen entschieden zur selbständigen Initiative der Partei. Es gab da auch nicht den Schatten irgendeiner prinzipiellen Gegensätzlichkeit: es handelte sich um zwei Einstellungen zum Aufstande auf der gleichen Basis, in der gleichen Situation, im Namen des gleichen Zieles. Doch waren es zwei verschiedene Einstellungen.

Lenins Vorschlag, das Alexandrinski-Theater einzukreisen und die Demokratische Beratung zu verhaften, ging davon aus, der Aufstand werde vertreten werden nicht vorn Sowjet, sondern von der unmittelbar an die Betriebe und Kasernen appellierenden Partei. Anders konnte es auch nicht sein: einen solchen Plan vermittels des Sowjets durchzusetzen war völlig undenkbar. Lenin ist sich dessen durchaus klar, daß seine Absicht sogar in den Parteispitzen auf Widerstand stoßen wird; er empfiehlt im voraus, „nicht nachzujagen der zahlenmäßigen Stärke“ der bolschewistischen Fraktion der Beratung: die Entschlossenheit oben wird die zahlenmäßige Stärke unten garantieren. Lenins kühner Plan bot zweifellos Vorteile der Schnelligkeit und Plötzlichkeit. Doch entblößte er allzusehr die Partei und riskierte, in gewissen Grenzen sie zu den Massen in einen Gegensatz zu stellen. Sogar der Petrograder Sowjet hätte im Überraschungsfalle beim ersten Mißerfolg seine noch unstabile bolschewistische Mehrheit einbüßen können.

Die Resolution vom 10. Oktober schlägt den lokalen Partei-Organisationen vor, sämtliche Fragen praktisch unter dem Gesichtswinkel des Aufstandes zu entscheiden: von den Sowjets als Aufstandsorganen ist in der Resolution des Zentralkomitees nicht die Rede. In der Beratung vom 16. sagte Lenin: „Die Tatsachen beweisen, daß wir dem Feinde gegenüber im Vorteile sind. Weshalb kann das Zentralkomitee nicht anfangen?“ Diese Frage hatte in Lenins Mund keinesfalls rhetorischen Charakter; sie bedeutete: weshalb Zeit verlieren und sich der komplizierten Sowjettransmission anpassen, wenn das Zentralkomitee das Signal sofort geben kann? Jedoch schloß die von Lenin vorgeschlagene Resolution diesmal mit dem Ausdruck „der vollen Überzeugung, daß Zentralkomitee und Sowjet rechtzeitig den günstigen Moment und zweckmäßige Mittel des Angriffs bestimmen werden“. Die Erwähnung des Sowjets neben der Partei und die elastischere Fragestellung hinsichtlich des Aufstandtermins waren das Resultat des Lenin über die Parteispitzen hinweg nachgeprüften Widerstandes der Massen.

Am folgenden Tag resümierte Lenin in einer Polemik gegen Sinowjew und Kamenjew das Ergebnis der gestrigen Debatten: „alle sind darin einig, daß auf den Ruf des Sowjets und zur Verteidigung des Sowjets die Arbeiter sich wie ein Mann erheben werden.“ Das bedeutete: Wenn nicht alle mit ihm, Lenin, einverstanden sind, daß man aufrufen kann im Namen der Partei, so sind alle darin einig, daß man im Namen des Sowjets aufrufen kann.

„Wer soll die Macht übernehmen?“ schreibt Lenin am Abend des 24. „Das ist jetzt nicht wichtig: möge sie das Militärische Revolutionskomitee übernehmen oder eine „andere Institution“, die erklärt, daß sie die Macht nur den wahren Vertretern der Volksinteressen übergeben wird ...“ Die „andere Institution“, in geheimnisvolle Anführungsstriche genommen, ist die konspirative Bezeichnung für das Zentralkomitee der Bolschewiki. Lenin erneuert hier seinen Septembervorschlag: Handeln direkt im Namen des Zentralkomitees – für den Fall, daß die Sowjetlegalität das Militärische Revolutionskomitee hindern sollte, den Kongreß vor die vollzogene Tatsache der Umwälzung zu stellen.

Ungeachtet dessen, daß dieser ganze Kampf um Termine und Methoden des Aufstandes Wochen gedauert hat, haben sich nicht alle Teilnehmer über seinen Sinn und seine Bedeutung klar Rechenschaft abgelegt. „Lenin schlug vor, die Macht vermittels der Sowjets, des Leningrader oder des Moskauer, zu übernehmen, nicht hinter deren Rücken“, schrieb Stalin im Jahre 1924. „Wozu hatte Trotzki diese mehr als seltsame Legende über Lenin nötig?“ Und weiter: „Die Partei kennt Lenin als den größten Marxisten unserer Zeit ..., dem jeder Schatten von Blanquismus fremd ist.“ Indes angeblich bei Trotzki „nicht der Riese Lenin entsteht, sondern irgendein Zwerg-Blanquist“ ... Nicht bloß Blanquist, sondern auch Zwerg! In Wirklichkeit wird die Frage, in wessen Namen ein Aufstand zu beginnen und von welcher Institution die Macht zu übernehmen ist, keinesfalls durch irgendeine Doktrin vorausbestimmt. Beim Vorhandensein allgemeiner Bedingungen für die Umwälzung verwandelt sich der Aufstand in ein praktisches Problem der Kunst, das auf verschiedene Weise gelöst werden kann. In diesem ihrem Teil entsprechen die Meinungsverschiedenheiten im Zentralkomitee dem Streit der Offiziere eines Generalstabs, die, in derselben militärischen Doktrin erzogen und die strategische Gesamtsituation in gleicher Weise einschätzend, verschiedene Varianten vorschlagen für die Lösung der nächsten, hervorragend wichtigen Aufgabe, die aber doch nur eine Teilaufgabe ist. Dabei Fragen des Marxismus und Blanquismus an den Haaren herbeiziehen, heißt, mangelndes Verständnis sowohl für das eine wie das andere offenbaren.

Professor Pokrowski bestreitet überhaupt die Bedeutung der Alternative: Sowjet oder Partei? Soldaten sind ganz und gar nicht Formalisten, ironisiert er: sie brauchten den Sowjetkongreß nicht, um Kerenski zu stürzen. Bei allem Witz läßt diese Fragestellung ungeklärt: wozu überhaupt Sowjets schaffen, wenn die Partei genügt? „Interessant“, fährt der Professor fort, „daß aus diesem Bestreben, alles fast legal zu machen, sowjetlegal, nichts herauskam – und die Macht im letzten Augenblick nicht der Sowjet übernahm, sondern eine offen „illegale“, ad hoc geschaffene Organisation.“ Pokrowski verweist darauf, daß Trotzki gezwungen war, „im Namen des Militärischen Revolutionskomitees“ und nicht des Sowjets die Regierung Kerenski als nicht mehr bestehend zu erklären. Ein völlig überraschendes Argument: Das Militärische Revolutionskomitee war ein vom Sowjet gewähltes Organ. Die führende Rolle des Komitees in der Umwälzung verletzte in keiner Weise die Sowjetlegalität, über die der Professor so höhnt, die aber die Massen eifrigst verteidigten. Der Sowjet der Volkskommissare war ebenfalls ad hoc geschaffen, was ihn nicht hinderte, Organ der Sowjetmacht zu sein und zu bleiben, mit Einschluß Pokrowskis selbst als Stellvertreters des Volksbildungskommissars.

Auf dem Boden der Sowjetlegalität und in hohem Maße sogar im Rahmen der Doppelherrschaftstraditionen zu bleiben vermochte der Aufstand hauptsächlich infolge der Tatsache, daß die Petrograder Garnison sich bereits vor der Umwälzung fast völlig dem Sowjet untergeordnet hatte. In zahlreichen Erinnerungen, Jubiläumsartikeln und in den ersten historischen Darstellungen galt diese durch zahllose Dokumente belegte Tatsache als unbestreitbar. „Der Konflikt in Petrograd entwickelte sich bei der Frage nach dem Schicksal der Garnison“, sagt das erste Büchlein über den Oktober, das der Autor der vorliegenden Arbeit nach ganz frischen Erinnerungen in den Pausen zwischen den Brest-Litowsker Verhandlungen niederschrieb und das während einiger Jahre in der Partei die Rolle eines Geschichtslehrbuches spielte. „Die Kernfrage, um die die gesamte Bewegung im Oktober aufgebaut und organisiert wurde“, drückt sich noch deutlicher Sadowski aus, einer der unmittelbaren Organisatoren der Umwälzung, „bildete die Versetzung der Petrograder Garnisonregimenter an die Nordfront ...“ Keinem der nächsten Führer des Aufstandes kam es bei einer Kollektivunterhaltung, veranstaltet mit dem direkten Zweck, den Gang der Ereignisse zu rekonstruieren, in den Sinn, Sadowski zu widersprechen oder ihn zu korrigieren. Erst seit dem Jahre 1924 stellte sich plötzlich heraus, daß Trotzki die Bedeutung der Bauerngarnison zum Nachteil der Petrograder Arbeiter überschätzt: eine wissenschaftliche Entdeckung, die überaus glücklich die Beschuldigung der Unterschätzung der Bauernschaft ergänzt!

Dutzende, junger Historiker mit Professor Pokrowski an der Spitze erläuterten in den letzten Jahren die Bedeutung des Proletariats für die proletarische Revolution, entrüsteten sich darüber, daß wir nicht von Arbeitern sprachen in jenen Zeilen, wo bei uns von Soldaten die Rede ist, und überführten uns, den realen Gang der Ereignisse analysiert zu haben, statt die Schulvorlagen abzuschreiben. Die Resultate dieser Kritik preßt Pokrowski in der Schlußfolgerung zusammen: „Obgleich es Trotzki sehr wohl bekannt ist, daß der bewaffnete Aufstand von der Partei beschlossen wurde ... und es ganz klar war, daß der Vorwand für den Aufstand nur Nebensache blieb, steht nichtsdestoweniger für ihn im Zentrum des Bildes die Petrograder Garnison ... – als wäre, hätte es diese nicht gegeben, an den Aufstand nicht zu denken gewesen.“ Für unseren Historiker ist nur der „Parteibeschluß“ in bezug auf den Aufstand von Bedeutung; wie sich aber der Aufstand in Wirklichkeit vollzog, ist „Nebensache“; ein Vorwand findet sieh immer. Mit Vorwand bezeichnet Pokrowski das Mittel, die Truppen zu gewinnen, das heißt die Lösung eben jener Frage, aus der sich das Schicksal eines jeden Aufstandes ergibt. Die proletarische Revolution wäre zweifellos auch ohne den Konflikt wegen Abtransport der Garnison erfolgt; der Professor hat recht. Doch wäre das ein anderer Aufstand gewesen, und er würde eine andere Darstellung erfordern. Wir aber meinen jene Ereignisse, die in Wirklichkeit geschehen sind.

Einer der Organisatoren und später Historiker der Roten Garde, Malachowski, pocht seinerseits darauf, daß gerade die bewaffneten Arbeiter zum Unterschiede von der halbpassiven Garnison im Aufstande Initiative, Entschlossenheit und Disziplin bewiesen. „Die Rotgardistenabteilungen“, schreibt er, „besetzen während der Oktoberumwälzung Regierungsämter, Post, Telegraph, sie sind auch in allen Kämpfen vorne an“ ... und so weiter. Zweifellos richtig. Es ist jedoch nicht schwer zu begreifen, daß, wenn die Rotgardisten Ämter einfach „besetzen“ konnten, so nur deshalb, weil die Garnison mit ihnen war, sie unterstützte oder mindestens nicht hinderte. Dies entschied auch das Schicksal des Aufstandes.

Schon die Aufwerfung der Frage, wer für die Umwälzung wichtiger sei: die Soldaten oder die Arbeiter?, beweist ein trauriges theoretisches Niveau, bei dem fast kein Platz für Diskussionen bleibt. Die Oktoberrevolution war der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie um die Macht. Aber den Ausgang des Kampfes entschied letzten Endes der Muschik. Dieses allgemeine Schema, das für das ganze Land galt, fand in Petrograd den vollendetsten Ausdruck. Was hier der Umwälzung den Charakter eines kurzen Schlages mit minimalster Zahl an Opfern verlieh, war die Verbindung der revolutionären Verschwörung, des proletarischen Aufstandes mit dem Kampf der Bauerngarnison um die Selbsterhaltung. Geleitet wurde die Umwälzung von der Partei; die wichtigste treibende Kraft war das Proletariat; die bewaffneten Arbeiterabteilungen bildeten die Faust des Aufstandes; doch den Ausgang des Kampfes entschied die schwerwiegende Bauerngarnison.

Gerade in dieser Frage ist die Gegenüberstellung von Februar- und Oktoberumwälzung besonders unersetzlich. Am Vorabend des Sturzes der Monarchie bildete die Garnison für beide Parteien das große Unbekannte. Die Soldaten selber wußten noch nicht, wie sie auf einen Aufstand der Arbeiter reagieren würden. Erst der Generalstreik vermochte die erforderliche Arena zu schaffen für Massenzusammenstöße von Arbeitern mit Soldaten, für die Überprüfung der Soldaten durch die Tat, für den Übergang der Soldaten auf die Seite der Arbeiter. Darin eben bestand der dramatische Inhalt der fünf Februartage.

Am Vorabend des Sturzes der Provisorischen Regierung stand die überwiegende Mehrheit der Garnison offen auf seiten der Arbeiter. Nirgendwo im ganzen Lande war die Regierung derart isoliert wie in ihrer Residenz: nicht umsonst drängte sie so, ihr zu entfliehen. Vergeblich: die feindliche Hauptstadt ließ sie nicht weg. Durch den erfolglosen Versuch, die revolutionären Regimenter hinauszudrängen, hatte sich die Regierung endgültig ihr Verderben bereitet.

Kerenskis passive Politik vor der Umwälzung nur mit seinen persönlichen Eigenschaften erklären zu wollen, heißt an der Oberfläche gleiten. Kerenski stand nicht allein. In der Regierung saßen Menschen wie Paltschinski, denen es an Energie nicht mangelte. Die Führer des Exekutivkomitees wußten sehr wohl, daß der Sieg der Bolschewiki ihren politischen Tod bedeuten würde. Doch waren sie alle, einzeln und zusammen, paralysiert, verharrten, wie Kerenski, in irgendeinem schweren Halbschlaf, wo der Mensch, trotz der über seinem Haupte sich zusammenziehenden Gefahr, ohnmächtig ist, die Hand zur eigenen Rettung zu rühren.

Die Verbrüderung der Arbeiter mit den Soldaten im Oktober erwuchs nicht, wie im Februar, aus einem offenen Straßenzusammenstoß, sondern ging dem Aufstande voraus. Wenn die Bolschewiki diesmal zum Generalstreik nicht aufriefen, so nicht deshalb, weil ihnen die Möglichkeit dazu fehlte, sondern weil sie keine Notwendigkeit dafür sahen. Das Militärische Revolutionskomitee fühlte sich bereits vor der Umwälzung als Herr der Lage: es kannte jeden Truppenteil in der Garnison, dessen Stimmung, innere Gruppierung; es erhielt täglich Informationen, keine aufgemachten, sondern solche, die aussprachen, was ist; es konnte zu jeder Zeit in jedes Regiment einen bevollmächtigten Kommissar, einen Radler mit einem Befehl schicken, konnte sich telephonisch mit dem Komitee eines Truppenteils verbinden oder der wachhabenden Kompanie eine Order erteilen. Das Militärische Revolutionskomitee nahm den Truppen gegenüber die Stellung eines Regierungsstabes, nicht aber eines Verschwörerstabes ein.

Gewiß, die Kommandohöhen des Staates blieben noch in Händen der Regierung. Doch die materielle Basis war ihnen entrissen. Ministerien und Stäbe thronten über einer Leere. Telephon und Telegraph waren, wie die Staatsbank, noch im Dienste der Regierung. Doch die militärische Macht, um diese Institutionen in der Hand zu behalten, besaß die Regierung bereits nicht mehr. Winterpalais und Smolny hatten gleichsam die Plätze gewechselt. Das Militärische Revolutionskomitee brachte die gespenstische Regierung in eine Lage, in der sie, ohne die Garnison niedergerungen zu haben, nichts unternehmen konnte. Und jeder Versuch Kerenskis, einen Schlag zu führen gegen die Garnison, beschleunigte nur die Lösung.

Doch die Aufgabe der Umwälzung war noch immer ungelöst. Feder und Gesamtmechanismus der Uhr lagen in der Hand des Militärischen Revolutionskomitees. Diesem aber fehlten Zifferblatt und Zeiger. Und ohne diese Details kann eine Uhr ihre Bestimmung nicht erfüllen. Ohne Telegraph, Telephon, Bank und ohne Stab konnte das Militärische Revolutionskomitee nicht regieren. Es verfügte fast über sämtliche realen Voraussetzungen und Elemente der Macht, aber nicht über die Macht selbst.

Im Februar dachten die Arbeiter nicht an die Besetzung der Bank und des Winterpalais, sondern daran, wie der Widerstand der Armee zu brechen wäre. Sie kämpften nicht um einzelne Kommandohöhen, sondern um die Seele des Soldaten. Als auf diesem Felde der Sieg errungen war, lösten sich alle übrigen Aufgaben von selbst: nachdem sie ihre Gardebataillone abgegeben hatte, versuchte die Monarchie nicht weiter, ihre Schlösser und ihre Stäbe zu verteidigen.

Im Oktober klammerte sich Kerenskis Regierung, als sie die Seele des Soldaten unwiderruflich verloren hatte, noch an die Kommandohöhen. In ihren Händen bildeten Stäbe, Banken, Telephone nur die Fassade der Macht. In die Hände der Sowjets gelegt, mußten sie den Besitz der vollen Macht garantieren. Das war die Lage am Vorabend des Aufstandes: sie bestimmte auch das Handeln in den letzten vierundzwanzig Stunden.

Demonstrationen, Straßenkämpfe, Barrikaden, alles, was in den gewohnten Begriff des Aufstandes fällt, gab es fast nicht: die Revolution hatte nicht nötig, die bereits gelöste Aufgabe zu lösen. Die Eroberung des Regierungsapparates ließ sich planmäßig durchführen, mit Hilfe verhältnismäßig weniger, von einem Zentrum aus geleiteter bewaffneter Abteilungen. Kasernen, Festung, Lager, alle jene Einrichtungen, in denen Arbeiter und Soldaten ihre Tätigkeit ausübten, konnte man mit deren eigenen inneren Kräften erobern. Aber weder Winterpalais, noch Vorparlament, Kreisstab, Ministerien, Junkerschulen waren von innen her zu nehmen. Das galt auch für Telephon, Telegraph, Post, Staatsbank die Angestellten dieser Anstalten, von kleinem Gewicht in der Gesamtkombination der Kräfte, herrschten noch in ihren vier Wänden, die überdies unter verstärktem Wachschutz standen. In die bürokratischen Höhen mußte man von außen eindringen. Die politische Eroberung mußte hier durch gewaltsame Eroberung ersetzt werden. Da jedoch die vorausgegangene Verdrängung der Regierung aus ihren militärischen Basen ihr den Widerstand fast unmöglich machte, verlief die gewaltsame Einnahme der letzten Kommandohöhen in der Regel ohne Zusammenstöße.

Allerdings ging es nicht völlig ohne Kämpfe ab: das Winterpalais mußte im Sturm genommen werden. Aber gerade die Tatsache, daß der Widerstand der Regierung auf das Verteidigen des Palais hinauslief, bestimmt klar den Platz des 25. Oktober im Gange des Kampfes. Das Winterpalais war die letzte Schanze des politisch während der acht Monate seines Bestehens geschlagenen und in den letzten zwei Wochen vollends entwaffneten Regimes.

Elemente der Verschwörung, versteht man darunter Plan und zentralisierte Leitung, nahmen in der Februarrevolution einen verschwindenden Platz ein. Das ergab sich schon aus der Schwäche und Zersplitterung der revolutionären Gruppen dank dem Druck des Zarismus und des Krieges. Eine um so größere Aufgabe fiel den Massen zu. Die Aufständischen waren keine menschlichen Heuschrecken. Sie hatten ihre politische Erfahrung, ihre Traditionen, ihre Parolen, ihre namenlosen Führer. Waren aber die im Aufstande zerstreuten Elemente der Führung ausreichend für den Sturz der Monarchie, so reichten sie bei weitem nicht aus, um den Siegern die Früchte ihres eigenen Sieges einzuhändigen.

Die Ruhe in den Oktoberstraßen, das Fehlen von Massen und Kämpfen gaben den Gegnern Anlaß, von Verschwörung einer verschwindenden Minderheit, vom Abenteuer eines Häufleins Bolschewiki zu sprechen. Diese Formel wurde in den dem Aufstande folgenden Tagen, Monaten und sogar Jahren unzählige Male wiederholt. Offenbar um die Reputation der proletarischen Umwälzung zu verbessern, schreibt Jaroslawski über den Tag des 25. Oktober: „Dichte Massen des Petrograder Proletariats stellten sich auf den Ruf des Militärischen Revolutionskomitees unter dessen Banner und überschwemmten die Straßen Petrograds.“ Der offizielle Historiker vergißt zu erklären, zu welchem Zweck das Militärische Revolutionskomitee die Massen auf die Straße gerufen hatte und was sie dort eigentlich getan haben.

Aus der Verbindung von Macht und Schwäche der Februarrevolution erwuchs deren offizielle Idealisierung als einer allnationalen Revolution zum Unterschiede von der Oktoberumwälzung als einer Verschwörung. In Wirklichkeit konnten die Bolschewiki im letzten Moment den Kampf um die Macht auf eine „Verschwörung“ beschränken, nicht weil sie eine kleine Minderheit waren, sondern im Gegenteil, weil sie in den Arbeitervierteln und eine erdrückende, geschlossene, organisierte und disziplinierte Mehrheit hinter sich hatten.

Richtig die Oktoberumwälzung verstehen kann man nur dann, wenn man das Blickfeld nicht auf ihr abschließendes Glied beschränkt. Ende Februar wurde die Schachpartie des Auftandes vom ersten bis zum letzten Zug gespielt, das heißt bis zur Waffenstreckung des Gegners; Ende Oktober lag die Grundpartie bereits zurück, und am Tage des Aufstandes war nur die ziemlich enge Aufgabe zu lösen: Matt in zwei Zügen. Die Umwälzungsperiode muß man deshalb vom 9. Oktober rechnen, wo der Konflikt wegen der Garnison begann, oder vorn 12., wo die Gründung des Militärischen Revolutionskomitees beschlossen wurde. Das Vernebelungsmanöver zog sich über zwei Wochen hin. Sein entscheidendster Teil dauerte fünf bis sechs Tage vom Moment der Entstehung des Militärischen Revolutionskomitees ab. Während dieser ganzen Periode wirkten unmittelbar Hunderttausende Arbeiter und Soldaten, defensiv der Form, offensiv dem Wesen nach. Die Schlußetappe, als die Aufständischen die Konventionen der Doppelherrschaft mit deren zweifelhafter Legalität und Defensiv-Phraseologie endgültig fallen ließen, nahm genau vierundzwanzig Stunden in Anspruch: von 2 Uhr nachts zum 25. bis 2 Uhr nachts auf den 26. Innerhalb dieser Frist wandte das Militärische Revolutionskomitee offen Waffen an zur Eroberung der Stadt und Gefangennahme der Regierung: an den Operationen nahmen im allgemeinen so viel Kräfte teil, wie zur Lösung der begrenzten Aufgabe notwendig waren, jedenfalls kaum mehr als fünfundzwanzig bis dreißig Tausend.

Ein italienischer Schriftsteller, der Bücher nicht nur über Nächte der Eunuchen, sondern auch über höhere Staatsprobleme schreibt, besuchte 1929 Sowjet-Moskau, warf das wenige durcheinander, was er aus fünftem und zehntem Munde gehört hatte, und baute auf diesem Fundament ein Buch auf über Technik des Staatsstreichs. Der Name dieses Schriftstellers, Malaparte, gestattet, ihn leicht von einem anderen Spezialisten in Staatsstreichen zu unterscheiden, der den Namen Bonaparte trug.

Im Gegensatz zu „Lenins Strategie“, die mit den sozialen und politischen Bedingungen Rußlands von 1917 verbunden ist, „ist dagegen Trotzkis Taktik“, nach Malapartes Worten, „mit den Gesamtbedingungen des Landes nicht verknüpft!“ Auf Lenins Betrachtungen über die politischen Voraussetzungen der Umwälzung läßt der Autor Trotzki antworten: „Ihre Strategie erfordert zuviel günstige Bedingungen: die Insurrektion erfordert nichts. Sie genügt sich selbst.“ Wohl kaum ist eine Absurdität denkbar, die mehr sich selbst genügt. Malaparte wiederholt mehreremal, im Oktober habe nicht Lenins Strategie, sondern Trotzkis Taktik gesiegt. Diese Taktik bedrohe auch jetzt die Ruhe der europäischen Staaten. „Lenins Strategie bildet keine unmittelbare Gefahr für Europas Regierungen. Eine aktuelle und dabei ständige Gefahr für sie ist Trotzkis Taktik.“ Noch konkreter: „Man setze an die Stelle Kerenskis Poincaré, – der bolschewistische Staatsstreich vom Oktober 1917 wäre ebensogut gelungen.“ Wir würden vergeblich danach forschen, wozu Lenins von historischen Bedingungen abhängige Strategie überhaupt notwendig ist, wenn Trotzkis Taktik die gleiche Aufgabe unter allen Bedingungen löst. Es bleibt hinzuzufügen, daß das hervorragende Buch bereits in mehreren Sprachen vorliegt. Staatsmänner lernen offenbar nach ihm, Staatsstreiche abzuwehren. Wollen wir ihnen allen Erfolg wünschen.

Eine Kritik der rein militärischen Operationen vom 25. Oktober ist bis jetzt nicht unternommen worden. Was über diese Frage in der Sowjetliteratur existiert, trägt nicht kritischen, sondern rein apologetischen Charakter. Neben den Schriften des Epigonentums gesehen, hebt sich sogar Suchanows Kritik, trotz all ihren Widersprüchen, durch aufmerksames Verhalten zu den Tatsachen günstig ab.

In der Bewertung der Organisierung des Oktoberaufstandes äußerte Suchanow im Laufe von einem bis zwei Jahren zwei geradezu diametral entgegengesetzte Ansichten. In dem der Februarrevolution gewidmeten Bande sagt er: „Ich werde später aufgrund persönlicher Erinnerungen die nach Noten heruntergespielte Oktoberumwälzung beschreiben.“ Jaroslawski wiederholt diese Äußerung Suchanows wörtlich. „Der Aufstand in Petrograd“ sagt er, „war gut vorbereitet und wurde von der Partei wie nach Noten heruntergespielt.“ Wohl noch entschiedener äußert sich Claude Anet, ein gegnerischer; aber aufmerksamer, wenn auch nicht tiefer Beobachter: „Der Staatsstreich vom 7. November läßt nur Bewunderung zu. Nicht eine Bresche, nicht ein Spalt, die Regierung fällt, ehe sie noch „Uff!“ schreien kann.“ Hingegen erzählt Suchanow in dem der Oktoberumwälzung gewidmeten Bande, wie der Smolny „leise, tastend, behutsam und verworren“ an die Liquidierung der Provisorischen Regierung heranging.

Übertreibung ist sowohl im zweiten wie im ersten Urteil enthalten. Doch kann man unter einem weiten Gesichtspunkte zugeben, daß beide Einschätzungen, so sehr sie sich auch widersprechen, auf Tatsachen fußen. Die Planmäßigkeit der Oktoberumwälzung erwuchs hauptsächlich aus objektiven Verhältnissen, aus der Reife der Revolution als Ganzes, aus der Lage Petrograds im Lande, aus der Lage der Regierung in Petrograd, aus der gesamten vorangegangenen Arbeit der Partei, endlich aus der richtigen Politik der Umwälzung. Aber es blieb noch die Aufgabe der Kriegstechnik. Da gab es der einzelnen Fehlgriffe nicht wenig, und es kann, faßt man sie zusammen, leicht der Eindruck einer Arbeit ins Blinde hinein entstehen.

Suchanow verweist mehrere Male auf die militärische Schutzlosigkeit des Smolny in den letzten Tagen vor dem Aufstande. In der Tat, noch am 23. war der Stab der Revolution nicht viel besser geschützt als das Winterpalais. Das Militärische Revolutionskomitee sicherte seine Unangreifbarkeit vor allem dadurch, daß es die Verbindung mit der Garnison festigte und durch sie die Möglichkeit bekam, alle militärischen Bewegungen des Gegners zu verfolgen. Ernstere Maßnahmen kriegstechnischer Art traf das Komitee erst etwa vierundzwanzig Stunden früher als die Regierung. Suchanow ist der Überzeugung, daß die Regierung während des 23. und in der Nacht zum 24., hätte sie Initiative entwickelt, imstande gewesen wäre, das Komitee zu verhaften: „Eine gute Abteilung von fünfhundert Mann hätte vollständig genügt, um das Smolny mit seinem gesamten Inhalt zu liquidieren.“ Möglich. Doch erstens hätte die Regierung dazu Entschlossenheit und Mut nötig gehabt, das heißt Eigenschaften, die ihrer Natur entgegengesetzt waren. Zweitens war „eine gute Abteilung von fünfhundert Mann“ erforderlich. Wo sollte man sie hernehmen? Aus Offizieren zusammenstellen? Wir haben sie Ende August in der Verschwörerrolle gesehen: man mußte sie in Nachtlokalen suchen. Die Kampfmannschaften der Versöhnler waren auseinandergefallen. In den Junkerschulen schuf jede akute Frage Gruppierungen. Noch schlimmer stand es bei den Kosaken. Eine Abteilung durch individuelle Auslese aus verschiedenen Truppenteilen zusammenzustellen, hätte bedeutet, sich zehnmal verraten, ehe das Unternehmen beendet gewesen wäre.

Aber auch das Vorhandensein der Abteilung hätte noch nichts entschieden. Der erste Schuß vor dem Smolny würde in den Arbeiterbezirken und in den Kasernen einen donnernden Widerhall geweckt haben. Dem bedrohten Zentrum der Revolution wären zu jeder Tages- und Nachtstunde Zehntausende bewaffneter und halbbewaffneter Menschen zu Hilfe geeilt. Schließlich hatte auch die Gefangennahme des Militärischen Revolutionskomitees die Regierung nicht zu retten vermocht. Außerhalb der Smolnymauern gab es Lenin und das mit ihm verbundene Zentralkomitee und Petrograder Komitee. In der Peter-Paul-Festung saß ein zweiter Stab, auf der Aurora ein dritter, eigene Stäbe – in den Bezirken. Die Massen wären nicht ohne Führung geblieben. Die Arbeiter und Soldaten aber wollten trotz aller Schwerfälligkeit siegen um jeden Preis.

Zweifellos hätte man ergänzende Maßnahmen militärischer Vorsicht immerhin einige Tage früher ergreifen können und ergreifen sollen. Suchanows Kritik ist in diesem Teil richtig. Der militärische Revolutionsapparat arbeitet ungelenk, mit Verspätungen und Versäumnissen, die Gesamtleitung ist allzusehr geneigt, Technik durch Politik zu ersetzen. Lenins Auge fehlt im Smolny sehr. Die anderen haben’s noch nicht gelernt.

Suchanow hat auch darin recht, daß das Winterpalais in der Nacht auf den 25. oder am Morgen dieses Tages unvergleichlich leichter einzunehmen gewesen wäre als in der folgenden Nacht. Das Palais wie das benachbarte Stabsgebäude waren von den üblichen Junkerposten bewacht: ein überraschender Überfall hätte fast mit Bestimmtheit Erfolg garantiert. Am Morgen fuhr Kerenski unbehindert im Automobil weg: schon das zeigt, daß es keinen ernsthaften Beobachtungsdienst in bezug auf das Winterpalais gab. Hier bestand eine offenbare Lücke!

Mit der Beobachtung der provisorischen Regierung wurden – allerdings viel zu spät: am 24.! – Swerdlow und dessen Gehilfen Laschewitsch und Blagonrawow betraut. Höchstwahrscheinlich ist Swerdlow, der sich ohnehin in Stücke zerriß, kaum an diese neue Aufgabe herangetreten. Es ist sogar möglich, daß der Beschluß selbst, obwohl protokolliert, in der Hitze jener Stunden vergessen ward.

Im Militärischen Revolutionskomitee überschätzte man, trotz allem, die Hilfsquellen der Regierung, insbesondere den Schutz des Winterpalais. Wenn den unmittelbaren Leitern der Belagerung die inneren Kräfte des Palais auch bekannt waren, so mußten sie doch befürchten, daß auf den ersten Alarm Verstärkungen eintreffen würden: Junker, Kosaken, Stoßbrigadler. Der Plan zur Einnahme des Winterpalais war im Stile einer großen Operation ausgearbeitet: wenn Zivilisten oder Halbzivilisten an die Lösung einer rein militärischen Aufgabe herangehen, neigen sie stets zu strategischen Klügeleien. Neben übermäßigem Pedantismus mußten sie dabei auch reichlich Unbeholfenheit entwickeln.

Das Durcheinander bei der Einnahme des Palais läßt sich bis zum gewissen Grade auch mit den persönlichen Eigenschaften der Hauptführer erklären. Podwojski, Antonow-Owssejenko, Tschudnowski – waren Menschen von heroischer Art. Aber vielleicht am wenigsten Menschen systematischen und disziplinierten Denkens. Podwojski, der sich in den Julitagen zu weit hervorgewagt hatte, war viel vorsichtiger geworden, sogar skeptischer in bezug auf die nächsten Perspektiven. Doch im wesentlichen blieb er sich treu: Angesichts einer praktischen Aufgabe war er organisch bestrebt, über ihren Rahmen hinauszugehen, den Plan zu erweitern, alles und alle hineinzuziehen, ein Maximum dort zu leisten, wo ein Minimum genügt hätte. An dem Hyperbolischen des Planes läßt sich mühelos der Stempel seines Geistes entdecken. Antonow-Owssejenko, von Charakter impulsiver Optimist, war viel fähiger zu Improvisation als zu Berechnung. Als ehemaliger kleiner Offizier verfügte er über etliche militärische Kenntnisse. Während des großen Krieges Emigrant, leitete er in der Pariser Zeitung Nasche Slowo die Kriegsübersicht und bewies dabei häufig strategischen Spürsinn. Sein empfänglicher Dilettantismus konnte kein Gegengewicht schaffen zu Podwojskis Überschwenglichkeiten. Der dritte der Heerführer, Tschudnowski, hatte einige Monate an einer passiven Front als Agitator verbracht: damit war seine militärische Erfahrung erschöpft. Zum rechten Flügel hinneigend, pflegte jedoch Tschudnowski sich als erster ins Gefecht zu stürzen und stets die Stellen zu suchen, wo es am heißesten herging. Persönlicher Mut und politische Kühnheit halten sich bekanntlich nicht immer die Waage. Einige Tage nach der Umwälzung wurde Tschudnowski in der Nähe von Petrograd bei einem Zusammenstoß mit Kerenskis Kosaken verwundet und wenige Monate später in der Ukraine getötet. Es ist klar, daß auch der redselige, impulsive Tschudnowski nicht das ersetzen konnte, was den beiden anderen Führern fehlte. Nicht einer von ihnen hatte Sinn für Details, schon deshalb, weil sie nicht in das Geheimnis des Handwerks eingeweiht waren. Im Gefühl ihrer Schwäche in Fragen der Erkundung, Verbindung, Manövrierung, verspürten die roten Marschälle das Bedürfnis, sich mit solcher Übermacht auf das Winterpalais zu wälzen, daß sich die Frage der praktischen Führung erledigte: das Kolossalische eines Planes kommt dem Fehlen eines solchen fast gleich. Das Gesagte bedeutet keinesfalls, daß man im Militärischen Revolutionskomitee oder in dessen Umgebung bewandertere militärische Leiter hätte finden können, jedenfalls nicht ergebenere und aufopferungsfähigere.

Der Kampf um das Winterpalais begann mit der Umfassung des Bezirks in weiter Peripherie. Bei Unerfahrenheit der Kommandeure, lückenhafter Verbindung, Ungewandtheit der rotgardistischen Abteilungen, Schwerfälligkeit der regulären Truppenteile entwickelte sich die komplizierte Operation äußerst langsam. In den gleichen Stunden, während die roten Abteilungen den Ring allmählich abdichteten und Reserven hinter sich sammelten, drangen Junkerkompanien, Kosakenhundertschaften, Georgskavaliere und ein Frauenbataillon zum Winterpalais durch. Die Faust des Widerstandes formierte sich gleichzeitig mit dem Angriffsring. Man darf behaupten, daß die Aufgabe selbst aus jenem allzu großen Umweg erwachsen war, der zu ihrer Lösung angewandt wurde. Indes würde ein vermessener Überfall in der Nacht oder ein kühner Angriff bei Tage nicht mehr Opfer gekostet haben als die schleichende Operation. Den moralischen Effekt der Aurora-Artillerie hätte man jedenfalls um zwölf und sogar um vierundzwanzig Stunden früher ausprobieren können: der Kreuzer stand in voller Bereitschaft auf der Newa, und die Matrosen klagten nicht über Mangel an Geschützöl. Doch die Leiter der Operation hofften, die Frage ohne Kampf zu entscheiden, schickten Parlamentäre, stellten Ultimatums und hielten dann die Fristen nicht inne. Rechtzeitig die Artillerie der Peter-Paul-Festung nachzuprüfen, darauf war man gerade deshalb nicht gekommen, weil man damit rechnete, ihre Hilfe entbehren zu können.

Die mangelhafte Vorbereitung der militärischen Leitung offenbarte sich noch krasser in Moskau, wo das Kräfteverhältnis als derart günstig galt, daß Lenin dringend empfahl, mit Moskau sogar zu beginnen: „Der Sieg ist sicher, und es ist niemand da, der kämpfen könnte.“ In Wirklichkeit nahm der Aufstand gerade in Moskau den Charakter sich hinziehender Kämpfe an, die mit Unterbrechungen acht Tage dauerten. „Bei dieser heißen Arbeit“, schreibt Muralow, einer der Hauptleiter des Moskauer Aufstandes, „waren wir nicht immer und nicht in allem fest und entschlossen. Obwohl wir zahlenmäßig vielleicht zehnfach überlegen waren, zogen wir die Kämpfe eine Woche lang hin ... infolge unserer geringen Fähigkeit, Kampfmassen zu lenken, infolge deren Undiszipliniertheit und einer völligen Unkenntnis der Straßenkampftaktik, sowohl bei den Vorgesetzten wie bei den Soldaten.“ Muralow besitzt die Gewohnheit, die Dinge beim Namen zu nennen: nicht umsonst sitzt er jetzt in der sibirischen Verbannung. Doch indem er vermeidet, die Verantwortung von sich auf andere abzuwälzen, schiebt Muralow in diesem Falle auf das militärische Kommando den Hauptteil der Schuld der politischen Führung, die sich in Moskau durch Wankelmut auszeichnete und dem Einfluß der Versöhnlerkreise leicht unterlag. Man darf jedoch auch hier nicht außer acht lassen, daß die Arbeiter des alten Moskau, der Textil- und Lederstadt, hinter dem Petrograder Proletariat sehr weit zurückstanden. Im Februar hatte Moskau sich nicht zu erheben gebraucht: der Sturz der Monarchie fiel restlos Petrograd zu. Im Juli war Moskau wiederum ruhig geblieben. Das kam im Oktober zum Ausdruck: Arbeiter und Soldaten besaßen keine Kampferfahrung.

Die Technik des Aufstandes vollendet, was die Politik nicht getan hat. Das gigantische Anwachsen des Bolschewismus schwächte zweifellos die Aufmerksamkeit ab für die militärische Seite der Sache: Lenins leidenschaftliche Vorwürfe waren berechtigt genug. Die militärische Leitung war unvergleichlich schwächer als die politische. Wie konnte es auch anders sein? Noch während einer Reihe von Monaten wird die neue revolutionäre Macht beträchtliche Ungeschicklichkeit in all den Fällen beweisen, wo es notwendig sein wird, zur Waffe zu greifen.

Und doch stellten die militärischen Autoritäten des Regierungslagers in Petrograd der militärischen Leitung der Umwälzung ein durchwegs glänzendes Zeugnis aus. „Die Aufständischen bewahren Ordnung und Disziplin“, berichtete per Draht das Kriegsministerium ins Hauptquartier gleich nach dem Fall des Winterpalais. „Plünderungen oder Pogrome unterblieben völlig, im Gegenteil, Patrouillen Aufständischer nahmen torkelnde Soldaten fest ... Der Aufstandsplan war zweifellos im voraus ausgearbeitet worden und wurde unbeirrt und glatt durchgeführt ...“ Nicht ganz „nach Noten“, wie Suchanow und Jaroslawski schrieben, aber auch nicht gar so „verworren“, wie der erste der beiden Autoren später behauptete. Außerdem krönt selbst vor dem Gericht der allerstrengsten Kritik der Erfolg die Sache.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003