Leo Trotzki

 

Der einzige Weg


I. Bonapartismus und Faschismus

Versuchen wir, uns kurz zu vergegenwärtigen, was geschehen ist und wo wir stehen.

Dank der Sozialdemokratie verfügte die Brüning-Regierung über die Unterstützung des Parlaments, um mit Hilfe von Notverordnungen zu regieren. Die sozialdemokratischen Führer sagten: „Auf diese Weise werden wir dem Faschismus den Weg zur Macht versperren.“ Die Stalinsche Bürokratie sagte: „Nein, der Faschismus hat bereits gesiegt, das Brüningregime ist eben Faschismus.“ Das eine wie das andere war falsch. Die Sozialdemokraten gaben das passive Zurückweichen vor dem Faschismus als Kampf gegen den Faschismus aus. Die Stalinisten stellten die Sache so dar, als liege der Sieg des Faschismus bereits zurück. Die Kampfkraft des Proletariats wurde von beiden Seiten untergraben und der Sieg des Feindes erleichtert und nähergebracht.

Wir haben seinerzeit die Brüningregierung als Bonapartismus („Karikatur auf den Bonapartismus“) bezeichnet, d.h. als ein Regime militärisch-polizeilicher Diktatur. Sobald der Kampf zweier sozialer Lager – der Besitzenden und Besitzlosen, der Ausbeuter und Ausgebeuteten – höchste Spannung erreicht, sind die Bedingungen für die Herrschaft von Bürokratie, Polizei, Soldateska gegeben. Die Regierung wird „unabhängig“ von der Gesellschaft. Erinnern wir nochmals daran: steckt man zwei Gabeln symmetrisch in einen Kork, so kann er sich sogar auf einem Stecknadelkopf halten. Dies ist eben das Schema des Bonapartismus. Gewiss, eine solche Regierung hört nicht auf, Kommis der Eigentümer zu sein. Doch sitzt der Kommis dem Herrn auf dem Buckel, reibt ihm den Nacken wund und steht nicht an, seinem Herrn gegebenenfalls mit dem Stiefel über das Gesicht zu fahren.

Man konnte annehmen, Brüning werde sich bis zur endgültigen Lösung halten. Doch hat sich in den Gang der Ereignisse noch ein Glied eingefügt: die Papen-Regierung. Wollten wir genau sein, so müssten wir an unserer alten Bezeichnung eine Berichtigung vornehmen: die Brüning-Regierung war eine vorbonapartistische Regierung. Brüning war nur ein Vorläufer. In entwickelter Gestalt ist der Bonapartismus als Papen-Schleicher-Regierung auf die Bühne getreten.

Worin besteht der Unterschied? Brüning beteuerte, kein höheres Glück zu kennen, als Hindenburg und dem Paragraphen 48 zu „dienen“. Hitler „stützte“ mit der Faust Brünings rechte Hüfte. Mit dem linken Ellbogen aber hielt Brüning sich an Wels’ Schulter. Im Reichstag fand Brüning eine Mehrheit, die ihn der Notwendigkeit enthob, mit dem Reichstag zu rechnen.

Je mehr Brünings Unabhängigkeit vom Parlament wuchs, desto unabhängiger fühlte sich die Spitze der Bürokratie von Brüning und den hinter ihm stehenden politischen Gruppierungen. Es blieb nur übrig, endgültig die Bande mit dem Reichstag zu zerreißen. Die Regierung von Papens ging aus einer unbefleckten bürokratischen Empfängnis hervor. Mit dem rechten Ellbogen stützt sie sich auf Hitlers Schulter. Mit der Polizeifaust wehrt sie sich auf der linken gegen das Proletariat. Darin liegt das Geheimnis ihrer „Stabilität“, d.h. der Tatsache, dass sie im Moment ihrer Entstehung nicht zusammenbrach.

Die Brüningregierung hatte pfäffisch-bürokratisch-polizeilichen Charakter. Die Reichswehr blieb noch in Reserve. Als unmittelbare Ordnungsstütze diente neben der Polizei die „Eiserne Front“. In der Beseitigung der Abhängigkeit von der „Eisernen Front“ bestand eben das Wesen des Hindenburg-Papenschen Staatsstreichs. Die Generalität rückte dabei automatisch an die erste Stelle.

Die sozialdemokratischen Führer erwiesen sich als vollkommen übertölpelt. So geziemt es sich auch für sie in Perioden sozialer Krisen. Diese kleinbürgerlichen Intriganten scheinen klug nur unter Bedingungen, wo Klugheit nicht nötig ist. Jetzt ziehen sie nachts die Decke über den Kopf, schwitzen und hoffen auf ein Wunder. Am Ende wird man vielleicht doch nicht nur den Kopf retten können, sondern auch die weichen Möbel und die kleinen, unschuldigen Ersparnisse. Doch Wunder wird es nicht geben ...

Unglücklicherweise ist aber auch die Kommunistische Partei durch die Ereignisse vollkommen überrumpelt worden. Die Stalinsche Bürokratie hat nicht verstanden vorauszusehen. Heute sprechen Thälmann, Remmele u.a. bei jedem Anlass „vom Staatsstreich des 20. Juli“. Wie denn? Zuerst behaupteten sie, der Faschismus sei bereits da und nur die „konterrevolutionären Trotzkisten“ könnten davon als von etwas Zukünftigem sprechen. Jetzt erweist es sich, dass für den Übergang von Brüning zu Papen – vorerst nicht zu Hitler, sondern lediglich zu Papen ein ganzer „Staatsstreich“ nötig war. Doch der Klassencharakter Severings, Brünings und Hitlers, lehrten uns diese Weisen, ist „ein und derselbe“. Woher also und wozu der Staatsstreich?

Dabei ist aber die Verwirrung nicht zu Ende. Obgleich der Unterschied zwischen Bonapartismus und Faschismus nun deutlich genug zutage getreten ist, sprechen Thälmann, Remmele u.a. vom faschistischen Staatsstreich des 20. Juli. Gleichzeitig warnen sie die Arbeiter vor der nahenden Gefahr der Hitlerschen, d.h. gleichfalls faschistischen Umwälzung. Schließlich wird die Sozialdemokratie dabei nach wie vor als sozialfaschistisch bezeichnet. Die Bedeutung der einander folgenden Ereignisse besteht demnach darin, dass verschiedene Spielarten von Faschismus mit Hilfe „faschistischer“ Staatsstreiche einander die Macht abnehmen. Ist es nicht klar, dass die ganze Stalinsche Theorie eigens dazu geschaffen ist, die menschlichen Gehirne zu verkleistern?

Je weniger vorbereitet die Arbeiter waren, um so mehr musste der Auftritt der Papenregierung auf der Bühne den Eindruck von Kraft erwecken: völliges Ignorieren der Parteien, neue Notverordnungen, Auflösung des Reichstags, Repressalien, Belagerungszustand in der Hauptstadt, Beseitigung der preußischen „Demokratie“. Und mit welcher Leichtigkeit! Einen Löwen tötet man mit Kugeln, den Floh zerdrückt man zwischen den Fingernägeln, sozialdemokratische Minister erledigt man mit einem Nasenstüber.

Doch die Papen-Regierung ist – trotz des Anscheins konzentrierter Kräfte – „an und für sich“ noch schwächer als ihre Vorgängerin. Das bonapartistische Regime kann verhältnismäßig stabilen und dauerhaften Charakter nur dann erlangen, wenn es eine revolutionäre Epoche abschließt, wenn das Kräfteverhältnis bereits in Kämpfen erprobt wurde, wenn die revolutionären Klassen sich bereits verausgabt, die besitzenden Klassen sich aber noch nicht von der Furcht befreit haben, ob der morgige Tag nicht neue Erschütterungen bringen wird. Ohne diese Grundbedingung, d.h. ohne vorherige Erschöpfung der Massenenergien im Kampfe, ist das bonapartistische Regime außerstande, sich zu entfalten.

Durch die Papenregierung haben die Barone, Kapitalmagnaten und Bankiers den Versuch unternommen, ihre Sache durch Polizei und reguläre Armee zu sichern. Der Gedanke, die ganze Macht an Hitler abzutreten, der sich auf die gierigen und entfesselten Banden des Kleinbürgertums stützt, ist für sie durchaus nicht beglückend. Sie bezweifeln natürlich nicht, dass Hitler zu guter Letzt ein gefügiges Werkzeug ihrer Herrschaft sein würde. Doch das wäre verbunden mit Erschütterungen, mit dem Risiko eines langwierigen Bürgerkrieges und großer Unkosten. Allerdings führt der Faschismus, wie Italiens Beispiel zeigt, letzten Endes zur militärisch-bürokratischen Diktatur bonapartistischen Typs. Doch braucht er dazu, selbst im Falle eines vollständigen Sieges, eine Reihe von Jahren – in Deutschland länger als in Italien. Es ist klar, dass die besitzenden Klassen einen ökonomischeren Weg vorziehen würden, d.h. den Weg Schleichers und nicht den Hitlers, ganz davon abgesehen, dass Schleicher sich selbst den Vorzug gibt.

Die Tatsache, dass die Neutralisierung der unversöhnlichen Lager die Existenzbasis der Papen-Regierung ist, bedeutet natürlich keineswegs, dass die Kräfte des revolutionären Proletariats und der reaktionären Kleinbourgeoisie auf der Waage der Geschichte einander gleich sind. Die ganze Frage verschiebt sich hier auf das Gebiet der Politik. Durch den Mechanismus der „Eisernen Front“ paralysiert die Sozialdemokratie das Proletariat. Mit der Politik des kopflosen Ultimatismus verlegt die Stalinsche Bürokratie den Arbeitern den revolutionären Ausweg. Bei richtiger Führung des Proletariats würde der Faschismus mühelos zunichte gemacht werden und für den Bonapartismus nicht eine Ritze offen bleiben. Unglücklicherweise ist es anders. Die paralysierte Kraft des Proletariats hat die trügerische Form einer „Kraft“ der bonapartistischen Clique angenommen. Das ist die politische Formel des heutigen Tages.

Die Papen-Regierung stellt den unpersönlichen Schnittpunkt großer historischer Kräfte dar. Ihr selbständiges Gewicht ist beinahe Null. Darum musste sie vor ihren eigenen Gesten erschrecken und schwindlig werden vor der rings um sie herum entstehenden Leere. Damit und nur damit ist es zu erklären, dass in den Handlungen der Regierung bisher auf ein Teil Verwegenheit zwei Teile Feigheit kamen. Preußen, d.h. der Sozialdemokratie gegenüber führte die Regierung ein sicheres Spiel; sie wusste, diese Herren würden keinerlei Widerstand leisten. Aber nachdem sie den Reichstag aufgelöst hatte, schrieb sie Neuwahlen aus und wagte es nicht, diese hinauszuschieben. Nach Verkündung des Belagerungszustandes eilte sie, zu erklären, dies solle nur den sozialdemokratischen Führern die kampflose Kapitulation erleichtern.

Aber es gibt doch eine Reichswehr? Wir werden sie nicht vergessen. Engels bezeichnete den Staat als bewaffnete Abteilungen von Menschen, die über materielle Hilfsmittel wie Gefängnisse usw. verfügen. In bezug auf die gegenwärtige Regierungsmacht kann man sogar sagen, dass nur die Reichswehr wirklich besteht. Doch die Reichswehr ist keineswegs ein gefügiges und sicheres Werkzeug in den Händen jener Gruppe von Leuten, an deren Spitze Papen steht. In Wirklichkeit ist die Regierung eher eine Art politische Kommission der Reichswehr.

Aber trotz all ihrem Übergewicht über die Regierung kann die Reichswehr nicht auf eine selbständige politische Rolle Anspruch erheben. Hunderttausend Soldaten, wie zusammengeschweißt und gestählt sie auch sein mögen (was noch zu erproben bleibt), können nicht eine von tiefsten sozialen Gegensätzen zerrissene Nation von 65 Millionen kommandieren. Die Reichswehr ist nur ein Element – nicht das entscheidende – im Kräftespiel.

Der neue Reichstag spiegelt in seiner Art nicht schlecht die politische Lage im Lande wider, die zum bonapartistischen Experiment geführt hat. Das Parlament ist ohne Mehrheit, mit unversöhnlichen Flügeln, ein anschauliches und unwiderlegbares Argument zugunsten der Diktatur. Nochmals treten mit aller Klarheit die Grenzen der Demokratie zutage. Wo es um die Grundlagen der Gesellschaft selbst geht, entscheidet nicht die parlamentarische Arithmetik. Da entscheidet der Kampf.

Wir werden es nicht versuchen, aus der Ferne zu erraten, auf welchen Wegen in den nächsten Tagen versucht werden wird, die Regierung zu bilden. Unsere Hypothesen kämen ohnehin verspätet, und überdies wird die Frage nicht durch die möglichen Übergangsformen und Kombinationen entschieden. Ein Block der Rechten mit dem Zentrum würde die „Legalisierung“ der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten bedeuten, d.h. die geeignetste Deckung für den faschistischen Staatsstreich bieten. Welches Verhältnis sich in der ersten Zeit zwischen Hitler, Schleicher und den Zentrumsführern herausbilden würde, ist wichtiger für sie selbst, als für das deutsche Volk. Politisch bedeuten alle denkbaren Kombinationen mit Hitler die Auflösung von Bürokratie, Gericht, Polizei und Armee im Faschismus.

Nimmt man an, das Zentrum werde nicht auf eine Koalition eingehen, in der es um den Preis des Bruchs mit den eigenen Arbeitern die Rolle der Bremse in Hitlers Lokomotive übernimmt, so bleibt einzig der unverhüllte außerparlamentarische Weg offen. Eine Kombination ohne das Zentrum würde das Übergewicht der Nationalsozialisten noch leichter und rascher sichern. Sollten diese nicht sofort mit Papen einig werden und gleichzeitig nicht zu direktem Angriff übergehen, so wird der bonapartistische Charakter der Regierung noch deutlicher zum Vorschein kommen müssen; von Schleicher würde seine „hundert Tage“ haben.., ohne die vorausgegangenen Napoleonschen Jahre.

Hundert Tage – nein, das ist zuviel. Die Reichswehr entscheidet nicht. Schleicher genügt nicht. Die außerparlamentarische Diktatur der Junker und der Magnaten des Finanzkapitals lässt sich nur durch die Methoden eines langwierigen und unbarmherzigen Bürgerkrieges sichern. Wird Hitler diese Aufgabe erfüllen können? Das hängt nicht nur vom bösen Willen des Faschismus, sondern auch vom revolutionären Willen des Proletariats ab.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008