Leo Trotzki

 

Der einzige Weg


IV. 21 Fehler Thälmanns

Mitte Juli erschien eine Broschüre mit Antworten Thälmanns auf 21 Fragen sozialdemokratischer Arbeiter darüber, wie man die „Rote Einheitsfront“ schafft. Die Broschüre beginnt mit den Worten: „Machtvoll stürmt die Antifaschistische Einheitsfront vorwärts!“ Am 20. Juli rief die Kommunistische Partei die Arbeiter zum politischen Streik auf. Der Appell fand keinerlei Widerhall. So offenbarte sich innerhalb von fünf Tagen der tragische Abgrund zwischen bürokratischer Schönrednerei und politischer Wirklichkeit.

Die Partei hat bei den Wahlen vom 31. Juli 5,3 Millionen Stimmen bekommen. Indem sie dies Ergebnis als einen gewaltigen Sieg feierte, bewies die Partei, wie sehr die Niederlage ihre Ansprüche und Hoffnungen herabgesetzt hat. Im ersten Wahlgang zu den Präsidentenwahlen, am 13. März, erhielt die Partei fast 5 Millionen Stimmen. Im Laufe von viereinhalb Monaten – und was für Monaten! – hat sie somit keine dreihunderttausend Stimmen gewonnen. Die kommunistische Presse wieder holte im März Hunderte Male, die Stimmenzahl wäre unvergleichlich größer gewesen, würde es sich um Reichstagswahlen gehandelt haben – bei den Präsidentenwahlen hielten es Hunderttausende von Sympathisierenden für überflüssig, wegen einer „platonischen“ Demonstration Zeit zu verlieren. Zieht man diesen Märzkommentar in Betracht – und er verdient es –, so ergibt sich, dass die Partei in den letzten viereinhalb Monaten fast überhaupt nicht gewachsen ist.

Im April hat die Sozialdemokratie Hindenburg gewählt, der daraufhin einen unmittelbar gegen sie gerichteten Staatsstreich vollzog. Man sollte meinen, diese Tatsache allein hätte genügen müssen, das Gebäude des Reformismus bis in die Grundfesten zu erschüttern. Hinzu kommt die weitere Verschärfung der Krise mit all ihren furchtbaren Folgen. Endlich hat am 20. Juli, elf Tage vor den Wahlen, die Sozialdemokratie vor dem Staatsstreich des von ihr gewählten Reichspräsidenten kläglich den Schwanz eingezogen. In solchen Perioden wachsen revolutionäre Parteien fieberhaft. Was immer die Sozialdemokratie unternehmen mag, sie muss die Arbeiter von sich weg nach links stoßen. Statt aber mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts zu schreiten, tritt der Kommunismus auf der Stelle, schwankt, ist auf dem Rückzug und macht nach jedem Schritt vorwärts einen halben Schritt zurück. Ein Siegesgeschrei zu erheben, nur weil die Kommunistische Partei am 31. Juli keine Stimmen eingebüßt hat, heißt endgültig den Sinn für Wirklichkeit verlieren.

Um zu begreifen, warum und wieso sich die revolutionäre Partei bei ausnehmend günstigen politischen Bedingungen selbst zu erniedrigender Ohnmacht verurteilt, muss man Thälmanns Antworten an die sozialdemokratischen Arbeiter lesen. Eine langweilige und unangenehme Aufgabe, die aber darüber aufklären kann, was in den Köpfen der stalinistischen Führer vorgeht.

Auf die Frage: „Wie schätzen die Kommunisten den Charakter der Papenregierung ein?“, gibt Thälmann mehrere, einander widersprechende Antworten. Er beginnt mit dem Hinweis auf „die Gefahr der unmittelbaren Aufrichtung der faschistischen Diktatur“. Besteht sie also noch nicht? Er spricht vollkommen zutreffend von den Regierungsmitgliedern als „Vertretern des Trustkapitals, der Generalität und des Junkertums“. Einen Augenblick später sagt er über die gleiche Regierung: „dieses faschistische Kabinett“ und schließt seine Antwort mit der Behauptung, dass „die Papenregierung... sich die unmittelbare Aufrichtung der faschistischen Diktatur zum Ziele gesetzt hat“.

Indem er die sozialen und politischen Unterschiede zwischen Bonapartismus, d.h. dem auf militärisch-polizeilicher Diktatur fußenden Regime des „Burgfriedens“, und Faschismus, d.h. dem Regime des offenen Bürgerkriegs gegen das Proletariat, außer acht lässt, nimmt sich Thälmann im voraus die Möglichkeit, zu verstehen, was vor seinen Augen geschieht. Ist Papens Kabinett ein faschistisches Kabinett, von welcher faschistischen „Gefahr“ ist dann die Rede? Falls die Arbeiter Thälmann glauben, dass sich Papen die Aufrichtung der faschistischen Diktatur zum Ziele (!) setzt, wird der wahrscheinliche Konflikt zwischen Hitler und Papen-Schleicher die Partei ebenso überrumpeln wie seinerzeit der Konflikt zwischen Papen und Otto Braun. [1*]

Auf die Frage „Meint die KPD die Einheitsfront ehrlich?“, antwortet Thälmann natürlich bejahend, und zum Beweis beruft er sich darauf, dass die Kommunisten keine Bittgänge zu Hindenburg und Papen unternehmen. „Nein, wir stellen die Frage des Kampfes, und zwar gegen das ganze System, gegen den Kapitalismus. Und hier liegt der Kernpunkt der Ehrlichkeit unserer Einheitsfront“.

Thälmann begreift offenbar nicht, wovon die Rede ist. Die sozialdemokratischen Arbeiter bleiben gerade deshalb Sozialdemokraten, weil sie noch immer an den allmählichen, reformistischen Weg der Umwandlung des Kapitalismus in Sozialismus glauben. Da sie wissen, dass die Kommunisten für den revolutionären Sturz des Kapitalismus sind, fragen die sozialdemokratischen Arbeiter: Schlagt Ihr uns die Einheitsfront ehrlich vor? Darauf erwidert Thälmann: Natürlich ehrlich, denn für uns geht es darum, das ganze kapitalistische System zu stürzen.

Selbstverständlich denken wir nicht daran, vor den sozialdemokratischen Arbeitern etwas zu verbergen. Doch man muss jedenfalls wissen, wie weit man gehen kann und die politischen Proportionen wahren. Jeder gewandte Propagandist hätte folgendermaßen geantwortet: „Ihr setzt auf die Demokratie – wir glauben, dass der Ausweg allein in der Revolution liegt. Doch können und wollen wir die Revolution nicht ohne Euch machen. Hitler ist jetzt der gemeinsame Feind. Nach dem Siege über ihn werden wir mit Euch zusammen Bilanz ziehen und sehen, wohin der weitere Weg tatsächlich führt.“

Die Zuhörer verhalten sich dem Redner gegenüber – so eigenartig das auf den ersten Blick auch erscheinen mag – nicht nur nachsichtig, sondern stimmen ihm auch manchmal zu. Das Geheimnis ihrer Nachsichtigkeit beruht jedoch darauf, dass Thälmanns Gesprächspartner nicht nur der Antifaschistischen Aktion angehören, sondern auch zur Stimmabgabe für die KPD auffordern. Es handelt sich um ehemalige Sozialdemokraten, die auf die Seite des Kommunismus übergegangen sind. Solche Rekruten kann man nur willkommen heißen. Doch das Betrügerische des ganzen Unternehmens besteht darin, dass eine Aussprache mit Arbeitern, die mit der Sozialdemokratie gebrochen haben, als Aussprache mit der sozialdemokratischen Masse deklariert wird. Diese billige Maskerade ist äußerst charakteristisch für die gesamte gegenwärtige Politik der Thälmann & Co!

Wie dem auch sei – die ehemaligen Sozialdemokraten stellen Fragen, die tatsächlich die sozialdemokratische Masse bewegen. „Ob die Antifaschistische Aktion eine Filiale der Kommunistischen Partei ist“, fragen sie. Thälmann antwortet: „Nein!“ Der Beweis? Die Antifaschistische Aktion „ist keine Organisation, sondern eine Massenbewegung“. Als wäre es nicht gerade die Aufgabe der Kommunistischen Partei, die Massenbewegung zu organisieren. Noch besser ist der zweite Beweisgrund: die Anti-faschistische Aktion sei überparteilich, denn (!) sie richte sich gegen den kapitalistischen Staat: „Bereits Karl Marx hat bei der Behandlung der Lehren der Pariser Kommune mit aller Schärfe als Aufgabe der Arbeiterklasse die Frage der Zertrümmerung des bürgerlichen Staatsapparates in den Vordergrund gestellt“. O unglückselige Zitate! Doch die Sozialdemokraten wollen ja – trotz Marx – den bürgerlichen Staat vervollkommnen, nicht ihn zertrümmern. Sie sind nicht Kommunisten, sondern Reformisten. Entgegen seiner Absicht beweist Thälmann gerade das, was er widerlegen möchte – den Parteicharakter der „Antifaschistischen Aktion“.

Der offizielle Führer der Kommunistischen Partei begreift offensichtlich weder die Lage noch die politische Denkweise des sozialdemokratischen Arbeiters. Er begreift nicht, wozu die Einheitsfront da ist. Mit jedem seiner Sätze liefert er den reformistischen Führern Waffen und treibt ihnen die sozialdemokratischen Arbeiter zu.

Die Unmöglichkeit irgendeines gemeinsamen Schrittes mit der Sozialdemokratie weist Thälmann folgendermaßen nach:

„Dabei müssen wir (?) klar erkennen, dass die Sozialdemokratie, selbst wenn sie heute eine Scheinopposition mimt, in keinem Moment ihre eigentlichen Koalitionsgedanken und ihr Paktieren mit der faschistischen Bourgeoisie aufgeben wird“. Selbst wenn dies richtig wäre, bliebe nichtsdestoweniger die Aufgabe, es den sozialdemokratischen Arbeitern durch Erfahrung zu beweisen. Doch es stimmt nicht. Selbst wenn die sozialdemokratischen Führer nicht auf Pakte mit der Bourgeoisie verzichten wollen, verzichtet doch die faschistische Bourgeoisie auf das Paktieren mit der Sozialdemokratie. Diese Tatsache aber kann für das Schicksal der Sozialdemokratie entscheidend werden. Beim Übergang der Macht von Papen auf Hitler wird die Bourgeoisie die Sozialdemokratie in keiner Weise schonen können. Der Bürgerkrieg hat seine Gesetze. Die Herrschaft des faschistischen Terrors kann nur die Abschaffung der Sozialdemokratie bedeuten. Mussolini hat genau so angefangen, um die revolutionären Arbeiter ungehindert niederschlagen zu können. Jedenfalls ist dem „Sozialfaschisten“ seine Haut teuer. Die kommunistische Einheitsfrontpolitik muss gegenwärtig ausgehen von der Sorge der Sozialdemokratie um die eigene Haut. Das ist die realistischste und in ihren Folgen zugleich revolutionärste Politik.

Wenn aber die Sozialdemokratie sich „in keinem Moment“ von der faschistischen Bourgeoisie trennt (obwohl Matteotti sich von Mussolini „getrennt“ hat), – müssen die sozialdemokratischen Arbeiter, die an der Antifaschistischen Aktion teilnehmen wollen, nicht aus ihrer Partei austreten? So lautet eine Frage. Darauf erwidert Thälmann: „Es ist für uns Kommunisten selbstverständlich, dass sozialdemokratische oder Reichsbannerarbeiter an der Antifaschistischen Aktion teilnehmen können, ohne dass sie aus ihrer Partei auszutreten brauchen“. Um zu zeigen, dass er frei ist von allem Sektierertum, fügt Thälmann hinzu: „Wenn ihr bloß in Millionen, in geschlossener Front hineinströmen würdet, wir würden es mit Freude begrüßen, selbst wenn über gewisse Fragen der Einschätzung der SPD nach unserer Meinung in Euren Köpfen noch Unklarheit besteht“. Goldene Worte! Wir halten Eure Partei für eine faschistische, Ihr haltet sie für demokratisch, aber streiten wir nicht über Kleinigkeiten! Es genügt, wenn Ihr „in Millionen“ zu uns kommt, ohne Eure faschistische Partei zu verlassen. „Unklarheit über gewisse Fragen“ kann kein Hindernis bilden. Aber ach, die Unklarheit in den Köpfen der allmächtigen Bürokraten wird bei jedem Schritt zum Hindernis.

Zur Vertiefung der Frage setzt Thälmann hinzu: „Wir stellen die Frage nicht von Partei zu Partei, sondern klassenmäßig.“ Wie Seydewitz ist Thälmann bereit, auf das Parteiinteresse im Interesse der Klasse zu verzichten. Das Unglück besteht darin, dass es für einen Marxisten eine solche Gegenüberstellung gar nicht geben kann. Wäre ihr Programm nicht die wissenschaftliche Formulierung der Interessen der Arbeiterklasse, so wäre die Partei keinen Pfennig wert.

Aber abgesehen von dem groben prinzipiellen Fehler enthalten Thälmanns Worte auch eine praktische Absurdität. Wie kann man die Frage nicht „von Partei zu Partei“ stellen, wenn das Wesen der Frage gerade darin besteht? Millionen Arbeiter folgen der Sozialdemokratie. Andere Millionen der Kommunistischen Partei. Auf die Frage der sozialdemokratischen Arbeiter: „Wie kommen wir heute zu gemeinsamen Aktionen zwischen Eurer und unserer Partei gegen den Faschismus?“, antwortet Thälmann „klassenmäßig und nicht parteimäßig“:

„Strömt in Millionen zu uns!“ Ist das nicht klägliches Geschwätz?

„Wir Kommunisten“, fährt Thälmann fort, „wollen keine Einheit um jeden Preis. Wir können nicht im Interesse der Einheit mit der Sozialdemokratie den Klasseninhalt unserer Politik verleugnen ..., und auf Streiks, Erwerbslosenkämpfe, auf Mieteraktionen und auf den revolutionären Massenschutz verzichten.“ Anstelle der Verständigung über bestimmte praktische Aktionen setzt er hier die unsinnige Einheit mit der Sozialdemokratie. Aus der Notwendigkeit des morgigen revolutionären Sturmes wird die Unzulässigkeit gemeinsamer Streik- oder Selbstschutzaktionen heute abgeleitet. Wer Thälmanns Gedanken zusammenreimen kann, verdient einen Preis.

Die Zuhörer drängen: „Ist im Kampfe gegen die Papenregierung und gegen den Faschismus ein Bündnis der KPD und SPD möglich?“ Thälmann erwähnt zwei, drei Tatsachen als Beweis, dass die Sozialdemokratie gegen den Faschismus nicht kämpft, und folgert: „Jeder (!!) SPD-Genosse wird uns recht geben (?), wenn wir sagen, dass ein Bündnis zwischen KPD und SPD aufgrund dieser Tatsachen und auch (!) aus prinzipiellen Gründen (!) unmöglich ist.“ Der Bürokrat setzt wieder als erwiesen voraus, was gerade bewiesen werden soll. Der Ultimatismus bekommt einen besonders lächerlichen Anstrich, wenn Thälmann auf die Frage nach der Einheitsfront mit Organisationen, die Millionen Arbeiter umfassen, antwortet: Die Sozialdemokraten müssen eben anerkennen, dass eine Verständigung mit ihrer Partei unmöglich ist, weil sie faschistisch ist. Kann man Wels und Leipart einen besseren Dienst erweisen?

„Wir Kommunisten, die wir mit den SPD-Führern jede Gemeinschaft ablehnen ..., erklären immer wieder, dass wir mit den kampfgewillten sozialdemokratischen und Reichsbannergenossen und mit den unteren (?) kampfgewillten Organisationen jederzeit bereit sind zum antifaschistischen Kampf.“ Wo enden die unteren Organisationen? Und was tun, wenn die unteren sich der Disziplin der oberen fügen und vorschlagen, mit diesen zuerst zu verhandeln? Schließlich gibt es zwischen den unteren und den oberen auch Zwischenstockwerke. Kann man denn im voraus sagen, wo die Scheidelinie zwischen denen, die kämpfen wollen, und denen, die dem Kampfe ausweichen, verlaufen wird? Das lässt sich nur in der Praxis, nicht a priori entscheiden. Welchen Sinn hat es, sich selbst an Händen und Füßen zu binden?

In der Roten Fahne vom 29. Juli werden in einem Bericht über Reichsbanner-Versammlungen die bemerkenswerten Worte eines sozialdemokratischen Abteilungsleiters erwähnt: „Der Wille zu einer antifaschistischen Einheitsfront ist in den Massen vorhanden. Wenn ihm von den Führern nicht Rechnung getragen wird, so werde ich über sie hinweg zur Einheitsfront gehen.“ Das kommunistische Blatt bringt diese Worte ohne Kommentar. Aber sie geben den Schlüssel zur ganzen Einheitsfronttaktik. Der Sozialdemokrat will gemeinsam mit den Kommunisten gegen die Faschisten kämpfen. Er zweifelt bereits am guten Willen seiner Führer. Wenn die Führer sich weigern, sagt er, werde ich über sie hinweggehen. So gestimmte Sozialdemokraten gibt es zu Dutzenden, Hunderten, Tausenden, Millionen. Aufgabe der Kommunistischen Partei ist es, ihnen wirklich zu zeigen, ob die sozialdemokratischen Führer kämpfen wollen oder nicht. Beweisen lässt sich das allein durch Erfahrung, durch eine frische Erfahrung in einer neuen Lage. Diese Erfahrung bildet sich nicht auf einen Schlag. Man muss die sozialdemokratischen Führer einer Probe unterwerfen: in Betrieb und Werkstatt, in Stadt und Land, im ganzen Lande, heute und morgen. Man muss seinen Vorschlag wiederholen, ihn in neuer Form stellen, unter neuen Gesichtspunkten, der neuen Lage angepasst.

Aber Thälmann will nicht. Aufgrund der „aufgezeigten prinzipiellen Unterschiede zwischen der KPD und der SPD lehnen wir Spitzenverhandlungen mit der SPD ab“. Dieses bemerkenswerte Argument wird von Thälmann mehrfach wiederholt. Gäbe es aber nicht „prinzipielle Gegensätze“, dann gäbe es keine zwei Parteien. Und gäbe es nicht zwei Parteien, stellte sich nicht die Frage der Einheitsfront. Thälmann will zuviel beweisen. Weniger wäre besser.

Bedeutet die Gründung der RGO „nicht eine Spaltung der organisierten Arbeiterschaft?“, fragen die Arbeiter. Nein, erwidert Thälmann, und zum Beweis führt er Engels’ Brief aus dem Jahre 1895 gegen die ästhetisch-sentimentalen Philanthropen an. Wer steckt Thälmann so listig Zitate zu? Die RGO sei im Geiste der Einheit und nicht der Spaltung geschaffen worden. Auch müsse ja der Arbeiter keineswegs seine Gewerkschaftsorganisation verlassen, um der RGO beizutreten. Im Gegenteil, es sei besser, wenn die RGO-Mitglieder in den Gewerkschaften blieben, um dort oppositionelle Arbeit zu leisten. Thälmanns Worte mögen überzeugend klingen für Kommunisten, die sich den Kampf gegen die sozialdemokratische Führung zur Aufgabe gemacht haben. Doch als Antwort an sozialdemokratische Arbeiter, die um die Gewerkschaftseinheit besorgt sind, klingen Thälmanns Worte wie Hohn. Warum habt Ihr unsere Gewerkschaften verlassen und Euch gesondert organisiert, fragen die sozialdemokratischen Arbeiter. Wenn Ihr in unsere Sonderorganisationen eintreten wollt, um gegen die sozialdemokratische Führung zu kämpfen, so verlangen wir nicht von Euch, die Gewerkschaften zu verlassen, antwortet ihnen Thälmann. Eine Antwort, die den Nagel auf den Kopf trifft.

„Gibt es innerhalb der KPD Demokratie?“, fragen die Arbeiter, auf ein anderes Thema übergehend. Thälmann antwortet bejahend. Und ob! Aber sogleich fügt er ganz unerwartet hinzu:

„In der Legalität sowohl wie in der Illegalität, in der letzteren ganz besonders, muss die Partei vor Spitzeln, Provokateuren und Polizeiagenten auf der Hut sein.“ Diese Einschaltung ist kein Zufall. Die neueste, in der Broschüre eines geheimnisvollen Büchner der Welt verkündete Doktrin rechtfertigt die Abwürgung der Demokratie im Interesse des Kampfes gegen Spione. Wer gegen die Selbstherrlichkeit der Stalinschen Bürokratie protestiert, muss zumindest für verdächtig erklärt werden. Die Polizeiagenten und Provokateure aller Länder schwelgen in Begeisterung über diese Theorie. Sie werden lauter als alle gegen die Oppositionellen hetzen – das kann die Aufmerksamkeit von ihnen selbst ablenken und es ihnen ermöglichen, im Trüben zu fischen.

Das Gedeihen der Demokratie ist nach Thälmann auch dadurch erwiesen, dass „auf Weltkongressen und EKKI-Konferenzen die Probleme behandelt werden“. Der Redner versäumt mitzuteilen, wann der letzte Weltkongress stattgefunden hat. Wir wollen daran erinnern: im Juli 1928, vor mehr als vier Jahren! Offenbar sind seither keine beachtenswerten Fragen auf getaucht. Warum beruft, nebenbei gesagt, Thälmann nicht einen außerordentlichen deutschen Parteitag ein, um die Probleme zu lösen, von denen das Schicksal des deutschen Proletariats abhängt? Kaum aus Übermaß an Parteidemokratie, nicht wahr?

So folgt Seite auf Seite. Thälmann antwortet auf 21 Fragen. Jede Antwort – ein Fehler. In Summa – 21 Fehler, die kleinen und zweitrangigen nicht mitgerechnet. Und ihrer sind viele.

Thälmann erzählt, die Bolschewiki hätten mit den Menschewiki im Jahre 1903 gebrochen. In Wirklichkeit fand die Spaltung erst im Jahre 1912 statt. Aber auch das verhinderte nicht, dass die Februarrevolution von 1917 in einem großen Teil des Landes vereinigte bolschewistische und menschewistische Organisationen fand. Noch Anfang April trat Stalin für die Vereinigung der Bolschewiki mit der Partei Zeretellis ein – nicht für Einheitsfront, sondern für Parteiverschmelzung! Das wurde nur durch die Ankunft Lenins verhindert.

Thälmann sagt, die Bolschewiki hätten die Konstituierende Versammlung im Jahre 1917 auseinandergejagt. In Wirklichkeit geschah dies Anfang 1918. Mit der Geschichte der Russischen Revolution und der Bolschewistischen Partei ist Thälmann keineswegs vertraut.

Viel schlimmer ist aber, dass er die Grundlagen der bolschewistischen Taktik nicht begreift. In seinem „theoretischen“ Artikel wagt er sogar, die Tatsache zu bestreiten, dass die Bolschewiki ein Abkommen mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären gegen Kornilow geschlossen haben. Als Beweis führt er ihm von irgendwem zugeschobene Zitate an, die mit der Sache nichts zu tun haben. Er vergisst aber auf die Fragen zu antworten: Gab es während des Kornilowputsches im ganzen Lande Komitees der Volksverteidigung? Haben sie den Kampf gegen Kornilow geleitet? Gehörten diesen Komitees Vertreter der Bolschewiki, Menschewiki und Sozialrevolutionäre an? Ja, ja, ja. Waren damals die Menschewiki und Sozialrevolutionäre an der Macht? Verfolgten sie die Bolschewiki als Agenten des deutschen Generalstabs? Saßen Tausende von Bolschewiki in den Gefängnissen? Verbarg sich Lenin in der Illegalität? Ja, ja, ja. Welche Zitate können diese geschichtlichen Tatsachen widerlegen?

Thälmann mag sich nach Belieben auf Manuilski, Losowski und Stalin berufen (falls der überhaupt den Mund auftut). Aber den Leninismus und die Geschichte der Oktoberrevolution soll er in Frieden lassen – das ist für ihn ein Buch mit sieben Siegeln.

Abschließend muss man noch eine andere sehr wichtige Frage hervorheben, die Versailles betrifft. Die sozialdemokratischen Arbeiter fragen, ob die Kommunistische Partei nicht dem Nationalsozialismus politische Zugeständnisse mache? Thälmann verteidigt in seiner Antwort weiterhin die Losung der „nationalen Befreiung“ und stellt sie auf eine Ebene mit der Losung der sozialen Befreiung. Die Reparationen – das, was jetzt von ihnen übrig ist – sind für Thälmann genau so wichtig wie das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Diese Politik ist wie eigens dazu ersonnen, die Aufmerksamkeit der Arbeiter von Grundproblemen abzulenken, den Kampf gegen den Kapitalismus zu schwächen und sie zu zwingen, den Hauptfeind und den Urheber des Elends jenseits der Grenzen zu suchen. Indessen steht jetzt mehr denn je „der Hauptfeind im eigenen Land“! Von Schleicher hat diesen Gedanken noch krasser ausgedrückt: vor allem, erklärte er am 26. Juli im Radio, muss man „mit dem inneren Schweinehund fertig werden“! Diese Soldatenformel ist sehr gut. Wir greifen gern darauf zurück. Alle Kommunisten müssten sie sich zu eigen machen. Während die Nazis die Aufmerksamkeit auf Versailles ablenken, müssen die revolutionären Arbeiter ihnen mit Schleichers Worten entgegnen: nein, vor allem muss man mit dem inneren Schweinehund fertig werden!


Fußnote

1* Diese Zeilen wurden Anfang August, vor den Verhandlungen zwischen Hindenburg-Papen und Hitler – und vor dem Konflikt zwischen Papen und Hitler – niedergeschrieben.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008