Leo Trotzki

 

Was Nun?


V. Ein Rückblick auf die Geschichte der Einheitsfrontfrage

Die Gründe für die Einheitsfrontpolitik ergeben sich aus so grundlegenden und unabweisbaren Notwendigkeiten des Kampfes von Klasse gegen Klasse (im marxistischen, nicht im bürokratischen Sinn des Wortes), daß man die Einwände der Stalin-Bürokratie nur mit Zorn- und Schamröte lesen kann. Man kann tagaus tagein die einfachsten Gedanken den zurückgebliebensten und verdummten Arbeitern und Bauern auseinandersetzen, ohne dabei auch nur die mindeste Ermüdung zu verspüren; hier geht es darum, ganz neue Schichten in Bewegung zu bringen. Aber wehe, wenn man die elementarsten Gedanken Leuten darlegen und beweisen muß, deren Hirn die bürokratische Presse plattgedrückt hat! Was tun mit „Führern“, die keine logischen Beweisgründe zur Verfügung haben, dafür aber ein internationales Schimpflexikon in Händen? Die Grundthesen des Marxismus werden mit einem einzigen Wort pariert: „Konterrevolutionär“! Das Wort wird im Munde von Leuten, die im besten Fall bisher durch nichts ihre Fähigkeit bewiesen haben, eine Revolution zu machen, schrecklich entwertet. Aber was ist mit den ersten vier Komintern-Kongressen? Anerkennt sie die Stalin-Bürokratie oder nicht? Die Dokumente leben ja und haben ihre Bedeutung bis auf den heutigen Tag bewahrt. Aus der großen Zahl greife ich die Thesen heraus, die ich zwischen dem 3. und 4. Kongreß für die französische Kommunistische Partei ausgearbeitet habe, die vom Politbüro der russischen KP und dem Exekutivkomitee der Komintern gebilligt und seinerzeit in verschiedensprachigen kommunistischen Organen veröffentlicht wurden. Wir geben wörtlich jenen Teil der Thesen wieder, der der Begründung und Verteidigung der Einheitsfrontpolitik gewidmet ist:

Es ist vollkommen klar, daß der Klassenkampf des Proletariats in der Vorbereitungsperiode der Revolution nicht aufhört. Zusammenstöße mit den Unternehmern, der Bourgeoisie oder der Staatsmacht entwickeln sich auf Initiative der einen oder der anderen Seite. In diesen Zusammenstößen erfahren die Arbeiter – soweit sie die Lebensinteressen der gesamten Arbeiterklasse, deren Mehrheit oder auch des einen oder anderen Teils der Klasse berühren – die Notwendigkeit der Aktionseinheit, der Einheit in der Verteidigung gegen das Kapital ... Eine Partei, die sich diesem Bedürfnis mechanisch entgegenstellt ..., wird im Bewußtsein der Arbeiter unausbleiblich verurteilt werden.

Das Problem der Einheitsfront ergibt sich aus der Notwendigkeit, ungeachtet der aktuell unvermeidlichen Spaltung der politischen Organisationen, die sich auf die Arbeiterklasse stützen, dieser die Möglichkeit der Einheitsfront im Kampfe gegen die Kapitalisten zu sichern. Wer diese Aufgabe nicht begreift, für den ist die Partei eine Propagandagesellschaft und nicht eine Organisation der Massenaktionen.

Hätte die Kommunistische Partei nicht radikal und unwiderruflich mit der Sozialdemokratie gebrochen, so wäre sie niemals zur Partei der proletarischen Revolution geworden. Würde die Kommunistische Partei nicht nach organisatorischen Wegen suchen, um in jeder Situation aufeinander abgestimmte, gemeinsame Aktionen der kommunistischen und nichtkommunistischen (darunter auch sozialdemokratischen) Arbeitermassen zu ermöglichen, so würde sie damit nur ihre Unfähigkeit offenbaren, auf Grund von Massenaktionen die Mehrheit der Arbeiterklasse zu erobern.

Es genügt nicht, die Kommunisten von den Reformisten zu trennen und sie durch organisatorische Disziplin zu binden; die Organisation muß lernen, alle kollektiven Handlungen des Proletariats auf allen Gebieten seines lebendigen Kampfes zu leiten. Das ist der zweite Buchstabe des kommunistischen Abc.

Erstreckt sich die Einheitsfront nur auf die Arbeitermassen oder bezieht sie auch die opportunistischen Führer ein? Diese Fragestellung ist nur die Frucht eines Mißverständnisses. Könnten wir einfach die Arbeitermassen um unser Banner und unsere Losungen scharen ... unter Umgehung der reformistischen Partei- und Gewerkschaftsorganisationen, so wäre das natürlich das Beste. Dann würde sich aber auch die Frage der Einheitsfront selbst nicht in ihrer jetzigen Form stellen.

Wir haben, abgesehen von allen anderen Erwägungen, das Interesse, die Reformisten aus ihren Zufluchtsstätten herauszuholen und sie neben uns vor der kämpfenden Masse aufzustellen. Bei richtiger Taktik können wir dabei nur gewinnen. Der Kommunist, der davor zaudert oder sich fürchtet, ähnelt einem Schwimmer, der Thesen über die beste Schwimmtechnik akzeptiert, aber nicht riskiert, sich ins Wasser zu stürzen. Indem wir mit den übrigen Organisationen ein Abkommen treffen, erlegen wir uns selbstverständlich eine gewisse Aktionsdisziplin auf. Doch kann es hier keine absolute Disziplin geben. In dem Augenblick, da die Reformisten den Kampf zum Schaden der Bewegung oder im Gegensatz zur Lage und zur Stimmung der Massen zu bremsen beginnen, wahren wir uns als unabhängige Organisation stets das Recht, den Kampf bis zum Ende und ohne unsere zeitweiligen Halbverbündeten zu führen.

In dieser Politik eine Annäherung an den Reformismus zu sehen, ist nur vom Standpunkt eines Journalisten aus möglich, der glaubt, sich vom Reformismus zu entfernen, wenn er ihn mit stets gleichbleibenden Ausdrücken kritisiert, ohne die Redaktionsstube zu verlassen, und sich fürchtet, vor den Augen der Arbeitermassen mit ihm zusammenzustoßen und ihnen die Möglichkeit zu geben, Kommunisten und Reformisten unter den gleichen Bedingungen des Massenkampfes zu vergleichen. Hinter dieser angeblich revolutionären Furcht vor „Annäherung“ verbirgt sich im Grunde politische Passivität, die jenen Zustand erhalten möchte, wo Kommunisten und Reformisten ihre streng abgegrenzten Einflußkreise haben, ihre Versammlungsbesucher, ihre Presse, und all das zusammen die Illusion eines politischen Kampfes erzeugt.

Hinter dem Kampf gegen die Einheitsfront verbirgt sich eine passive, unentschlossene Tendenz, maskiert durch verbale Unversöhnlichkeit. Doch auf den ersten Blick springt folgendes Paradox in die Augen: Die rechten Parteielemente mit ihren zentristischen und pazifistischen Tendenzen ... treten als die unversöhnlichsten Gegner der Einheitsfront auf, wobei sie sich mit dem Banner revolutionärer Unbeugsamkeit verhüllen. Die Elemente dagegen, die ... in den schwierigsten Situationen uneingeschränkt auf dem Boden der III. Internationale standen, treten für die Einheitsfronttaktik ein. In Wirklichkeit agieren unter der Maske pseudorevolutionärer Unversöhnlichkeit jetzt die Anhänger der passiven, abwartenden Taktik. (Trotzki: 5 Jahre Komintern, S.345-378 der russischen Ausgabe).

Könnte es nicht scheinen, diese Zeilen seien heute geschrieben, gegen Stalin-Manuilski-Thälmann-Remmele-Neumann? In Wirklichkeit wurden sie vor 10 Jahren niedergeschrieben – gegen Frossard, Cachin, Charles Rappoport, Daniel Renoult [1] und andere französische Opportunisten, die sich mit hinter ultralinken Phrasen versteckten. Waren diese Thesen – diese Frage werden wir der Stalin-Bürokratie mit zäher Beharrlichkeit stellen! – „konterrevolutionär“ schon damals, als sie die Politik des russischen Politbüros mit Lenin an der Spitze widerspiegelten und die Politik der Komintern bestimmten? Man versuche nicht zu antworten, seither hätten die Bedingungen sich geändert: es ging nicht um konjunkturelle Fragen sondern, wie im Text selbst gesagt wird, um das „Abc des Marxismus“.

Demnach erklärte die Komintern vor zehn Jahren das Wesen der Einheitsfrontpolitik so: Die Kommunistische Partei muß den Massen und ihren Organisationen in der Praxis ihren Willen beweisen, gemeinsam mit ihnen selbst für die bescheidensten Ziele zu kämpfen, wenn sie auf dem historischen Entwicklungsweg des Proletariats liegen. Die Kommunistische Partei rechnet in diesem Kampf mit dem tatsächlichen Zustand der Klasse in der aktuellen Situation; sie wendet sich nicht nur an die Massen, sondern auch an jene Organisationen, deren Führerschaft von den Massen anerkannt ist; sie konfrontiert die reformistischen Organisationen vor den Augen der Massen mit den realen Aufgaben des Klassenkampfes. Indem sie praktisch beweist, daß nicht die Spaltertätigkeit der Kommunistischen Partei, sondern die bewußte Sabotage. der sozialdemokratischen Führer den gemeinsamen Kampf untergräbt, beschleunigt die Einheitsfrontpolitik die revolutionäre Entwicklung der Klasse. Es ist vollständig klar, daß diese Gedanken in keinem Falle veralten können.

Wie ist nun der Verzicht der Komintern auf die Einheitsfront zu erklären? Durch die Mißerfolge und das Scheitern dieser Politik in der Vergangenheit! Wären diese Mißerfolge, deren Ursachen nicht in der Politik, sondern bei den Politikern liegen, rechtzeitig aufgedeckt, analysiert und studiert worden, so wäre die deutsche Kommunistische Partei strategisch und taktisch für die gegenwärtige Lage ausgezeichnet gerüstet. Doch die Stalinsche Bürokratie handelte, wie der kurzsichtige Affe in der Fabel: nachdem er die Brillengläser auf den Schweif gesetzt und vergeblich beleckt hatte, fand er sie unverwendbar und zerschlug sie an einem Stein. Sagt was Ihr wollt, die Brillengläser trifft keine Schuld.

Die Fehler in der Einheitsfrontfrage waren von zweierlei Art. In den meisten Fällen wandten sich die leitenden Organe der Kommunistischen Partei an die Reformisten mit Vorschlägen zum gemeinsamen Kampf für Losungen, die weder der Situation noch dem Bewußtsein der Massen entsprachen. Die Vorschläge hatten den Charakter von Blindschüssen. Die Massen blieben teilnahmslos, die Reformisten deuteten die Vorschläge der Kommunisten als Intrigen zur Zersetzung der Sozialdemokratie. In all diesen Fällen handelte es sich um eine rein formelle, dekorative Anwendung der Einheitsfrontpolitik, die nur auf Grund realistischer Bewertung von Situation und Massenbewußtsein fruchtbar sein kann. Durch häufige und dabei schlechte Anwendung stumpfte die Waffe der „Offenen Briefe“ ab, und man mußte auf sie verzichten.

Die zweite Art der Verdrehung war weitaus fataler. Die Einheitsfrontpolitik verwandelte sich unter der Stalinschen Führung in eine Jagd nach Bundesgenossen um den Preis des Verzichts auf die Selbständigkeit der Kommunistischen Partei. Gestützt auf Moskau meinten die Kominternbeamten im Dünkel ihrer Allmacht ernstlich, sie könnten die Klassen kommandieren, ihnen Marschrouten vorschreiben, die Agrar- und Streikbewegung in China aufhalten, das Bündnis mit Tschiang Kai-schek um den Preis des Verzichts auf die Selbständigkeit der Kommunistischen Partei erkaufen, die tradeunionistische Bürokratie, Hauptstütze des englischen Imperialismus, bei der Tafelrunde in London oder in kaukasischen Kurorten umerziehen, die kroatischen Bourgeois vom Typus Radic in Kommunisten verwandeln usw. Die Absichten waren dabei gewiß die besten: die Entwicklung zu beschleunigen, an Stelle der Massen das zu tun, was diese noch nicht begriffen hatten. Es ist nicht überflüssig, daran zu erinnern, daß in einer Reihe von Ländern, besonders in Österreich, die Kominternbeamten in der vergangenen Periode versucht haben, auf künstlichem Wege, von oben, eine „linke“ Sozialdemokratie als Brücke zum Kommunismus zu bilden. Diese Maskerade konnte ebenfalls nur scheitern. Die Ergebnisse all dieser Experimente und Abenteuer blieben unveränderlich katastrophal. die revolutionäre Bewegung wurde auf Jahre hinaus zurückgeworfen.

Da beschloß Manuilski, die Brillengläser zu zerschlagen, und Kuusinen, um künftighin nicht mehr zu irren, alles, ausgenommen sich und seine Freunde, „Sozialfaschist“ zu nennen. Nun wurde die Sache einfacher und klarer, nun konnte es keine Fehler mehr geben. Was für eine Einheitsfront kann es mit „Sozialfaschisten“ gegen Nationalfaschisten geben, oder mit „linken Sozialfaschisten“ gegen rechte? Nachdem sie so über unseren Häuptern eine Wendung um 180 Grad beschrieben hatte, war die Stalin-Bürokratie gezwungen, die Beschlüsse der ersten vier Kongresse für konterrevolutionär zu erklären.


Anmerkung

1. Louis-Olivier Frossard (1889-1946): führendes Mitglied der französischen sozialistischen Partei (SFIO); Sekretär der Kommunistischen Partei Frankreichs ab 1920; zurück in die SFIO 1922; 1935 aus der SFIO ausgetreten; wurde 1935 Arbeitsminister; Mitglied der Volksfrontregierung und dann der Pétain-Regierung nach der Eroberung Frankreichs durch Hitler. – Marcel Cachin (1869-1958): während des Ersten Weltkriegs Sozialpatriot; unter dem Einfluß der Russischen Revolution bewegte sich nach links; trat der KPF 1920 bei; wurde Stalinist; Redakteur von l’Humanité, der Tageszeitung der KPF bis zu seinem Tod. – Charles Rapaport (1865-1939): russischer Revolutionär; ging nach Frankreich; wurde führendes Mitglied der KPF; verließ die Partei während der 1930er Jahre; gab den Marxismus auf. – Daniel Renoult:

 


Zuletzt aktualiziert am 22.7.2008