Leo Trotzki

 

Was Nun?


VIII. Durch Einheitsfront zu den Sowjets als höchsten Organen der Einheitsfront

Wortverneigungen vor den Sowjets sind in „linken“ Kreisen ebenso verbreitet wie das Nichtbegreifen ihrer historischen Funktion. Die Sowjets werden am häufigsten als Organe des Machtkampfes definiert, als Aufstandsorgane, schließlich als Organe der Diktatur. Diese Definitionen sind formal richtig. Doch erschöpfen sie durchaus nicht die historische Funktion der Sowjets. Sie erklären vor allem nicht, warum für den Machtkampf gerade Sowjets nötig sind. Die Antwort auf diese Frage lautet: Wie die Gewerkschaften Elementarform der Einheitsfront im wirtschaftlichen Kampf sind, so ist der Sowjet die höchste Form der Einheitsfront in der Phase des proletarischen Kampfes um die Macht.

Im Sowjet stecken an sich keine wunderbaren Kräfte. Er ist lediglich die Klassenvertretung des Proletariats mit all seinen starken und schwachen Seiten. Doch gerade dadurch und nur dadurch schafft der Sowjet die organisatorische Möglichkeit für die Arbeiter verschiedener politischer Richtungen, verschiedener Entwicklungsstufen, ihre Anstrengungen im revolutionären Machtkampf zu vereinigen. In der gegenwärtigen vorrevolutionären Situation müssen die fortgeschrittenen Arbeiter Deutschlands mit besonderer Klarheit die historische Funktion der Sowjets als Einheitsfrontorgane durchdenken.

Würde es der Kommunistischen Partei glücken, in der vorbereitenden Periode alle übrigen Parteien aus den Reihen der Arbeiter zu verdrängen, die überwältigende Mehrheit der Arbeiter unter ihrem Banner politisch wie organisatorisch zu vereinigen, so bestünde keinerlei Bedarf an Sowjets. Wie aber die historische Erfahrung zeigt, besteht kein Grund zu der Annahme, daß es in irgendeinem Lande – in den Ländern mit alter kapitalistischer Kultur noch weniger als in den rückständigen – gelingt, vor dem proletarischen Umsturz eine so unbestrittene und unbedingt beherrschende Stellung in den Reihen der Arbeiter einzunehmen.

Gerade das heutige Deutschland zeigt uns, daß sich die Aufgabe des direkten und unmittelbaren Kampfes um die Macht dem Proletariat stellt, lange ehe es vollständig unter dem Banner der Kommunistischen Partei vereinigt ist. Die revolutionäre Situation besteht auf politischer Ebene eben darin, daß alle Gruppierungen und Schichten des Proletariats, zumindest ihre erdrückende Mehrheit, vom Streben nach Vereinigung ihrer Anstrengungen zum Wechsel des bestehenden Regimes erfaßt werden. Das bedeutet indes nicht, daß sie alle begreifen, wie das zu machen ist, und noch weniger, daß sie alle bereit sind, heute schon mit ihren Parteien zu brechen und in die Reihen des Kommunismus überzugehen. Nein, so planmäßig und gesetzmäßig reift das politische Bewußtsein der Klasse nicht, tiefe innere Unterschiede bleiben auch während der revolutionären Epoche bestehen, wo sich alle Prozesse sprunghaft vollziehen. Gleichzeitig aber wird das Bedürfnis nach einer überparteilichen, die ganze Klasse umfassenden Organisation besonders akut. Diesem Bedürfnis eine Form zu geben – das ist die historische Bestimmung der Sowjets. Das ist ihre große Aufgabe. Unter den Bedingungen der revolutionären Situation bilden sie den höchsten organisatorischen Ausdruck der proletarischen Einheit. Wer das nicht begriffen hat, hat in der Frage der Sowjets nichts begriffen. Thälmann, Neumann, Remmele können noch so viel Reden halten und Artikel schreiben über das künftige „Sowjetdeutschland“ durch ihre heutige Politik sabotieren sie das Entstehen von Sowjets in Deutschland.

Fern von den Ereignissen, ohne unmittelbare Eindrücke von den Massen, ohne die Möglichkeit, täglich die Hand an den Puls der Arbeiterklasse zu legen, ist es schwer, die Übergangsformen vorauszusehen, die in Deutschland zur Schaffung von Sowjets führen werden. In einem anderen Zusammenhang habe ich die Vermutung ausgesprochen, erweiterte Betriebsräte könnten zu Sowjets werden; ich habe mich dabei hauptsächlich auf die Erfahrung von 1923 gestützt. Das ist aber natürlich nicht der einzige Weg. Unter dem Druck von Arbeitslosigkeit und Elend einerseits, dem Vordringen der Faschisten andererseits, kann sich das Bedürfnis nach revolutionärer Einheit mit einem Schlage in Form von Sowjets äußern, so daß die Betriebsräte übergangen werden. Auf welchem Wege indes die Sowjets auch entstehen werden, sie können nichts anderes sein als der organisatorische Ausdruck der starken und schwachen Seiten des Proletariats, seiner inneren Differenzierung und des allgemeinen Strebens nach deren Überwindung, kurz: Organe der Einheitsfront der Klasse.

Sozialdemokratie und Kommunistische Partei teilen sich in Deutschland den Einfluß auf die Mehrheit der Arbeiterklasse. Die Sozialdemokratie tut ihr Möglichstes, die Arbeiter von sich abzustoßen. Die Kommunistische Parteiführung wirkt mit allen Kräften dem Zustrom der Arbeiter entgegen. Als Resultat ergibt sich die Entstehung einer dritten Partei bei verhältnismäßig langsamer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Kommunisten. Doch selbst bei der richtigsten Politik der Kommunistischen Partei würde das Bedürfnis der Arbeiter nach revolutionärer Einigung der Klasse unvergleichlich schneller wachsen als das Übergewicht der Kommunistischen Partei innerhalb der Klasse. Die Notwendigkeit der Schaffung von Sowjets bliebe somit in vollem Umfang bestehen.

Die Schaffung von Sowjets setzt die Übereinkunft der verschiedenen Parteien und Organisationen des Proletariats, angefangen beim Betrieb, voraus, sowohl was die Notwendigkeit der Sowjets anbelangt, als auch hinsichtlich Zeitpunkt und Art ihrer Bildung. Das heißt: stellen die Sowjets die höchste Form der Einheitsfront in der revolutionären Periode dar, so muß ihrer Entstehung die Einheitsfrontpolitik in der vorbereitenden Epoche vorausgehen.

Muß man abermals daran erinnern, daß 1917 sechs Monate lang die Sowjets in Rußland eine versöhnlerische Mehrheit hatten? Die Bolschewistische Partei hielt, ohne auch nur eine Stunde auf ihre revolutionäre Selbständigkeit als Partei zu verzichten, gleichzeitig im Rahmen der Sowjettätigkeit der Mehrheit gegenüber organisatorische Disziplin ein. Kein Zweifel, daß in Deutschland die Kommunistische Partei schon am Tage der Aufstellung des ersten Sowjets in ihm einen weitaus bedeutenderen Platz einnehmen wird, als ihn die Bolschewiki in den Märzsowjets von 19I7 einnahmen. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß die Kommunisten sehr bald schon in den Sowjets die Mehrheit erlangen würden. Das würde den Sowjets keineswegs ihre Bedeutung als Instrumente der Einheitsfront nehmen, denn die Minderheit – Sozialdemokraten, Parteilose, katholische Arbeiter usw. – würde in der ersten Zeit immerhin nach Millionen zählen, und beim Versuch, eine solche Minderheit zu überspringen, kann man sich in der revolutionären Situation leicht das Genick brechen. Aber all das ist Zukunftsmusik. Heute ist die Kommunistische Partei in der Minderheit. Davon muß man ausgehen.

Das Gesagte bedeutet natürlich nicht, daß der Weg zu den Sowjets unbedingt über ein vorheriges Abkommen mit Wels, Hilferding, Breitscheid usw. führt. Hat im Jahre 1918 Hilferding darüber nachgesonnen, wie man die Sowjets in die Weimarer Verfassung einbeziehen könnte, ohne ihr zu nahe zu treten, so zerbricht er sich gegenwärtig vermutlich den Kopf an dem Problem, wie die faschistischen Kasernen sich ohne Schaden für die Sozialdemokratie in die Weimarer Verfassung eingliedern lassen ...

An die Schaffung von Sowjets muß man in dem Augenblick herangehen, wo der allgemeine Zustand des Proletariats ihre Verwirklichung gestattet, auch gegen den Willen der sozialdemokratischen Spitze. Dazu muß man aber die sozialdemokratische Basis von ihrer Spitze losreißen, und das ist nicht zu erreichen, wenn man so tut, als wäre es schon erreicht. Gerade um die Millionen sozialdemokratischer Arbeiter von ihren reaktionären Führern zu trennen, muß man diesen Arbeitern zeigen, daß wir bereit sind, sogar mit diesen „Führern“ in die Sowjets zu gehen.

Man kann keineswegs von vornherein ausschließen, daß sich selbst die oberste Schicht der Sozialdemokratie wieder auf die glühende Herdplatte der Sowjets wird stellen müssen, um eine Wiederholung des Manövers von Ebert, Scheidemann, Haase [1] usw. aus dem Jahre 1918-19 zu versuchen; das wird nicht so sehr vom schlechten Willen dieser Herren abhängen als davon, in welchem Maße und unter welchen Bedingungen die Geschichte sie in ihren Schraubstock zwingen wird.

Das Entstehen des ersten großen Lokalsowjets, in dem kommunistische und sozialdemokratische Arbeiter nicht als Einzelpersonen, sondern als Organisationen vertreten wären, würde eine gewaltige Wirkung auf die gesamte deutsche Arbeiterklasse ausüben. Nicht nur die sozialdemokratischen und parteilosen Arbeiter, sondern auch die katholischen und liberalen wären außerstande, lange der davon ausgehenden zentripetalen Kraft zu widerstehen. Alle Teile des deutschen Proletariats, das zur Organisation am meisten befähigt und am meisten geneigt ist, würden wie Eisensplitter zum Magnetblock, zu den Sowjets streben. In den Sowjets hätte die Kommunistische Partei eine neue, außerordentlich günstige Arena für den Kampf um die Führerrolle in der proletarischen Revolution. Man kann ohne weiteres annehmen, daß die überwältigende Mehrheit der sozialdemokratischen Arbeiter und sogar bedeutende Teile des sozialdemokratischen Apparats heute schon in den Rahmen der Sowjets einbezogen wären, wenn die kommunistische Parteileitung den sozialdemokratischen Führern nicht so eifrig dabei geholfen hätte, den Druck der Massen zu paralysieren.

Wenn die Kommunistische Partei Abkommen mit Betriebsräten, sozialdemokratischen Organisationen, Gewerkschaften usw. auf Grund eines Programms bestimmter praktischer Aufgaben für unzulässig hält, so bedeutet das nichts anderes, als daß sie die Schaffung von Sowjets gemeinsam mit der Sozialdemokratie für unzulässig hält. Da es aber rein kommunistische Sowjets nicht geben kann, sie auch niemandem und zu nichts nutze wären, bedeutet der Verzicht der Kommunistischen Partei auf Vereinbarungen und gemeinsame Aktionen mit den übrigen Parteien der Arbeiterklasse nichts anderes als den Verzicht auf die Schaffung von Sowjets.

Die Rote Fahne wird wahrscheinlich diese Darlegung mit einer Schimpfkanonade beantworten und wie zwei mal zwei gleich vier nachweisen, ich sei Brünings auserwählter Agent und der geheime Berater von Wels. Ich bin bereit, für all diese Titel die Verantwortung zu tragen, unter der Bedingung, daß Die Rote Fahne ihrerseits den deutschen Arbeitern erklärt, wie, wann und in welcher Form in Deutschland Sowjets ohne Einheitsfrontpolitik gegenüber den übrigen Arbeiterorganisationen geschaffen werden können.

Zur Erhellung des Problems der Sowjets als Einheitsfrontorgane sind die Erwägungen äußerst lehrreich, die eines der kommunistischen Provinzblätter, Der Klassenkampf (Halle-Merseburg), diesem Thema widmet: „Alle Arbeiterorganisationen“, ironisiert das Blatt, „so wie sie sind, mit allen ihren Fehlern und Schwächen, sollen in großen antifaschistischen Abwehrkartellen zusammengefaßt werden. Was heißt das? Wir können uns lange theoretische Auseinandersetzungen darüber ersparen, die Geschichte selbst ist in dieser Frage die harte Lehrmeisterin der deutschen Arbeiterklasse gewesen: die verschwommene, breiige Einheitsfront aller Arbeiterorganisationen hat der deutschen Arbeiterklasse die verlorene Revolution von 1918-19 gekostet.“ Ein wahrhaft unübertreffliches Muster oberflächlichen Geschwafels!

Die Einheitsfront war 1918-19 hauptsächlich durch die Sowjets zustandegekommen. Mußten die Spartakisten den Sowjets beitreten oder nicht? Das erwähnte Zitat besagt, daß sie außerhalb der Sowjets hätten bleiben sollen. Da aber die Spartakisten die verschwindende Minderheit der Arbeiterklasse darstellten und die sozialdemokratischen Sowjets keineswegs durch eigene zu ersetzen vermochten, hätte die Isolierung von den Sowjets einfach ihre Isolierung von der Revolution bedeutet. Wenn die Einheitsfront „verschwommen und breiig“ aussah, so lag die Schuld nicht an den Sowjets als Einheitsfrontorganen, sondern am politischen Zustand der Arbeiterklasse selbst, an der Schwächen des Spartakusbundes und an der außerordentlichen Stärke der Sozialdemokratie. Die Einheitsfront kann überhaupt keine starke revolutionäre Partei ersetzen, sie kann ihr nur helfen, stärker zu werden. Das gleiche gilt auch für die Sowjets. Die Situation zu verpassen, trieb ihn zu ultralinken Schritten und zu vorzeitigem Auftreten. Wären die Spartakisten außerhalb der Einheitsfront, d.h. der Sowjets geblieben, so würden sich diese negativen Züge noch krasser gezeigt haben.

Haben diese Leute denn überhaupt nichts aus der Erfahrung der deutschen Revolution von 1918-19 gelernt? Haben sie überhaupt Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus gelesen? Wahrlich, das stalinistische Regime hat furchtbare Verwüstungen in den Köpfen angerichtet! Nachdem sie die Sowjets der UdSSR bürokratisiert haben, verhalten sich die Epigonen zu ihnen wie zu einem bloßen technischen Werkzeug in den Händen des Parteiapparats. Vergessen ist, daß die Sowjets als Arbeiterparlamente geschaffen wurden und die Massen dadurch an sich zogen, daß sie ihnen die Möglichkeit erschlossen, alle Teile der Arbeiterklasse unabhängig von Parteiunterschieden Seite an Seite zu versammeln; vergessen ist, daß gerade darin die ungeheure erzieherische und revolutionäre Gewalt der Sowjets lag. Alles ist vergessen, alles verwirrt, alles verfälscht. O dreimal vermaledeites Epigonentum!

Die Frage der Beziehungen zwischen Partei und Sowjets ist für die revolutionäre Politik von entscheidender Bedeutung. Ist der heutige Kurs der Kommunistischen Partei faktisch darauf gerichtet, die Sowjets durch die Partei zu ersetzen, so schickt Urbahns, der keine Gelegenheit verpaßt, Verwirrung zu stiften, sich an, die Partei durch die Sowjets zu ersetzen. Nach dem Bericht der SAZ sagte Urbahns auf einer Berliner Versammlung im Januar – gegen den Anspruch der Kommunistischen Partei auf Führung der Arbeiterklasse gerichtet – folgendes: „Die Führung wird in den Händen der Räte liegen, die gewählt werden von der Masse selbst, nicht nach Wunsch oder Belieben einer einzelnen Partei! (Stürmischer Beifall.)“ Daß die Kommunistische Partei mit ihrem Ultimatismus die Arbeiter reizt, die geneigt sind, jedem Protest gegen die bürokratische Hoffart Beifall zu spenden, ist begreiflich. Dies ändert aber nichts daran, daß Urbahns Stellung auch in dieser Frage nichts mit Marxismus gemein hat. Daß die Arbeiter „selbst“ die Sowjets wählen werden ist unbestreitbar. Doch das Problem liegt darin, wen sie wählen werden. Wir müssen in die Sowjets gehen, gemeinsam mit allen übrigen Organisationen, so wie sie sind, „mit allen ihren Fehlern und Schwächen“. Aber zu glauben, die Sowjets könnten „selber „ den Kampf des Proletariats um die Macht leiten, heißt groben Sowjetfetischismus säen. Alles hängt von der Partei ab, die den Sowjet führt. Deshalb sprechen im Gegensatz zu Urbahns die Bolschewiki-Leninisten der Partei durchaus nicht das Recht auf Führerschaft der Sowjets ab; sie sagen im Gegenteil: nur auf Grund der Einheitsfront, nur mittels der Massenorganisationen wird die Kommunistische Partei die Führungsstellung in den künftigen Sowjets erobern können und das Proletariat zur Machteroberung führen.


Anmerkung

1. Friedrich Ebert (1871-1925): rechter Führer der SPD während des Ersten Weltkriegs; wollte konstitutionelle Monarchie, wurde aber erster Regierungschef der Deutschen Republik November 1918; später erster Präsident; einer der Verantwortlichen für die Vereinbarung zwischen der SPD und der Oberen Heeresleitung, die zur Niederschlagung der Spartakisten und der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht führte. – Philip Scheidemann (1865-1937): führender rechter Sozialdemokrat; Unterstützter des Ersten Weltkriegs; erklärte die Republik während der Revolution 1918, um die Spartakisten daran zu hindern, eine sozialistische Republik zu erklären; im Exil nach 1933. – Hugo Haase (1863-1919) sozialdemokratischer Abgeordneter; führte eine zentristische Minderheit während des Ersten Weltkriegs; Gründer der USPD 1917; ermordet 1919.

 


Zuletzt aktualiziert am 22.7.2008