Leo Trotzki

 

Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus

Eine historisch-theoretische Untersuchung

 

Domène, 1. Februar 1935

Die Stalin-Bürokratie hat auf den beiden Kanälen ihrer Außenpolitik, auf dem Hauptkanal der Diplomatie und dem Hilfskanal der Komintern, eine scharfe Wendung vollzogen – in Richtung auf den Völkerbund, den Status quo, auf ein Bündnis mit den Reformisten und der bürgerlichen Demokratie. In der Innenpolitik gab es gleichzeitig eine Wendung zum Markt und zum „wohlhabenden Kolchosbauern“. Die neuerliche Zerschlagung oppositioneller und halboppositioneller Gruppen und alter irgendwie kritischen Elemente und die neue Massensäuberung der Partei sollen Stalin die Hände für den Rechtskurs freimachen. Im Grunde geht es um die Rückkehr zu dem alten organischen Kurs (das Setzen auf den Kulaken, das Bündnis mit der Kuomintang, das Anglo-Russische Komitee, [1] usw.), aber in viel größerem Maßstab und unter ungleich schwierigeren Bedingungen. Wohin führt dieser Kurs? Man spricht wieder vom „Thermidor“. Leider hat der Begriff sich abgenutzt, verlor seinen konkreten Inhalt und genügt weder zur Charakterisierung der Etappe, die die Stalin-Bürokratie durchläuft, noch der Katastrophe, die sie vorbereitet. Wir müssen uns vor allem über unsere Terminologie verständigen.

 

 

Der frühere Streit um den „Thermidor“

Die Frage des „Thermidors“ ist eng mit der Geschichte der Linken Opposition in der UdSSR verbunden. Heute wäre es keine leichte Aufgabe festzustellen, wer sich zuerst der geschichtlichen Analogie des Thermidors bediente. [2] 1926 sahen die Positionen jedenfalls ungefähr so aus: Die Gruppe „Demokratischer Zentralismus“ (W.M. Smirnow, Sapronow [3] u.a., die Stalin in der Verbannung zu Tode gequält hat [4]) behauptete: „Der Thermidor ist eine vollendete Tatsache!“ Die Anhänger der Plattform der Linken Opposition, die Bolschewiki-Leninisten, verwarfen diese Behauptung kategorisch. Deswegen gab es sogar eine Spaltung. [5] Wer hat Recht behalten? Um diese Frage zu beantworten, muß man genau bestimmen, was beide Gruppen eigentlich unter „Thermidor“ verstanden: Geschichtliche Analogien lassen sich verschiedenartig interpretieren und daher auch mißbrauchen.

Der verstorbene W.M. Smirnow – einer der hervorragendsten Vertreter des alten bolschewistischen Typs – war der Meinung, die Verzögerung der Industrialisierung, das Erstarken des Kulaken und des NEP-Manns (des neuen Bourgeois), deren Verfilzung mit der Bürokratie, und schließlich die Entartung der Partei seien so weit gediehen, daß eine Rückkehr auf sozialistische Geleise ohne neue Revolution nicht möglich sei. Das Proletariat habe die Macht bereits verloren. Nach der Zerschlagung der Linken Opposition drücke die Bürokratie die Interessen des wiedererstehenden bürgerlichen Regimes aus. Die Haupterrungenschaften der Oktoberrevolution seien liquidiert. Das war in den Grundzügen die Position der Gruppe „Demokratischer Zentralismus“.

Die Linke Opposition wandte dagegen ein, zweifellos seien Elemente der Doppelherrschaft im Lande entstanden, der Übergang von diesem Stadium zur Herrschaft der Bourgeoisie sei aber nur durch eine Konterrevolution möglich. Die Bürokratie sei zwar mit dem NEP-Mann und dem Kulaken liiert, habe aber ihre Hauptwurzeln noch immer in der Arbeiterklasse. Zweifellos schleppe die Bürokratie im Kampf gegen die Linke Opposition einen schweren Schwanz von NEP-Leuten und Kulaken hinter sich her. Morgen aber werde dieser Schwanz auf das Haupt, d.h. die herrschende Bürokratie, niedersausen. Neue Spaltungen in den Reihen der Bürokratie seien unvermeidlich. Angesichts der Gefahr einer offen konterrevolutionären Umwälzung werde der entscheidende Kern der zentristischen Bürokratie sich gegen die anwachsende Bauern-Bourgeoisie auf die Arbeiter stützen. Der Ausgang des Konflikts sei noch längst nicht entschieden. Es sei noch zu früh, die Oktoberrevolution zu Grabe zu tragen. Die Zerschlagung der Linken Opposition erleichtere das Werk des Thermidors. Noch aber sei er nicht realisiert.

Es genügt, den Gehalt der Debatten der Jahre 1926-1927 genau wiederzugeben, um im Lichte der weiteren Entwicklung die Richtigkeit der Position der Bolschewiki-Leninisten deutlich hervortreten zu lassen. Schon 1927 stießen die Kulaken gegen die Bürokratie vor, indem sie sich weigerten, das Getreide, das sie in ihren Händen hatten ansammeln können, abzuliefern. 1928 kam es zu einer offenen Spaltung der Bürokratie. Die Rechten waren für neue Zugeständnisse gegenüber den Kulaken. Das Zentrum rüstete sich mit den Ideen der Linken Opposition, die es gemeinsam mit den Rechten zertrümmert hatte, fand Unterstützung bei den Arbeitern, schlug die Rechten, beschritt den Weg der Industrialisierung, dann den der Kollektivierung. Um den Preis zahlloser unnötiger Opfer wurden die grundlegenden sozialen Errungenschaften der Oktoberrevolution schließlich doch gerettet.

Die Prognose der Bolschewiki-Leninisten (genauer: die „günstigste Variante“ ihrer Prognose) wurde vollauf bestätigt. Darüber kann es heute keinen Streit mehr geben. Die Entwicklung der Produktivkräfte vollzog sich nicht auf dem Weg der Restauration des Privateigentums, sondern auf der Basis der Sozialisierung mittels planmäßiger Wirtschaftsleitung. Die weltgeschichtliche Bedeutung dieser Tatsache kann nur politisch Blinden verborgen bleiben.

 

 

Die wirkliche Bedeutung des Thermidors

Dennoch kann und muß man jetzt zugeben, daß die Thermidor-Analogie mehr zur Verdunkelung als zur Aufklärung der Frage beigetragen hat. Der Thermidor des Jahres 1794 bewirkte eine Verschiebung der Macht von bestimmten Gruppen des Konvents auf andere, von bestimmten Schichten des siegreichen „Volks“ auf andere. War der Thermidor eine Konterrevolution? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie wir den Begriff „Konterrevolution“ fassen. Die soziale Umwälzung der Jahre 1789-1793 trug bürgerlichen Charakter. Im wesentlichen ging es dabei um die Ersetzung des gebundenen feudalen Eigentums durch das „freie“ bürgerliche Eigentum. Eine dieser Revolution „entsprechende“ Konterrevolution hatte das feudale Eigentum wiederherstellen müssen. Doch der Thermidor war nicht einmal ein Versuch in dieser Richtung. Robespierre wollte sich auf die Handwerker stützen, das Direktorium auf das mittlere Bürgertum. Bonaparte verbündete sich mit den Banken. [6] Alle diese Verschiebungen, die freilich nicht nur von politischer, sondern auch von sozialer Bedeutung waren, vollzogen sich jedoch auf der Grundlage der neuen bürgerlichen Gesellschaft und des neuen bürgerlichen Staates.

 

 

Der Thermidor war ein Akt der Reaktion auf dem gesellschaftlichen Fundament der Revolution

Bonapartes 18. Brumaire, die nächste wichtige Etappe auf dem Weg der Reaktion, hatte die gleiche Bedeutung. In beiden Fallen ging es nicht um die Wiederherstellung der alten Eigentumsformen oder der Macht der früher herrschenden Stände, sondern um die Verteilung der Vorteile des neuen gesellschaftlichen Regimes unter verschiedene Gruppen des siegreichen „Dritten Standes“. Die Bourgeoisie eignete sich immer mehr Eigentum und Macht an (entweder direkt und sofort, oder durch besondere Agenten wie Bonaparte), tastete aber die sozialen Errungenschaften der Revolution keineswegs an, versuchte vielmehr, sie sorgsam zu festigen, zu ordnen und zu stabilisieren. Napoleon schützte das bürgerliche Eigenturn, einschließlich des bäuerlichen, sowohl vor dem „Pöbel“ als auch vor den Ansprüchen der expropriierten Eigentümer. Das feudale Europa haßte Napoleon als die lebendige Verkörperung der Revolution und hatte damit auf seine Weise recht.

 

 

Die marxistische Einschätzung der UdSSR

Die heutige UdSSR ähnelt zweifellos sehr wenig jenem Typus von Sowjetrepublik, wie Lenin ihn im Jahre 1917 entworfen hat (Fehlen einer ständigen Bürokratie und einer stehenden Armee, jederzeitige Abwählbarkeit aller gewählten Delegierten, aktive Massenkontrolle „ohne Ansehen der Person“ usw.). [7] Die Herrschaft der Bürokratie über das Land und Stalins Herrschaft über die Bürokratie sind fast vollkommen. Doch was folgt daraus? Manche sagen: Da der reale, aus der proletarischen Revolution hervorgegangene Staat den idealen, a priori aufgestellten Normen nicht entspricht, kehre ich ihm den Rücken. Das ist politischer Snobismus, gang und gäbe in pazifistisch-demokratischen, libertären, anarchosyndikalistischen und generell in ultralinken Kreisen der kleinbürgerlichen Intelligenz. Andere sagen: Da dieser Staat aus der proletarischen Revolution hervorgegangen ist, ist jede Kritik daran ein Sakrileg und konterrevolutionär. Das ist die Stimme der Scheinheiligkeit, hinter der sich meist unmittelbare materielle Interessen bestimmter Gruppen der gleichen kleinbürgerlichen Intelligenz oder der Arbeiterbürokratie verbergen. Diese beiden Typen – der politische Snob und der politische Heuchler – sind leicht gegeneinander austauschbar, je nach den persönlichen Umständen. Lassen wir beide links liegen.

Der Marxist sagt: Die heutige UdSSR entspricht offensichtlich nicht den a priori aufgestellten Normen eines Rätestaats; erforschen wir, was wir nicht vorausgesehen haben, als wir die programmatischen Normen ausarbeiteten; erforschen wir außerdem, welche gesellschaftlichen Faktoren den Arbeiterstaat deformiert haben; prüfen wir schließlich, ob diese Deformationen auch die wirtschaftlichen Grundlagen des Staats betreffen, d.h. ob die wesentlichen sozialen Errungenschaften der proletarischen Revolution erhalten geblieben sind. Ist das der Fall, in welcher Richtung andern sie sich? Gibt es in der UdSSR und in der Weltarena Faktoren, die das Übergewicht der fortschrittlichen Entwicklungstendenzen über die reaktionären fördern und beschleunigen können? ein solches Vorgehen ist kompliziert. Es bietet keine fertige Antwort auf alle Fragen, wie träge Geister das lieben. Dafür bewahrt es uns nicht nur vor den beiden Plagen des Snobismus und der Scheinheiligkeit, sondern erschließt auch die Möglichkeit, aktiv auf das Schicksal der UdSSR Einfluß zu nehmen.

Als die Gruppe „Demokratischer Zentralismus“ 1926 den Arbeiterstaat für liquidiert erklärte, beerdigte sie offensichtlich die noch lebende Revolution. Die Linke Opposition hingegen arbeitete ein Reformprogramm für das Sowjetregime aus. Die Stalin-Bürokratie zerschlug die Linke Opposition, um sich als privilegierte Raste zu behaupten und zu festigen. Doch im Kampf um ihre Position sah sie sich gezwungen, der Plattform der Linken Opposition all jene Maßregeln zu entnehmen, die es ihr möglich machten, die gesellschaftlichen Grundlagen des Sowjetstaats zu retten. Das ist eine unschätzbare politische Lehre: Bestimmte geschichtliche Bedingungen – die Rückständigkeit der Bauernschaft, die Erschöpfung des Proletariats, das Fehlen entscheidender Unterstützung im Westen – haben ein „zweites Kapitel“ der Revolution vorbereitet, das durch die Unterdrückung der proletarischen Avantgarde und die Zerschlagung der revolutionären Internationalisten durch eine konservative, nationale Bürokratie gekennzeichnet ist. Dasselbe Beispiel zeigt aber, daß eine richtige politische Linie es einer marxistischen Gruppe ermöglicht, die Entwicklung zu befruchten, auch wenn die Sieger des „zweiten Kapitels“ die Revolutionäre des „ersten Kapitels“ unterdrücken.

Eine oberflächliche, idealistische Denkweise, die mit fix und fertigen Normen arbeitet und ihnen die lebendige Entwicklung mechanisch anpaßt, führt leicht von Begeisterung zu Niedergeschlagenheit. Nur der dialektische Materialismus, der lehrt, alles Bestehende in seiner Entwicklung und im Widerstreit seiner inneren Kräfte zu verstehen, verleiht dem Denken und der Tat die nötige Konsistenz. [8]

 

 

Diktatur des Proletariats und Diktatur der Bürokratie

In einer Reihe von früheren Arbeiten haben wir festgestellt, daß die Sowjetgesellschaft trotz der durch die Nationalisierung der Produktionsmittel ermöglichten Wirtschaftserfolge durchaus ihren widersprüchlichen Übergangscharakter bewahrt hat und – hinsichtlich der Lage der Arbeiter, der Ungleichheit der Lebensbedingungen und der Privilegien der Bürokratie – dem kapitalistischen Regime noch immer viel näher steht als dem künftigen Kommunismus.

Gleichzeitig haben wir festgestellt, daß der Sowjetstaat trotz der ungeheuerlichen bürokratischen Entartung noch immer ein geschichtliches Werkzeug der Arbeiterklasse bleibt, insofern er die Entwicklung von Wirtschaft und Kultur auf der Grundlage der nationalisierten Produktionsmittel sichert und dadurch die Voraussetzungen für eine wirkliche Emanzipation der Arbeiter durch die Beseitigung der Bürokratie und der sozialen Ungleichheit vorbereitet.

Wer diese beiden Grundthesen gründlich durchdacht und sich zu eigen gemacht hat, wer überhaupt die Literatur der Bolschewiki-Leninisten zur Frage der UdSSR seit 1923 nicht studiert hat, läuft Gefahr, bei jedem neuen Ereignis die Orientierung zu verlieren und die marxistische Analyse durch klägliches Wehgeschrei zu ersetzen.

Der Sowjet- (richtiger wäre: Antisowjet-) Bürokratismus ist das Produkt der gesellschaftlichen Widersprüche zwischen Stadt und Land, zwischen Proletariat und Bauernschaft (diese beiden Widerspruchspaare sind nicht identisch), zwischen den nationalen Republiken und ihren Distrikten, zwischen den verschiedenen Gruppen der Bauernschaft, zwischen den verschiedenen Gruppen des Proletariats, zwischen den verschiedenen Verbrauchergruppen und schließlich zwischen dem Sowjetstaat insgesamt und seiner kapitalistischen Umgebung. Gegenwärtig treten die wirtschaftlichen Widersprüche durch ihre Übersetzung in die Sprache der Geldwirtschaft besonders drastisch hervor.

Die Bürokratie reguliert diese Widersprüche, indem sie sich über die arbeitenden Massen erhebt. Sie nützt ihre Funktion zur Festigung der eigenen Herrschaft aus. Durch ihre unkontrollierte, willkürliche, keinen Einspruch duldende Führung häuft sie neue Widersprüche an. Indem sie sich diese zunutze macht, errichtet sie ein Regime des bürokratischen Absolutismus.

Die Widersprüche innerhalb der Bürokratie selbst haben zur Auslese eines kommandierenden Ordens [9] geführt; die Notwendigkeit der Disziplin innerhalb dieses Ordens hat zur Herrschaft einer einzelnen Person und zum Kult um den unfehlbaren Führer geführt. Im Betrieb, im Kolchos, auf der Universität, in der Regierung, überall herrscht cm und dasselbe System vor: Der Führer und sein treues Gefolge – alle anderen folgen dem Führer. Stalin war nie Massenführer und konnte seiner Natur nach nie Massenführer sein; er ist der Führer der bürokratischen „Führer“, ihre Krönung, ihre Personifizierung.

Je komplizierter die Wirtschaftsaufgaben und je größer die Forderungen und Ansprüche der Bevölkerung werden, desto akuter werden auch die Widersprüche zwischen dem bürokratischen Regime und den Erfordernissen der sozialistischen Entwicklung, und desto brutaler kämpft die Bürokratie um die Erhaltung ihrer Positionen, desto zynischer greift sie zu Gewalt, Betrug und Bestechung.

Die alarmierende Tatsache, daß das politische Regime sich trotz des Wachstums von Wirtschaft und Kultur fortlaufend verschlechtert, ist einzig und allein damit zu erklären, daß Kontrolle, Verfolgung und Unterdrückung heute in weitem Maße nicht der Verteidigung des Staates dienen, sondern dem Schutz der Macht und der Privilegien der Bürokratie. Darum wird es auch immer dringlicher, die Repression durch Fälschungen und Amalgame zu maskieren.

„Kann man aber einen solchen Staat noch als Arbeiterstaat bezeichnen?“, ertönt die empörte Stimme der Moralisten, Idealisten und „revolutionären“ Snobs. Die Vorsichtigeren erwidern: „Vielleicht ist es letzten Endes doch ein Arbeiterstaat, aber von der Diktatur des Proletariats ist keine Spur mehr übrig. Das ist ein entarteter Arbeiterstaat unter der Diktatur der Bürokratie.“

Es ist nicht nötig, noch einmal auf diesen Argumentationszusammenhang zurückzukommen. Alles, was dazu zu sagen ist, ist in den Schriften unserer Tendenz und in ihren offiziellen Dokumenten gesagt worden. Niemand hat versucht, den Standpunkt der Bolschewiki-Leninisten in dieser äußerst wichtigen Frage zu widerlegen, richtigzustellen oder zu ergänzen.

Wir beschränken uns hier lediglich auf die Frage, oh die faktische Diktatur der Bürokratie als Diktatur des Proletariats bezeichnet werden kann.

Die terminologische Schwierigkeit resultiert daraus, daß das Wort Diktatur bald im engen politischen, bald im weiteren, soziologischen Sinn gebraucht wird. Wir sprechen von der „Mussolini-Diktatur“ und erklären gleichzeitig, daß der Faschismus nur ein Werkzeug des Finanzkapitals ist. Was ist richtig? Eines wie das andere, aber auf verschiedenen Ebenen. Es läßt sich nicht bestreiten, daß die gesamte Verfügungsmacht in Mussolinis Händen konzentriert ist. Doch es ist ebenso wahr, daß der gesamte reale Inhalt der Regierungstätigkeit von den Interessen des Finanzkapitals diktiert ist. Die soziale Herrschaft einer Klasse (ihre „Diktatur“). kann äußerst verschiedene politische Formen annehmen. Das bezeugt die gesamte Geschichte der Bourgeoisie vom Mittelalter bis auf den heutigen Tag.

Die Erfahrung der Sowjetunion reicht schon aus, um – mit allen erforderlichen Änderungen – dasselbe soziologische Gesetz auch auf die Diktatur des Proletariats auszudehnen. Von der Machteroberung bis zur Auflosung des Arbeiterstaats in der sozialistischen Gesellschaft können sich die Formen und Methoden der proletarischen Herrschaft einschneidend andern, je nach dem Verlauf des inneren und äußeren Klassenkampfes.

So erinnert Stalins heutige Kommandoführung in keiner Weise an die Sowjetmacht der ersten Revolutionsjahre. Die Ablösung des einen Regimes durch das andere ist nicht mit einem Schlage vor sich gegangen, sondern in Etappen, mit Hilfe einer Reihe von kleinen Bürgerkriegen der Bürokratie gegen die proletarische Avantgarde. Historisch gesehen, wurde die Sowjetdemokratie letzten Endes durch den Druck der sozialen Widersprüche gesprengt. Das machte sich die Bürokratie zunutze und entriß den Massenorganisationen die Macht. In diesem Sinn kann man von einer Diktatur der Bürokratie und sogar von der persönlichen Diktatur Stalins sprechen. Doch diese Usurpation war nur möglich und ließ sich nur aufrechterhalten, weil der soziale Inhalt der bürokratischen Diktatur durch die Produktionsverhältnisse definiert wird, die die proletarische Revolution geschaffen hat. In diesem Sinne kann man mit vollem Recht sagen, daß die Diktatur des Proletariats in der Diktatur der Bürokratie unzweifelhaft ihren wie immer entstellten Ausdruck gefunden hat.

 

 

Die historische Analogie muß überprüft und berichtigt werden

In den internen Auseinandersetzungen der russischen und der internationalen Opposition wurde unter Thermidor gewöhnlich die erste Etappe der gegen die gesellschaftliche Basis des Arbeiterstaats gerichteten bürgerlichen Konterrevolution verstanden. [A] Obwohl, wie wir sahen, die Diskussion in ihrem wesentlichen Gehalt davon früher nicht beeinträchtigt wurde, bekam die historische Analogie doch rein konventionellen, realitätsfernen Charakter und geriet damit mehr und mehr in Widerspruch zu den Erfordernissen der Analyse der jüngsten Entwicklung des Sowjetstaats. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß wir oft – und mit gutem Grund – von Stalins plebiszitärem oder bonapartistischem Regime sprachen. [10] Aber der Bonapartismus kam in Frankreich nach dem Thermidor. Bleibt man im Rahmen der historischen Analogie, drängt sich die Frage auf: Wenn es noch keinen Sowjet-“Thermidor“ gab, woher kommt dann der Bonapartismus? Ohne unsere alten Auffassungen in ihrem Wesen zu andern – dazu besteht keinerlei Anlaß – müssen wir die historische Analogie radikal revidieren. Das wird uns helfen, an manche alten Tatsachen besser heranzukommen und manche neuen Erscheinungen besser zu begreifen.

Der Staatsstreich vom 9. Thermidor beseitigte nicht die grundlegenden Errungenschaften der bürgerlichen Revolution, sondern übertrug die Macht den gemäßigteren und konservativeren Jakobinern, den bessergestellten Elementen der bürgerlichen Gesellschaft. Heute ist unübersehbar, daß auch in der Sowjetunion längst eine Machtverschiebung nach rechts vor sich gegangen ist, ganz analog zum Thermidor, wenn auch in einem viel langsameren Tempo und in verschleierteren Formen. Die Verschwörung der Sowjetbürokratie gegen den linken Flügel konnte in der ersten Zeit nur darum einen verhältnismäßig „trockenen“ Charakter annehmen, weil man sehr viel systematischer und vollständiger zu Werke ging als bei der Improvisation des 9. Thermidors.

Das Proletariat ist sozial homogener als die Bourgeoisie, enthält aber doch eine ganze Reihe von Schichten, die sich besonders nach der Machtergreifung deutlich voneinander abheben, wenn sich die Bürokratie und eine mit ihr verbundene Arbeiteraristokratie [11] herausbilden. Die Zerschlagung der Linken Opposition war unmittelbar gleichbedeutend mit dem Übergang der Macht aus den Händen der revolutionären Avantgarde in die der konservativeren Elemente der Bürokratie und der Oberschicht der Arbeiterklasse. Das Jahr 1924 war der Beginn des sowjetischen Thermidors.

Es geht hier natürlich nicht um Identität, sondern um eine historische Analogie, die stets an der Verschiedenheit der Gesellschaftsstrukturen und Epochen ihre Grenze findet. Aber die vorliegende Analogie ist weder oberflächlich noch zufällig; sie beruht auf der äußersten Anspannung des Klassenkampfs in der Periode der Revolution und Konterrevolution. In beiden Fallen kam die Bürokratie auf dem Rücken der plebejischen Demokratie, die den Sieg des neuen Regimes gesichert hatte, nach oben. Die Jakobinerklubs wurden allmählich erstickt. Die Revolutionäre von 1793 starben auf den Schlachtfeldern, wurden Diplomaten und Generäle, fielen unter den Schlägen der Repression oder ... gingen in die Illegalität. Anderen Jakobinern glückte später die Verwandlung in Napoleonische Präfekten. Zu ihnen gesellten sich zunehmend mehr Überläufer aus den alten Parteien, ehemalige Aristokraten und vulgäre Karrieristen. Und in Rußland? In dem allmählichen Übergang von den lebensprühenden Sowjets und Parteiklubs zum Kommandoregime der Sekretäre, die einzig und allein von dem „heiß geliebten Führer“ abhängen, reproduziert sich 130-140 Jahre später das gleiche Bild der Entartung, nur in einer viel gigantischeren Arena und in einer sehr viel fortgeschritteneren Situation.

Die dauerhafte Stabilisierung des thermidorianisch-bonapartistischen Regimes in Frankreich war nur infolge der Entfaltung der Produktivkräfte möglich, die von den feudalen Fesseln befreit worden waren. Emporkömmlinge, Diebe, Gevattern und Bundesgenossen der Bürokratie bereicherten sich. Die enttäuschten Massen verfielen in Apathie.

Der im Jahre 1923 für die sowjetische Bürokratie unerwartet einsetzende Aufschwung der nationalisierten Produktivkräfte schuf die für ihre Stabilisierung nötigen Voraussetzungen. Der wirtschaftliche Aufbau eröffnete der Energie der aktiven und fähigen Organisatoren, Administratoren und Techniker ein Betätigungsfeld. Ihre materielle und moralische Situation verbesserte sich rasch. Eine breite privilegierte Schicht entstand, eng mit der Machtelite verbunden.

Die arbeitenden Massen labten von ihren Hoffnungen oder verfielen in Hoffnungslosigkeit.

Es wäre abgeschmackte Pedanterie zu versuchen, die einzelnen Phasen der Russischen Revolution mit entsprechenden Ereignissen in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts übereinzubringen. Doch springt ins Auge, daß das gegenwärtige Sowjetregime ungemein an das des Ersten Konsuls erinnert, vor allem gegen Ende des Konsulats, als es sich dem Kaiserreich näherte. Fehlt Stalin auch der Glanz der Siege, so übertrifft doch sein System der organisierten Kriecherei das des ersten Bonaparte. Eine derartige Macht konnte nur durch die Erstickung der Partei, der Sowjets und der gesamten Arbeiterklasse errungen werden. Die Bürokratie, auf die Stalin sich stützt, ist materiell an die Resultate der vollzogenen nationalen Revolution gebunden; mit der sich entwickelnden internationalen Revolution hingegen hat sie keinerlei Berührungspunkte. Nach Lebensweise, Interessen und Psychologie unterscheiden sich die heutigen Sowjet-Bürokraten von den revolutionären Bolschewiki nicht weniger als Napoleons Generäle und Präfekten von den revolutionären Jakobinern.

 

 

Thermidorianer und Bonapartisten

Der Londoner Sowjetbotschafter, Maiski, erläuterte kürzlich einer Delegation der britischen Trade-Unions Notwendigkeit und Berechtigung des Stalinschen Strafgerichts über die „konterrevolutionären“ Sinowjewisten. [12] Diese bemerkenswerte Episode – eine von Tausenden – führt uns direkt zum Kern der Frage. Wer die Sinowjewisten sind, wissen wir. Trotz all ihrer Fehler und Schwankungen steht außer Zweifel, daß sie den Typus des „Berufsrevolutionärs“ verkörpern. Die Fragen der Welt-Arbeiterbewegung sind für sie Lebensfragen. Wer aber ist Maiski? ein rechter Menschewik, der 1918 seine Partei verließ und nach rechts ging, um der weißen Regierung des Transurals, die unter Koltschaks Schutz stand, als Minister beitreten zu können. [13] Erst nach der Niederringung Koltschaks hielt Maiski die Zeit für gekommen, sich den Sowjets zuzuwenden. Lenin – und wir mit ihm – hegte solchen Typen gegenüber das allergrößte Mißtrauen, um nicht zu sagen tiefste Verachtung. Haute beschuldigt Maiski, im Rang eines Botschafters, die „Sinowjewisten“ und die „Trotzkisten“, sie wollten eine Militärintervention zur Restauration des Kapitalismus provozieren ... Zur Restauration jenes Kapitalismus, den Maiski mit den Mitteln des Bürgerkriegs gegen uns verteidigt hat.

Der jetzige Gesandte in den Vereinigten Staaten, A. Trojanowski, schloß sich in seiner Jugend den Bolschewiki an, verließ dann die Partei, war während des Krieges Patriot, 1917 Menschewik. [14] Während der Oktoberrevolution gehörte er dem Zentralkomitee der Menschewiki an. In den folgenden Jahren führte Trojanowski einen illegalen Kampf gegen die Diktatur des Proletariats. Der stalinistischen Partei, richtiger: Diplomatie, schloß er sich nach der Zerschlagung der Linken Opposition an.

Der Pariser Gesandte Potemkin war während der Oktoberrevolution bürgerlicher Geschichtsprofessor; den Bolschewiki schloß er sich nach dem Sieg an. [15] Der ehemalige Berliner Gesandte Chintschuk gehörte in den Tagen der Oktoberumwälzung als Menschewik dem konterrevolutionären Moskauer „Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution“ an, gemeinsam mit dem rechten Sozialrevolutionär Grinko, dem jetzigen Volkskommissar für Finanzen. [16] Chintschuks Nachfolger in Berlin, Suritz , war der politische Sekretär des ersten Vorsitzenden des Sowjets, des Menschewiken Tschcheidse, und schloß sich nach dem Sieg den Bolschewiki an. [17] Fast alle anderen Diplomaten sind von der gleichen Sorte, obwohl inzwischen für Auslandsposten – besonders nach den Affären Bessedowski, Dimitrijewski, Agabekow[18] usw. – nur besonders zuverlässige Leute ernannt werden.

Vor kurzem veröffentlichte die Weltpresse im Zusammenhang mit den großen Erfolgen der sowjetischen Goldgewinnung Informationen über deren Organisator, den Ingenieur Serebrowski. [19] Der Moskauer Korrespondent des Temps, der jetzt als offiziöses Sprachrohr der Spitzen der Bürokratie erfolgreich mit Duranty und Louis Fischer konkurriert, [20] unterstrich mit besonderem Nachdruck, daß Serebrowski, Bolschewik seit 1903, zur „Alten Garde“ gehört. Gerade so steht es auch in Serebrowskis Parteibuch. In Wirklichkeit nahm er an der Revolution von 1905 als junger menschewistischer Student teil und wechselte dann für lange Jahre ins Lager der Bourgeoisie über. Die Februarrevolution sah ihn als von der Regierung bestellten Leiter zweier Betriebe, die für die Kriegsproduktion arbeiteten, als Mitglied des Unternehmerverbandes und aktiven Teilnehmer am Kampf gegen die Metallarbeitergewerkschaft. Im Mai 1917 erklärte Serebrowski, Lenin sei ein „deutscher Spion“! Nach dem Sieg der Bolschewiki zog ich Serebrowski mit anderen Spezialisten zu technischen Arbeiten heran. Lenin hegte ihm gegenüber Mißtrauen; ich – kein großes Vertrauen. Jetzt ist Serebrowski Mitglied des Zentralkomitees der Partei!

In der theoretischen Zeitschrift des Zentralkomitees, dem Bolschewik (vom 31. Dezember 1934), steht ein Artikel Serebrowskis „Über die Goldproduktion der UdSSR“. Schlagen wir die erste Seite auf:

„... unter der Leitung des geliebten Führers der Partei und der Arbeiterklasse, des Genossen Stalin ...“; drei Zeilen weiter: „Genosse Stalin in einem Gespräch mit dem amerikanischen Korrespondenten, Herrn Duranty ...“; fünf Zeilen weiter: „die knappe und präzise Antwort des Genossen Stalin ...“; am Ende der Seite: „... eben das heißt, auf Stalinsche Weise ums Gold kämpfen“. Zweite Seite: „... wie uns der große Führer, Genosse Stalin, lehrt ...“; vier Zeilen weiter: „... als Antwort auf ihren (der Bolschewiki) Rapport (!) schrieb Genosse Stalin: Gratuliere zu Ihrem Erfolg ...“ Weiter unten auf der gleichen Seite: „... beseelt von den Weisungen des Genossen Stalin ...“; in der nächsten Zeile: „... die Partei mit den Genossen Stalin an der Spitze ...“; zwei Zeilen darunter: „... die Weisungen unserer Partei und (!!) des Genossen Stalin“. Nehmen wir den Schluß des Artikels. Über eine halbe Seite lesen wir: „... die Weisungen des genialen Führers der Partei und der Arbeiterklasse, des Genossen Stalin ...“; und drei Zeilen darauf: „... die Worte unseres geliebten Führers, des Genossen Stalin ...“

Selbst die Satire steht einem solchen servilen Erguß waffenlos gegenüber. Man sollte meinen, „geliebte Führer“ hätten es nicht nötig, sich fünfmal auf jeder Seite eine Liebeserklärung machen zu lassen, noch dazu in einem Artikel, der nicht etwa dem Ehrentag des Führers, sondern – der Goldförderung gewidmet ist. Andererseits liegt auf der Hand, daß ein Artikelschreiber, der solcher Servilität fähig ist, nichts von einem Revolutionär an sich haben kann. So steht er vor uns, dieser ehemalige zaristische Direktor von Großbetrieben, der als Bourgeois und Patriot gegen die Arbeiter kämpfte und heute eine Stütze des Regimes, Mitglied des Zentralkomitees und hundertprozentiger Stalinist ist!

Noch ein Beispiel. Eine der Säulen der heutigen Prawda, Saslawski [21], wies im Januar dieses Jahres darauf bin, daß es unzulässig sei, Dostojewskis [22] reaktionäre Romane oder die „konterrevolutionären Werke Trotzkis, Sinowjews und Kamenjews“ herauszugehen. Wer ist Saslawski? In der fernen Vergangenheit ein rechter Bundist (Menschewik aus dem jüdischen Bund), dann bürgerlicher Journalist, der 1917 die abscheulichste Hetze gegen Lenin und Trotzki als deutsche Agenten betrieb. [23] In Lenins Artikeln aus dem Jahre 1917 kehrt wie ein Refrain der Satz wieder: „Saslawski und Gesindel seinesgleichen“ [24] So ging Saslawski in die Parteiliteratur ein als der vollendete Typus des käuflichen bürgerlichen Verleumders. Wahrend des Bürgerkriegs versteckte er sich in Kiew als Journalist der weißen Presse. Erst 1923 ging er auf die Seite der Sowjetmacht über. Jetzt verteidigt er den Stalinismus gegen die Konterrevolutionäre Trotzki, Sinowjew und Kamenjew! Mit solchen Figuren ist die Stalin-Presse voll besetzt, in der UdSSR wie im Ausland.

Die alten Kader des Bolschewismus sind zerschlagen worden. Die Bürokraten mit biegsamem Rücken haben die Revolutionäre abgelöst. Das marxistische Denken ist von Angst, Schmeichelei und Intrige verdrängt worden. Vom Leninschen Politbüro blieb nur Stalin übrig: Zwei Mitglieder des Politbüros sind politisch gebrochen und zugrunde gerichtet worden (Rykow und Tomski) [25], zwei sind im Gefängnis (Sinowjew und Kamenjew), einer ist ausgewiesen und seines Bürgerrechts beraubt (Trotzki). Lenin bewahrte, nach einem Ausspruch der Krupskaja, nur der Tod vor der Repression der Bürokratie: Da sie ihn nicht mehr ins Gefängnis stecken konnten, sperrten ihn die Epigonen in ein Mausoleum [26]. Die Substanz der herrschenden Schicht ist völlig degeneriert. Die Jakobiner wurden von den Thermidorianern und Bonapartisten verdrängt, die Bolschewiki von den Stalinisten.

Für die breite Schicht der konservativen und keineswegs uneigennützigen Maiski, Serebrowski und Saslawski, der großen, der mittleren und der kleinen, ist Stalin der oberste Schiedsrichter, Wohltäter und Verteidiger gegen alle denkbaren Oppositionen. Dafür verschafft die Bürokratie Stalin von Zeit zu Zeit die Sanktion eines Plebiszits. Die Partei- und Sowjet-Kongresse werden gemäß einem einzigen Kriterium organisiert: Für oder gegen Stalin? Gegen ihn können nur „Konterrevolutionäre“ sein, und mit ihnen wird nach Gebühr verfahren. Das ist der heutige Herrschaftsmechanismus. Und das ist ein bonapartistischer Mechanismus. Eine andere Bezeichnung dafür ist im politischen Wörterbuch bisher nicht zu finden.

 

 

Unterschiedliche Funktionen des bürgerlichen und des Arbeiterstaats

Ohne geschichtliche Analogien kann man von der Geschichte nicht lernen. Doch die Analogie muß konkret sein; neben den übereinstimmenden Zügen darf man die Unterschiede nicht vergessen. Beide Revolutionen haben dem Feudalismus und der Leibeigenschaft ein Ende gemacht. Aber die eine kam in Gestalt ihres extremsten Flügels nicht über vergebliche Bemühungen hinaus, die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft zu durchbrechen, und die andere stürzte wirklich die Bourgeoisie und schuf einen Arbeiterstaat. Dieser grundlegende Klassenunterschied markiert die materielle Grenze der Analogie und ist für die Prognose von entscheidender Bedeutung.

Nach einer tiefgreifenden demokratischen Revolution, die die Bauern von der Leibeigenschaft befreit und den Boden an sie verteilt, ist eine feudale Konterrevolution im allgemeinen unmöglich. Die gestürzte Monarchie kann wieder an die Macht kommen und sich mit mittelalterlichen Gespenstern umgeben. Aber sie hat nicht mehr die Kraft, die Feudalwirtschaft wiederherzustellen. Haben die bürgerlichen Verhältnisse einmal die feudalen Fesseln abgestreift, entwickeln sie sich automatisch. Keine äußere Macht vermag sie aufzuhalten; sie müssen sich selbst noch das Grab schaufeln, nachdem sie ihren Totengräber schon hervorgebracht haben. [27]

Ganz anders steht es mit der Entwicklung der sozialistischen Verhältnisse. Die proletarische Revolution befreit nicht nur die Produktivkräfte von den Fesseln des Privateigentums, sondern übergibt sie auch der unmittelbaren Verfügungsgewalt des von ihr geschaffenen Staats. Begnügt sich der bürgerliche Staat nach der Revolution mit einer bloß polizeilichen Funktion, während er den Markt dessen eigenen Gesetzen überläßt, so tritt der Arbeiterstaat direkt in der Rolle des Wirtschafts-Organisators auf. Die Ablösung eines politischen Regimes durch ein anderes hat auf die Marktwirtschaft nur indirekten und oberflächlichen Einfluß. Die Ablösung einer Arbeiterregierung durch eine bürgerliche oder kleinbürgerliche würde hingegen unvermeidlich die Beseitigung des Prinzips der Planung und in der Folge auch die Wiederherstellung des Privateigentums nach sich ziehen. Im Unterschied zum Kapitalismus entwickelt sich der Sozialismus nicht automatisch, sondern wird mit Bewußtsein aufgebaut. Der Vormarsch zum Sozialismus ist nicht von der Staatsmacht zu trennen, die den Sozialismus will oder zu wollen gezwungen ist. Der Sozialismus ist erst auf einer sehr hohen Entwicklungsstufe gesichert, wenn seine Produktivkräfte die kapitalistischen weit hinter sich gelassen haben, wenn die menschlichen Lebensbedürfnisse aller und jedes einzelnen befriedigt werden können, wenn der Staat völlig abstirbt und sich in der Gesellschaft auflöst. Das alles aber liegt noch in ferner Zukunft. Auf der jetzigen Entwicklungsstufe steht und fallt der sozialistische Aufbau mit den Arbeiterstaat. Erst wenn man den Unterschied zwischen den Entstehungsgesetzen der bürgerlichen („anarchischen“) und der sozialistischen („geplanten“) Wirtschaft gründlich durchdacht hat, werden die Grenzen der Analogie mit der Großen Französischen Revolution sichtbar.

Der Oktober 1917 hat die demokratische Revolution vollendet und die sozialistische eröffnet. Die agrarisch-demokratische Umwälzung in Rußland kann keine Macht der Welt mehr ungeschehen machen; in diesem Punkt besteht eine genaue Analogie zur jakobinischen Revolution. Aber die Kollektivierung der Landwirtschaft und damit auch die Nationalisierung der Produktionsmittel ist noch keineswegs gesichert. Die politische Konterrevolution könnte, selbst wenn sie bis auf die Romanow-Dynastie [28] zurückginge, den Großgrundbesitz nicht wiederherstellen. Doch die Restauration des Regierungsblocks der Menschewiki und Sozialrevolutionäre würde ausreichen, um den sozialistischen Aufbau in Scherben zu schlagen.

 

 

Das Hineinwachsen des bürokratischen Zentrismus in den Bonapartismus

Der grundlegende Unterschied zwischen den beiden Revolutionen und folglich auch den ihnen „entsprechenden“ Konterrevolutionen ist von größter Relevanz, will man die Bedeutung der reaktionären politischen Verschiebungen verstehen, die das Wesen des Stalin-Regimes ausmachen. Die Bauernrevolution und die darauf sich stützende Bourgeoisie vertragen sich ausgezeichnet mit dem Regime Napoleons und behaupteten sich sogar unter Ludwig XVIII. [29] Die proletarische Revolution ist schon unter Stalins gegenwärtigem Regime tödlich gefährdet; eine weitere Verschiebung nach rechts könnte sie nicht ertragen.

Den Traditionen nach „bolschewistisch“, im Grunde aber längst von ihren Traditionen losgelöst, der Zusammensetzung und Denkart nach kleinbürgerlich, ist die Sowjet-Bürokratie dazu berufen, den Widerspruch zwischen Proletariat und Bauernschaft, zwischen Arbeiterstaat und Weltimperialismus zu regulieren; das ist die soziale Basis des bürokratischen Zentrismus, seiner Zickzackwendungen, seiner Macht, seiner Schwäche und seines verderblichen Einflusses auf die Weltarbeiterbewegung. [B] Je unabhängiger die Bürokratie wird, je mehr die Macht sich in den Händen einer einzigen Person konzentriert, desto mehr verwandelt sich der bürokratische Zentrismus in Bonapartismus.

Der Begriff des Bonapartismus ist allzu weit gefaßt; er bedarf der Konkretisierung. Wir haben diesen Ausdruck in den letzten Jahren für jene kapitalistischen Regierungen gebraucht, die sich, indem sie den Gegensatz zwischen dem proletarischen und den faschistischen Lager ausnutzen, sich direkt auf den militarisch-polizeilichen Apparat stutzen und sich als Retter der „nationalen Einheit“ über Parlament und Demokratie erheben. Diesen Verfallsbonapartismus haben wir immer streng von dem jungen, offensiven Bonapartismus unterschieden [33], der nicht nur der Totengräber der politischen Prinzipien der bürgerlichen Revolution, sondern auch der Verteidiger ihrer sozialen Errungenschaften gewesen ist. Wir bezeichnen beide Erscheinungen mit einem gemeinsamen Namen, da sie gemeinsame Züge haben: In Greis erkennt man den Jüngling, trotz der erbarmungslosen Arbeit der Zeit.

Den jetzigen Kreml-Bonapartismus vergleichen wir natürlich mit dem Bonapartismus des bürgerlichen Aufstiegs, nicht mit dem des Niedergangs, also mit dem Konsulat und dem ersten Kaiserreich, nicht mit Napoleon III. und noch weniger mit Schleicher oder Doumergue. [34] Um dieser Analogie willen muß man Stalin keineswegs die Eigenschaften Napoleons I. zuschreiben; wenn es die sozialen Verhältnisse fordern, kann sich der Bonapartismus um Achsen des verschiedensten Kalibers konzentrieren.

Weitaus wichtiger ist unter unserem Gesichtspunkt die Verschiedenheit der sozialen Grundlagen des Bonapartismus jakobinischen und sowjetischen Ursprungs. In dem einen Fall handelte es sich um die Festigung der bürgerlichen Revolution durch die Beseitigung ihrer Prinzipien und ihrer politischen Einrichtungen. Im zweiten Fall geht es um die Konsolidierung der Arbeiter-und-Bauern-Revolution durch die Zerstörung ihres internationalen Programms, ihrer führenden Partei und ihrer Sowjets. Indern Napoleon die Thermidor-Politik weiterentwickelte, führte er den Kampf nicht nur gegen die feudale Welt, sondern auch gegen den „Pöbel“ und die demokratischen Kreise der kleinen und mittleren Bourgeoisie; auf diese Weise konzentrierte er die Vorteile des durch die Revolution geschaffenen Regimes in den Händen einer neuen bürgerlichen Aristokratie. Stalin schützt die Errungenschaften der Oktoberrevolution nicht nur vor der feudal-bürgerlichen Konterrevolution, sondern auch vor den Ansprüchen der Arbeiter, vor ihrer Ungeduld und Unzufriedenheit; er zerschlägt den linken Flügel, der die historisch berechtigten und fortschrittlichen Tendenzen der nichtprivilegierten Arbeitermassen zum Ausdruck bringt; er schafft eine neue Aristokratie durch die außerordentliche Differenzierung der Arbeitslöhne [35], durch Vorrechte, Orden, usw. Indem er sich gegen die untere auf die obere Schicht der neuen gesellschaftlichen Hierarchie stützt – und manchmal auch umgekehrt –, hat Stalin die vollkommene Konzentration der Macht in seinen Händen erreicht. Wie soll man dieses Regime anders als „Sowjet-Bonapartismus“ nennen?

Seinen Wesen nach kann sich der Bonapartismus nicht lange halten; eine Kugel, die man auf die Spitze einer Pyramide legt, muß unweigerlich auf die eine oder die andere Seite herunterfallen. Doch gerade an diesem Punkt liegt, wie wir sahen, die Grenze der historischen Analogie. Napoleons Sturz ging natürlich nicht spurlos an den Klassenverhältnissen vorüber, aber Frankreichs soziale Pyramide behielt in wesentlichen ihren bürgerlichen Charakter. Der unvermeidliche Zusammenbruch des Stalinschen Bonapartismus wird nicht sofort den Charakter der UdSSR als Arbeiterstaat in Frage stellen. Eine sozialistische Wirtschaft kann man nicht ohne sozialistische Macht aufbauen. Das Schicksal der Sowjetunion als sozialistischer Staat hängt von den politischen Regime ab, das den Stalin-Bonapartismus ablösen wird. Nur die revolutionäre Avantgarde des Proletariats kann das Sowjetsystem erneuern, wenn es ihr gelingt, die werktätigen Massen in Stadt und Land wieder um sich zu scharen.

 

 

Schlußfolgerungen

Aus unserer Analyse ergibt sich eine Reihe von Schlußfolgerungen, die wir hier kurz darlegen:

  1. Der Thermidor der großen Russischen Revolution liegt nicht vor, sondern schon lange hinter uns. Die Thermidorianer können bald den zehnten Jahrestag ihres Sieges feiern.
     
  2. Das gegenwärtige politische Regime der UdSSR ist das Regime eines „Sowjet“- (oder Antisowjet-) Bonapartismus, der seinen Typus nach den Kaiserreich naher steht als den Konsulat.
     
  3. Den sozialen Grundlagen und wirtschaftlichen Entwicklungstendenzen nach bleibt die UdSSR weiterhin ein
     
  4. Der Widerspruch zwischen den politischen Regime des Bonapartismus und den Erfordernissen der sozialistischen Entwicklung ist die Hauptquelle für die bloße Existenz der UdSSR als Arbeiterstaat.
     
  5. Angesichts des noch immer niedrigen Niveaus der Produktivkräfte und der kapitalistischen Einkreisung werden die Klassen und die Klassengegensätze in der UdSSR unbestimmt lange Zeit, bald stärker, bald schwächer bestachen bleiben, jedenfalls bis zum vollständigen Sieg des Proletariats in den wichtigsten kapitalistischen Ländern der Welt.
     
  6. Die proletarische Diktatur bleibt auch in Zukunft die unerläßliche Bedingung für die sozialistische Entwicklung von Wirtschaft und Kultur der UdSSR. Die bonapartistische Entartung der Diktatur bedeutet daher eine unmittelbare Gefährdung aller sozialen Errungenschaften des Proletariats.
     
  7. Die terroristischen Tendenzen in der kommunistischen Jugend gehören zu den schwerstwiegenden Symptomen dafür, daß der Bonapartismus seine politischen Möglichkeiten erschöpft hat und in die Periode des erbittertsten Existenzkampfes eintritt.
     
  8. Der unvermeidliche Zusammenbruch des Stalinschen politischen Regimes wird lediglich dann zur Wiederherstellung der Sowjetdemokratie führen, wenn die Beseitigung des Bonapartismus von der proletarischen Avantgarde in einem bewußten Akt vollzogen wird. In allen anderen Fallen wurde nur eine faschistisch-kapitalistische Konterrevolution die Nachfolge des Stalinismus antreten.
     
  9. Die Taktik des individuellen Terrors, unter welcher Flagge auch immer, muß unter den jetzigen Umständen den ärgsten Feinden des Proletariats in die Hände spielen.
     
  10. Dafür, daß der Terrorismus in den Reihen der kommunistischen Jugend überhaupt entstehen konnte, tragt Stalin, der Totengräber der Partei, die politische und moralische Verantwortung.
     
  11. Hauptverantwortlich für die Schwächung der proletarischen Avantgarde der UdSSR in Kampf gegen den Bonapartismus sind die ständigen Niederlagen des Weltproletariats.
     
  12. Hauptverantwortlich für die Niederlagen des Weltproletariats ist die verbrecherische Politik der Komintern, der blinden Magd des Stalin-Bonapartismus, die zugleich die beste Verbündete und Beschützerin der reformistischen Bürokratie ist.
     
  13. Die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg in der internationalen Arena ist die Befreiung der internationalen proletarischen Avantgarde von den demoralisierenden Einfluß des Sowjet-Bonapartismus, d.h. von der käuflichen Bürokratie der sogenannten Komintern.
     
  14. Der Kampf um die Rettung der UdSSR als sozialistischer Staat deckt sich völlig mit den Kampf um die IV. Internationale.

 

 

Nachwort

Unsere Gegner werden sich wohl auf unsere „Selbstkritik“ stürzen. Ihr habt also, werden sie schreien, eure Position in der grundlegenden Frage des Thermidors geändert: früher habt ihr lediglich von der Gefahr eines Thermidors gesprochen, jetzt behauptet ihr plötzlich, der Thermidor liege bereits hinter uns. So werden wohl die Stalinisten reden und auf jeden Fall noch hinzufügen, wir hatten unsere Einstellung nur deswegen geändert, um leichter eine militärische Intervention provozieren zu können. Ähnlich werden sich wohl auch die Brandlerianer und die Lovestoneianer einerseits und einige obergescheite „Ultralinke“ andererseits äußern. [36] Diese Leute waren selbst nie in der Lage, uns zu zeigen, wo der Fehler bei unserer Thermidor-Analogie steckte; jetzt, wo wir ihn selbst gefunden haben, werden sie um so lauter schreien.

Den Stellenwert dieses Fehlers in unserer allgemeinen Beurteilung der UdSSR haben wir oben bezeichnet. Keineswegs handelt es sich um eine Änderung unserer prinzipiellen Position, wie wir sie in einer Reihe offizieller Dokumente formuliert haben, vielmehr lediglich um deren Präzisierung. Unsere „Selbstkritik“ betrifft nicht die Analyse des Klassencharakters der UdSSR, ebensowenig die Analyse der Ursachen und Bedingungen seiner Entartung, sie bezieht sich einzig und allein auf die historische Illustration dieser Prozesse durch Analogien mit den bekannten Etappen der Großen Französischen Revolution. Die Berichtigung eines nicht unwesentlichen Detailfehlers hat die Grundposition der Bolschewiki-Leninisten nicht erschüttert, sondern uns dazu verholfen, diese Position durch richtigere und realistischere Analogien genauer und konkreter zu begründen. Man muß hinzufügen, daß die Aufdeckung dieses Fehlers dadurch sehr erleichtert wurde, daß der Prozeß der politischen Entartung mittlerweile sehr viel konkretere Formen angenommen hat.

Unsere Richtung hat noch nie Anspruch auf Unfehlbarkeit erhoben. Wir empfangen nicht, wie die ignoranten Hohenpriester des Stalinismus, vorgefertigte Wahrheiten auf den Wege der Offenbarung. Wir befassen uns eingehend mit den Problemen, diskutieren sie und überprüfen unsere Erkenntnisse an der Erfahrung, verbessern offen die begangenen Fehler und – gehen weiter. Wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit und Strenge gegen sich selbst gehören zur besten Tradition des Marxismus und des Leninismus. Auch in dieser Hinsicht wollen wir unseren Lehrern treu bleiben.

 

 

Fußnoten von Trotzki

A. Von thermidorianischer Entartung reden auch die Menschewiki. Was sie darunter verstehen, ist unerfindlich. Die Menschewiki waren gegen die Machteroberung durch das Proletariat. Auch heute noch halten sie den Sowjetstaat für nicht-proletarisch. (Wofür sie ihn halten, ist unbekannt.) Früher forderten sie die Rückkehr zum Kapitalismus, jetzt die zur „Demokratie“. Wenn sie nicht selbst die Vertreter der thermidorianischen Tendenzen sind, was ist dann überhaupt „Thermidor“? Offenbar eine bloße literarische Redensart. (L.T.)

B. Die Brandlerianer, darunter auch die Führer der SAP, die, was die Theorie angeht, bis heute Schüler von Thalheimer geblieben sind, [30] sehen in der Kominternpolitik nur das „Ultralinke“ und lehnten bzw. lehnen den Begriff „bürokratischer Zentrismus“ ab. Die jetzige „Vierte Periode“ [31], in der Stalin die europäische Arbeiterbewegung am Haken der Komintern auf die rechte Seite des offiziellen Reformismus zieht, beweist, wie oberflächlich und opportunistisch die politische Philosophie der Thalheimer, Walcher und Co. ist. [32] Diese Leute können keine Frage zu Ende denken. Gerade deshalb verabscheuen sie das Prinzip „Aussprechen, was ist„, d.h. das oberste Prinzip jeder wissenschaftlichen Analyse und jeder revolutionären Politik, so sehr. (L.T.)

 


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008