Leo Trotzki

 

Rosa Luxemburg und die IV. Internationale

(Flüchtige Bemerkungen zu einer wichtigen Frage)

(24. Juni 1935)


Quelle: L. Trotzki, Schriften über Deutschland, (Hrsg. H. Dahmer), Bd. II, Frankfurt/M. 1971, S. 686–689.

Heinz Hackelberg.
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In Frankreich und auch anderswo werden jetzt Bemühungen gemacht, einen sogenannten „Luxemburgismus“ zu konstruieren – als Schützengraben für die linken Zentristen gegen die Bolschewiki-Leninisten.
Die Frage kann eine sehr große Bedeutung gewinnen. Man wird vielleicht in der nächsten Zeit dem wirklichen und dem vermeintlichen Luxemburgismus einen größeren Artikel widmen müssen. Hier will ich nur die Frage in den wesentlichen Zügen andeuten.
Wir haben Rosa Luxemburg mehrmals gegen die plumpen und dummen Verunglimpfungen von Seiten Stalins und seiner Bürokratie in Schutz genommen. Wir werden das auch weiterhin tun. Dabei gehorchen wir nicht irgendwelchen sentimentalen Erwägungen, sondern dem Gebot der historisch-materialistischen Kritik. Unsere Verteidigung Rosa Luxemburgs ist aber keine unbedingte.

Die schwachen Seiten der Lehre Rosa Luxemburgs sind theoretisch wie praktisch aufgedeckt worden. Die SAP’ler und die ihnen verwandten Elemente (siehe z. B. den dilettantisch intellektuellen, „proletarisch kulturellen“ französischen Spartacus, die in Belgien erscheinende Zeitschrift der sozialistischen Studenten, manchmal auch die belgische Action Socialiste, usw.) bedienen sich nur der schwachen Seiten und Unzulänglichkeiten, die bei Rosa keinesfalls ausschlaggebend waren, verallgemeinern und übertreiben diese Schwächen ins Unendliche und bauen dar-auf ein ganz absurdes System auf. Das Paradox besteht darin, daß auch die Stalinisten in ihrer neuen Wendung – ohne das zu gestehen oder auch nur zu verstehen – sich den karikierten negativen Seiten des Luxemburgismus theoretisch nähern, – von den traditionellen Zentristen und Linkszentristen des sozialdemokratischen Lagers gar nicht zu reden.
Es ist schon richtig, daß Rosa Luxemburg die Spontaneität der Massenaktionen der „siegesgekrönten“ konservativen Politik der deutschen Sozialdemokratie leidenschaftlich gegenübergestellt hat, insbesondere nach der Revolution von 1905. Diese Gegenüberstellung hatte einen durch und durch revolutionären und fortschrittlichen Charakter. Rosa Luxemburg hat viel früher als Lenin den bremsenden Charakter des verknöcherten Partei- und Gewerkschaftssapparats verstanden und zu bekämpfen begonnen. Indem sie mit der unvermeidlichen Verschärfung der Klassengegensätze rechnete, prophezeite sie immer die Unabwendbarkeit des selbständigen, elementaren Auftretens der Massen gegen den Willen und die Marschroute der offiziellen Instanzen. In diesen großen geschichtlichen Zügen behielt Rosa recht. Denn die Revolution von 1918 war ja „spontan“, d. h. sie wurde von den Massen gegen alle Voraussicht und alle Vorkehren der Parteiinstanzen vollzogen. Andererseits aber hat die ganze nachfolgende Geschichte Deutschlands reichlich bewiesen, daß man mit der Spontaneität allein bei weitem nicht auskommt; Hitlers Regime ist ein schwerwiegendes Argument gegen die Alleinseligkeit der Sponataneität.

Rosa selbst blieb nie bei der reinen Spontaneitätstheorie stehen wie etwa Parvus, der später seinen sozialrevolutionären Fatalismus mit dem ekelhaftesten Opportunismus vertauscht hat. Im Gegensatz zu Parvus war Rosa Luxemburg bestrebt, den revolutionären Flügel des Proletariats im voraus zu erziehen und – soweit möglich – organisatorisch zu erfassen. In Polen hat sie eine sehr straffe selbständige Organisation aufgebaut. Man könnte höchstens sagen, daß bei Rosa in ihrer geschichtsphilosophischen Einschätzung der Arbeiterbewegung die vorbereitende Auslese der Avantgarde im Vergleich zu den zu erwartenden Massenaktionen zu kurz gekommen ist, während Lenin – ohne sich mit den künftigen Aktionswundern zu trösten – stets und unermüdlich die fortgeschrittenen Arbeiter illegal oder legal, in den Massenorganisationen oder im Versteck, vermittels eines scharf umrissenen Programms zu festen Zellen zusammenschweißte.
Die Spontaneitätstheorie Rosas war eine heilsame Waffe gegen den verknöcherten Apparat des Reformismus. Indem sie sich manchmal gegen die Leninsche Arbeit des Aufbaus eines revolutionären Apparats richtete, offenbarte die Theorie – allerdings nur im Keime – ihre reaktionären Züge. Bei Rosa selbst geschah es nur episodisch. Sie war viel zu realistisch im revolutionären Sinne, um aus den Elementen der Spontaneitätstheorie eine vollendete Metaphysik zu konstruieren. Praktisch unter-grub sie selbst – wie gesagt – diese Theorie auf Schritt und Tritt. Nach der Novemberrevolution von 1918 begann sie die leidenschaftliche Arbeit der Zusammenfassung der proletarischen Avantgarde. Trotz der von ihr im Gefängnis niedergeschriebenen, aber nicht veröffentlichten, theoretisch sehr schwachen Schrift über die Sowjetrevolution läßt die nachfolgende Arbeit Rosas mit Sicherheit schließen, daß sie sich der Leninschen, theoretisch genau ausgewogenen Auffassung von bewußter Leitung und Spontaneität mit jedem Tage mehr näherte. (Dieser Umstand war es sicher auch, der sie daran hinderte, ihre später so schändlich mißbrauchte Schrift gegen die bolschewistische Politik zu veröffentlichen.)

Versuchen wir nun einmal, den Gegensatz zwischen spontanen Massenaktionen und zielbewußter Organisationsarbeit in der heutigen Epoche aufzuzeigen. Welch ungeheure Kraft und Selbstlosigkeit haben die arbeitenden Massen aller zivilisierten und halb zivilisierten Länder seit dem Weltkriege aufgebracht! Die frühere Geschichte der Menschheit hat nichts Ähnliches aufzuweisen. Soweit behielt Rosa Luxemburg vollständig recht gegen die Philister, Korporale und Dummköpfe des geradeaus marschierenden, „siegesgekrönten“ bürokratischen Konservatismus. Aber gerade die Vergeudung dieser unermeßlichen Energien ist ja der Grund für die große Depression im Proletariat und für den erfolgreichen faschistischen Vormarsch.

Man kann ohne jegliche Übertreibung sagen: Die gesamte Weltlage ist bestimmt durch die Krise der proletarischen Führung. Das Feld der Arbeiterbewegung ist von heute noch mächtigen Überresten der alten, bankrotten Organisationen versperrt. Nach den unzähligen Opfern und Enttäuschungen hat sich das Gros zumindest des europäischen Proletariats auf sich selbst zurückgezogen. Die entscheidende Lehre, die es bewußt oder halbbewußt aus den bitteren Erfahrungen gezogen hat, lautet: Große Aktionen erfordern eine fähige Führung. Für die laufenden Angelegenheiten geben die Arbeiter immer noch ihre Stimmen den alten Organisationen.

Ihre Stimmen, aber keinesfalls ihr unbegrenztes Vertrauen. Andererseits sind sie nach dem elenden Zusammenbruch der II. Internationale viel schwerer zu bewegen, einer neuen revolutionären Organisation ihr Vertrauen zu schenken. Darin besteht eben die Krise der proletarischen Führung. In dieser Lage ein monotones Lied auf unbestimmte, künftige Massenaktionen im Gegensatz zur zielbewußten Auslese der Kader einer neuen Internationale zu singen, heißt eine durch und durch reaktionäre Arbeit leisten. Darin besteht eben die Rolle der SAP im „geschichtlichen Prozeß“. Ein linker SAP‘ler aus der alten Garde kann natürlich seine marxistischen Erinnerungen mobilmachen, um dem Andrängen der theoretischen Spontaneitäts-Flut Einhalt zu gebieten, jener theoretischen Barbarei. Diese rein literarischen Schutzmaßnahmen ändern nichts daran, daß die Miles-Schüler, der geschätzte Verfasser der Friedensresolution und der nicht minder geschätzte Autor des Artikels in der französischen Ausgabe des Jugend-Bulletins, auch in den Reihen der SAP den schändlichsten Spontaneitätsunfug treiben. Auch die gesamte praktische Politik Schwabs (das pfiffige„Nicht aussprechen, was ist“ und das ewige Vertrösten auf die künftigen Massenaktionen und den spontanen „geschichtlichen Prozeß“) bedeutet doch nichts anderes als die taktische Ausbeutung eines durch und durch entstellten und verlumpten Luxemburgismus. Und insoweit nun die „Linken“, die „Marxisten“, diese Theorie und Praxis der eigenen Partei nicht offen angreifen, bekommen ihre Anti-Miles-Artikel den Charakter der Suche nach einem theoretischen Alibi. Ein solches wird überhaupt erst nötig, wo man an einem Verbrechen teilnimmt.

Die Krise der proletarischen Führung ist natürlich nicht mit einer abstrakten Formel zu überwinden. Es handelt sich um einen höchst langwierigen Prozeß. Nicht aber um den rein „geschichtlichen“ Prozeß, d. h. um die objektiven Voraussetzungen der bewußten Tätigkeit, sondern um eine ununterbrochene Kette von theoretischen, politischen und organisatorischen Aktionen, die darauf abzielen, die besten, zielbewußtesten Elemente des Weltproletariats unter einer unbefleckten Fahne zusammen zu schweißen, ihre Zahl und ihr Selbstvertrauen zu steigern, ihre Verbindung mit weiteren Schichten des Proletariats zu entwickeln und zu vertiefen, mit einem Worte: unter neuen, höchst schwierigen Bedingungen dem Proletariat seine geschichtliche Führung wiederzugeben. Die neuesten Spontaneitätskonfusionisten haben ebensowenig ein Recht, sich auf Rosa zu berufen, wie die elenden Kominternbürokraten gegenüber Lenin. Läßt man historisch überholtes beiseite, so können wir unsere Arbeit für die IV. Internationale mit vollem Recht unter das Zeichen der „Drei L“ stellen, nicht nur unter das von Lenin, sondern auch unter das von Luxemburg und Liebknecht.


Zuletzt aktualisiert am 9.11.2011