Leo Trotzki

 

Wohin geht Frankreich?

(2. Teil)

 

In dem Augenblick, als Flandin auf Doumergue folgte, erhoben wir vor der proletarischen Avantgarde die Frage: Wohin treibt Frankreich? (La Vérité Nr.226, 9. November 1934). Die seitdem verflossenen viereinhalb Monate haben keine wesentliche Änderung gebracht und weder unsere Analyse noch unsere Prognose abgeschwächt. Das französische Volk steht am Scheidewege: ein Weg führt zur sozialistischen Revolution, der andere zur faschistischen Katastrophe. Die Wahl des Weges hängt vom Proletariat ab. An seiner Spitze befindet sich seine organisierte Avantgarde. Aufs neue stellen wir die Frage: wohin wird die proletarische Avantgarde Frankreich führen

 

Die Diagnose der Komintern ist verheerend falsch

Der Sozialistische Parteivorstand trat im Januar mit einem Programm hervor für den Kampf um die Macht, für die Vernichtung des bürgerlichen Staatsapparates, für die Errichtung der Arbeiter- und Bauerndemokratie, für die Enteignung der Banken und der konzentrierten Industriezweige. Allein, bis jetzt hat die Partei keinen Finger gerührt. dieses Programm vor die Massen zu bringen. Die Kommunistische Partei ihrerseits weigert sich rundweg, den Weg des Kampfes um die Macht zu betreten. Aus welchem Grund? „Die Situation ist nicht revolutionär“.

Miliz? Bewaffnung der Arbeiter? Arbeiterkontrolle? Nationalisierungsplan?

Unmöglich. „Die Situation ist nicht revolutionär“. Was soll man tun? Mit den Klerikalen große Petitionen vom Stapel lassen, mit den Radikalsozialisten hohle Phrasen dreschen, und abwarten. Wie lange? Solange die Situation nicht von selbst revolutionär wird. Die gelehrten Ärzte der Kommunistischen Internationale haben ein Thermometer, das stecken sie der alten Dame Geschichte unter die Achsel, um auf diese Weise unfehlbar die revolutionäre Temperatur zu bestimmen. Doch ihr Thermometer zeigen sie niemandem.

Wir behaupten: die Diagnose der Kommunistischen Internationale ist grundfalsch. Die Situation ist so revolutionär, wie sie bei einer nichtrevolutionären Politik der Arbeiterparteien nur sein kann. Genauer: die Situation ist vorrevolutionär. Damit diese Situation reif werde, ist sofortige, kühne und unermüdliche Mobilisierung der Massen unter den Losungen der Machteroberung im Namen des Sozialismus notwendig. Unter dieser Bedingung allein wird die vorrevolutionäre Situation zu einer revolutionären werden. Im entgegengesetzten Fall, d.h. wenn man weiter auf der Stelle tritt, wird sich die vorrevolutionäre Situation unabwendbar in eine konterrevolutionäre verwandeln und den Sieg des Faschismus herbeiführen.

Die rituelle Phrase von der „nichtrevolutionären Situation“ dient heute einzig und allein dazu, die Arbeiter zu verdummen, ihre Willenskraft zu brechen und dem Klassenfeind die Hände zu lösen. Unter der Hülle solcher Phrasen sammelt sich bei den Spitzen des Proletariats Konservatismus, Schlappheit Stumpfsinn, Feigheit, und die Katastrophe bereitet sich vor wie in Deutschland.

 

Aufgabe und Zweck dieser Schrift

In den folgenden Zeilen unterwerfen wir Diagnose und Prognose der Komintern einer ausführlichen marxistischen Kritik. Bei entsprechender Gelegenheit werden wir auch auf die Ansichten verschiedener sozialistischer Führer eingehen, insofern es unser wesentliches Ziel erfordert, nämlich zu zeigen, wie grundverkehrt die Politik des Zentralkomitees der französischen Kommunistischen Partei ist. Dem Geschrei und den Beschimpfungen der Stalinisten werden wir Tatsachen und Argumente entgegenhalten.

Wir wollen uns selbstverständlich nicht auf bloße Kritik beschränken. Den falschen Ansichten und Losungen werden wir die schöpferischen Ideen und Methoden Marx’ und Lenins gegenüberstellen.

Wir bitten den Leser um angestrengte Aufmerksamkeit. Es geht im unmittelbarsten Sinne um den Kopf des französischen Proletariats. Nicht ein bewusster Arbeiter hat das Recht, diesen Fragen, von deren Lösung das Schicksal seiner Klasse abhängt, teilnahmslos gegenüberzustehen.

 


Zuletzt aktualiziert am 15.10.2003