Leo Trotzki

 

Der junge Lenin


Die Heimat

Neben vielem anderen wurde von der Revolution auch die alte verwaltungsmäßige Einteilung des Landes gestürzt Es verschwanden die unter Katharina II. eingeführten Gouvernements, die sich im Laufe von anderthalb Jahrhunderten so eng mit dem politischen Regime, dem Recht und der Literatur verflochten hatten, daß sie gewissermaßen zu Teilabschnitten der Natur selbst geworden waren. Das Simbirsker Gouvernement, in dem sich die Kindheit und die frühe Jugend des späteren Lenin abspielten, war ein Teil jenes riesigen Gebietes, das von der Wolga, der Königin der russischen Flüsse, zu einer Einheit verbunden und beherrscht wird. Wer an der Wolga aufgewachsen ist, der trägt sein ganzes Leben lang ihr Bild in sich. Die Eigenart und Schönheit des Flusses beruht auf dem Kontrast seiner Ufer: das rechte erhebt sich als hohe bergige Barriere gegen Asien, während. das linke als Tiefebene in die unermeßlichen Weiten des Ostens überleitet. Hundertfünfzig Meter hoch erhebt sich über dem beweglichen Spiegel des Flusses jener Berg, auf dem sich kreuz und quer im Grün ihrer Gärten die Stadt Simbirsk ausbreitet, die rückständigste und hinderwäldlerischste aller Gouvernementsstädte des Wolgagebietes. Die Anhöhe, auf der sie liegt, ist gleichzeitig die Wasserscheide zwischen der Wolga und einem ihrer Nebenflüsse, der Swijaga; diese beiden Flüsse, die hundert Kilometer weit parallel verlaufen, fließen – einer Laune der Oberflächengestaltung folgend – in einander entgegengesetzte Richtungen: die Wolga nach Süden, die Swijaga nach Norden. Beim Simbirsker Berg kommt die Swijaga so nahe an die Wolga heran, daß die Stadt am rechten Ufer beider Flüsse liegt.

Zu jener Zeit, mit der unsere Erzählung beginnt – als die Familie Uljanow nach Simbirsk übersiedelte (1869) –, waren seit der Gründung der Stadt etwa 220 Jahre verstrichen. Die Großrussen waren hartnäckig in das reiche Land am Mittellauf der Wolga vorgestoßen, das schon von Tschuwaschen, Mordwinen und Tataren besiedelt war, hatten sich in Besitz dieser Ländereien gesetzt und die Nomaden nach dem Osten getrieben. Und in diesen Ländereien bauten sie hölzerne Befestigungsanlagen. Im selben Jahr, in dem England seinen „großen Aufstand“ vollbrachte (1648), wurde im Namen des Moskauer Zaren am rechten Wolgaufer die Stadt Simbirsk als Verwaltungszentrum des kolonisierten Gaues und als militärischer Stützpunkt gegen die Einheimischen gegründet. Der weite Ring von Kolonisatoren, Grenzern und Kosaken war für das Zarentum jedoch nicht nur ein beweglicher Schutz, sondern auch eine Gefahr. Hierher, an den Rand des Reiches, flüchteten leibeigene Bauern, straffällig gewordene Soldaten und Beamte, überhaupt alle, die mit den Behörden in Moskau und später in Petersburg in Konflikt geraten waren, Raskolniki und Sektierer jeder Art und auch nicht wenige kriminelle Gesellen. Hier trieben sich in der Weite des Wolgalandes verwegene Räuber herum, beunruhigten die Kaufleute, Bojaren und Woiwoden, schlossen sich zu richtigen Reiterabteilungen zusammen, drangen in die Städte ein, verhinderten Steuereintreibungen – und zum Dank dafür vergab ihnen das unterdrückte Volk, was sie ihm selbst antaten, und feierte und pries sie in seinen Liedern.

Etwas mehr als zwei Jahrzehnte nach der Gründung von Simbirsk flammte an der Wolga der berühmte Aufstand Stepan Rasins auf, der einen großen Heerhaufen von bewaffnetem heimatlosem Volk um sich scharte, um „Schluß zu machen mit Woiwod und Bojar“, fünf Jahre lang auf seinen Fahrten auf der Wolga und im Kaspisee Furcht und Schrecken verbreitete und Moskau heillose Angst einjagte. Zarizyn, Saratow, Samara – eine Wolgastadt nach der anderen ergab sich den Aufständischen. Simbirsk hielt stand. Die Adligen und Bojarensprößlinge trotzten der Belagerung, bis aus Kasan regulärer Entsatz kam. Dort, bei Simbirsk, erlitten die aufständischen Partisanen im Kampf mit der europäisch geschulten zaristischen Armee eine schwere Niederlage. Das Ufer der Wolga war mit Galgen übersät; achthundert Menschen wurden hingerichtet. Der schwerverwundete Ataman selbst wurde als Gefangener nach Moskau gebracht und, wie es Brauch war, gevierteilt. Die Erinnerung an Rasin blieb jedoch im Wolgaland, ja in ganz Rußland lebendig. Die Hügel bei Kamyschin, wo die Aufständischen ihr Lager errichtet hatten, behielten den Namen „Stjenka-Rasin-Höhen“. Im Volksepos behauptete sich Stepan als eine der beliebtesten Gestalten. Die radikale Intelligenz sang begeistert die Lieder, die von radikalen Dichtern über Stjenka verfaßt wurden.

Etwas mehr als hundert Jahre später, unter Katharina, als sich Frankreich der großen Revolution näherte, erhob sich aufs neue drohende Gefahr: Jemeljan Pugatschow zog an der Spitze einer großen Heerschar von Unzufriedenen und Aufständischen durchs Wolgaland und nahm eine Stadt nach der anderen ein. Simbirsk ließ er ungeschoren, im Süden kam er bis Zarizyn; dort aber wurde er von regulären Truppen geschlagen, von den eigenen Kampfgefährten ausgeliefert und in einem eisernen Käfig nach Moskau geschickt, wo er das gleiche Schicksal erlitt wie Rasin.

Diese zwei Aufstände im Wolgaland verkörpern die spezifische Tradition der Bauernrevolution des alten Rußland. Trotz ihres gewaltigen Ausmaßes brachten sie jedoch dem Volk keine Erleichterung. Ein ehernes Gesetz der Geschichte lautet, daß eine Jacquerie, auf sich selbst gestellt, sich nicht zu einer wirklichen Revolution entfalten kann. Selbst wenn ihr Aufstand einen vollen Sieg erringt kann die Bauernschaft nur neue Dynastien auf den Schild heben und neue feudale Kasten bilden: darin besteht die ganze alte Geschichte Chinas. Nur unter der Führung einer revolutionären städtischen Klasse kann ein Bauernkrieg zu einem Werkzeug der Umgestaltung der Gesellschaft werden. Aber die alten russischen Städte waren Ansammlungen des Landadels, der Bürokratie und ihres Gesindes und besaßen keinerlei fortschrittliche Kräfte. Das ist auch der Grund, warum nach jeder der großartigen Volksbewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts die Wolga das vergossene Blut spurlos in den Kaspisee schwemmte und das zaristische und gutsherrliche Joch noch unerträglicher wurde als zuvor. Wenn in beiden Fällen Simbirsk standhielt, so ist einer der Gründe dafür zweifellos sein Charakter als festes Nest der Bojaren und des Landadels. Ihre reaktionäre Rolle behauptete die Stadt am Mittellauf der Wolga, wo Lenin das Licht der Welt erblickte, bis zuletzt – sowohl in der Periode des Oktoberumsturzes, als auch später in der Zeit des Bürgerkriegs.

Das alte Rußland war fast ein einziges Dorf, und das Simbirsker Gouvernement war der konzentrierte Bodensatz des alten Rußland. Selbst am Ende des vorigen Jahrhunderts überstieg der Anteil der städtischen Bevölkerung noch immer nicht sieben Prozent, und der unterschied sich überdies in seiner Zusammensetzung nur wenig von der des Dorfes. In den Steppen und Wäldern zeigten sich die sozialen Gegensätze nackt und doppelt brutal. Die Simbirsker Bauern verfügten über weit weniger Boden als jene im übrigen Wolgaland; ein Drittel der Bauernhöfe war pferdelos, ihre Besitzer gehörten eindeutig zu den Armbauern, zu den Paupers. Die am schwersten benachteiligte Gruppe, die fremdstämmigen Ureinwohner, hatte unter doppelter Unterdrückung zu leiden. Die größten und besten Ländereien befanden sich in den Händen der Gutsbesitzer; auf ihren Anteil entfielen 73 Prozent. Noch schlimmer stand es mit dem Waldbesitz des Gouvernements: von über anderthalb Millionen Hektar Wald gehörte gut die Hälfte der Güterverwaltung, das heißt der Zarenfamihe, und ungefähr ein Drittel den Gutsbesitzern; auf die Bauern, die 95 Prozent der Bevölkerung ausmachten, kam der fünfzigste Teil des Waldlandes. Wahrlich, wer die feudale Barbarei hassen 1ernen wollte, der mußte in Simbirsk geboren werden!

Schon im äußeren Bild der Stadt zeigte sich sehr anschaulich die soziale Struktur des Gouvernementsr übrigens auch die des alten Landes. Das alte Simbirsk bestand aus drei sehr verschiedenen Teilen: dem des Adels, dem der Händler und dem der Kleinbürger. Auf der Höhe des Berges, der „Krone“ genannt wurde, lag das vornehme Viertel – das des Adels. Hier war der Dom, hier waren die Verwaltungsgebäude, die Lehranstalten, der Boulevard. Aushängeschilderschmückten nicht nur die „Adelsversammlung“ und das „Adelige Vormundschaftsamt“, sondern auch die „Adeligen Absteigquartiere“ und sogar die „Adelsbäder“. In den breiten Straßen mit hölzernen Bürgersteigen lagen frei, inmitten von Gärten, die Häuser der Gutsherren, die eher ländlichen Herrschaftshäusern glichen, Auf dem Boulevard, am Ufer des Flusses, spielte an den Abenden für ein auserwähltes Publikum eine Militärkapelle. Selbst das Wolgaland mit seiner Armut, seinen Epidemien, mit seinen versklavten Bauern und der Zwangsarbeit der Wolgaschlepper, verwandelte sich, vom Boulevard aus gesehen, auf Dutzende von Kilometern, flußaufwärts und flußabwärts, mit der schmeichelnden Glatte des Wassers, den kleinen, bewaldeten Inseln und der in der Ferne verdämmernden Ebene jenseits der Wolga, in ein unvergleichliches Panorama.

Dem Simbirsker Adel entstammten viele hohe Würdenträger und Kommandeure, die sich übrigens in keiner Weise auszuzeichnen vermochten. Der größte Stolz der „Krone“ war der Historiker Karamsin, der nach einem bissigen Wort Puschkins, mit Einfalt und Grazie „die Notwendigkeit des Absolutismus und die Anmut der Knute“ bewies. Der zu Lebzeiten Nikolaus’ I. umschmeichelte offizielle Historiker wurde nach seinem Tode eines allegorischen Denkmals in seiner engeren Heimat würdig befunden. Die antike Muse der Geschichte, die schlecht mit dem Klima, der Flora und Fauna des Wolgalandes harmonierte, erhielt von der Bevölkerung den Namen „Eisernes Weib“. Die Bäuerinnen, die alljährlich zur Begrüßung der Ikone der großen Kasaner Muttergottes in Simbirsk zusammenströmten, beteten inständig zur heidnischen Klio, die sie in der Einfalt ihrer Seele für die Märtyrerin Barbara hielten.

Der Abhang des Berges war mit Obstgärten bedeckt, von denen viele von geächteten Sektenpriestern angelegt waren. Jenseits des Flüßchens Simbirka, das die Stadt durchschneidet, erstrecken sich die Handelsplätze, auf denen an Markttagen Bast und Teer, eingesalzene und getrocknete Wolgafische, Backwaren, Sonnenblumenkerne und andere Delikatessen aufgehäuft und im Staub aufgestapelt lagen; in festen Höfen mit schweren Riegeln an den Toren wohnten die Kaufleute: Tuchhändler, Müller, Getreide- und Holzhändler. Manche von ihnen hatten schon Hunderttausende angehäuft und schielten zur adligen Höhe des Berges. Die Kleinbürger schließlich, unscheinbare und eingeschüchterte kleine Leute, wohnten am Rande der Stadt. Ihre Häuschen und elenden Hütten, mit Spalten statt Fenstern, mit Taubenschlägen und Starenkästen lagen verstreut da, bald in Gruben, bald auf Bodenerhebungen, bald einzeln, bald in Haufen an den engen, gewundenen Straßen und Gäßchen, zwischen windschiefen Flechtzäunen. Fette, schmutzige Schweine und Hofhunde mit zottigem Fell belebten dieses wenig ansehnliche Stadtbild. Und dann begann schon das Dorf, ebenso armselig im Waldland wie im Steppenland des Gaues.

Grausam und kümmerlich war die rückständige „soziale Gotik“ Rußlands, besonders dort, an der Wolga, wo der Wald, die Wiege des großrussischen Staates, mit der Nomadensteppe feindlich zusammenstieß. Den gesellschaftlichen Verhältnissen fehlte es an Vollendung und Beständigkeit; sie glichen jenen regellosen Bauwerken, die sich der russische Kolonisator aus frischgefälltem Holz als Unterkunft errichtete. Den Stempel des Provisorischen trugen auch die hölzernen russischen Städte, die immer wieder abbrannten und dann in aller Eile wiederaufgebaut wurden. Von einem riesigen Brand, der neun Tage lang wütete, wurden im Jahre 1864 fast drei Viertel von Simbirsk zerstört. Hunderte Menschen fanden in den Flammen den Tod. Aber schon im Laufe der nächsten Jahre erhob sich der Fichtenholzphönix mit all seinen 29 Kirchen wieder aus der Asche. Indes wuchs Simbirsk nur langsam; in den siebziger Jahren zählte es noch immer keine 30.000 Seelen: das finstere und hungrige Gouvernement, das den Boden mit dem Holzpflug ritzte, brauchte keine größere Stadt; sie hätte auch seine Kräfte überstiegen.

Dafür wurde Simbirsk im Frühling wunderschön: Der ganze Berg blühte in der Pracht seiner Gärten; der Duft des Flieders, der Weichsel- und Apfelbäume und der Traubenkirschen stand über der adligen Kuppel des Berges; im Querschnitt der Straßen blinkte die Wolga, die in einer Breite von zwei bis drei Kilometer das Land überflutete; nachts sangen in den Gärten die Nachtigallen. Als solch ein verlorenes Paradies bleibt die Heimatstadt den ehemaligen Bewohnern der „Krone“ in Erinnerung. Aber das Frühlingsfest der Natur ging vorbei: die Sonne verbrannte das Grün der Gärten, die Stadt zeigte sich in ihrer Verwahrlosung, im Staub ihrer Straßen und Gassen, die bei regnerischem Herbst im Kot ertranken und im Winter verschüttet wurden von einer schweren Schneedecke. „Das ist keine Stadt, sondern ein Friedhof, wie alle diese Städte“, sagte Gontscharow von seiner Vaterstadt Simbirsk.

Auf der Anhöhe verlief das Leben satt, betrunken und gemessen Es gab entschieden nichts, wohin man hätte eilen sollen. Nicht zufällig schuf der aus Simbirsk stammende und von dieser Stadt geformte Gontscharow die Gestalt Oblomows, diese Verkörperung herrschaftlicher Unbeweglichkeit, Scheu vor jeder Anstrengung, selbstzufriedener Untätigkeit – den wahren und unnachahmlichen altrussischen Typ, der hervorgebracht wurde durch das feudale Recht der Leibeigenschaft, es aber lange überlebte und der bis auf den heutigen Tag nicht endgültig ausgestorben ist. 1.500 Kilometer von Petersburg und 900 Kilometer von Moskau entfernt, hatte Simbirks bis zum Ende der achtziger Jahre keine eigene Eisenbahnlinie. Die ärarischen Gubernskije Wjedomosti (Gouvernements-Nachrichten), die zweimal in der Woche erschienen, waren die einzige politische Zeitung! Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts war in dieser Stadt auch noch kein Telephon installiert. Wahrhaft die ideale Hauptstadt der altrussischen Oblomowerei (Oblomowschtschina)!

Zwei verbündete und sich bekämpfende Hierarchien, die bürokratische und die adlige, die untereinander den Einfluß teilten, beherrschten die Stadt und das Gouvernement. An der Spitze stand der Gouverneur, das Auge von Sankt Petersburg, Träger der Macht, Hüter des gutsherrlichen Schlafes vor den Gespenstern Pugatschowscher Gefahr. Die Kirche nahm den Worten nach den ersten Platz ein; doch in Wirklichkeit rangierten die Popen irgendwo hinter den Kaufleuten. Nur der Bischof galt noch als anerkannte Gestalt des Olymps, als eine Art geistlicher Gouverneur mit beratender Stimme. Bei den Beamten gab es eine eigene unerschütterliche Rangliste, ein für allemal festgelegt für die Menschenwürde in dreizehn Stufen Die Adeligen ließen sich darüber hinaus noch leiten von den verschiedenen Farbtönen des blauen Blutes und bemühten sich, auf die Emporkömmlinge unter den Beamten von oben herabzuschauen. Die Frage, wer im Dom welchen Platz einnehmen soll in welcher Reihenfolge man zu gehen habe, um das heilige Kreuz zu küssen oder das Händchen der Gouverneursgattin, waren Gegenstand großer Leidenschaften und kriegerischer Gruppierungen, die unweigerlich mit grandiosen Saufereien und nicht selten mit Prügeleien endeten. Wo es um die Ehre ging, vor allem nadi einem Saufgelage, schonten die Simbirsker Ritter weder fremde Backen noch die eigenen. In den adligen Herrschaftshäusern blühten indessen zärtliche Turgenjewsche Mädchen, die sich in der Folge nach den Gesetzen der Natur in geizige Gutsherrinnen oder neidische Beamtenfrauen verwandelten.

Ganz zu Beginn der sechziger Jahre, als die Entlarvungsliteratur in Mode kam, besang der radikal gestimmte Dichter Minajew, selbst ein Adeliger des Simbirsker Gouvernements, in Petersburg in satirischen Gedichten seine Heimat, „das Vaterland der Stockfische, des Schmutzes, der Intrigen“; die vornehmsten Adeligen mit ihrem „frechen Luxus“, ihren Spaßmachern, den hochmütigen Possen, den leibeigenen Harems; die unvergleichlichen Zecher, die beim Kartenspiel ihre Bauern verspielten; die Liberalen, die „zu Ehren der neunschwänzigen Katze“ Reden schwangen; die Scheinheiligen, die ihrer Dienerschaft die Kiefer zertrümmerten; die Bischöfe, die den Küstern während der Messe blaue Flecke beibrachten; der von der ganzen Stadt verfluchte Gymnasialdirektor, der „bürokratische Schurke“: alle wurden sie von Minajew, ohne jede Scheu, in wohlklingenden Jamben beim Namen genannt. Dafür erwiderte – als Jahrzehnte später der bereits still und friedlich gewordene Dichter als Greis in seine Vaterstadt zurückkehrte, wo inzwischen eine neue Generation herangewachsen war – kein einziger Adeliger seinen Besuch, und niemand folgte bei der Beerdigung seinem Sarg. Diese Leute wußten für die Ehre der Familientradition einzustehen!

Doch schließlich schlug die Stunde – es blieb noch ein Jahrzehnt bis zum hundertjährigen Jubiläum des Aufstands Pugatschows und bis zum zweihundertsten Jahrestag des Aufstands Rasins –, und die Leibeigenschaft, die von der Entwicklung bürgerlicher Verhältnisse bereits tief unterwühlt war, mußte von oben her abgeschafft werden. Der Zar zwang den Muschik nicht nur, dem Herrn für seine persönliche Freiheit zu zahlen, sondern auch für den uralten Bauernboden, der überdies durch die Reform zugunsten des Gutsbesitzers bestohlen wurde. Der Akt der „Befreiung“ wurde zu einer für die Bauern doppelt ruinösen gigantischen Finanzoperation. Außerdem brachten die Ablösezahlen in die gutsherrliche Wirtschaft das, woran es dort immer gemangelt hatte: bares Geld. Die Herren Gutsbesitzer schlossen das Goldene Zeitalter mit üppigen Totenmählern ab, jeder, wo er konnte: in Paris oder an der Riviera, in Petersburg oder in Moskau, und die weniger Großartigen auf den eigenen Gütern oder in Simbirsk, in diesem gemeinsamen Herrschaftsgut des Gouvernementsadels. Aber die Ablösezahlungen schmolzen wie Wachs; eine Wiederholung war nicht vorgesehen. Die Unternehmungslustigen, die mit dem Jahrhundert Schritt zu halten verstanden hatten, ergatterten einen Sitz im Semstwo (Landstand) oder fanden eine Versorgung beim Eisenbahnbau, andere verheirateten ihre Söhne mit Kaufmannstöchtern oder gaben die eigenen Töchter Kaufmannserben zur Frau. Doch die überwiegende Mehrzahl verfiel der historischen Liquidierung: sie verpfändete ihre Grundstücke, nahm zusätzliche Hypotheken, dann verkaufte sie ihre Häuser in der Stadt und die herrschaftlichen Familiensitze mit allen Nebengebäuden, dem schattigen Garten, den Gipsmusen und dem Kricketplatz. Ruiniert, verfluchte sie die Reformen, durch die das Volk verwöhnt wurde, der Boden verarmte, in den Simbirsker Wäldern die Marder und Hermeline ausstarben und selbst die Wolga schon nicht mehr so fette Störe gab wie in alten Zeiten. Die Reaktionäre riefen nach der Knute und sandten nach Petersburg Denkschriften, wie zeitgemäß die Wiedereinführung der Leibeigenschaft wäre. Die Liberalen empörten sich über die Langsamkeit des Fortschritts und opferten heimlich Geld für das revolutionäre Rote Kreuz. Die Anhänger der Knute waren unvergleichlich zahlreicher.

Im Kaufmannsviertel von Simbirsk, wo die konservative Unbeweglichkeit noch viel gröbere Formen hatte als in Adelskreisen, führte die Reform- und Gründerzeit dazu, daß die traditionelle Habsucht ein bisher unbekanntes Ausmaß annahm. Gerade aus diesen Kreisen kamen am häufigsten die Aufkäufer der Herrschaftsgüter und der Stadthäuser des Adels. In das Heiligtum des Gouvernementsolymp drangen nun bärtige Kaufleute ein, die sich zwar noch scheuten, die wattegefütterten Schirmmützen gegen weiche Hüte und die Röhrenstiefel gegen französische Stiefeletten zu tauschen; aber die sprichwörtliche Unterwürfigkeit hatten sie bereits abgelegt. So begann sich auf der Simbirsker „Krone“ jene nicht sehr harmonische, aber nichtsdestoweniger beständige Symbiose des Adels, der Kaufmannschaft und der Bürokratie zu etablieren, die in verschiedenen Formen das Antlitz des offiziellen Rußland für mehr als ein halbes Jahrhundert bestimmte: von der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 bis zum Zusammenbruch des alten Rußland im Jahre 1917.

Der wirtschaftliche Fortschritt drang vom Westen nach Osten vor und vom Zentrum zur Peripherie. Denselben Weg nahmen auch die politischen Einflüsse. Das Wolgaland, dieser rückständige Teil eines rückständigen Landes, konnte nicht bewahrt bleiben vor den Ideen und Aktionsversuchen, die die revolutionäre Umgestaltung Rußlands vorbereiteten. Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts nahm der gebildete Simbirsker Adelige und Staatsrat N.I. Turgenjew, ein Anhänger der Enzyklopädisten und Feind der Leibeigenschaft, an einer Petersburger geheimen Gesellschaft teil, einer von denen, die den bekannten halbschlächtigen Aufstand der Garderegimenter vom 14. Dezember 1825 vorbereiteten. Das heroische und hoffnungslose konstitutionelle Aufbegehren der fortschrittlichen Jugend in Uniform, in deren Reihen sich zweifellos auch die Elite der Simbirsker Adelsfamilien befand, wurde mit einer Kartätsche niedergeschlagen. Turgenjew, der sich rechtzeitig ins Ausland gerettet hatte, wurde in Abwesenheit zum Tod verurteilt; er wurde in ganz Europa bald durch ein französisches Buch über Rußland bekannt. Der Aufstand der Dekabristen ist in die russische Geschichte eingegangen als Wasserscheide zwischen den höfischen Staatsstreichen der Garde im 18. Jahrhundert und dem späteren Befreiungskampf, zu dem er in dramatischer Auftakt war.

Die Traditionen der Dekabristen wurden zur Schule für die sogenannte Generation der vierziger Jahre, die nach den Worten eines anderen Turgenjew, des berühmten Romanciers, den „Hannibalschwur“ des Kampfes gegen die Leibeigenschaft ablegte. Der hervorragende Publizist dieser Generation war A.N. Herzen. Auf dem äußersten linken Flügel erhob sich die monumentale Gestalt des demokratischen Slawophilen und späteren Vaters des internationalen Anarchismus, des russischen Adeligen Bakunin. Simbirsk gab der Generation der vierziger Jahre ausnahmsweise keinen liberalen Gutsbesitzer, sondern einen äußerst konservativen Kaufmanssohn, Gontscharow, dem es jedoch glückte, in der Gestalt Oblomows der russischen Feudalkultur ein vernichtendes und inappellables künstlerisches Urteil zu sprechen.

Der Krimkrieg (1835 bis 1856) endete mit dem Zusammenbruch der vermeintlichen Kriegsmacht des Zarismus: Der Dampfer siegte über das Segelschiff, der Kapitalismus über die Gutsherrenwirtschaft. Das System der Schnurrbart wichsenden Großtuerei, das auf den Knochen der Dekabristen errichtet worden war und sich ganze dreißig Jahre halten konnte, platzte mit Gestank. Der rätselhafte Tod des Zaren, dem A.N. Herzen den Namen „Nikolaus Prügelstock“ gab, öffnete der allgemeinen Unzufriedenheit die Schleusen. Die Presse begann eine ungewöhnlich kühne Sprache zu sprechen. Mit der wucherischen Bauernbefreiung setzt die Epoche der sogenannten „großen Reformen“ in. In dem um seine Hoffnung betrogenen Dorf herrschte dumpfe Empörung. In der fortschrittlichen Öffentlichkeit kam es zur offenen Spaltung: als Gegengewicht gegen die Gemäßigten traten die Radikalen auf. Den Gegensatz zwischen den politischen Richtungen kanonisierte der empfindsame Turgenjew in seinem Roman Väter und Söhne als endgültigen Bruch zwischen den Menschen der vierziger und jenen der sechziger Jahre. Die Zurückführung der Frage auf den Bruch zwischen den Generationen war nur ein Teil der Wahrheit, und dieser Teil verschleierte das Ganze. Im Grunde genommen hatte der Kampf sozialen Charakter. Die gebildeten Gutsbesitzer, die ihre adligen Priviiegien schöngeistig bereuten, wurden von einer neuen sozialen Schicht abgelöst, ohne Privilegien und daher auch ohne Reue. Diese neue Schicht entbehrte zwar einer ästhetischen Erziehung und erblicher Manieren, war aber zahlreicher, entschlossener und aufopfernder: Es handelte sich vor allem. um Söhne von Geistlichen, um Offiziere niederen Ranges, kleine Beamte, Kaufleute, bankrotte Adelige, gelegentlich auch um Kleinbürger und Bauern; Studenten, Seminaristen, Volksschullehrer, mit einem Wort, um sogenannte Rasnotschinzen, der keinem Stand angehörigen Intelligenz, die gerade in dieser Zeit sich in den Kopf gesetzt hatte, das Schicksal des Landes in die Hand zu nehmen. In den Vordergrund tritt auf einmal die studierende Jugend mit ihrem Protest, und das Wort Student wird für viele Jahre für das Volk zum Synonym für die von Turgenjew geprägte Bezeichnung Nihilist.

Gleichzeitig befreite der Sturz der Fronherrschaft die ältere Generation von ihrem „Hannibalschwur“ und entließ sie politisch gewissermaßen in die Reserve. Den liberalen Westlern schwebte vor, daß Rußland von nun an sich langsam und schrittweise der europäischen Zivilisanon annähern werde. Die Rasnotschinzen dagegen vertraten mit aller Schärfe die Perspektive eines besondren Schicksals des russischen Volkes, der möglichen Vermeidung der kapitalistischen Sklaverei, des direkten Kampfes gegen die Unterdrücker. Mit einer gehörigen Beimischung von Utopismus klang das, was die Sechziger verkündeten, unvergleichlich tapferer als der schale „Schwur“ der Väter. Nicht ohne Herausforderung antwortete Turgenjew 1863 auf wohlmeinende Ratschläge: „Ich habe nie für das Volk geschrieben. Ich habe für die Klasse des Publikums geschrieben, der ich angehöre ...“ Indessen suchten neue Menschen leidenschaftlich Wege zum Volk. Statt humanitärer Bußpredigten an die Adresse der Herrschenden beschlossen sie, die Unterdrückten zum Haß aufzurufen. Ebenso wie Gontscharow wandte sich Turgenjew gegen die „Söhne“ als mißratene Sprößlinge. Turgenjew nicht ohne die ihm eigene Kokettene; Gontscharow gehässig und verleumderisch. Im Roman Die Schlucht, dessen Schauplatz ein adliges Gut bei Simbirsk ist, schildert Gontscharow als schändliches Exempel, wie der Nihilist Mark Wolochow sich erkühnt, Gott durch die Gesetze der Chemie zu ersetzen, wie er von liberalen Adeligen Geld ausleiht, das er nicht zurückgibt, junge Leute auf den Weg der Anarchie lockt und adelige Jungfrauen verführt. Der kollektive Wolochow erwies sich jedoch nicht als schüchternes Bürschlein, grämte sich nicht über die Verurteilung durch die Väter, sondern ging entschlossen zum Angriff über. Mit den sechziger Jahren beginnt die Epoche des ununterbrochenen, immer unerbittlicheren revolutionären Kampfes.

Nicht nur die schöne Literatur, auch die historische Chronik zeugt davon, daß Simbirsk frühzeitig mit den Nihilisten Bekanntschaft machte: die einen hatte die Polizei aus bedeutenderen Städten hierher verbannt, andere wieder hatten sich an Ort und Stelle unter dem Einfluß der Verbannten formiert. Es ist überhaupt bemerkenswert, daß aus den gottverlassensten Gegenden des Landes nicht selten entschiedene Revolutionäre jener Epoche hervorgingen. Unter den linken Studenten nahmen zum Beispiel die Donkosaken und Sibirier einen beachtlichen Platz ein, das heißt junge Leute aus durch und durch großbäuerlichem Milieu, und ebenso solche, die aus stockadeligen Gouvernements wie dem Simbirsker stammten. Die Schärfe des Zusammenstoßes der neuen Strömungen mit der reglosen Erstarrung weltferner Winkel führte bei den empfindsamsten Vertretern der Jugend zu jenem scharfen, oft erbitterten Bruch mit dem alten Glauben und den alten Bindungen, der sie dann zum aufopfernden Dienst an der Revolution brachte. Rückständigkeit neigt überhaupt dazu, in einem bestimmten Augenblick mit vernichtender Entschlossenheit in Drang zum Fortschritt umzuschlagen. Rußland hat das mit seinem ganzen Schicksal demonstriert.

Der ungeheure Simbirsker Brand im Jahre 1864 hatte ebenso wie eine Reihe von anderen Bränden, die in diesem Jahr in Petersburg und in Provinzstädten wüteten, einen rätselhaften politischen Hintergrund. Die Regierung suchte Schuldige unter den Polen und Revolutionären, konnte aber keine finden. Die Anhänger der Leibeigenschaft gaben den Nihilisten die Schuld und forderten aus diesem Anlaß den Aufschub der Bauernreform. Um dieser Forderung mehr Nachdruck zu verleihen, betätigten sie sich offenbar selbst als Brandstifter. Die von Baron Wrangel durchgeführte Untersuchung über die Ursachen des Simbirsker Brandes blieb ergebnislos. Als Sündenböcke wurden trotzdem zwei Soldaten zum Tode verurteilt. Ob das Urteil vollstreckt wurde, wissen wir nicht. Der Senator Shdanow, der Wrangel ablöste, sammelte angeblich im Laufe einer zweijährigen Untersuchung unwiderlegliche Beweise für die Schuld einer reaktionären Bande; aber auf dem Weg nach Petersburg starb Shdanow eines plötzlichen Todes; seine Aktentasche wurde nie gefunden. Der dritte Revisor, General Den, setzte alle von seinem Vorgänger Verdächtigten in Freiheit und stellte die ganze Untersuchung als aussichtslos ein, und 1869, als die Uljanows nach Simbirsk übersiedelten, beschloß der Regierungssenat, „die Sache der Vergessenheit anheimzugeben“, was auch erfolgreich durchgeführt wurde.

Am Ende des adeligen Viertels der Stadt, an derselben Stelle, an der nach der Überlieferung die Heerschar Rasins vernichtend geschlagen wurde, in der entlegenen; und stillen Streletzker Straße, nicht weit vom Gefängnis, kam in einem Nebengebäude am 10. April 1870 das dritte Kind des Volksschulinspektors Uljanow zur Welt. Das Nebengebäude existiert schon lange nicht mehr, und man weiß nicht einmal, wo es stand. Aber man muß annehmen, daß es sich kaum von den vielen anderen Nebengebäuden in der hölzernen Wolgastadt unterschied. Dem Knaben gab man bei der Taufe den klangvollen slawischen Namen Wladimir, was soviel wie Herrscher oder Gebieter der Welt heißt. Die Eltern waren ebenso wie der Geistliche weit davon entfernt, diesen Namen als Prophezeiung zu betrachten. Dem an der Wolga geborenen Knaben war es beschieden, Führer und Gebieter des Volkes zu werden. Simbirsk wird sich dereinst in Uljanowsk verwandeln. Das Gebäude der Simbirsker Adelsversammlung wird zum Haus des Buches werden, das nach Lenin benannt ist. Das Rußland des Zaren wird sich in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verwandeln.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008