Leo Trotzki

 

Der junge Lenin


Der revolutionäre Weg der Intelligenz

Als Intellektueller plebejischer Herkunft gehörte Ilja Nikolajewitsch Uljanow der Bürokratie an, ohne in ihr aufzugehen. Die Kinder hatten keinerlei Verbindung mit dem bürokratischen Milieu: ihr Beruf wurde der revolutionäre Kampf. Bevor die Befreiungsbewegung gegen Ende des Jahrhunderts zu einer Massenbewegung wurde, durchlief sie in den ersten Jahrzehnten eine reiche Geschichte im Laboratoriumsmaßstab. Man kann das Schicksal der Familie Uljanow nicht verstehen, wenn man nicht die Logik der selbständigen revolutionären Bewegung der russischen Intelligenz und gleichzeitig auch die Logik ihres Zusammenbruches verstanden hat.

In einem der berühmten politischen Prozesse der siebziger Jahre, der als „Sache der 193“ bekannt ist, entwickelte der Hauptangeklagte den Gedanken, daß nach der Bauernreform außerhalb der Reihen der Bauernschaft „eine ganze Fraktion entstanden war ..., bereit, dem Ruf des Volkes zu folgen, die zur Keimzelle einer sozial-revolutionären Partei wurde. Diese Fraktion ist das geistige Proletariat.“ Mit diesen Worten von Hippolyt Myschkin wird das Wesen der Erscheinung richtig beschrieben, wenn auch nicht richtig eingeschätzt. Die feudale Gesellschaft zersetzte sich schneller, als die bürgerliche sich herausbildete. Die Intelligenz, die ein Produkt des Zerfalls der alten Stände war, fand weder hinreichend Nachfrage nach ihrer Arbeit noch einen Wirkungsbereich für ihren politischen Einfluß. Sie brach mit dem Adel, der Bürokratie, der Geistlichkeit, mit ihrem müßigen Leben und ihren sklavenhalterischen Traditionen. Aber sie suchte auch keinen Anschluß an die noch allzu primitive und rohe Bourgeoisie. Sie betrachtete sich als sozial unabhängig und erstickte gleichzeitig beinahe in den Klauen des Zarismus. So war nach der Aufhebung der Leibeigenschaft die Intelligenz fast der einzige Nährboden für revolutionäre Ideen, vor allem die junge Generation, der ärmste Teil der studierenden Jugend, die Studenten, Seminaristen, Gymnasiasten, die in ihrer Mehrheit nicht besser lebten als das Proletariat, oft sogar schlechter. Der Staat brauchte die Intelligenz und erzeugte sie, schweren Herzens, durch seine Schulen. Die Intelligenz aber verlangte nach einer Erneuerung des Regimes und wurde zum Feind des Staates. Das politische Leben des Landes wurde für lange Zeit zum Duell zwischen der Intelligenz und der Polizei, bei fast vollständiger Teilnahmslosigkeit der entscheidenden Klassen der Gesellschaft. Mit Schadenfreude, aber nicht ohne Grund wies der Staatsanwalt im Prozeß Myschkins darauf hin, daß sowohl die „entwickelteren Schichten“, das heißt die besitzenden Klassen und die ältere Generation der Intelligenz selbst, als auch die „der Bildung entbehrenden“, das heißt die Volksmassen, für die revolutionäre Propaganda gleichermaßen unzugänglich sind. Unter diesen Umständen war der Ausgang des Zusammenpralls im vorhinein entschieden. Da aber der Kampf dem „geistigen Proletariat“ durch seine ganze Lage aufgezwungen wurde, erforderte er große Illusionen.

Die Intelligenz, die sich in ihrem Bewußtsein kaum erst von den mittelalterlichen Verhältnissen und Sitten losgerissen hatte, fand ihre Kraft in ihren Ideen. Seit den sechziger Jahren hatte sie sich eine Theorie zu eigen gemacht, wonach die Vorwärtsbewegung der Menschheit das Ergebnis des kritischen Denkens sei; wer aber konnte denn als Träger des kritischen Denkens auftreten, wenn nicht sie, die Intelligenz? Da sie gleichzeitig ihre geringe Zahl und ihre Isolierung fürchtete, war die Intelligenz genötigt, zur großen Gebärde, der Waffe der Schwachen, Zuflucht zu nehmen: Sie sagte sich los von sich selbst, um desto mehr Recht zu haben, im Namen des Volkes zu sprechen und zu handeln: dies tat auch Myschkin im weiteren Teil seiner berühmten Rede. Aber Volk war gleichbedeutend mit Bauernschaft. Das wenig zahlreiche industrielle Proletariat präsentierte sich nur als eine ihrer zufälligen und ungesunden Abzweigungen. Die Anbetung der Bauernschaft und der Dorfgemeinschaft durch die Volkstümler wurde zur Kehrseite des maßlosen Anspruches des „geistigen Proletariats“ auf die Rolle des wichtigsten, wenn nicht einzigen Hebels des Fortschritts. Die Geschichte der russischen Intelligenz spielt sich zwischen diesen beiden Polen ab: der Selbsterniedrigung und dem Hochmut, dem kurzen und dem langen Schatten ihrer sozialen Schwäche.

Die revolutionären Elemente der Intelligenz identifizierten sich nicht nur theoretisch mit dem Volk, sondern strebten danach, mit ihm zu verschmelzen; sie trugen Bauernkittel, aßen wie der Muschik Krautsuppe ohne Fleisch und lernten mit Hakenpflug und Axt zu arbeiten. Das war keine politische Maskerade, das war eine echte Tat. Aber zugrunde lag ihr ein großes Quidproquo: die Intelligenz schuf das Volk nach ihrem Ebenbild, und dieser biblische Schöpfungsakt bereitete ihr beim Übergang zur Aktion tragische Überraschungen.

Schon die ersten revolutionären Gruppen stellen sich die Aufgabe, einen Bauernaufstand vorzubereiten. Ist nicht die Fähigkeit des Muschiks zur Meuterei tatsächlich durch seine ganze Vergangenheit erwiesen? An die Stelle von Stepan Rasin und Jemeljan Pugatschow wird von nun an die kritisch denkende Persönlichkeit treten. Diese Hoffnungen hingen, so schien es, nicht ganz in der Luft. In den Jahren der Vorbereitung und Durchführung der Reform empörte sich die Bauernschaft in verschiedenen Teilen des Landes; da und dort war die Regierung genötigt, Militär einzusetzen, in den meisten Fällen fand man mit der patriarchalischen Prügelstrafe das Auslangen. Die Bauernunruhen gaben in Petersburg 1860 den Anstoß zur Gründung der kleinen illegalen Organisation „Junges Rußland“. Ihr unmittelbares Ziel war: „... eine blutige und unbarmherzige Revolution, die alle Grundlagen der heutigen Gesellschaft radikal ändern muß“. Aber die Revolution ließ auf sich warten. Ohne ihre Einschätzung zu ändern, kam die Intelligenz zu dem Schluß, daß es sich nur um einen kurzen Aufschub handelte. Neue Zirkel zur Vorbereitung der Revolution entstanden. Die Regierung antwortete darauf mit Unterdrückungsmaßnahmen, deren grausames Wüten dem Ausmaß ihrer Beunruhigung entsprach. Für den Versuch, eine Proklamation an die Bauern zu verbreiten, wurde der berühmte russische Publizist Tschernyschewskij, der wirkliche Führer der jungen Generation, am Schandpfahl zur Schau gestellt und zur Zwangsarbeit verschickt. Nicht ohne Grund hoffte der Zar, durch diesen Schlag die revolutionäre Bewegung für lange Zeit zu enthaupten. Am 4. April 1866 feuerte der fünfundzwanzigjährige Dmitrij Karakosow, ein aus niedrigem Adel stammender ehemaliger Student, auf Alexander II., als dieser den Sommergarten verließ, die erste Kugel, die den Zaren nicht traf, aber unter das „liberale“ Kapitel seiner Regentschaft den. Schlußpunkt setzte. Die Verfolgungen der Presse und die polizeilichen Uberfälle auf die Wohnungen friedlicher Bürger jagten den ohnehin nicht sehr tapferen liberalen Kreisen einen heillosen Schrecken ein. Die unabhängigen Elemente der Bürokratie kapselten sich ab. Von dieser Zeit an – so muß man annehmen – hörte Ilja Nikolajewitsch Uljanow auf, die Lieder seiner Jugend anzustimmen. Der Unterrichtsminister, Graf Dmitrij Tolstoj, beschloß, mit Hilfe eines sterilisierten Klassizismus als System der Verkrüppelung der jungen Hirne das freie Denken im Keim zu ersticken. Ein ungeheuerliches System wurde oktroyiert. Auch Alexander und Wladimir Uljanow mußten in der Folge die Foltern des Polizeiklassizismus mitmachen, bei denen Athen und Rom nur als Propyläen zum zaristischen Sankt Petersburg dienten.

Von der ersten Proklamation bis zum bewaffneten Anschlag auf den Zaren dauerte es also nur sechs Jahre. So schließt die Intelligenz im Morgengrauen ihrer revolutionären Tätigkeit den ersten kleinen Zyklus: von der Hoffnung auf einen sofortigen Aufstand der Bauern über den Versuch der Propaganda und Agitation zum individuellen Terror. Viele Erfahrungen, Fehler und Enttäuschungen stehen noch bevor. Doch eben mit dieser Zeit, mit der Aufhebung der Leibeigenschaft, beginnt die in der Weltgeschichte einzig dastehende Arbeit der revolutionären Pioniere, die im Laufe von sechs Jahrzehnten ihre unterirdischen Gänge anlegen und damit die Explosionen von 1905 und 1917 vorbereiten.

Zwei Jahre nach dem Prozeß gegen Karakosow versuchte der unscheinbare Provinzler Netschajew, Religionslehrer in einer Pfarrschule, eine der grandiosesten Gestalten in der Galerie der russischen Revolutionäre, eine Verschwörergesellschaft „Volksrache oder Axt“ zu gründen. Den Volksaufstand setze Netschajew im voraus für den neunten Jahrestag der Reform, den 19. Februar 1870, fest, den Tag, an dem die provisorischen Verhältnisse im Dorf dem Gesetz nach durch endgültige abgelöst werden sollten. Die revolutionäre Vorbereitungsarbeit ist genau nach einem Kalender eingeteilt: bis zum Mai 1869 in der Hauptstadt und in den Universitätsstädten; vom Mai bis zum September in den Gouvernements- und Kreisstädten; ab Oktober „mitten im Volk“; im Frühjahr 1870 soll die erbarmungslose Volksrache gegen die Ausbeuter beginnen. Aber es kommt auch diesmal nicht zum Aufstand. Die Sache endet mit der Ermordung eines Studenten, der des Verrats verdächtig ist. Netschajew, der ins Ausland floh und von der Schweizer Regierung dem Zaren ausgeliefert wurde, beendete seine Tage in der Petropawlowsker Festung. Im Sprachgebrauch der revolutionären Zirkel wird das Wort Netschajewerei (Netschajewschtschina) noch lange eine harte Verurteilung sein, ein Synonym für gewagte und verdammenswerte Mittel zur Erreichung von revolutionären Zielen. Lenin wird von seinen politischen Gegnern Hunderte Male die Beschuldigung Netschajewscher Kampfmethoden zu hören bekommen.

In den siebziger Jahren beginnt der zweite Zyklus der Revolution, der in seinem Ausmaß schon weit größer ist, aber in seiner Entwicklung die uns schon bekannte Folge der Etappen reproduziert: von der Hoffnung auf einen Volksaufstand und den Versuchen, ihn vorzubereiten, über den Zusammenstoß mit der politischen Polizei bei Teilnahmslosigkeit des Volkes zum individuellen Terror. Die Netschajewsche Verschwörung, die voll und ganz auf der Diktatur einer einzige Person aufgebaut war, löste in revolutionären Kreisen eine kräftige Reaktion gegen Zentralismus und blinde Disziplin aus. Die nach einer kurzen Atempause im Jahre 1873 wiederauflebende Bewegung nimmt den Charakter eines chaotischen massenweisen Ins-Volk-Gehen der Intelligenz an. Junge Leute, vor allem ehemalige Studenten und Studentinnen, insgesamt gegen tausend, trugen die sozialistische Propaganda in alle Teile des Landes, vor allem aber, auf der Suche nach dem geistigen Erbe Rasins und Pugatschows, an den Unterlauf der Wolga. Die in ihrem Ausmaß und ihrem jugendlichen Idealismus großartige Bewegung, die wahre Wiege der russischen Revolution, zeichnete sich, wie sich das für eine Wiege ziemt, durch äußerste Naivität der Methoden aus. Die Propagandisten hatten weder eine leitende Organisation noch ein klares Programm, noch konspirative Erfahrung. Wozu auch? Der junge Mensch ohne Beruf, der mit seiner Familie und mit der Schule gebrochen hatte, ohne persönliche Bindungen und Verpflichtungen, ohne Angst vor den irdischen und himmlischen Gewalten, betrachtete sich selbst als einen lebenden Kristall des Volksaufstandes. Verfassung? Parlamentarismus? Politische Freiheit? Nein, auf diese westlichen Köder läßt er sich nicht ein. Er braucht die ganze Revolution, ohne Abstrich und ohne Zwischenetappen.

Die theoretischen Sympathien der Jugend gehörten teils Lawrow, teils Bakunin. Beide Beherrscher der Geister kamen aus adeligem Milieu, beide wurden in ein und derselben Offiziersschule in Petersburg erzogen, Michail Bakunin zehn Jahre vor Pjotr Lawrow. Beide beendeten ihr Leben in der Emigration: Bakunin 1876, als Wladimir Iljitsch noch die Kinderschuhe vertrat; Lawrow lebte bis 1900, als Uljanow sich in Lenin verwandelte. Der ehemalige Artillerieoffizier Bakunin war schon zum zweitenmal in der Emigration und hatte bereits den Übergang vom demokratischen Panslawismus zum reinen Anarchismus vollzogen, als der Oberst Lawrow, Lehrer an der Artillerieschule und enzyklopädisch gebildeter Eklektiker, in legaler Journalistik die Theorie der „kritisch denkenden Persönlichkeit“ entwickelte, gewissermaßen den politischen Paß der russischen „Nihilisten“. Nichts entsprach besser dem Messianismus der Intelligenz als die Lehre von der Verpflichtung gegenüber dem Volk, eine Lehre, deren theoretischer Hochmut sich vereinte mit der ständigen praktischen Bereitschaft zum Opfer. Die Schwäche des Lawrismus bestand darin, daß er keinen Weg zu Aktion zeigte, wenn man von der abstrakten Propaganda des ein für allemal geoffenbarten Evangeliums absieht. Selbst völlig friedliche Kulturarbeiter wie Ilja Nikolajewitsch Uljanow konnten sich ehrlich als Jünger Lawrows betrachten; doch gerade deshalb befriedigte er den entschlossensten und aktivsten Teil der Jugend nicht. Die Lehre Bakunins erwies sich als unvergleichlich klarer und vor allem entschlossener; den russischen Bauern klassifizierte sie als „Sozialisten dem Instinkt und Revolutionär der Natur nach“; die Aufgabe der Intelligenz sah Bakunin im Aufruf zur sofortigen „allgemeinen Zerstörung“, aus der Rußland als eine Föderation von freien Gemeinschaften hervorgehen sollte. Die geduldige Propaganda mußte notwendig ins Hintertreffen geraten unter dem Ansturm der integralen Verkündung des Aufstandes. Gewappnet mit dem Bakunismus, der zur herrschenden Doktrin geworden war, betrachtete es die Intelligenz der siebziger Jahre als selbstverständlich, daß man nur die Funken des kritischen Denkens versprühen muß, damit Wald und Steppe zu einem einzigen Flammenmeer werden.

„Die Bewegungen der Intelligenz“, erklärte später vor Gericht der uns schon bekannte Myschkin, „sind nicht künstlich erzeugt, sondern sind Ausdruck des Volkswillens.“ Dieser vom Standpunkt der großen historischen Betrachtung unbestreitbare Gedanke konnte jedoch auf keinen Fall einen unmittelbaren politischen Zusammenhang zwischen der Unzufriedenheit des Volkes und den revolutionären Plänen der Rebellen beweisen Der schicksalhafte Ablauf der Verhältnisse wollte es, daß das Dorf, das fast während der ganzen Geschichte Rußlands in Aufruhr war, gerade dann still wurde, als sich die Stadt für das Dorf zu interessieren begann; still wurde für lange. Die Bauernreform war zu einer vollzogenen Tatsache geworden. Die nackte sklavische Abhängigkeit der Muschiks vom Gutsherrn war gefallen. Infolge der hohen Getreidepreise in den sechziger Jahren erhöhte sich der Wohlstand der obersten, wirtschaftlich aktivsten Schichten des Bauerntums, die dessen gesellschaftliche Ansichten bestimmten. Den räuberischen Charakter der Reform waren die Bauern bereit, dem Widerstand der Adeligen gegen den Willen des Zaren zuzuschreiben. Die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft stützten sich ebenfalls auf den Zaren: er war berufen, zu korrigieren, was die Gutsbesitzer und Beamten verdorben hatten. Diese Einstellung machte die Bauern nicht nur unzugänglich für die revolutionäre Propaganda, sondern führte dazu, daß sie die Feinde des Zaren als ihre eigenen Feinde betrachteten. Der leidenschaftliche und ungeduldige Drang der Intelligenz zur Bauernschaft stieß auf das erbitterte Mißtrauen der Bauernschaft gegen alles, was von den Herren kam, von den Städtern, von den Gebildeten, von den Studenten. Das Dorf empfing die Propagandisten nicht nur nicht mit offenen Armen, sondern wies sie feindselig ab. Diese Tatsache führte zum dramatischen Verlauf der revolutionären Bewegung der siebziger Jahre und zu ihrem tragischen Ende. Erst eine neue Generation der Bauernschaft, die schon nach der Reform aufgewachsen war und die Bodennot, die schweren Steuern, die Unterdrückung des Standes mit neuer Schärfe zu fühlen bekam, sollte – diesmal schon unter dem direkten Einfluß der Arbeiterbewegung – zur Ausräucherung der Gutsbesitzer aus ihren erblichen Nestern schreiten. Doch bis dahin mußte man noch ein Vierteljahrhundert warten.

Das Ins-Volk-Gehen war jedenfalls zu einem vollständigen Mißerfolg geworden. Weder Wolga noch Don noch Dnjepr antworteten auf den Ruf. Die Nichtbeachtung der nötigen Vorsicht bei der illegalen Arbeit führte zur Aufspürung der Propagandisten: die überwältigende Mehrheit von ihnen – mehr als 700 – wurde schon 1874 verhaftet. Die Staatsanwaltschaft inszenierte zwei große Prozesse, die für immer in die Geschichte der Revolution eingegangen sind: die „Sache der 50“ und die „Sache der 193“. Die Anklagen, die von den vor Gericht Stehenden über die Köpfe der Richter hinweg dem Zarismus ins Gesicht geschleudert wurden, ließen mehreren Generationen der Jugend die Herzen höher schlagen.

Die teuer bezahlte Erfahrung zeigte, daß kurze Ausflüge ins Dorf nicht genügen. Die Propagandisten beschlossen, ein System richtiger Ansiedlung im Volk zu versuchen, als Handwerker, Händler, Schreiber, Heilgehilfen, Lehrer und so weiter. Ihrem Umfang nach war diese Bewegung, die 1876 begann, weit schwächer als, die chaotische Welle des Jahres 1873: die Enttäuschungen und; Repressalien hatten zu einer Auslese geführt. Beim Übergang zum seßhaften Leben waren die Propagandisten genötigt, in den starken Wein des Bakunismus viel Lawrowsches Wasser zu gießen: Das Rebellentum wurde zurückgedrängt von der Kulturarbeit, bei der sich selbst zu individuellen sozialistischen Predigten nur ausnahmsweise Gelegenheit fand.

Entsprechend der Narodniki-Doktrin, die dem russischen Kapitalismus jede Zukunft absprach, wurde dem Proletariat in der Revolution überhaupt keine selbständige Rolle zugebilligt. Aber es ergab sich ganz von selbst, daß die ihrem Inhalt nach für das Dorf berechnete Propaganda nur in den Städten Zustimmung fand. Die Schule der Geschichte ist reich an Lehrmitteln. Die Bewegung der siebziger Jahre ist vor allem dadurch lehrreich, daß sich um das sorgfältig für die Maße der bäuerlichen Revolution zugeschnittene Programm ausschließlich Intellektuelle und vereinzelt auch Industriearbeiter sammelten. So offenbarte sich die Unhaltbarkeit der Volkstümelei, und zum erstenmal wurden kritische Elemente für ihre Revision erarbeitet. Aber bevor sie zu einer realistischen Doktrin kam, die sich auf die tatsächlichen Tendenzen der Gesellschaft stützte, mußte die revolutionäre Intelligenz erst zum Golgatha des terroristischen Kampfes hinansteigen

Die allzu fernen und in keiner Weise gesicherten Termine eines Erwachens der Volksmassen entsprachen nicht den leidenschaftlichen Erwartungen der revolutionären Zirkel in den Städten. Die grausame Abrechnung der Regierung mit den Propagandisten des ersten Aufgebots – jahrelange Präventivhaft, Dutzende Jahre Zwangsarbeit, körperliche Züchtigungen, Fälle von Irrsinn und Selbstmord – entflammte den brennenden Wunsch, von den Worten zur Tat überzugehen. Aber worin sonst konnte die sofortige „Tat“ von kleinen Zirkeln bestehen, als in Einzelaktionen gegen die verhaßtesten Vertreter des Regimes? Terroristische Stimmungen beginnen sich immer hartnäckiger Bahn zu brechen. Am 24. Januar 1878 schießt ein junges Mädchen, eine Einzelgängerin, auf den Petersburger Stadtkommandanten Trepow, auf dessen Befehl kurz vorher über den Häftling Bogoljubow eine Prügelstrafe verhängt worden war. Der Schuß von W.I. Sassulitsch – dieser hervorragenden Frau, mit der Lenin mehr als 20 Jahre später im Ausland in derselben Redaktion zusammenarbeiten sollte – war nur ein unmittelbarer Zoll an die Empörung; aber in dieser Geste lag der Keim eines ganzen Systems. Ein halbes Jahr später tötete Krawtschinskij, der mit dem Dolch ebenso gut umzugehen wußte wie mit der Feder, in einer Straße von Petersburg den allmächtigen Gendarmeriechef Mesenzew. Auch hier handelte es sich noch um Rache für zugrunde gegangene Kampfgenossen. Aber Krawtschinskij ist schon kein Einzelgänger mehr: er handelte als Mitglied einer revolutionären Organisation.

Die im Volk verstreuten „Ansiedlungen“ brauchten eine Führung. Durch die Erfahrungen des Kampfes wurden die Vorurteile gegen Zentralismus und Disziplin leicht überwunden, die als „Netschajewerei“ abgestempelt waren. Die Provinzgruppen schlossen sich bereitwillig einem organisierten Zentrum an. So wurde von auserlesenen Elementen „Semlja i Wolja“ (Land und Freiheit) gegründet, eine in ihrer Zusammensetzung und in der Geschlossenheit ihrer Kader wahrhaft hervorragende Organisation der revolutionären Volkstümlerbewegung. Doch immer schärfer wurde der Skeptizismus in den Beziehungen dieser Volkstümler zum Volk, das angesichts der blutigen Opfer der Revolutionäre so teilnahmslos blieb. Das Beispiel von Sassulitsch und Krawtschinskij war gewissermaßen ein Aufruf, nicht auf die Massen zu warten und mit der Waffe in der Hand sofort für sich und die Seinen einzutreten. Ein halbes Jahr nach der Ermordung von Mesenzew schoß der junge Aristokrat Mirskij – diesmal schon auf direkten Parteibeschluß – auf den neuen Chef der Gendarmerie, Drenteln. Der Schuß verfehlte sein Ziel. Zur selben Zeit, im Frühjahr 1879, kam ein angesehenes Parteimitglied aus der Provinz in die Hauptstadt und schlug vor, den Zaren zu töten. Alexander Solowjow, Sohn eines kleinen Beamten, der auf Staatskosten studiert hatte und dann Kreislehrer wurde, war durch die ernste Schule revolutionärer Ansiedlungen in den Dörfern des Wolgalandes gegangen, bevor er am Erfolg der Propaganda verzweifelte. Die Führer von „Semlja i Wolja“ schwankten. Der terroristische Sprung ins Ungewisse erschreckte sie. Die Verweigerung der Sanktion durch die Partei hielt Solowjow nicht ab. Am 2. April feuerte er auf dem Schloßplatz dreimal mit dem Revolver auf Alexander II. Der Zar blieb auch diesmal unverletzt. Die Regierung ließ natürlich auf Presse und Jugend einen neuen Hagel von Repressionen niedergehen.

Der Schuß Solowjows ist für die „Bewegung ins Volk“ der siebziger Jahre dasselbe wie der Schuß Karakosows für die ersten Propagandaversuche des vorhergehenden Jahrzehnts. Die Symmetrie springt ins Auge. Aber der zweite revolutionäre Zyklus ist der Anzahl der von der Bewegung erfaßten Personen, ihrer Erfahrung und Härte sowie der Erbitterung des Kampfes nach unvergleichlich bedeutender als, der erste. Der Anschlag Solowjows, von dem sich zu distanzieren „Semlja i Wolja“ schon nicht mehr für möglich hielt, bleibt kein isolierter Akt wie der Schuß Karakosows. Der systematische Terror wird auf die Tagesordnung gestellt. Der Krieg mit der Türkei, der die Wirtschaft zerrüttet und zur Kapitulation der russischen Diplomatie auf dem Berliner Kongreß (1879) geführt hatte, hatte die Gesellschaft gehörig aufgerüttelt, das Prestige der Regierung schwer angeschlagen und die Revolutionäre mit übertriebenen Hoffnungen beflügelt. Sie waren nun auf den Weg des direkten politischen Kampfes gedrängt. Nach dem Bruch (Juni 1879) mit den altgläubigen Volkstümlern, die der Loslösung vom Dorf nicht zustimmten, wechselte „Semlja i Wolja“ die Haut und betrat die politische Arena schon als „Narodnaja Wolja“ (Doppelbedeutung: „Volkswille“ oder „Volksfreiheit“). Gewiß, in der programmatischen Erklärung verzichtete die neue Partei nicht auf die Agitation in den Volksmassen: im Gegenteil, es wurde sogar beschlossen, für sie zwei Drittel der Mittel der Partei aufzuwenden, für den Terror aber nur ein Drittel. Doch dieser Beschluß blieb ein platonischer Zoll an den gestrigen Tag. Die revolutionären Chemiker stellten inzwischen ohne Mühe fest, daß man Dynamit und Pyroxilin, die durch den russisch-türkischen Krieg allgemein bekannt wurden, relativ leicht mit häuslichen Mitteln herstellen kann. Der Würfel war gefallen. Gleichzeitig mit der trügerischen Hoffnung auf die Propaganda, die endgültig dem Terror ihren Platz abtrat, wurde der Revolver, dessen Unzuverlässigkeit sich erwiesen hatte, vom Dynamit abgelöst. Die ganze Organisation wurde entsprechend den Bedürfnissen des terroristischen Kampfes umgebaut und alle Kräfte und Mittel in den Dienst der Vorbereitung von Attentaten gestellt. Die Dörfler fühlten sich in ihren gottverlassenen Winkeln vergessen. Vergeblich versuchen sie im „Tschornyj Peredjel“ (Schwarze Umteilung) eine selbständige Organisation zu schaffen. Ihr war es allerdings bestimmt, in der Folge als Brücke zum Marxismus zu dienen. Aber sie hatte keinerlei selbständige politische Bedeutung. Die Hinwendung zum Terror war unwiderruflich. Die programmatischen Vorstellungen der Revolutionäre änderten sich entsprechend den Erfordernissen der neuen Kampfmethode. „Semlja i Wolja“ verkündete die Lehre, daß eine Verfassung an und für sich dem Volke schädlich sei: Die politische Freiheit solle ein Nebenprodukt des sozialen Umsturzes werden; „Narodnaja Wolja“ anerkannte, daß die Eroberung der politischen Freiheit eine notwendige Voraussetzung des sozialen Umsturzes werden mußte. „Semlja i Wolja“ wollte im Terror nur ein einfaches Aktionssignal sehen, das den unterdrückten Massen von oben gegeben wird. „Narodnaja Wolja“ stellte sich die Aufgabe, den Umsturz durch eine terroristische „Desorganisation“ der Regierung herbeizuführen. Das, was anfangs ein halb instinktiver Akt der Rache für mißhandelte Kampfgenossen war, verwandelte sich im Laufe der Entwicklung in ein selbständiges und hinreichendes System des politischen Kampfes. So versuchte die vom Volk isolierte und gleichzeitig auf historische Vorposten gestellte Intelligenz ihre soziale Schwäche mit der Sprengkraft des Dynamits zu kompensieren. Die Chemie der Zerstörung wurde in ihren Händen zur politischen Alchimie. Entsprechend den geänderten Aufgaben und Methoden verlagerte sich der Schwerpunkt der Arbeit ganz entschieden: vom Dorf in die Stadt, von den Städten in die Hauptstadt. Der Stab der Revolution sollte nunmehr dem Stab der Macht unmittelbar gegenüberstehen. Gleichzeitig änderte sich die psychische Struktur des Revolutionärs und sogar seine äußere Erscheinung. Mit dem Schwinden des naiven Glaubens ans Volk gehörte auch die Sorglosigkeit in den Fragen der Konspiration der Vergangenheit an. Der Revolutionär straffte sich, wurde vorsichtiger, hellsichtiger, entschlossener. Jeder Tag bedeutete für ihn aufs neue tödliche Gefahr. Zum Selbstschutz trug er im Gürtel den Dolch, in der Tasche den Revolver. Die Menschen, die zwei, drei Jahre vorher das Schuster- oder Tischlerhandwerk gelernt hatten, um mit dem Volk zu verschmelzen, lernten jetzt die Kunst, Bomben herzustellen und zu werfen und sich auf der Flucht freizuschießen. Der Apostel wurde vom Krieger abgelöst. Wenn sich der Dorfpropagandist fast in Lumpen kleidete, um in allem dem „Volk“ zu gleichen) dann suchte der städtische Revolutionär sich im Aussehen möglichst wenig von den wohlhabenden und gebildeten Städtern zu unterscheiden. Aber wie frappierend dieser Wechsel auch sein mochte, der im Laufe von einigen kurzen Jahren vor sich gegangen war – in den beiden kontrastierenden Gestalten konnte man unschwer ein und denselben „Nihilisten“ erkennen: im armseligen Bauernkittel war er nicht „Volk“; im Anzug des Gentleman war er nicht Bourgeois. Der Abtrünnige, der die alte Gesellschaft sprengen wollte, war genötigt, die Schutzfarbe bald des einen, bald des anderen ihrer Pole anzunehmen.

Der revolutionäre Weg der Intelligenz offenbart sich uns Schritt für Schritt. Beginnend mit der theoretischen Selbstvergöttlichung unter dem Namen „kritisches Denken“, sagte sie sich dann von sich selbst los im Namen der Auflösung im Volk, um nach dem Mißerfolg unvermittelt zur praktischen Selbstvergöttlichung in Form des terroristischen Exckutivkomitees zu schreiten: das kritische Denken übersiedelte in einen Sprengkörper, dessen Aufgabe es war, einem Häuflein von Sozialisten die Verfügungsgewalt über die Geschicke des Landes in die Hand zu geben. So hieß es zumindest im offiziellen Programm der „Narodnaja Wolja“. Tatsächlich verwandelte der Verzicht auf den Massenkampf die sozialistischen Ziele in eine subjektive Illusion. Realität blieb nur die Taktik der Einschüchterung der Monarchie durch Bomben mit der einzigen Perspektive, verfassungsmäßige Freiheiten zu erringen. Ihrer objektiven Rolle nach wurden die auführerischen Anarchisten von gestern, die von der bürgerlichen Demokratie nichts hören wollten, zu einem Sturmtrupp im Dienst des Liberalismus. Die Geschichte findet Mittel und Wege, den Widerspenstigen ihren Platz zuzuweisen: auf der Tagesordnung stand nicht die Anarchie, sondern die politische Freiheit.

Der revolutionäre Kampf verwandelte sich in einen wütenden Wettstreit zwischen dem Exekutivkomitee und der Polizei: Die Leute der „Semlja i Wolja“ – und später die der „Narodnaja Wolja“ -, verübten die ersten Anschläge im Alleingang, in den meisten Fällen ohne Erfolg. Die Polizei fing und henkte sie. Vom August 1878 bis zum Dezember 1879 kamen auf zwei Opfer der Regierung siebzehn gehenkte Revolutionäre. Es blieb nichts anderes übrig, als auf Anschläge gegen einzelne hohe Beamte zu verzichten, um alle Kräfte der Partei auf den Zaren zu konzentrieren. Auch heute, nach einem halben Jahrhundert, kann man die Energie, den Mut und das Organisationstalent des Häufleins der Kämpfer nur bewundern. Der Politiker und Redner Sheljabow, der Gelehrte und Erfinder Kibaltschitsch, Frauen von unvergleichlicher Charakterstärke – wie Petrowskaja und Figner – waren die Elite der Intelligenz, die Blüte der Generation. Sie wußten sich voll und ganz dem frei gewählten Ziel unterzuordnen und lehrten es die anderen. Für diese Helden, die den Vertrag mit dem Tod geschlossen hatten, schien es keine unüberwindlichen Hindernisse zu geben. Bevor er sie vernichtete, gab ihnen der Terror übermenschliche Stählung. Sie unterminierten die Bahnlinie, auf der der Zug des Zaren unterwegs war, dann die Straße, auf der die Equipage des Zaren fuhr; sie schlichen sich in der Person des Arbeiters Chalturin mit einer Ladung Dynamit in den Zarenpalast ein und sprengten ihn in die Luft. Mißerfolg auf Mißerfolg. „Der Allerhöchste beschützt den Befreier“, schrieb die liberale Presse. Aber letzten Endes errang die Energie des Exkutivkomitees die Oberhand über die Wachsamkeit des Allerhöchsten. Am 1. März 1881, nach einem Fehlschlag des jungen Ryssakow, tötete der junge Grinewitzkij mit der zweiten nach dem System Kibaltschitsch hergestellten Bombe in einer Straße der Hauptstadt Alexander II. und gleichzeitig sich selbst. Diesmal traf der Schlag mitten ins Herz des Regimes. Doch bald stellte sich heraus, daß im Feuer des erfolgreichen Terrors die „Narodnaja Wolja“ selbst verbrannt war, Die Kraft der Partei war fast zur Gänze im Exekutivkomitee konzentriert. Daneben gab es nur noch Hilfsgruppen ohne selbständige Bedeutung. Der terroristische Kampf einschließlich der technischen Vorbereitungsarbeit wurde auf jeden Fall von den Mitgliedern des zentralen Stabes geführt. Wie viele solcher Kämpfer gab es nun? Die Rechnung ist heute einwandfrei aufgestellt: Das erste Exkutivkomitee umfaßte 28 Personen. Bis 1. März 1881 betrug die Gesamtzahl der Mitglieder, die überdies niemals gleichzeitig in Aktion traten, 37. Restlos illegal, das heißt von allen sozialen und selbst Familienverbindungen abgeschnitten, hielten diese Leute alle Kräfte der politischen Polizei in Atem und machten gleichzeitig den neuen Zaren für einige Zeit zum „Einsiedler von Gatschina“. Die ganze Welt wurde erschüttert vom Dröhnen der titanischen Attacke auf die Petersburger Despotie. Es hatte den Anschein, als stünden der geheimnisvollen Partei Legionen von Kämpfern zur Verfügung. Das Exkutivkomitee sorgte geflissentlich für die Aufrechterhaltung der Hypnose seiner Allmacht. Aber mit Hypnose allein kann man sich nicht lange halten. Inzwischen schmolzen die Reserven schnell.

Die Narodowolzen meinten, jeder erfolgreiche Schlag gegen den Feind müßte die Autorität der Partei erhöhen, ihr neue Kämpfer zuführen, den Kreis der Sympathisierenden vergrößern und wenn schon nicht sofort die Volksmassen wecken, so doch auf jeden Fall die liberale Opposition kühner machen. Aber alle diese Erwartungen waren reine Phantasie. Der Heroismus fand zweifellos Nachahmung. Es gab wohl keinen Mangel an Burschen und Mädchen, die bereit waren, sich selbst mit ihrer Bombe in die Luft zu sprengen. Aber es fand sich niemand, der diese Leute erfaßt und dirigiert hätte. Die Partei zerfiel. Dem Wesen seiner Natur entsprechend, verausgabte der Terror unvergleichlich schneller die fertigen Kräfte, die ihm von der propagandistischen Periode zugeführt worden waren, als neue herangebildet werden konnten. „Wir leben vom Kapital“, sagte der Führer der „Narodnaja Wolja“, Sheljabow. Gewiß, der Prozeß gegen die Zarenmörder fand stürmischen Widerhall in den Herzen von jugendlichen Einzelgängern. Während Petersburg von der Polizei bald nur zu gut gesäubert war, entstanden in verschiedenen Provinzorten noch zum Jahre 1885 immer wieder Narodowolzen-Gruppen. Aber zu einer neuen Terrorwelle kam es nicht. Die Intelligenz, die sich die Finger verbrannt hatte; zog sich in ihrer Masse vom revolutionären Feuerbrand zurück.

Nicht besser stand es mit den Liberalen, auf die die Terroristen, nachdem sie ihre Blicke von der Bauernschaft abgewandt hatten, mit immer größerer Hoffnung blickten. Gewiß, unter dem Einfluß der diplomatischen Mißerfolge und der wirtschaftlichen Zerrüttung versuchten die Bürgerlichen, eine Probemobilisierung ihrer Kräfte durchzuführen. Es wurde jedoch eine Mobilisierung der Kraftlosigkeit. Verschreckt durch die wachsende Erbitterung der kämpfenden Lager, beeilten sich die liberalen mit der Entdeckung, daß die „NarodnajaWolja“ kein Verbündeter, sondern das Haupthindernis auf dem Weg zu konstitutionellen Reformen sei. Wie der am weitesten linksstehende unter den Bürgerlichen, I.I. Petrunkewitsch, sagte, „schüchtern die Terrorakte die Gesellschaft ein und erbittern die Regierung“.

So wurde die Leere um das Exekutivkomitee, das aus einer relativ breiten Bewegung der Intelligenz hervorgegangen war, immer größer, je betäubender sein Dynamit explodierte. Keine Partisanenabteilung kann sich inmitten einer feindseligen Bevölkerung lange halten. Keine illegale Gruppe kann auf die Dauer ohne sympathisierende Deckung operieren. Durch die politische Isolierung wurden die Terroristen endgültig der Polizei preisgegeben, die mit wachsendem Erfolg die Reste der alten Gruppen und die Keime von neuen erledigte. Die Liquidierung der Narodowolzen-Bewegung durch eine Reihe von Verhaftungen und Prozessen erfolgte schon vor dem Hintergrund der allgemeinen gesellschaftlichen Reaktion der achtziger Jahre. Wir werden mit dieser düsteren Periode näher Bekanntschaft machen im Zusammenhang mit dem terroristischen Unternehmen Alexander Uljanows.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008