Leo Trotzki

 

Der junge Lenin


Die achtziger Jahre

Gleich nach dem 1. März 1881 machte das Exekutivkomitee der „Narodnaja Wolja“ in einem offenen Brief Alexander III. den Vorschlag, sofort den terroristischen Kampf abzubrechen, wenn der neue Zar die Volksvertreter einberuft. „Der Gang der Dinge“ ist keine Metapher, sondern eine Realität; er weiß jene zu desavouieren, die ihn nicht verstehen. Wie lang war es her, daß sich die Narodniki gegen eine Verfassung als Vorstufe des Kapitalismus verwahrten? Und jetzt versprachen sie als Gegenleistung für eine Verfassung den Verzicht auf den revolutionären Kampf. Der eingeschüchterte Zar weinte an der Brust seines Erziehers Pobedonoszew. Aber die Schwankungen in den herrschenden Kreisen dauerten nicht lange. Der Terrorakt fand im Land keinen Widerhall. Die Bauern hielten ihn für einen Racheakt des Adels. Die Arbeiter schlossen sich nur ganz vereinzelt der revolutionären Bewegung an. Die Liberalen versteckten sich. Niemand unterstützte die Forderungen nach einer Volksvertretung, einem „Semski Sobor“. Die Regierung überzeugte sich, daß die Terroristen niemanden repräsentierten als ihren eigenen Heroismus, und wurde wieder zuversichtlich. Am 29. April bekräftigte der Zar in einem Manifest das unerschütterliche Festhalten am Absolutismus. Gleichzeitig wurde eine Pogrombewegung inszeniert. Von nun an wurde ein harter Kurs eingeschlagen. Der Oberprokurator der Synode, Pobedonoszew, der Minister Graf D. Tolstoj und der Moskauer Publizist Katkow wurden die geistigen Väter der Regierungstätigkeit des neuen Zaren. Ein „Semski Sobor“? Man mußte sich doch nur die Semstwos der Provinzen, diese „Schwatzbuden“, ansehen. Wer hat dort die Führung? „Untaugliche, sittenlose Leute, die nicht mit ihrer Familie leben und sich Ausschweifungen hingeben ...“ So belehrte Pobedonoszew den jungen Zaren, der im Rufe eines guten Familienvaters stand.

Den Terroristen blieb nichts anderes übrig, als die Jagd auf den neuen Zaren zu beginnen. In diesem Sinne wurde von einem angesehenen Narodowolzen auch das Aktionsprogramm formuliert: „Einen Sascha nach dem andern“ (Sascha = Alexander). Aber die Formel hing kraftlos in der Luft. Das Kapital war verausgabt. Bis eine neue Generation auf den Plan trat, dauerte es noch lange. 1883 verriet der Provokateur Degajew Vera Figner, eine der hervorragendsten Persönlichkeiten des Exekutivkomitees. 1884 kehrte G. A. Lopatin, der im Ausland mit Marx und Engels engen Kontakt aufnehmen konnte, nach Petersburg zurück, um den zentralen Terror wiederaufleben zu lassen. Aber nichts gelang mehr. Bei der Verhaftung Lopatins fielen der Polizei viele Adressen in die Hand, die es ihr erlaubten, alle zu liquidieren, die noch der „Narodnaja Wolja“ angehörten. In dieser Kette von Mißerfolgen lag eine schicksalhafte Logik. Die politische Bewegung der isolierten Intelligenz war eingeengt worden zur Technik des Zarenmordes, wodurch sich die Terroristen selst von der Intelligenz isolierten.

Bei der ursprünglichen Wirkung des Terrors spielte das Element der Überraschung eine große Rolle. Sowie die Polizei sich entsprechend vorbereitet und in der Provokation ein Kampfmittel gefunden hatte, befand sich das Häuflein der Terroristen in der Würgeschlinge. Der Übergang der Organisationsleitung von einem auf den anderen hörte endgültig auf; was blieb, war eine immer mehr vom Zweifel zerfressene Tradition. Neue Versuche einer revolutionären Tätigkeit unter der alten Fahne hatten unorganisierten, gewissermaßen zufälligen Charakter und brachten nicht einmal episodische Erfolge. Dennoch ging am Zarenhof die lähmende Angst nicht so bald vorbei. Alexandet III. verließ Gatschina nicht. Aus Angst vor Attentaten wurde die Krönung bis zum Mai 1883 verschoben. Aber es gar kein Attentat. Bei der Krönung entwickelte der Zar vor den Amtsvorstehern der Bezirke ein klares Programm: „Gehorcht euren adeligen Vorgesetzten und glaubt nicht den abgeschmackten und läppischen Gerüchten über eine Neuaufteilung des Bodens ...“

Zu dem scharfen Kurswechsel zur adeligen Reaktion, der für die achtziger Jahre bezeichnend ist, trugen die Störungen auf dem Weltmarkt bei: die beginnende Agrarkrise brachte auf dem Gebiet der Ideen und Programme große Veränderungen. Die Aufhebung der Leibeigenschaft fiel nicht zufällig mit einer Periode hoher Getreidepreise zusammen. Die kapitalistische Landwirtschaft, die den Export steigerte, brachte den Bodenbesitzern große Vorteile. In der ersten Zeit nach der Reform machten nur die parasitärsten Grundbesitzer Bankrott, denen auch die Ablösezahlungen nicht mehr helfen konnten. Die Sympathie der fortschrittlichen Gutsbesitzer für liberale Maßnahmen, die das feudale Rußland in ein adelig-bourgeoises Rußland verwandelten, dauerte so lange, als die hohen Getreidepreise sich hielten. Die agrarische Weltkrise der achtziger Jahre versetzte dem adeligen Liberalismus einen schweren Schlag. Die Gutsbesitzer konnten sich jetzt nur mehr halten, wenn sie vom Staat direkte finanzielle Zuschüsse erhielten und wenn, wenigstens teilweise, die Fronarbeit der Bauern wiedereingeführt wurde. Schon 1862 wird die Bauernbank gegründet, die der bäuerlichen Bourgeoisie hilft, den vor dem Ruin stehenden Adeligen unangemessen hohe Preise für ihren Boden zu bezahlen. Drei Jahre später bekräftigt der Zar in einem besonderen Manifest dem Adel die bevorrechtete Stellung im Staat und gründet diesmal eine Adelsbank für direkte Geschenke an den Adelsstand.

Der Rückgang des Getreideexports nach Europa ermöglichte es anderseits, die Einfuhrzölle für Industriewaren aus Europa stark zu erhöhen. Damit wurde der jungen und gierigen russischen Industrie auf die Beine geholfen. Die Gedanken der freien Arbeit in der Landwirtschaft und des freien Außenhandels kamen gleichzeitig zu Fall. Alexander III. stellte im Interesse der Gutsbesitzer wieder halbfeudale Verhältnisse her und führte im Interesse der Industriellen Schutzzölle ein, die fast einer Einfuhrsperre gleichkamen. Die offizielle Losung des Zaren „Rußland den Russen“ bedeutete: keinerlei westliche, vor allem keinerlei konstitutionelle Ideen; die Staatsämter dem russischen Adel; der Inlandmarkt der russischen Industrie; das Getto für die Juden, die Unterdrückung Polens und Finnlands im Interesse des russischen Beamten und des russischen Kaufmanns. Halbe Restauration der Leibeigenschaft und Forcierung des Kapitalismus – zwei in entgegengesetzter Richtung verlaufende Prozesse – ergaben zusammen die Wirtschaftspolitik Alexanders III. Sowohl die Gutsbesitzer als auch die Industriellen bekamen alles, was man auf Kosten des Volkes bekommen kann: billige Arbeit, hohen Pachtzins, hohe Preise für Industriewaren und, als Zugabe: Subsidien, Geschenke, Staatsaufträge. Die Adeligen hörten auf, liberal zu sein, die Kaufleute hatten noch gar nicht damit angefangen. Die Bürokratie rächte sich für die Epoche der großen Reformen. Hemmungslos entfaltete sich die politische Reaktion während der ganzen Regierungszeit des Zaren. Die Veränderungen, die sich noch vom Frühling der Regierungszeit des letzten Zaren her erhalten hatten, wurden konsequent im Sinne der Adelsprivilegien, der nationalen Beschränkungen und der polizeilichen Bevormundung revidiert. Gegen das Jahrzehnt der „großen Reformen“ (1861 bis 1870) erhob sich das Jahrzehnt der Gegenformen (1884 bis 1894).

Der äußerst konservative Liberale Kawelin, der mit den höchsten Kreisen Verbindung hatte, schrieb heimlich einem geächteten hohen Beamten: „Überall Stumpfsinn und Kretinismus dümmste Routine oder Fäulnis ... Aus diesem verwesenden Aas kann man nichts Brauchbares machen.“ Der Gang der Dinge widerlegte Kawelin auf seine Art. Aus dem verwesenden Aas wurde ein Zarenregiment monumentalen Stils errichtet. Nach den ersten Jahren der Beunruhigung fand Alexander III. endgültig das Vertrauen zu sich selbst und zu seiner Berufung. Groß und ungeschlacht, finster, ungebildet, mit Vorliebe für Wodka, fette Speisen und rohe Scherze, ließ er nicht einmal den Gedanken an irgendwelche Rechte der Untertanen aufkommen. Dank der Todfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland war die internationale Lage Rußlands doppelt gesichert. Der Petersburger Hof war ein Herz und eine Seele mit dem Berliner Hof. Gleichzeitig eröffnete die Freundschaft mit Frankreich dem Zarismus unerschöpfliche finanzielle Perspektiven. Die westliche Welt mit ihren parlamentarischen „Schmierentheatern“ behandelte Alexander en canaille. Wenn er eine dringende diplomatische Depesche, die ihn im Sommer erreichte, unbeantwortet ließ, erklärte er dem Minister: „Europa kann warten, wenn der Zar fischen geht.“ Von seinen gekrönten Kollegen sprach der Zar ohne Umstände: die Königin Viktoria nannte er eine „alte Intrigantin“, Wilhelm II. einen „Tagedieb“, den serbischen König Milan ein „Vieh“, den türkischen Sultan „alte Schlafmütze“. Nicht alle diese Bezeichnungen waren falsch.

Der Zar war nicht ohne gesunden Menschenverstand. Kawelin schrieb über ihn: „... große Vorsicht, ein eigener Schädel, großes Mißtrauen, vielleicht ein Schuß Verschlagenheit“ Den treuergebenen Liberalen bekümmerte nur, daß es dem Zaren an „Wissen und Erziehung“ fehlte. Dafür war Alexander III. unerschütterlich überzeugt, daß seine schwergewichtige Physiologie von göttlicher Herkunft sei und in allen ihren Funktionen dem Wohl Rußlands und den Zielen der Vorsehung diene. In dieser Beschränktheit lag Charakter: man fürchtete den Zaren. Die grauhaarigen und glatzköpfigen Großfürsten, die sich, wenn sie besoffen waren, mit französischen Schauspielern prügelten, verheimlichten ihre Heldentaten wie feige Schulbuben. Als der Direktor des Polizeidepartments Durnowo unvorsichtigerweise in eine schmutzige Geschichte geriet, schrie der Zar: „Das Schwein abservieren.“ Das hinderte übrigens Durnowo nicht daran, unter Nikolaus II. ein allmächtiger Minister zu werden. Zur Rechtfertigung der Unterwürfigkeit der hohen Beamten vor dem Grobian auf dem Thron sagte Kriegsminister Wannowskij: „Das ist ein neuer Peter I. mit seinem Knüppelstock.“ Der Außenminister Lamsdorf schrieb in sein Tagebuch: „Nur Knüppelstock, ohne Peter I.“ Die Polizei beherrschte alles ohne Mühe, mit einem Wink des Fingers. Die Stadtgendarmen mit den riesigen Schnauzbärten und den Medaillen, der berühmte Stadtkommandant Gresser, der mit einem Paar Apfelschimmeln durch „seine“ Stadt fuhr, der Staatsrat, der heilige Synod, Pobedonoszew, der unerbittliche Turm der Petropawlowsker Festung, die alte Kanone, die Mittag verkündete – welches Ensemble! Ohne mit der Wimper zu zucken, befahl Gresser dem Opernorchester, nicht so laut zu spielen, um die hochgestellten Zuhörer nicht zu belästigen. Und das Orchester fügte sich, obwohl die Partitur von Wagner war. Lärm war strengstens verboten: in der Literatur, auf der Straße, selbst in der Musik.

Den Geist der Herrschaft dieses Zaren verkörperte später, wohl kaum ganz bewußt, der russisch-italienische Bildhauer Paolo Trubetzkoj im berühmten Denkmal Alexanders III., bei dem sich Apotheose und Satire paaren: Ein verfetterter Riese lastet mit mächtigem gußeisernem Sattel auf einem Pferd, das eher einem gemästeten Schwein gleicht. In diesem Stil der unentwegten Schweinerei war das ganze offizielle Rußland gehalten. Die Prüfung eines Vierteljahrhunderts, das mit der Bauernbefreiung begann und mit der Ermordung Alexanders II. endete, hatte gewissermaßen aufs neue die Unerschütterlichkeit der nationalen Grundlagen geoffenbart: Absolutismus, Orthodoxie, Nationalismus. War nicht erprobt und erwiesen, daß selbst Dynamit den granitenen Festen des Zarismus nichts anhaben konnte? Alles schien zugeschnitten und genäht nach den Maßen der Ewigkeit.

Der Altmeister der russischen Satire, Saltykow-Schtschedrin, dessen Lebensweg sich dem Ende näherte, beklagte sich in seiner Zeitschrift bitter: „Das Leben wird langweilig und schwer ... Der Mensch fühlt sich wie in einer Folterkammer, in der er überdies eins über. den Schädel bekommen hat.“ Heute kann man sich kaum die Vergötterung vorstellen, die in den Kreisen der linken Intelligenz den Vaterländischen Notizen zuteil wurde, einer kühnen Monatsschrift, die ihrer Geisteshaltung nach der revolutionären Volkstümlerbewegung am nächsten stand. „Wir warteten auf das Heft“, berichtet ein Zeitgenosse, „wie auf einen lieben Gast, der alles weiß, alles erklärt und erzählt...“ Es handelte sich nicht nur um eine literarische Publikation, sondern um ein geistiges Zentrum: die Gruppierung von Richtungen in der gebildeten Gesellschaft Rußlands erfolgte seit eh und je, vor allem aber seit der Bauernreform, um die sogenannten „dicken Zeitschriften“.

Aber die heilige Dreieinigkeit, die dem „bösen Geist der sechziger Jahre“ den Krieg erklärt hatte – Pobedonoszew, D. Totstoj und Katkow –, wachte nicht umsonst. Der Schlag über den Schädel ließ nicht auf sich warten: 1834 wurden die Vaterländischen Notizen eingestellt. Die Welt der radikalen Intelligenz hatte die Achse verloren. Gleichzeitig entfernte man aus den Bibliotheken Mill, Buckle, Spencer, gar nicht zu reden von Marx und Tschernyschewskij.

Die letzte Nummer der Zeitung Narodnaja Wolja, die am 1. Oktober 1885 herauskam, als die Partei selbst schon nicht mehr existierte, schilderte den moralischen Zustand der gebildeten Gesellschaft in düsteren Farben: „Der vollendetste geistige Zerfall, ein Chaos der allerverschiedensten Meinungen in den elementarsten Fragen des gesellschaftlichen Lebens persönlicher und gesellschaftlicher Pessimismus einerseits, religiös-sozialer Mystizismus anderseits...“ Diejenigen von den zweitrangigen Siebzigern, die am Leben und in Freiheit geblieben waren, blickten mit Verwunderung um sich: die Welt war für sie nicht wiederzuerkennen. Verkünder des Terrors waren allerdings noch in beträchtlicher Zahl zu finden. „Alles kann man totschweigen“, sagten sie immer wieder, „aber die Explosion einer Bombe kann man nicht totschweigen.“ Doch auch die Terroristen waren nicht mehr dieselben. Sie hatten auf den utopischen Gedanken, die Macht zu erobern, verzichtet und hofften nur, mit Hilfe von Bomben liberale Zugeständnisse zu erzwingen. Aber die Jugend zur Todesverachtung begeistern – das konnte nur. eine große Idee oder zumindest eine große Illusion sein: und die waren verloren. In Wirklichkeit zu Konstitutionalisten geworden, blickten die Verkünder des Terrors voll Hoffnung auf die Liberalen. Aber die besitzende Opposition schwieg. So wurde der Terror von zwei Seiten untergraben. Es gab Verkünder des Terrors, aber keine Terroristen. In den da und dort entstehenden revolutionären Zirkeln herrschte eine verzweifelte Stimmung. Das Lieblingslied jener Zeit kannte nur einen einzigen Trost: „Aus unseren Gebeinen wird ein harter Rächer erstehn.“ Einer der letzten Narodowolzen, Jakubowitseh, brandmarkte in pathetischen Versen seine „von Gott verfluchte Generation“.

Die Volkstümlerbewegung der siebziger Jahre bestand aus revolutionärem Haß gegen die Klassengesellschaft und aus einem utopischen Programm. Im Laufe der achtziger Jahre verrauchte die revolutionäre Unversöhnlichkeit, der Utopismus blieb; aber der Flügel beraubt, wurde er in das Kleingeld eines Reformprogramms für die kleinen Besitzer umgewechselt. Für die Verwirklichung dieses Programms blieb den Epigonen der Volkstümlerbewegung eine einzige Hoffnung – jene auf den guten Willen der herrschenden Klassen. „Unsere Zeit ist keine Zeit großer Aufgaben“, sagten nach dem Beispiel der Liberalen auch die friedlich gewordenen Narodniki. Aber auf dieser Etappe verharrte der Prozeß nur für eine kleine Minderheit. Die breiten Kreise der Intelligenz sagten sich, nach den geflügelten Worten eines Publizisten der Reaktion, voll und ganz „los von der Erbschaft“ der sechziger und siebziger Jahre. In der Philosophie bedeutete das die Abkehr von Materialismus und Atheismus, in der Politik den Verzicht auf die Revolution. Das Renegatentum aller Art trat in breitem Strom aus den Ufern. Die solideren Schichten der Intelligenz erklärten offen, daß ihnen der Muschik zum Hals heraushänge: höchste Zeit, für sich selbst zu leben. Die farblos gewordenen radikalen und liberalen Zeitschriften legten Zeugnis ab vom Tiefstand der gesellschaftlichen Interessen. Gleb Uspenskij, der bedeutendste Narodniki-Schriftsteller, beklagte sich darüber, daß in den Personenwagen der Eisenbahn die einst so lauten allgemeinen Unterhaltungen über politische Themen verstummt waren: es gab nichts, worüber man reden sollte. Aber das „Leben für sich selbst“ hatte einen äußerst bescheidenen Inhalt. Petersburg – beklagte sich die fortschrittliche Presse – war noch nie so farblos wie jetzt: Flaute im Handel und eine geradezu beängstigende geistige Flaute. Noch schlimmer war es in der Provinz. Die Gouvernementsstädte unterschieden sich voneinander dadurch, daß man in der einen mehr trank und in der anderen mehr Karten spielte. Die dem Volk zugewandte Kunst wurde immer mehr als tendenziös verurteilt. Die Intelligenz wandte sich der „reinen Kunst“ zu, die sie nicht durch die Erinnerung an die ungelösten Aufgaben und unerfüllten Verpflichtungen beunruhigte.

Zum Sänger der Linkskreise wurde der junge Dichter Nadson, ein Sänger mit geknickten Flügeln, einem Sprung in der Leier und Schwindsucht in der Lunge. Die beherrschende Note in seinen melancholischen Gedichten, die binnen kurzer Zeit mehrere Auflagen erzielten, war der Zweifel. „Wir wissen keinen Ausweg“, sagte der Dichter mit tränenerstickter Stimme über seine Generation, die den Glauben der Helden und Propheten einer nahen Vergangenheit verloren hatte. Langsam stieg in der Literatur der Stern Anton Tschechows empor. Er versuchte zu lachen, aber sein Lachen erstarb in einer Atmosphäre der Depression und der Hoffnungslosigkeit. Tschechow fand sich und seine Zeit in den Erzählungen in der Dämmerung und in den Langweiligen Geschichten, wo sich die Klage über die Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Lebens mit der kraftlosen Hoffnung auf eine bessere Welt „in dreihundert Jahren“ verbindet. In der Malerei wurde Tschechow von Lewitan ergänzt, der eine trostlose Dorflandschaft mit Krähen malte, und eine vom Regen grund- und uferlos gewordene Landstraße im trübseligen Licht herbstlicher Dämmerung. Grau war die beherrschende Farbe dieser Epoche.

Von besonderer Bedeutung für die achtziger Jahre war der Einfluß des Grafen Leo Tolstoj, nicht des längst mit Recht berühmten Künstlers, sondern des Propheten und Lebenslehrers. Der Weg der Entwicklung Tolstojs überschnitt sich wiederholt mit der Bahn der russischen Intelligenz, fiel aber nie mit ihr zusammen. Tief verwurzelt in den Lebensformen des Adels und beunruhigt durch den Zerfall, suchte Tolstoj für sich eine neue moralische Achse. Der bürgerliche Liberalismus war ihm verhaßt wegen seiner Beschränktheit, seiner Heuchelei und seiner Parvenümanieren, ebenso die radikale Intelligenz, ohne Boden unter den Füßen, nihilistisch und geneigt, alles auf die Spitze zu treiben. Tolstoj suchte Ruhe und Harmonie, wollte Zuflucht finden vor der sozialen Unrast und gleichzeitig auch vor der heillosen Todesangst. Zur selben Zeit, als die radikale Intelligenz bestrebt war, die Dorfgemeinschaft mit ihrem „kritischen Denken“ zu befruchten, bestand für Tolstoj das Anziehende des Muschiks einzig darin, daß er kritiklos war und überhaupt keine eigenen Gedanken hatte. Letzten Endes war Tolstoj ein bußfertiger russischer Adeliger – ein seit den Tagen der Dekabristen nicht seltener Typ –, nur blickte seine Reue nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit. Er hatte die Wiederherstellung des verlorenen Paradieses patriarchalischer Harmonie im Sinn – diesmal aber ohne Zwang und Gewalt. Der Künstler wurde Moralist. Der Moralist rief sich sofort eine sterilisierte Religion zu Hilfe Der vollblütigste aller Realisten begann plötzlich zu lehren, daß der wahre Sinn des Lebens in der Vorbereitung auf den Tod bestehe. Er duldete keinerlei Kritik an seiner Offenbarung, verspottete Wissenschaft und Kunst, geißelte ihre Priester und predigte mit großartiger Raserei die Versöhnung. Wenn man den Sinn seiner Philosophie des verführerischen Gewandes entkleidet, mit dem der nicht zum Schweigen zu bringende Künstler sie schmückte, dann bleibt nichts übrig als bedrückender Quietismus: Jeder Kampf gegen das Übel macht das Übel noch größer. Möge jeder das Gute in sich selbst suchen. Der Unterdrückte darf den Unterdrücker nicht daran hindern; freiwillig auf die Unterdrückung zu verzichten. Die ganze Predigt Tolstojs hat notwendig negativen Charakter: „Zürne nicht. Irre nicht. Fluche nicht. Kämpfe nicht.“ Das wurde noch ergänzt durch andere, praktischere Rezepte: „Rauche nicht und iß kein Fleisch.“ Das Christentum ist seinem ureigensten Wesen nach nicht eine Weltverbesserungslehre, sondern eine Prophylaxe zur persönlichen Erlösung, die Kunst, Sünden zu vermeiden. Sein Ideal ist das Mönchtum, die Krönung des Mönchtums ist Säulenheiligkeit. Nicht zufällig führte die Lehre Tolstojs in die Nähe des Buddhismus.

Die Predigt der Widerstandslosigkeit konnte auf gar keinen besseren Boden fallen als den, der durch den Zusammenbruch der Pläne und Hoffnungen der „Narodnaja Wolja“ vorbereitet war. Wenn die Quintessenz der revolutionären Gewalt Bankrott gemacht hatte, war es angezeigt, zur Abwechslung das harmlose Tränklein der christlichen „Liebe“ hervorzuholen. Wenn es nicht gelungen war, den Zarismus zu stürzen, blieb nichts anderes übrig, als ihn moralisch zu verurteilen. „Das Königreich Gottes ist in euch.“ Die Idee der moralischen Selbstvervollkommnung trat an die Stelle des Programms sozialer Umgestaltungen. In den Kreisen der Intelligenz machte das Tolstojanertum verheerende Eroberungen. Sie versuchten nach dem Beispiel des Lehrers schlechte Stiefel zu nähen und unbrauchbare Ofen zu setzen. Andere verzichteten auf Tabak und fleischliche Liebe, in den meisten Fällen nicht für lang. Andere wieder gründeten landwirtschaftliche Kolonien, in denen sich der evangelische Wein der Liebe sehr bald in den Essig der gegenseitigen Feindschaft verwandelte. Fünf Fräulein aus Tiflis fragten Tolstoj – und die Presse wiederholte ihre Frage: Wie sollen wir ein heiliges Leben führen? Aber es wurde kein heiliges Leben. Im Gegenteil, je höher sie die Regeln der persönlichen Moral suchten, desto tiefer versanken sie im irdischen Dreck. Der idealistische Philosoph Wladimir Solowjow versuchte ein Jahrzehnt später die Position der russischen Aufklärung in folgender Formel darzustellen: „Der Mensch ist nur eine Abart des Affen, und deshalb müssen wir ... unsere Seele einsetzen für die jüngeren Brüder.“ Das Paradoxon war als Verhöhnung der materialistischen Beschränktheit gedacht; in Wirklichkeit aber wurde es zur Satire gegen die idealistische Heuchelei. Nicht umsonst wurde die Epoche des rohen und gottlosen Materialismus, als die Menschen Blut und Leben einsetzten, um den Weg in eine bessere Zukunft zu bahnen, abgelöst von einem Jahrzehnt des Idealismus und der Mystik, wo jeder allen den Rücken kehrte, um desto gewisser die eigene Seele zu retten.

Der politische Sinn dieser ideologischen Metamorphosen hat, vor allem bei retrospektiver Betrachtung, nichts Rätselhaftes an sich: in ihrer Mehrheit hervorgegangen aus einem Milieu, wo noch vorbourgeoise Sitten herrschten, betrat die Intelligenz, nachdem sie mit dem linken Flügel eine Zone der heroischen Selbstaufopferung für das Volk durchschritten hatte, nach den bitteren Fehlschlägen den Weg der bürgerlichen Wiedergeburt. Im heldenhaften Kämpfer von gestern meldete sich der Egozentriker zum Wort. Vor allem mußte er sich frei machen von der Idee der „Pflicht gegenüber dem Volk“. Literatur und Philosophie beeilten sich natürlich, das kümmerliche Erwachen des bürgerlichen Individualismus zu begrüßen und in den schönsten Farben zu malen. Die besitzenden Klassen taten ihr möglichstes, um die Intelligenz, die ihnen so viele Scherereien bereitet hatte, zahm zu machen. Der Prozeß der Annäherung und Versöhnung zwischen einer zivilisierter gewordenen Bourgeoisie und der bourgeoise gewordenen Intelligenz war, ganz allgemein gesprochen, unvermeidlich. Doch die barbarischen politischen Verhältnisse hatten eine glatte und ununterbrochene Entwicklung im vorhinein unmöglich gemacht. Es war der russischen Intelligenz vorausbestimmt, auch in Zukunft noch wiederholt eine Wendung zu machen.

Wir mußten uns etwas näher mit den achtziger Jahren bekannt machen, jener Zeit, da Alexander Uljanow, Student der Universität, die Kampfarena betrat, während sein jüngerer Bruder Wladimir den wissenschaftlichen Kurs im Simbirsker Gymnasium absolvierte.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008