Leo Trotzki

 

Der junge Lenin


Schicksalsschläge treffen die Familie

„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich“, sagt Tolstoj, „jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.“ Die Familie Uljanow führte fast dreiundzwanzig Jahre lang ein glückliches Leben und war anderen einträchtigen und erfolgreichen Familien ähnlich. 1886 traf sie der erste Schlag: der Tod des Vaters. Aber ein Unglück kommt selten allein. Dem ersten folgten bald andere: die Hinrichtung Alexanders, die Verhaftung Annas. Doch neues und immer neues Unheil stand bevor. Von nun an begannen Nahestehende und Fernstehende die Uljanows als unglückliche Familie zu betrachten. Und sie wurde wirklich unglücklich, nur auf ihre eigene Art. Als Ilja Nikolajewitsch sein fünfundzwanzigstes Dienstjahr absolviert hatte, wurde er vom Ministerium nur noch für ein weiteres Jahr im Dienst belassen, und nicht für fünf, wie die meisten hohen Beamten. Diese Mißachtung seiner Verdienste empfand Ilja Nikolajewitsch als sehr bitter. Mit der Annahme, daß der Vater für sein allzu großes Bemühen um die Volksbildung zu leiden hatte – oder richtiger: beinahe zu leiden gehabt hätte –, eilt Jelisarowa eindeutig der Zeit voraus: Der Minister, der es ablehnte, Uljanow noch fünf Jahre im Dienst zu belassen, war derselbe „Liberale“, Saburow, der im Jahre 1880 die „Diktatur des Herzens“ auf dem Gebiet der Volksbildung vorschlagen sollte. Es ist sogar möglich, daß Saburow, der das Personal auffrischen wollte, mit der Entlassung von verdienten Routiniers begann, und daß Ilja Nikolajewitsch durch ein Versehen des Ministeriums dieser Kategorie zugezählt wurde. Saburow wurde jedoch selbst sehr bald abgesetzt, ebenso sein Vorgesetzter Loris-Melikow; der Nachfolger Saburows, der sich besser auskannte, beließ Uljanow für weitere fünf Jahre. Auf jeden Fall litt Ilja Nikolajewitsch zweifellos schwer unter den unerwarteten Widerwärtigkeiten in seinem Schicksal. Die vorzeitige Pensionierung drohte nicht nur ihn aus der gewohnten Arbeit zu reißen, sondern auch die materielle Lage der Familie zu erschweren.

Die Änderung des Regierungskurses im Unterrichtswesen wurde tatsächlich nach der Episode mit der Pensionierung Uljanows durchgeführt. Der Semstwo geriet in eine mißliche Lage und mit ihm auch die Landschule. Gleichzeitig mit der Einführung eines neuen Universitätsstatuts wurden 1884 auch die Vorschriften über die kirchlichen Pfarrschulen erlassen. Ilja Nikolajewitsch war mit dieser Reform nicht einverstanden: nicht aus Feindschaft gegen die Kirche – im Gegenteil, er achtete eifrig darauf, daß das Gesetz Gottes in den Landschulen gewissenhaft gelehrt wurde -, sondern aus Hingabe für das Bildungswesen. Je kräftiger der Wind der Reaktion blies, desto mehr geriet der Simbirsker Direktor der Volksschulen schon wegen seiner Sorge um die Volksbildung in unfreiwillige Opposition zum neuen Kurs. Das, worin früher sein Verdienst bestand, wurde ihm jetzt gewissermaßen als Schuld angekreidet. Er mußte nachgeben und sich anpassen. Sein ganzes Lebenswerk wurde zerstört. Gelegentlich war Ilja Nikolajewitsch nicht abgeneigt, die älteren Kinder auf die verderblichen Folgen des revolutionären Kampfes hinzuweisen, der Reaktion statt Fortschritt hervorbrachte. Dieselbe Einstellung hatten die meisten friedlichen Kulturarbeiter jener Zeit. Der Simbirsker Gutsbesitzer Nasarew schrieb dem Redakteur der liberalen Zeitschrift Wjestnik Jewropy (Europabote), als er ihm die fällige Korrespondenz schickte, privat über Uljanow: „Er genießt nicht die Aufmerksamkeit des Ministeriums und ist in einer beneidenswerten Lage.“ llja Nikolajewitsch litt schwer, wenn auch ergeben, unter dem Angriff der Regierung auf die Volksschulen. Seine Lebensfreude war verschwunden, die letzten Lebensjahre wurden von Unsicherheit und Besorgnis vergiftet. Im Januar 1886 erkrankte er plötzlich während der Abfassung des Jahresberichtes. Alexander befand sich in Petersburg und ging ganz in seiner Kursarbeit in Zoologie auf. Wladimir, der in einem halben Jahr seine Gymnasialstudien abschließen sollte, mußte sich schon über die Universität Gedanken machen. Anna war zu den Weihnachtsferien nach Hause gekommen. Weder die Angehörigen noch der Arzt maßen der Erkrankung Ilja Nikolajewitschs besondere Bedeutung bei. Er setzte die Arbeit am Jahresbericht fort, und die Tochter las ihm gerade aus irgendwelchen Papieren etwas vor, als sie bemerkte, daß der Vater plötzlich zu phantasieren begann. Am nächsten Morgen – am 12. Januar – kam der Kranke nicht ins Speisezimmer; er ging bis zur Tür und schaute hinein. „So, als wäre er sich verabschieden gekommen“, erinnert sich später Marja Alexandrowna. Um fünf Uhr nachmittag rief die Mutter angstvoll Anna und Wladimir. Ilja Nikolajewitsch lag auf dem Diwan, der ihm als Bett diente, bereits in Agonie. Die Kinder sahen, wie der Vater zweimal vom Schüttelfrost überlaufen wurde und dann für immer die Augen schloß. Er war noch keine fünfundfünfzig Jahre alt. Als Todesursache stellte der Arzt – „vermutlich, wenn auch mit größter Wahrscheinlichkeit“, wie er selbst sagte – eine Gehirnblutung fest. So traf die Familie Uljanow der erste große Schlag.

„Das Begräbnis des Vaters zeigte, welche Popularität er in Simbirsk genoß“, erzählt Jelisarowa. In den Nachrufen wurden, wie sich’s gehört, seine Verdienste um das Schulwesen angeführt. Am wärmsten gedachten seiner die Simbirsker Lehrer. Der Direktor hatte an sie große Ansprüche gestellt, er war manchmal sogar unerbittlich hart gewesen, aber er hatte nicht wenig Mühe darauf verwendet, ihre materielle Lage zu bessern. „Einen zweiten Ilja Nikolajewitsch wird es nicht geben“, sagten die Lehrer, als sie vom Begräbnis heimgingen. Anna blieb in Simbirsk, um der Mutter nahe zu sein. In diese Zeit fällt auch die uns schon bekannte Annäherung zwischen der älteren Schwester und Wladimir, die gemeinsamen Winterspaziergänge und langen Gespräche, in denen sich der Bruder als Protestant, als Widerspruchsgeist entpuppte – einstweilen nur gegen „die Gymnasialleitung, den Gymnasialunterricht und auch die Religion“. Zur Zeit der letzten Sommerferien war diese Einstellung bei ihm noch nicht festzustellen gewesen. Der Tod des Vaters unterbrach sofort den einschläfernden Lauf des Familienlebens, das bisher stets so glücklich erschienen war. Wie soll man da nicht annehmen, daß gerade dieser Schicksalsschlag den Gedanken Wladimirs eine neue, kritische Richtung gab? Die Antworten des kirchlichen Katechismus auf die Fragen von Leben und Tod mußten ihm angesichts der grausamen Wirklichkeit der Natur erbärmlich und erniedrigend erscheinen. Ob er nun das Kreuz, das er auf der Brust trug, tatsächlich in den Mist warf oder, was wahrscheinlicher ist, ob die Erinnerung Krshishanowskis einen bildlichen Ausdruck in eine körperliche Geste umwandelte, eines steht außer Zweifel: mit der Religion muß Wladimir jäh gebrochen haben, ohne lange Schwankungen, ohne jeden Versuch, Wahrheit und Lüge eklektisch auszusöhnen, mit dem jungen Mannesmut, der erst die Flügel entfaltete.

Alexander war nächtelang schlaflos über seiner Arbeit gewesen, als ihn die überraschende Nachricht vom Tod des Vaters erreichte. „Für einige Tage ließ er alles liegen und stehen“, erzählt ein Universitätskollege, „und rannte in seinem Zimmer von einem Ende zum andern, wie ein verwundetes Tier.“ Doch ganz im Sinne dieser Familie, wo starke Gefühle mit Disziplin gepaart waren, verließ Alexander nicht die Universität, eilte nicht nach Simbirsk, sondern riß sich zusammen und kehrte zu seinen Studien zurück. Die Mutter erhielt nach einigen Wochen einen wie immer kurzen Brief: „Für meine zoologische Arbeit über die Ringelwürmer erhielt ich die goldene Medaille.“ Maria Alexandrowna weinte aus Freude über ihren Sohn und aus Schmerz über ihren Mann.

Von nun an mußte man von der Pension der Mutter leben, vielleicht auch von kleinen Ersparnissen, die der Vater hinterlassen hatte. Man rückte im Haus zusammen und nahm Mieter auf. Aber die Ordnung des Lebens blieb wie zuvor. Maria Alexandrowna betreute die jüngeren Kinder und wartete, bis der älteste Sohn die Universität beendete. Alle arbeiteten. Wladimir bereitete ihr Freude durch seine Erfolge und Besorgnis durch seine Anmaßung. So verging das Trauerjahr. Das Leben hatte bereits begonnen, sich auf neuen, schmäleren Geleisen einzuspielen, als die Familie ein absolut unerwarteter und überdies doppelter Schlag traf; Sohn und Tochter waren in einen Prozeß wegen Vorbereitung des Zarenmordes verwickelt. Es war schon schrecklich, diese Worte auch nur auszusprechen!

Anna wurde am 1. März im Zimmer des Bruders verhaftet, wohin sie gerade zur Zeit der Hausdurchsuchung gekommen war. In schrecklicher Ungewißheit saß das junge Mädchen im Gefängnis wegen einer Sache, mit der sie nicht das Geringste zu tun hatte. Damit also hatte sich Sascha befaßt! Sie waren Schulter an Schulter aufgewachsen, hatten im Kabinett des Vaters mit einem Siegellackstäbchen und einem Magnet gespielt, waren oft bei der Musik der Mutter eingeschlummert, hatten gemeinsam in Petersburg studiert – und so wenig hatte sie ihn gekannt. Je älter Sascha wurde, desto mehr entfernte er sich von der Schwester. Mit Bitterkeit erinnert sich Anna, wie Alexander sich bei ihren Besuchen mit sichtlichem Bedauern von seinem Buch trennte. Über seine Gedanken sprach er nicht mit ihr. Nach jeder neuen Nachricht über die Gemeinheiten der zaristischen Behörden verfinsterte sich sein Gesicht, und er zog sich noch mehr in sich selbst zurück. „Ein tiefblickender Beobachter hätte schon damals seinen Weg vorausgesagt...“ Aber Anna war keine tiefblickende Beobachterin. Im letzten Jahr hatte sich Alexander geweigert, mit ihr zusammen zu wohnen; er erklärte einem Genossen, er wolle seine Schwester, die keinerlei Neigung zu gesellschaftlicher Betätigung zeigte, nicht komprornittieren. Im Winter sah ihn Anna einmal mit irgendwelchen sonderbaren Gegenständen in den Händen. Wie fern lag ihr der Gedanke an Sprengkörper! Bald darauf geriet sie in seiner Wohnung in eine Versammlung von Verschwörern. Aber seine Freunde waren nicht ihre Freunde. Sie dachten gar nicht daran, sie einzuweihen. An einem der letzten Tage, am 26. Februar, als er todtraurig war, kam er überraschend zu ihr, saß da, dachte nach und wartete, als warte er auf das Wunder des Sichnäherkommens. Aber sie verstand die Stimmung des Bruders nicht und versuchte, mit ihm über alltägliche Dinge zu sprechen. Das Wunder geschah nicht, Alexander ging fort, verschlossen, fremd, verurteilt. Und sie blieb zurück, ein wenig gekränkt, daß er irgendwas vor ihr verheimlichte. Erst in der Einzelzelle begriff sie, daß der Bruder bei ihr ein letztes Mitfühlen gesucht hatte, und daß sie ihm nicht gegeben hatte, wessen er bedurfte. Schon in der Kindheit hatte sie sich angewöhnt, in den Augen Alexanders Billigung oder Tadel zu suchen. Jetzt empfand sie klar, daß sie keine Billigung gefunden hatte, und das für immer, Sie schrieb dem Bruder aus einem Kerker in den anderen: „Es gibt auf der Welt keinen besseren, keinen edleren Menschen als dich.“ Aber der verspätete Schrei der Anerkennung erreichte nicht den Adressaten.

Von der Verhaftung Alexanders und Annas schrieb eine Petersburger Verwandte der Uljanows der ehemaligen Lehrerin der Kinder und bat, sie, die Mutter schonend vorzubereiten. Wladimir zog die jungen Brauen zusammen und schwieg lang über den Petersburger Brief. Der Blitzschlag zeigte ihm die Gestalt Alexanders in einem neuen Licht. „Die Sache ist ernst“, sagte er, „sie kann für Sascha ein schlechtes Ende nehmen.“ Er zweifelte offenbar nicht daran, daß Anna nicht beteiligt war. Ihm oblag die Aufgabe, die Mutter vorzubereiten. Diese aber fühlte schon bei den ersten Worten das Unheil, verlangte den Brief und bereitete sich sofort zur Abreise vor. Simbirsk hatte noch keine Eisenbahnverbindung, bis Sysran mußte man mit dem Pferdefuhrwerk fahren. Aus Ersparnisgründen und zur größeren Sicherheit suchte Wladimir für die Mutter einen Reisegefährten. Aber die Kunde von den Ereignissen hatte sich schon in der Stadt verbreitet, alle hielten sich ängstlich abseits, niemand war bereit, mit der Mutter eines Terroristen zu fahren. Wladimir prägte sich diese Lehre fest ins Gedächtnis ein. Die nun kommenden Tage waren überhaupt von großer Bedeutung für die Formung seines Charakters und seiner geistigen Ausrichtung. Der Junge war finster und schweigsam, schloß sich meist in sein Zimmer ein, wenn er nicht genötigt war, sich um die seiner Obhut anvertrauten jüngeren Geschwister zu kümmern. So einer ist er also, dieser unermüdliche Chemiker und Würmerpräparator, dieser schweigsame Bruder, so nah und doch so unbekannt! Als er mit Kaschkadamowa über die Katastrophe zu reden kam, wiederholte er: „Alexander konnte nicht anders handeln.“ Die Mutter kam auf einen kurzen Besuch zu den Kindern, erzählte von ihren Bemühungen und träumte von lebenslänglicher Zwangsarbeit für Sascha. „Ich würde dann mit ihm fahren, die älteren Kinder sind schon groß, und die jüngeren nehme ich mit“ Nicht ein Lehrstuhl und wissenschaftlicher Ruhm waren jetzt Gegenstand der mütterlichen Hoffnungen, sondern Ketten und Verbannung.

Die erste Besuchserlaubnis erhielt Maria Alexandrowna erst am 30. März, einen Monat nach der Verhaftung. Sascha weinte, umarmte ihre Knie, bat um Verzeihung, rechtfertigte sich damit, daß er außer der Pflicht der Familie gegenüber auch noch die Pflicht vor dem Vaterland habe, und bemühte sich, die Mutter auf das Schicksal vorzubereiten, das ihn erwartete. „Man muß sich damit abfinden, Mama!“ sagte er ihr. Aber sie wollte sich nicht abfinden. Vom Sohn ging sie zur Tochter, von der Tochter zu den Behörden und zu einflußreichen Persönlichkeiten. Ihr Leid war unermeßlich, aber ihr Mut erhob sich auf die Höhe ihres Leids. Sie ergab sich nicht, klopfte an alle Türen, suchte dem Sohn Hoffnung zu machen, tröstete die Tochter. Man gewährte ihr Einlaß zur Gerichtsverhandlung. In den anderthalb Monaten der Haft war Alexander zum Mann geworden, selbst seine Stimme hatte eine unerhörte Eindringlichkeit bekommen. „Wie gut sprach Sascha: wie überzeugend, wie beredsam.“ Aber bis zum Ende seiner Rede hielt es die Mutter nicht aus: diese Beredsamkeit zerriß ihr Herz. Am Vorabend der Hinrichtung hatte sie die Hoffnung noch immer nicht aufgegeben und wiederholte dem Sohn durch zwei Drahtgitternetze: „Verzweifle nicht!“ Am 5. Mai, auf dem Weg zum Besuch der Tochter, erfuhr sie aus einem Zettel, der auf der Straße verteilt wurde, daß Sascha nicht mehr am Leben war. Nirgends findet man die Gefühle aufgezeichnet, mit denen die verwaiste Mutter sich, zum Gitter schleppte, hinter dem Anna stand. Aber Maria Alexandrowna beugte sich nicht, brach nicht zusammen, verriet der Tochter nicht das Geheimnis. Auf die Frage nach dem Bruder antwortete die Mutter: „Bete für Sascha.“ Anna hörte hinter dem Mut nicht die Verzweiflung. Mit welcher Hochachtung gaben die Beamten der Gefängnisverwaltung, die von der Hinrichtung Alexanders schon wußten, dieser beherrschten Frau in Schwarz den Weg frei! Die Tochter ahnte noch nicht, daß die Trauer um den Vater schon zur Trauer um den Bruder geworden war.

Simbirsk war erfüllt vom Blütenduft seiner Gärten, als aus der Hauptstadt die Nachricht von der Hinrichtung Alexander UIjanows kam. Die gestern noch von allen geachtete Familie des Wirklichen Staatsrates war zur Familie eines hingerichteten Staatsverbrechers geworden. Alle Bekannten und Freunde, ohne Ausnahme, mieden das Haus in der Moskauer Straße. Selbst der alte Lehrer, der oft zu Ilja Nikolajewitsch gekommen war, um eine Partie Schach zu spielen, ließ sich nicht mehr blicken. Aufmerksam beobachtete Wladimir die Umgebung, ihre Feigheit und Treulosigkeit. Es war für ihn ein unersetzlicher Unterricht in politischem Realismus.

Anna wurde einige Tage nach der Hinrichtung des Bruders in Freiheit gesetzt; die Behörden hatten zugestimmt, sie statt nach Sibirien unter Polizeiaufsicht nach Kokuschkino zu verbannen, der Heimat der Mutter. Für Maria Alexandrowna begann ein neuer Abschnitt des Lebens. Sie mußte nicht nur die äußeren Beziehungen, sondern auch sich selbst völlig umstellen. Die langsame und grausame Fortbewegung der russischen Revolution, die über Totenschädel der jungen Generation der Intelligenz ging, hat so manche konservative Mutter umerzogen. Frauen aus adeligen, bourgeoisen oder kleinbürgerlichen Kreisen wurden aus ihrer häuslichen Umgebung gerissen, um lange Stunden in den Wartezimmern der Gendarmen, in den Kabinetten der Staatsanwälte und in den Kanzleien der Gefängnisse zu verbringen. Sie wurden keine Revolutionäre, aber um ihre Kinder zu verteidigen, führten sie im Hinterland der Revolution ihren eigenen Kampf mit dem Regime. Allein schon durch ihre Klagen über die Rachsucht und Grausamkeit der Staatsmacht machten sie diese verhaßt. Die Funktion der Mutter wurde zur revolutionären Funktion. Aus ihrer Mitte ragten wahrhaft heroische Gestalten hervor, von höherer Seelengröße als die biblische Mater dolorosa, die nichts anderes konnte, als vor der Selbstherrlichkeit des Himmels auf das Antlitz zu fallen. Für die verbleibenden dreißig Jahre ihres Lebens trat Maria Alexandrowna ein in den Orden der leidenden und kämpfenden Mütter.

In denselben Wochen, als sich in der Hauptstadt das Schicksal des älteren Bruders entschied, mußte sich der jüngere auf die Reifeprüfung vorbereiten. Wie Alexander nach dem Hinscheiden des Vaters, so unterbrach auch Wladimir nach dem Tod des Bruders kaum für mehr als einige Tage die angespannte Arbeit. Der pädagogische Rat stellte dem Schüler der achten Gymnasialklasse Uljanow das beste Zeugnis aus: „Er beschäftigt sich liebevoll mit allen Gegenständen und vor allem mit den alten Sprachen.“ In zehn Gegenständen hatte Uljanow Fünf, nur in Logik Vier. War es etwa deshalb, weil Hegel, sein künftiger Lehrer, die Schullogik „dies tote Gebein“ genannt und das Syllogismenspiel mit dem Zusammenstellen von Kinderbildern aus einzelnen Würfeln verglichen hatte? Oder begann vielleicht die Logik des künftigen Revolutionärs schon damals um ein Fünftel von der offiziellen Logik abzuweichen? Trotz der noch ganz frischen Warnung aus Petersburg, wo man dem künftigen Staatsverbrecher Alexander Uljanow eine Medaille und das beste Zeugnis gegeben hatte, konnte der pädagogische Rat nicht umhin, seinem jüngeren Bruder die goldene Medaille zu geben: bei den Abschlußprüfungen bekam Wladimir lauter Fünfer. Er beendete das Gymnasium im Alter von 17 Jahren und zwei Monaten.

In den Semstwos und in der Presse jener Zeit wurde darüber geklagt, daß das klassische System dem Land „schwachbrüstige, nervöse Menschen gab, mit krummen Rücken und eher schwachem Verstand“. Kein Wunder: Die Aufgabe des ganzen Systems bestand in der Verkrümmung der Geister und Rücken. Wladimir Uljanow verließ jedoch unbeschädigt das Gymnasium: wenn es „Kubyschkin“ auch gelungen war, gründlich abzumagern, so war sein Brustkorb doch gut entwickelt, die Nerven waren in Ordnung, Verstand und Rückgrat stark und gerade. Am allerwenigsten hätte man diesen jungen Burschen schön nennen können; mit seinem Gesicht von grauer Farbe, dem halbmongolischen Schnitt der Augen, den vorspringenden Backenknochen, den groben und gleichzeitig verschwommenen Gesichtszügen, den rötlichen Haaren auf dem kräftigen und großen Kopf. Dafür leuchteten die kleinen braunen Augen unter den dunkelblonden Brauen forschend und übermütig, und das Mienenspiel des Gesichts verriet unfehlbar die Musik der inneren Kräfte. In der Gruppe der Gymnasiasten, die stief vor dem Photoapparat standen, konnte Wladimir in keiner Weise die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Dafür war er im lebendigen Gespräch, in der Unterhaltung und vor allem in der Arbeit unweigerlich der erste, und den zweiten mußte man weit hinten suchen.

Die offizielle Charakteristik, die der Direktor des Gymnasiums, Kerenskij, Wladimir Uljanow gab, verdient es, daß man sie zur Gänze wiedergibt. „Außerordentlich begabt, ständig eifrig und akkurat, war Uljanow in allen Klassen der beste Schüler und wurde bei Beendigung des Studienganges wegen seiner Erfolge, seiner Entwicklung und seines Betragens als Würdigster mit der goldenen Medaille ausgezeichnet Weder im Gymnasium noch außerhalb desselben wurde bei Uljanow auch nur ein einziger Fall beobachtet; wo er in Wort oder Tat bei den Leitern und Lehrern des Gymnasiums eine abfällige Meinung über sich hervorgerufen hätte! Auf das Studium und die moralische Entwicklung Uljanows achteten immer sorgfältig die Eltern, und ab 1886, nach dem Tod des Vaters, die Mutter allein, deren ganze Sorge und Betreuung der Erziehung der Kinder galt. Der Erziehung lag die Religion und vernünftige Disziplin zugrunde. Die guten Früchte der häuslichen Erziehung waren aus dem ausgezeichneten Benehmen Uljanows ersichtlich. Bei näherer Betrachtung der Art des häuslichen Lebens und des Charakters Uljanows konnte mir seine allzu große Verschlossenheit nicht entgehen sowie seine Scheu, sich selbst guten Bekannten, und außerhalb des Gymnasiums auch Kameraden, die eine Zierde der Schule waren, mitzuteilen, wie überhaupt seine Menschenscheu. Die Mutter Uljanows hat die Absicht, ihn während der ganzen Zeit seines Universitätsstudiums nicht allein zu lassen.“ Nach seinen Jahresberichten zu urteilen, gründete Kerenskij selbst die Erziehung auf der „Entwicklung des religiösen Gefühls, der Ehrerbietung vor den Älteren, dem Gehorsam gegenüber der Leitung und der Achtung des fremden Eigentums“. Angesichts dieser untadeligen Prinzipien ist es nicht leicht, zu glauben, daß die von ihm ausgestellte vorbildliche Charakteristik sich auf den künftigen Unterwühler der Religion, der Staatsmacht und des Eigentums bezieht. Gewiß, der Direktor des Gymnasiums war zu jener Zeit ein naher Bekannter der Familie Uljanow und wollte, nach der Meinung Jelisarowas, mit seinem günstigen Zeugnis Wladimir helfen, die Schwierigkeiten zu überwinden, die das Schicksal des älteren Bruders auf seinem Weg aufzutürmen drohte. Aber was immer die Motive Kerenskijs waren, er hätte sich nie entschlossen, angesichts des ganzen pädagogischen Rates seinem Zögling ein so gutes Attest auszustellen, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, daß es den Tatsachen entspricht. Der ehrsame Direktor handelte mit um so größerer Überzeugung, weil gerade seine nahe Bekanntschaft mit den Uljanows, die sich natürlich nicht zufällig herausgebildet hatte, es ihm gestattete, die in der Schule gemachten Beobachtungen über Wladimir im Familienkreis zu ergänzen.

Der Hinweis der Charakteristik darauf, daß „Religion und eine vernünftige Disziplin“ die Grundlage der Familienerziehung bildeten, wird von Jelisarowa selbst bestätigt, die sagt: „Ilja Nikolajewitsch war ein tiefgläubiger Mensch und erzog seine Kinder in diesem Sinn“, wobei er von ihnen gleichzeitig „Pünktlichkeit und Folgsamkeit bis zur Pedanterie“ verlangte. Bis zum sechzehnten Jahr blieb Wladimir gläubig. Entsprechend der Entwicklung der gesellschaftlichen Anschauungen in Rußland und entsprechend den spezifischen Zügen seines in jeder Hinsicht einheitlichen Charakters konnte er auf keinen Fall irgendwelche umstürzlerischen Anschauungen auf dem Gebiet der Politik haben, solange er noch religiös war. Man muß, allen Scheinheiligen der Revolution zum Trotz, diese Tatsache anerkennen, wie sie eben ist: Der Kern der Persönlichkeit Wladimirs, der sich mit Lebenskräften vollsog, verbarg sich lange Zeit unter der schützenden Schale der Tradition. Wladimir hatte, vor allem nach der unangenehmen Affäre mit dem „Franzosen“ gelernt, seine natürliche beißende Spottlust zu zügeln, wenn es notwendig war. Er suchte keine Abenteuer und liebte nicht den Lärm um nichts. Ohne sein Gesicht zu verlieren, verstand er es, sein Verhalten mit den Gymnasialregeln zu koordinieren, mit der Elastizität seines Charakters, seiner Findigkeit und Lebensfreude als Gegengewicht. Gewiß, schon ungefähr vor einem Jahr hatte Wladimir der Religion den Rücken gekehrt und damit die Ausgangsposition für die Revision überhaupt aller traditionellen Anschauungen bezogen. Aber dieser Prozeß vollzog sich vorläufig noch im verborgenen. Wladimir begann nur, eine „kritisch denkende Persönlichkeit“ zu werden. Gleichzeitig aber lehrte ihn die Lebensweisheit seiner siebzehn Jahre, die Veränderungen, die in ihm vor sich gingen, selbst vor dem Schulleiter, der ihn aus der Nähe beobachtete, zu verbergen. Nichts berechtigt daher, dem ehrsamen Direktor vorzuwerfen, er habe aus persönlicher Freundschaft auch nur um ein Haar sein Urteil modifiziert.

Nicht die lobenden, sondern gerade die kritischen Bemerkungen der Charakteristik geben Anlaß zu gewissen Zweifeln. Die zeitweilige Bedrücktheit unter dem Einfluß der Unglücksfälle in der Familie konnten jedenfalls keinen Anlaß geben, den gesprächigen und spottlustigen Burschen als verschlossen und menschenscheu zu bezeichnen. Man muß daher wohl annehmen, daß Direktor Kerenskij ein ebenso schlechter Psychologe war wie später einmal sein Sohn, wenn sich nicht hinter der Bezeichnung „menschenscheu“ ein anderer Zug verbarg, den der Direktor bemerkte, aber nicht zu verstehen und mit seinem richtigen Namen zu nennen wußte. Die Aufgabe war auch nicht gerade leicht. Hinter der Selbstbeherrschung und Disziplin Wladimirs war irgendein anderes, nicht auflösbares psychisches Element zu spüren. Ebenso in seinen Beziehungen zu den Altersgenossen. Alles schien gut zu gehen, aber doch nicht ganz so, wie es sich gehört. Wladimir war mit seinen Kenntnissen anderen oft behilflich. Er unterrichtete mit Erfolg seine ältere Schwester in Latein. Zwei Jahre lang beschäftigte er sich unentgeltlich mit einem tschuwaschischen Lehrer, um ihn auf die Matura vorzubereiten. Er schrieb gern für andere Aufsätze und bemühte sich dabei, in einem anderen Stil zu schreiben. Aber er nahm niemanden mit sich nach Hause. Von seinen Altersgenossen, selbst von solchen, die als „Zierden der Schule“ galten, trennte Wladimir irgendeine unsichtbare Scheidewand, die Intimität und Familiarität ausschloß. Gute Beziehungen verbanden ihn mit vielen, Freundschaft mit niemandem. „Der Bruder machte sich“, schreibt Jelisarowa, „Oft über Kameraden und auch über einige Lehrer lustig.“ Der Spott war vermutlich treffend und schonte nicht immer die Eigenliebe des anderen; doch was noch wichtiger ist: er schuf Distanz zwischen dem Spötter und seinem Opfer. „Intime Freunde hatte er in der Gymnasialzeit nicht“, gibt Jelisarowa zu. Prahlerei und Wichtigtuerei waren Wladimir sowohl in der Schule als auch in der Jugend fremd: schon die Maße seiner Persönlichkeit schlossen diese Eigenschaften aus. Aber die ungeheure persönliche Überlegenheit des künftigen Menschenfängers verhinderte Annäherungen, die, wenn schon nicht Gleichheit, so doch eine gewisse Kommensurabilität verlangten. Trotz seiner Geselligkeit blieb Wladimir allein. Entsprechend seinem Verständnis ging der Direktor an diesen Charakterzug heran, der in Zukunft zu so vielen Vorwürfen und Verurteilungen Anlaß geben sollte, so lange, bis er endgültig seine Anerkennung erzwang. Vielleicht ist am richtigsten, diesen unbequemen Zug Genialität zu nennen. Der Gymnasiast Wladimir Uljanow war Lenin im Larvenstadium.

Von der Absicht der Mutter, Wladimir „nicht allein zu lassen“, schrieb Kerenskij nicht zufällig. Zu der Zeit, als Maria Alexandrowna endlos für Sascha intervenierte, gab ihr der Direktor des Polizeidepartements den „Rat“, den jüngeren Sohn möglichst weit von der hauptstädtischen Infektionsquelle, auf einer der ruhigsten Provinzuniversitäten, unterzubringen. Es wurde entschieden, daß Waldimir in Kasan studieren sollte. Maria Alexandrowna beschloß, auch mit der ganzen Familie dorthin zu übersiedeln: Sie versuchte zu glauben, daß Wolodja unter ihrer Obhut nicht so leicht auf einen verderblichen Weg geraten würde. Und in Simbirsk zu bleiben wäre auch unerträglich gewesen: hier erinnerte alles allzu sehr an die jüngste Vergangenheit, und die Freunde von gestern verdrängten durch ihre feige Feindseligkeit die Familie gewissermaßen aus dem Ort, an dem sie ansässig geworden war. Maria Alexandrowna beeilte sich, das Haus zu verkaufen, und schon nach einigen Wochen folgte sie Wladimir und übersiedelte mit den übrigen Kindern nach Kasan. Am neuen Ort war die Familie abermals isoliert, so wie in der ersten Zeit in Simbirsk, und noch dazu unter der schwarzen Wolke der Ungnade.

Die Stadt, die sich mit ihren etwa hunderttausend Einwohnern „Hauptstadt des Wolgalandes“ nannte, bewahrte trotz der Universität ihren wahrhaft hinterwäldlerischen Charakter. Die Gedanken und Hoffnungen, die vor zwei Jahrzehnten die gebildete Gesellschaft bewegten, waren verblüht und verwelkt. „Die Ode, die das Leben in Kasan versauerte“, schreibt ein Zeitungskommentator jener Zeit, „drang bis in den letzten Winkel und brachte in die öffentlichen Institutionen Kasans – in die Duma, in den Semstwo – tödliche Apathie.“ Die zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gegründete Kasaner Universität hatte eine dramatische Geschichte. Als über Europa, die Heilige Allianz ihre schwarzen Schwingen breitete, geriet die russische Universitätswissenschaft trotz ihrer Gefügigkeit bei den Frömmlern am Hof in Verdacht. Der Revisor Magnitzkij entdeckte zu seinem Entsetzen, daß das Naturrecht von den Kasaner Professoren von der Vernunft – und nicht vom Evangelium – abgeleitet wurde; er schlug vor, die Universität zu schließen und dem Erdboden gleichzumachen. Alexander I. erreichte dasselbe Ziel auf einem anderen Weg: er ernannte den Revisor selbst zum Rektor der Universität. Magnitzkij führte für alle Wissenschaften strengste Reglements ein, geschrieben von einem Korporal und ergänzt von einem betrunkenen Mönch. Von nun an entwickelte sich die Parabel im Namen der Heiligen Dreieinigkeit, und die chemischen Reaktionen verliefen nur mit Genehmigung des Heiligen Geistes. Die Universität, die für lange Zeit in einen Zustand tiefster Erniedrigung versetzt wurde, erlebte später, zur Zeit des zwanzigjährigen Rektorats des berühmten Lobatschewskij, des Schöpfers der nichteuklidischen oder „imaginären“ Geometrie, einen gewissen Aufschwung. Der Vater Uljanow war Schüler Lobatschewskijs gewesen, allerdings schon in den Jahren eines neuerlichen Niedergangs der russischen Universitäten, der durch die Angst Nikolaus’ I. vor der Revolution des Jahres 1843 hervorgerufen wurde. Während seiner Tätigkeit als Lehrer in Pensa leitete Ilja Nikolajewitsch auf Rekommandation Lobatschewskijs einige Jahre lang die meteorologische Station.

Wladimir trat siebenunddreißig Jahre nach seinem Vater in die Kasaner Universität ein, aber nicht in die physikalisch-mathematische, sondern in die juridische Fakultät. Der Direktor des Simbirsker Gymnasiums war über diese Wahl gekränkt: seinem Wunsch nach hätte sein bester Schüler Philologe werden sollen. Aber die Laufbahn eines Pädagogen war für Wladimir wenig verlockend: er wollte Advokat werden. Die Zusammensetzung der Studentenschaft war in Kasan wohl noch demokratischer als an anderen Universitäten. Aber das Leben der Hochschulen stand in jenen Tagen vollständig im Zeichen der Panik: seit der Hinrichtung Alexander Uljanows und seiner Genossen waren erst drei Monate vergangen. Die Regierung, die über eine machtvolle Polizei und eine Million Soldaten verfügte, fürchtete sich noch immer vor der Studentenschaft mit ihren kaum 15.000 Seelen. Das Statut des Jahres 1884 trat jetzt voll in Kraft. Die liberalen Professoren entfernte man, die unschuldigen Landsmannschaften löste man auf, verdächtige Studenten relegierte man, die übrigen zwang man zum Tragen der verhaßten Uniform. Der Minister für Volksbildung, Graf Deljanow, eine bösartige Null, verbot in einem eigenen Rundschreiben die Aufnahme von „Köchinnenkindern“ ins Gymnasium. Leonid Krassin, ein Altersgenosse und späterer Kampfgefährte Lenins, erzählt in seinen Ennnerungen: „Im Herbst 1887, als ich zum erstenmal nach Petersburg kam, um am Technologischen Institut die Aufnahmsprüfung zu machen, herrschte in Petersburg finsterste Reaktion.“ In Kasan war es auf jeden Fall nicht besser.

Und dennoch brachte die Studentenschaft die Kraft zum Protest auf. Seine ersten Noten erklangen innerhalb der Mauern der Petersburger Universität schon im Frühling, als der Rektor Andrejewskij anläßlich der Verschwörung Uljanows und seiner Genossen mit dem für die Helden des Katheders so bezeichnenden kriecherischen Pathos eine Rede hielt: „Warum habt ihr, Unglückselige, die Schwelle unserer Universität überschritten? Sie kamen in unsere vortreffliche Studentenfamilie, um sie zu schänden...“ und so weiter. Am nächsten Tag erklärte der Verband der Landsmannschaften die Universität für geschändet, die „knechtisch hinter ihrem Rektor zu den Stiefeln des Despotismus kroch ...“. Die Hinrichtung der fünf Studenten versetzte die Universität in Angst und Schrecken. Die Ferien führten zu einer gewissen Entspannung der Stimmung. Aber im Herbst fühlten sich die Studenten in den Schraubstock gepreßt. Die Atmosphäre in den Hörsälen und auf den Gängen wurde plötzlich dichter. Im November erhob sich eine Welle der „Ordnungsstörungen“. Von Moskau ausgehend, erreichte sie im Dezember die Wolga.

Die Studenten der Kasaner Universität traten am 4. Dezember eigenmächtig zu einer Versammlung zusammen, ließen den Inspektor kommen, legten ihm lärmend ihre Forderungen vor und weigerten sich, auseinanderzugehen. Der Inspektor bemerkte in den ersten Reihen einen jungen Studenten, der beim Hinausgehen einen Ausweis auf den Namen Uljanow vorwies. Noch in derselben Nacht wurde er in seiner Wohnung verhaftet. Es ist nicht leicht, zu entscheiden, ob er sich tatsächlich durch sein protestierendes Benehmen hervorgetan hatte, oder ob er wegen seines odiosen Familiennamens auf die Liste der Verhafteten kam. Die Rolle eines Führers kam ihm als Neuling jedenfalls nicht zu: Organisatoren der „Ordnungsstörungen“ waren immer erfahrenere Studenten, die miteinander verabredet waren und mit Lehranstalten anderer Städte in Verbindung standen. Doch die offiziellen Dokumente jener Zeit versuchen, das Betragen des jungen Studenten in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Der Kurator des Lehrbezirkes berichtete dem Ministerium nach den Angaben des Inspektors, daß Wladimir Uljanow in der kurzen Zeit seiner Anwesenheit auf der Universität sich ausgezeichnet habe durch „Verschlossenheit, Unaufmerksamkeit und selbst Unhöflichkeit“. Schon zwei Tage vor der Versammlung habe er angeblich die Aufmerksamkeit der Überwachung auf sie gelenkt: unterhielt sich im Rauchzimmer mit den „verdächtigsten Studenten“, ging hinaus, kam zurück, brachte irgend etwas mit; am 4. Dezember stürzte er mit der ersten Gruppe in die Aula, rannte schreiend den Koridor entlang und „fuchtelte mit den Armen, als wollte er damit die anderen aufputschen“. Aus dieser malerischen Skizze geht eines klar hervor: seit der ersten Stunde seiner Anwesenheit an der Universität stand Wladimir unter der Lupe polizeilicher: Beobachtung, die bei ihm sofort drei Laster entdeckte: „Verschlossenheit, Unaufmerksamkeit und selbst Unhöflichkeit“. Man kann dem Zeugnis der Presse vollen Glauben schenken, daß Lenin wie er später selbst erzählte, bei den Ordnungsstörern „keinerlei nennenswerte Rolle spielte“. Aber auch der Inspektor wird sich kaum sehr geirrt haben, wenn er mit seinem schon a priori auf Uljanow gerichteten Vergrößerungsglas ihn in der „ersten Gruppe“ entdeckte. Und vielleicht vermochte das erfahrene Polizistenauge in den Blicken dieses jungen Mannes mit dem unbequemen Familiennamen auch den glühenden Haß zu entdecken. „Angesichts der außerordentlichen Umstände, in denen sich die Familie Uljanow befindet“, fügt der Kurator in seinem Bericht hinzu, „gab diese Beziehung Uljanows zur Versammlung der Inspektion Anlaß, ihn verschiedenster ungesetzlicher und verbrecherischer Demonstrationen fähig zu erachten.“ Die Verhaftung hatte folglich präventiven Charakter. Die Tatsache, daß Uljanow beim Verlassen der Versammlung dem Inspektor seinen Studentenausweis übergab, betrachten Jelisarowa und andere als eine zusätzliche Demonstration. Tatsächlich ist der Sinn dieser Geste unklar. Vielleicht haben es die erfahreneren Studenten verstanden, die Vorweisung ihres Ausweises zu vermeiden, während Uljanow überrumpelt wurde. Aber es ist auch nicht ausgeschlossen, daß er in einem Zustand höchster Erregung dem Inspektor seinen Ausweis unter die Nase rieb, als Visitkarte des Protestanten. Der Wachbeamte, der Uljanow zur Wachstube führte, suchte ihn unterwegs zu warnen: „Was meinen Sie, junger Mann, Sie stehen doch vor einer Mauer ...“ – „Ja, vor einer Lehmmauer“, wendete sofort der Verhaftete ein, „stoß zu, und sie bricht zusammen.“ Die geistesgegenwärtige Antwort litt an einem Übermaß von Optimismus: an die Mauer zu stoßen, erwies sich als unzureichend. Aber der Meuterer war knapp siebzehn Jahre und acht Monate alt. Eine realistischere Einschätzung der Aufgabe kommt mit den Jahren. Nach einigen Tagen Haft wurde Wladimir aus der Universität ausgeschlossen, an der er weniger als vier Monate verbracht hatte, und aus Kasan ausgewiesen. So traf ein halbes Jahr nach der Hinrichtung Alexanders die Familie ein neuer Schlag, zwar nicht so tragisch, doch schwer genug: Die Karriere des zweiten Sohnes schien zerstört.

Erst im Frühling desselben Jahres hatte der Direktor des Gymnasiums feierlich bezeugt, daß „kein einziger Fall beobachtet wurde, wo er mit Wort oder Tat eine abfällige Meinung über sich hervorgerufen hätte“. Aber noch hatten sich die Straßen Kasans nicht mit Schnee bedeckt, und Uljanow erwies sich schon als einer, der die Grundlagen des Staates unterwühlt: Er verbarg sich im Rauchzimmer, befaßte sich mit verdächtigen Studenten, fuchtelte mit den Armen und putschte die anderen auf. Stimmt es, daß seine Veränderung so stark war, oder entstellten die Angaben der Gymnasialbehörden und der Universitätsbehörden sein Bild in entgegengesetzter Richtung? Ohne Entstellung ging es nicht ab. Aber das ist nicht entscheidend. In den dazwischenliegenden Monaten hatte Wladimir die größte innere Umwälzung mitgemacht: der Zar hatte Wolodjas Bruder gehenkt.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008