Leo Trotzki

 

Der junge Lenin


Der Vater und die zwei Söhne

In der Sowjetliteratur ist es schon fast zur Regel geworden, daß man die revolutionäre Einstellung: der Brüder Uljanow als Ergebnis eines entsprechenden Einflusses des Vaters hinstellt. Diese Legende hat folgende Mechanik: Jeder, der in der Vergangenheit mit der Familie des Simbirsker Direktors der Volksschulen in Berührung gekommen ist, hielt es in den letzten Jahren für seine Pflicht, in der Presse retrospektiv seine Auffassung des revolutionären Charakters der Familie darzulegen. Wie in der christlichen Literatur nicht nur die Heiligen; sondern womöglich auch ihre Vorfahren mit den Attributen höchster Tugendhaftigkeit ausgestattet werden, so halten es auch die neuesten moskowitisch-byzantinischen Evangelisten für unzulässig, im Vater Lenins nur das zu sehen, was er wirklich war, das heißt einen Beamten, der sich hingebungsvoll der Volksbildung widmete. Wozu? Vom Vater eines Dichters verlangt niemand poetische Begabung, und der Vater eines Revolutionärs ist nicht verpflichtet, ein Verschwörer zu sein. Es ist gut, wenn die Eltern ihre Kinder nicht daran hindern, ihre Begabungen zu entwickeln. Aber der Biograph stellt an die Eltern überhaupt keine Anforderungen. Er soll sie so darstellen, wie sie waren. Welche Lehren soll man aus einer Lebensbeschreibung ziehen, wenn sie in ihren tatsächlichen Grundlagen nicht der Wahrheit entspricht? „Ilja Nikolajewitsch hatte sehr große Sympathien für die revolutionäre Bewegung“; das Haus in der Moskauer Straße war also offenbar so etwas wie ein politischer Klub; in den Debatten über revolutionäre Themen „gab Alexander den Ton an“, aber auch Wladimir – konnte es denn anders sein? – „nahm oft und sehr erfolgreich an den Streitgesprächen teil“. Ein so angesehener Schriftsteller wie der verstorbene Lunatscharskij schreibt, daß Ilja Nikolajewitsch „mit den Revolutionären sympathisierte und seine Kinder in revolutionärem Geist erzog“. Noch einen Schritt weiter, und schon schließt er, daß Lenin „über den Vater und den Bruder mit der Revolution der vorübergehenden Formation der „Narodnaja Wolja“ auf das innigste verbunden war“. Mit Verwunderung hören wir von der jüngsten Tochter, Maria Uljanowa, daß Ilja Nikolajewitsch die neuen Kader der Volksschullehrer „im Geiste der besten Ideen der sechziger und siebziger Jahre erzog“. Zweifellos waren die Kurse nützlich. Doch unter den besten Ideen der sechziger und siebziger Jahre pflegte die Geschichte des gesellschaftlichen Denkens in Rußland die Ideen der revolutionären Volkstümlerbewegung zu verstehen. Das waren: Bruch mit der Kirche, Anerkennung der Doktrinen des Materialismus, unversöhnlicher Krieg gegen die Ausbeuterklassen und den Zarismus. In den staatlichen Lehrerkursen konnte gar nicht die Rede sein von einer derartigen Erziehung, selbst wenn der Organisator selbst „die besten Ideen der siebziger Jahre“ teilte. Aber er teilte sie durchaus nicht. Ilja Nikolajewitsch war voll Hingebung für die die Volksbildung, was jedoch den Glauben an die heilige Kommunion nicht ausschloß. Das läßt sich nicht einfach mit der bloßen Berufung auf „die Zeit“ erklären: nur in den sechziger, sondern auch in den vierziger Jahren waren die fortschrittlichen Menschen Atheisten und utopische Sozialisten. Ilja Nikolajewitsch gehörte nicht zu ihnen; nicht nur dem Charakter seiner Tätigkeit, sondern auch seiner Denkungsart nach. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß er schon zu Beginn seiner Tätigkeit als Inspektor besorgt die Aufmerksamkeit der leitenden Instanzen auf die Nachlässigkeit der Geistlichen beim Religionsunterricht lenkte. Die in den Kursen Uljanows herangebildeten Lehrer wurden, nach vertranenswürdigen Berichten, die besten Lehrer des Gouvernements; aber in die Geschichte der revolutionären Bewegung sind sie in keiner Hinsicht eingegangen. Die Ideen Ilja Nikolajewitschs und seiner Zöglinge waren nicht die revolutionären Ideen Tschernyschewskijs, Bakunins, Sheljabows, sondern die Ideen der gemäßigten liberalen Pädagogen und Aufklärer: Pirogow, Uschinskij, Baron Korf. Aber auch unter denen, die die pädagogische Laufbahn einschlugen, gab es in jenen Jahren Revolutionäre; mit einigen von ihnen kam Ilja Nikolajewitsch in der ersten Zeit seiner Lehrtätigkeit bei der Arbeit in nähere Berührung. Doch kein einziger von ihnen hielt sich auf seinem Posten, alle wurden aus den Reihen der Lehrer hinausgeworfen. So geschah es mit einem Lehrer des adeligen Instituts in Pensa, der sich bei der Abschlußfeier 1860 eine oppositionelle Rede erlaubte. Eine solche Heldentat oder ein derartiger „Wahnwitz“ konnte Ilja Nikolajewitsch gar nicht in den Sinn kommen. Schon 1859 erhält er für „ausgezeichneten, eifrigen Dienst“ eine Belohnung von 150 Rubel. Bald darauf hebt ihn der Senator, der eine Revision durchführt, wegen der „gewissenhaften Erfüllung seiner Verpflichtungen“ besonders hervor. Drei Jahre später äußert sich ein neuer hochgestellter Revisor, der über eine Reihe von anderen Lehrern ein negatives Urteil angibt, lobend über Uljanow. Als im nächsten Jahr, 1863, im Zusammenhang mit dem polnischen Aufstand, der Generaladjutant Ogarjow untersucht, ob es keine Fäden gibt, die von diesem Aufruhr zu den Lehrern an der Wolga gehen, kommt er zu dem Schluß, daß „der Geist der Negation und des Unglaubens“ seinen Herd in der Kasaner Universität hat; doch Ilja Nikolajewitsch, Absolvent der infizierten Alma mater, bleibt nach wie vor in höchstem Ansehen. Nach weiteren drei Jahren ist einer der ehemaligen Arbeitskollegen und Freunde Uljanows in den Fall Karakosow verwickelt. Aber auf ihn fiel dabei nicht einmal ein zufälliger und unverdienter Verdacht: seine Religiosität bildete in den Augen der Behörden eine zuverlässige Wasserscheide zwischen ihm und der Welt der Attentäter; und das mit vollem Recht. So hielt sich also Ilja Nikolajewitsch schon in der Frühzeit seiner Tätigkeit, in seinen Jugend- und Junggesellenjahren, streng an die Grenzen seiner Funktion als Pädagoge. Nirgends und in nichts zeigte er irgendwelche Neigung, Unerlaubtes zu tun.

Die Einführung eines Inspektorates der Volksschulen war schon an und für sich eine Maßnahme der bürokratischen Reaktion, die sich gegen die Unabhängigkeit der Semstwos auf dem Gebiet der Volksbildung richtete. Ein Pädagoge, der auf dem Gebiet der politischen „Moral“ auch nur einigermaßen verdächtig war, hätte nie für einen solchen Vertrauensposten ernannt werden können. Bei der Darstellung des Kampfes der Regierung gegen den Semstwo hebt Lenin 1901 in einem Artikel zwei Daten besonders hervor: die Jahre 1869 und 1874, wo die Bürokratie die örtliche Selbstverwaltung verdrängte und die Aufsicht über die Volksbildung selbst in die Hand nahm. Beide Daten sind nicht nur von historischem, sondern auch von biographischem Interesse: 1869 wurde Lenins Vater zum Inspektor, 1874 zum Direktor der Volksschulen ernannt. Ilja Nikolajewitsch stand im Ministerium in bestem Ansehen, stieg auf der hierarchischen Leiter entsprechend auf und erhielt zur gegebenen Zeit den Rang einer „Exzellenz“ und den Orden des heiligen Wladimir, zugleich den erblichen Adel. Nein, dieses Curriculum vitae ähnelt ganz und gar nicht dem Weg eines Revolutionärs, ja nicht einmal dem eines friedlichen oppositionellen Bürgers. Wir können der ältesten Tochter vollen Glauben schenken, wenn sie sagt, daß „der Vater niemals Revolutionär war“. Wenn dieselbe Jelisarowa, genötigt wie alle, der offiziellen Legende Tribut zu zollen, in späteren Skizzen schreibt, daß seinen Überzeugungen nach llja Nikolajewitsch „Narodnik“ (Volkstümler) war, so muß man diese Bezeichnung in einem sehr weiten Sinn verstehen: nicht nur auf die Ideologie der Liberalen, sondern auch auf die der konservativen Unabhängigen hatten volkstümlerische Tendenzen abgefärbt. Unter dem Einfluß des revolutionären Kampfes in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wich Ilja Nikolajewitsch von seinen ohnehin gemäßigten Ansichten, ebenso wie die meisten Liberalen, nicht nach links ab, sondern nach rechts. Den älteren Kindern schenkte er seinerzeit eine Sammlung von Gedichten Nekrassows, und Sascha berauschte sich an den wie Brennesseln brennenden Strophen der plebejischen Poesie. Aber schon drei, vier Jahre später, als Wladimir heranwuchs, ermuntert er nicht nur die jüngeren seiner Kinder nicht, sondern begann auch die älteren in die Schranken zu weisen. Bald verkroch er sich endgültig in eine offizielle Panzerkruste. Als eine Nichte sich bei ihm, empört über die ungerechte Entlassung einer Volksschullehrerin, beklagte, in deren Tätigkeit es nichts Regierungsfeindliches gab, saß Ilja Nikolajewitsch wortlos da, „konzentriert, mit gesenktem Kopf“. Auf die Fragen seiner vierzehnjährigen Tochter schwieg er. Diese aus dem Leben gegriffene Episode zeigt gut die Gestalt des Vaters und die ganze Atmosphäre der Familie. Von revolutionären Debatten, bei denen „Alexander den Ton angab“, konnte gar keine Rede sein. „Der Vater, der nie ein Revolutionär war“, fährt Jelisarowa fort, „wollte damals, im Alter von vierzig Jahren, belastet mit der Bürde der Familie, uns, die Jugend, behüten.“ Diese einfachen Worte liquidieren ein für allemal die Legende vom revolutionären Einfluß des Vaters. Aber gerade die unanfechtbaren Zeugnisse der ältesten Tochter werden meist beiseite gelassen.

Julij Zederbaum, der spätere Martow, erzählt, wie einer der jungen Advokaten 1887 heimlich die Anklageschrift in der Strafsache Lopatin zu seinem Vater nach Hause gebracht und wie er als vierzehnjähriger Junge mit angehaltenem Atem und unter Anspannung aller Geisteskräfte des Nachts zugehört habe, wie die staatsanwaltlichen Berichte über Attentate, Flucht und bewaffneten Widerstand gelesen wurden. Die Familie Zederbaum war friedlich liberal und hatte nicht die geringste Verbindung mit revolutionären Kreisen. Eine solche Vorlesung eines geheimen Dokuments über einen terroristischen Straffall wäre jedoch im Hause des wirklichen Staatsrates Uljanow absolut undenkbar gewesen. Wenn Ilja Nikolajewitsch in den ersten Jahren seines Dienstes in Simbirsk als Fremdling und „Liberaler“ in der kleinen Welt der Gouvernementsmachthaber isoliert war, so wurde er schließlich, wie von allen bezeugt wird, „eine sehr populäre, beliebte und geachtete Persönlichkeit in Simbirsk“, das heißt, er hatte sich dem Milieu der Bürokratie angepaßt. Nicht zufällig hatte der Direktor des Gymnasiums, Kerenskij, ein entschiedener Konservativer, der seine Pädagogik aufbaute „auf dem heiligen Evangelium und dem kirchlichen Gottesdienst“, große Sympathie für die Familie Uljanow. Hinsichtlich der letzten Lebensjahre Ilja Nikolajewitschs, die in die Regierungszeit Alexanders III. fallen, kommt wohl die Einschätzung des Simbirsker Delarow, eines ehemaligen Abgeordneten der zweiten Staatsduma, der Wirklichkeit am nächsten: „I. N. Uljanow war ein Mensch von konservativer Weltanschauung, aber er war nicht rückschrittlich, kein Konservativer alten Typs – er hatte bestimmte Ziele im Leben ..., das Bestreben, dem Wohl des Volkes zu dienen.“

Was die unmittelbare Einflußnahme Ilja Nikolajewitschs auf die Wahl des Lebensweges seiner Kinder betrifft, so zeigte sie sich im Laufe einer gewissen Zeit nur bei der ältesten Tochter; ihr erster bewußter Wunsch war es, Lehrerin zu werden; ungefähr zwei Jahre lang, bis zur Abreise zu den Kursen, arbeitete sie in der Volksschule. Doch gerade bei der älteren Schwester fand Alexander keine revolutionären Interessen. Was die Söhne betrifft, so gehörten in ihren Gymnasialjahren, als sie unter dem unmittelbaren Einfluß des Vaters standen, weder Alexander noch Wladimir irgendwelchen geheimen Zirkeln an, wo sich die künftigen Revolutionäre bei der Lektüre von tendenziösen Büchern heranbildeten. Es ist auch höchst unwahrscheinlich, daß irgendwer versuchte, die Söhne eines hohen Beamten, die ständig die Klassenbesten waren und sich in der Schule untadelig aufführten, zum Betreten eines sträflichen Weges zu verleiten. Aber es gibt auch einen anderen, tieferen Grund. In der Familie eines feudalen Gutsbesitzers, eines bestechlichen Beamten oder eines geschäftstüchtigen Geistlichen mußten der Sohn oder die Tochter, wenn ein neuer Wind sie erfaßte, frühzeitig und entschieden mit den Eltern brechen und außerhalb der Familie ein neues Milieu suchen. Die Kinder der Uljanows dagegen fanden lange in den Wänden des Vaterhauses Befriedigung ihrer geistigen Ansprüche. Da sie außerdem von Natur aus dazu neigten, jede Sache ernst zu nehmen, mußten sie sogar der übereilten Lösung großer Fragen durch einzelne Altersgenossen, die oft in den Wissenschaften wenig erfolgreich waren, mit Mißtrauen gegenüberstehen. Aber der Konflikt der beiden Generationen war auch in dieser Familie unvermeidlich: Die Kinder dachten jene Gedanken zu Ende und sprachen sie aus, vor denen die Eltern haltgemacht hatten. Vor dem unvermeidlichen Konflikt mit den Kindern auf politischem Boden schützte Ilja Nikolajewitsch nur sein früher Tod.

„Wer weiß nicht“, schrieb Lenin elf Jahre nach dem Tod des Vaters, „wie leicht sich im heiligen Rußland die Verwandlung eines radikalen Intellektuellen, eines sozialistischen Intellektuellen in einen Beamten der kaiserlichen Regierung vollzieht – einen Beamten, der sich damit tröstet, daß er im Rahmen der Kanzleiroutine ‚Nutzen‘ bringt, einen Beamten, der mit diesem ‚Nutzen‘ seine politische Indifferenz, sein Lakaientum vor einer Regierung der Knute und der Peitsche rechtfertigt?“ Wenn es ungerecht wäre, diese harten Worte uneingeschränkt auf Ilja Nikolajewitsch anzuwenden, so nur deshalb, weil er auch in seiner Jugend kein Sozialist, kein Radikaler im wahrsten Sinne des Wortes war. Doch es bleibt unbestreitbar, daß er sein ganzes Leben lang als gefügiger Beamter dem Absolutismus diente. Jene maßlosen Verehrer, die versuchen, um des Sohnes willen die politische Physiognomie des Vaters umzufärben, beweisen damit ein Übermaß an Verehrung für die Blutsbindungen Lenins und mangelnde Achtung für seine wirklichen Ideen.

Die ganz allgemein in Umlauf gebrachte Vorstellung, daß Wladimir die ersten revolutionären Impulse vom terroristischen Bruder erhielt, scheint so sehr aus der ganzen Situation hervorzugehen, daß sie überhaupt keines Beweises bedarf. Tatsächlich ist auch diese Hypothese falsch. Alexander gab keinem der Familienmitglieder Zutritt zu seiner inneren Welt, am allerwenigsten Wladimir. „Das waren“, wie Jelisarowa sagt, „zweifellos jede in ihrer Art sehr scharf umrissene, aber absolut verschiedene Individualitäten.“ Eine vergleichende Charakteristik der beiden Brüder drängt sich uns hier, wenn wir dabei auch in bezug auf den jüngeren ein wenig vorzugreifen riskieren, durch den Gang unseres Berichtes auf. Der radikale Literat Wodowosow, der Alexander in Petersburg kennenlernte und dann oft die Uljanows in Samara besuchte, schrieb viele Jahre später, schon als antisowjetischer Emigrant, daß die „selten gute“ Familie Uljanow „in zwei klar ausgeprägte Typen“ zerfiel: der eine, dessen bester Repräsentant Alexander war, mit ovalem, blassem Gesicht und nachdenklichen, forschenden Augen, gewann einen durch seine jugendliche Frische und Beseeltheit. Der andere, Wodowosow verhaßte Typ, fand seinen vollkommensten Ausdruck in Wladimir: „Das ganze Gesicht überraschte durch irgendeine Mischung von Verstand und Grobheit, ich möchte sagen, irgendeiner Tierhaftigkeit. In die Augen sprang die Stirn – gescheit, aber dachförmig. Die fleischige Nase. Wladimir Iljitsch war mit 21, 22 Jahren fast vollkommen glatzköpfig.“ Diese offenbar durch die Vorbilder Ormuzd und Ahriman inspirierte Gegenüberstellung ist keine ausschließliche Spezialität Wodowosows. Kerenskij der Jüngere, der übrigens keinen der Brüder persönlich kannte – er war sechs Jahre alt, als Wiadimir das Gymnasium beendete –, nennt sie „moralische Antipoden“: dem „bezaubernden und glänzenden“ Alexander steht Wladimir als „unübertrefflicher Zyniker“ gegenüber. Ungefähr dieselben Farben verwendet unter anderen auch der Simbirsker Literat Tschirikow: die aufrichtige oder angebliche Sympathie für den älteren Bruder soll dem Haß gegen den jüngeren größeres Gewicht verleihen. Aber die Gegnüberstellung selbst ist nicht erfunden; in ihr kann man unschwer die durch Feindschaft verzerrte Widerspiegelung eines wirklichen Kontrastes erkennen.

„Die Verschiedenheit der Natur der beiden Brüder“, schreibt Jelisarowa, „zeigte sich schon in der Kindheit, und nahestanden sie einander niemals.“ Wolodja hatte für Sascha „grenzenlose Hochachtung“, aber die Sympathie Saschas genoß er offenbar nie (Jelisarowa drückt das vorsichtiger aus: „Die weit größere Sympathie Saschas genoß unter den jüngeren Olja“). Auf Grund von bruchstückweisen Erzählungen ihres Mannes, die ihr schlecht im Gedächtnis geblieben waren, versuchte Krupskaja in einigen Zeilen die Beziehungen der Brüder in ihrer Jugend zu beleuchten: „Sie hatten in vielem einen gemeinsamen Geschmack; beide hatten das Bedürfnis, lange allein zu bleiben ... Sie wohnten gewöhnlich zusammen ... und wenn irgendwer von den zahlreichen jungen Leuten zu ihnen kam ..., war eine Lieblingsphrase der Knaben: ‚Beglückt uns mit eurer Abwesenheit‘.“ Schon diese „Lieblingsphrase“ bezeugt unfehlbar, daß Krupskaja keine klare Vorstellung vom Charakter Alexanders und der Beziehung zwischen den Brüdern hat. „Beglückt uns mit eurer Abwesenheit“ – so konnte Wladimir durchaus sprechen. Aber Alexander, der kein gehässiges Wort ertragen konnte, hätte dabei nur die Stirn gerunzelt.

Dem Gesicht und dem Charakter nach glich Alexander mehr der Mutter. Im Aussehen und in der psychischen Struktur Wladimirs überwogen die Züge des Vaters. So wichtig im Grunde diese Gegenüberstellung ist, so ist sie doch zu elementar, um die Frage zu erschöpfen. Mut, Mannhaftigkeit – in der russischen Sprache ist dieses Wort vom Mann usurpiert – war der wichtigste Charakterzug Maria Alexandrownas. Aber das war der Mut einer Mutter, die sich selbst ganz und bis zuletzt der Familie und den Kindern hingibt. Auch der Mut Alexanders war vor allem der Mut der Selbstaufopferung. Herrschsucht, Jähzorn, Spottlust, das schnarrende Sprechen, die frühe Glatze und der frühe Tod – diese Züge hatte Wladimir von Ilja Nikolajewitsch. Aber wie der ältere Sohn keine einfache Wiederholung der Mutter war, so war der jüngere noch weniger eine Reproduktion des Vaters. Jeder von ihnen hatte von den Eltern und durch sie von fernen Ahnen irgendwelche „Chromosomen“ mitbekommen, die in ihrer Mischung diese weit über den Durchschnitt emporragenden, aber einander so unähnlichen Persönlichkeiten hervorbrachten.

Die Brüder hatten zweifellos auch gemeinsame Züge: die große, wenn auch bei weitem nicht gleiche Begabung, die Arbeitsliebe, die Fähigkeit, sich einer Sache ganz hinzugeben, die Sparsamkeit, die in so früher Jugend geradezu erstaunlich ist. Schließlich, last but not least, wurden beide Revolutionäre. Die Literaten der Reaktion wurden nicht müde, die russischen Revolutionäre als ungebildet und unbegabt hinzustellen. Auch Turgenjew und Gontscharow lag im Grunde genommen diese Gewohnheit nicht fern. Aber es stimmt nicht: nicht die Unbegabten waren kennzeichnend für die allgemeine Physiognomie der Revolutionäre. Die Brüder Uljanow – sowohl Alexander als auch Wladimir – gehörten, ebenso wie vor ihnen die Führer der Dekabristen, der Aufklärer, der Narodniki, der Narodowolzen, zur Blüte der russischen Intelligenz.

„In meinem ganzen, heute schon nicht mehr kurzen Leben“, schreibt Wodowosow, „könnte ich wenige Menschen nennen, die auf mich einen im wahrsten Sinne des Wortes so bezaubernden Eindruck machten wie Alexander Iljitsch Uljanow.“ Alle, die den älteren Bruder kannten, sprechen gleicherweise von der gewinnenden Vollendung seiner Natur, die frei war von der „geringsten Pose oder Affektiertheit“, von seiner organischen Wahrheitsliebe und seiner ungemein feinfühligen Aufmerksamkeit gegenüber der Persönlichkeit des anderen, selbst in den kleinsten Dingen. Es fällt nicht schwer, zu glauben, daß Alexander im persönlichen Umgang unvergleichlich gewinnender war als der junge Wladimir. Freilich, in der Freiheit von Pose und falschem Schein, im Haß gegen alles Gezierte stand Wladimir keineswegs hinter Alexander zurück. Ebenso in der Vollendung der Natur; nur war seine Natur von ganz anderer Art und nicht bestimmt für den persönlichen Umgang. Jeder der beiden Brüder war aus einem Stück gegossen, aber die Stücke waren verschieden. Und wenn Lunatscharskij seine wohlgesinnte Überzeugung ausspricht, daß Alexander „an Genialität hinter Wladimir nicht zurückstand“, so muß man schon sagen: diese Leute messen die Genialität mit allzu kurzem Maß. Wenn man dieses schwerwiegende Epitheton auf Alexander anwendet, so ist das in Wahrheit ein retrospektiver Abglanz der historischen Gestalt Wladimirs.

Sascha las schon in den Gymnasialjahren aufgewühlt und begeistert Dostojewskij: Das quälerische Psychologisieren entsprach. der inneren Welt des konzentrierten und tiefempfindsamen Knaben, den schon die ihn umgebende Wirklichkeit verletzte. Wladimir blieb der Autor von Schuld und Sühne auch in den Jahren der Reife fremd. Dafür las er geradezu mit Gier immer wieder den Dostojewskij verhaßten Turgenjew, dann Tolstoj, den gewaltigsten der russischen Realisten. Die Antithese Tolstoj-Dostojewskij, die nicht zufällig zu den Lieblingsthemen der alten russischen Literaturkritik gehörte, hat viele verschiedene Seiten; aber am wichtigsten bleibt die Gegenüberstellung der tragischen Vertiefung in sich selbst und der lebensfreudigen Rezeption der äußeren Welt. Es wäre eine zu große Vereinfachung, wenn man diese Antithese voll und ganz auf die beiden Brüder übertragen wollte; aber sie ist absolut nicht belanglos für das Verständnis ihrer Charaktere.

Alexander war von Natur aus melancholisch. Ilja Nikolajewitsch meinte, daß Wladimir ein cholerisches Temperament habe. Anna zeichnet den älteren Bruder als verschlossen, oft sogar in seiner uneingestandenen Feinfühligkeit mürrisch. „Niemals habe ich ihn sorglos fröhlich gesehen“, schreibt einer der Teilnehmer der Verschwörung, „immer war er nachdenklich und schwermütig.“ Genau das Gegenteil war Wladimir, dessen auffallendster Zug seine übersprudelnde Lebenslust war, als Ausdruck des Vertrauens in die eigene Kraft. Ein anderer Verschwörer spricht von Alexander als nachdenklichem Organisator, bemerkt jedoch: „Er war vielleicht etwas zögernd.“ Wladimir dagegen zeichnete sich – nicht nur in seinen jungen Jahren – vor allem durch sein stürmisches Ungestüm und sein schnelles Arbeiten aus, Eigenschaften, die genährt werden vom Reichtum, von der Mannigfaltigkeit und der Geschwindigkeit der unterbewußten Assoziation: ist nicht das eine der wichtigsten Quellen der Genialität?

„Ein sehr bezeichnender Zug“, schreibt Jelisarowa über Alexander, „war, daß er nicht lügen konnte. Wenn er irgend etwas nicht sagen wollte, schwieg er. Diese seine Eigenschaft trat auch vor Gericht deutlich in Erscheinung.“ Man möchte hinzufügen: leider. Im unerbittlichen sozialen Kampf bedeutet eine solche psychische Veranlagung politische Wehrlosigkeit. Mögen die strengen Moralisten, diese Lügner von Beruf, noch so sehr herumphilosophieren, die Lüge ist ein Ausdruck der sozialen Gegensätze – und mitunter auch eine Waffe im Kampf mit ihnen. Durch individuelles moralisches Bemühen kann man nicht herausspringen aus der Verstrickung der sozialen Lüge. Seinem Typ nach glich Alexander eher einem Ritter als einem Politiker. Das schuf auch die psychische Scheidewand zwischen ihm und dem jüngeren Bruder, der weit elastischer war, opportunistischer in Fragen der persönlichen Moral, besser gewappnet für den Kampf, aber auf keinen Fall weniger unversöhnlich gegenüber dem sozialen Unrecht.

Ober Leo Tolstojs Bruder Nikolaj, einen feinen Beobachter und Psychologen, sagte Turgenjew, daß diesem nur einige Mängel fehlten, um ein hervorragender Schriftsteller zu werden. Leo Tolstoj selbst hielt diese paradoxe Charakteristik für „sehr richtig“. Vielleicht fand er darin indirekt eine Rechtfertigung für jene seiner Züge, die selbst den Mitgliedern seiner eigenen Familie den Kontakt mit ihm erschwerten. Die Worte Turgenjews haben den Sinn, daß für die Ausübung einer bestimmten öffentlichen Funktion solche ergänzenden Züge gehören, die durchaus nicht immer zur Verschönerung der persönlichen Beziehungen dienlich sind. Wenn das für den Schriftsteller zutrifft, dann um so mehr für den Politiker, und in vervielfachtem Maße für den Führer. Aber aus dem Urteil Turgenjews geht durchaus nicht hervor, daß auf der Waage der Moral, Wenn es für Unwägbares eine Waage gäbe, Leo Tolstoj weniger wiegen würde als sein Bruder Nikolaj. Der Einfluß Alexanders auf den Kreis der ihm Nahestehenden war groß. Aber er konnte kaum über diesen Kreis hinausgehen. Alexander hatte nicht den Willen, zu beherrschen, nicht die Fähigkeit, für die Sache nicht nur die guten Eigenschaften, sondern auch die Unzulänglichkeiten anderer auszunützen und, wenn nötig, über die fremde Persönlichkeit hinwegzugehen. Er war allzu subjektiv, allzu beherrscht vom eigenen Erleben, allzu geneigt, eine Aufgabe als gelöst zu betrachten, wenn er sie für sich selbst gelöst hatte. Er besaß nicht den offensiven und unermüdlichen Geist der Proselytenmacherei. Und gerade, daß der jüngere Bruder Züge des künftigen Politikers, Schriftstellers, Redners, Agitators, Tribunen hatte, machte ihn für Alexander fremd und wenig anziehend.

Wladimir sieht man unter allen Bedingungen als Rädelsführer, als Reformator, als Führer von Menschenmassen. Alexander kann man sich unter zivilisierteren Bedingungen leicht als friedlichen Gelehrten und Familienvater vorstellen. Durch den Gang der Dinge in die Revolution hineingezogen, übernahm er die geheiligte Tradition der terroristischen Methoden, baute Bomben nach dem Muster Kibaltschitschs, deckte die anderen, ging in den Tod. Die Gestalt Alexanders ist die Gestalt eines heroischen Streiters, Wladimir dagegen ist jeder Zoll ein Führer. Der eine ging in die Geschichte der Revolution ein als das tragischste ihrer erfolglosen Unglückskinder, der andere als der größte aller Vollstrecker.

L. Kamenjew, der ursprüngliche Redakteur der Gesamtausgabe der Werke Lenins, schreibt vorsichtig: „Vielleicht hat Wladimir Iljitsch gerade aus dem Munde des älteren Bruders zum erstenmal von der Marxschen Lehre und von jenen Gedanken und Bestrebungen gehört, die die revolütionäre Intelligenz jener Jahre beschäftigten.“ Weit kategorischer drückt sich ein anderer bedeutender Sowjetschriftsteller aus, der ehemalige Redakteur der Iswestija, Steklow: „Kurz vor seiner Verhaftung übergab der ältere Bruder seinem jüngeren Bruder ... den ersten Band des Kapitals, Damit schuf Alexander Uljanow nicht nur seinen Nachfolger, sondern auch den Jünger und Fortsetzer von Karl Marx.“ Diese Version erfuhr weltweite Verbreitung; sie steht jedoch in vollem Gegensatz zur tatsächlichen und psychologischen Sachlage. „Niemals“, erzählt Anna, „bestritt oder negierte Sascha irgend etwas in Gegenwart der Jüngeren.“ Auch der älteren Schwester, die in seiner unmittelbaren Nähe in Petersburg lebte, teilte er nichts von dem mit, was ihm wichtiger war als alles andere. die Brüder hatten keineswegs jene geheime Sphäre der Interessen und Gespräche – über Gott, über die Liebe, über die Revolution -, die in anderen Familien die älteren und jüngeren Kinder eng miteinander verbindet. Wir haben bereits von Anna gehört: „Der Unterschied der Natur der beiden Brüder zeigte sich schon in der Kindheit, und niemals standen sie einander nahe.“ Im Sommer 1886, dem letzten, den die Brüder gemeinsam verbrachten, waren sie einander ferner als je. Wladimir, der sich nach dem Tod des Vaters bald wieder gefaßt hatte, fühlte sich als der älteste Mann im Hause. Die vor kurzem erfolgte Befreiung von den religiösen Anschauungen mußte sein Selbstbewußtsein schlagartig gesteigert haben. Wie das bei willensstarken jungen Menschen nicht selten vorkommt, trat bei ihm in dieser Periode des Umbruchs das Bedürfnis nach Selbständigkeit auf Kosten der Persönlichkeit der anderen und in beträchtlichem Maße auf Kosten der Autorität der Mutter brüsk in Erscheinung. „Wolodja neigte überhaupt zum Spott, aber ganz besonders in diesem Übergangsalter.“ Wir können diesen Worten um so mehr Vertrauen schenken, als die ältere Schwester, wie wir sie aus ihren eigenen Schriften kennenlernen, Verspottung kaum leicht vergaß. Was Alexander betrifft, so konnte er es nicht vertragen, wenn man sich über dritte Personen lustig machte: ihn selbst zu verspotten, konnte überhaupt niemandem in den Sinn kommen. Alexander kam in diesem Sommer das erstemal zur vaterlos gewordenen Familie. Sein inniges Gefühl für die Mutter, vertieft durch die Trennung und den gemeinsamen Verlust, war von besonderer Intensität. Zu dem tiefgehenden Unterschied des Charakters der beiden Brüder kam jetzt noch hinzu, daß ihre Einstellung sie in Gegensatz zueinander brachte. Die kindliche Vergötterung, als er alles so machen wollte „wie Sascha“, wurde bei Wolodja abgelöst vom Kampf um Selbständigkeit; es begann die unausbleibliche Loslösung vom älteren Bruder: seiner Konzentration, seiner Aufmerksamkeit den Menschen gegenüber, seiner Scheu, die eigene Überlegenheit zu zeigen, stellte Wladimir lärmende Agressivität, Spottlust, das organische Streben, sich hervorzutun, entgegen. Der Sommer verlief in Zwietracht.

Hören wir, was Jelisarowa sagt. Die Heftigkeit und Streitsucht „trat besonders fühlbar in Erscheinung ... nach dem Tod des Vaters, dessen Gegenwart auf die Knaben immer hemmend gewirkt hat“. Der Mutter begann Wladimir „gelegentlich so scharf zu antworten, wie er es sich in Gegenwart des Vaters nie erlaubt hatte“. Es sieht sehr danach aus, möchten wir nebenbei bemerken, daß in den demonstrativen Frechheiten Wladimirs auch ein nachträglicher Protest gegen die Fuchtel des Vaters mitklang. Mit bewegter Miene erinnerte sich später die Mutter, wie Sascha in diesem letzten Sommer sie gelegentlich in Schutz nehmen mußte. Einmal winkte Wladimir beim Schachspielen achtlos ab, als seine Mutter ihn an irgendeinen Auftrag erinnerte; und als Maria Alexandrowna gereizt darauf bestand, antwortete er mit einem dummen Witz. Da mischte sich Alexander ein: „Entweder tust du sofort, was Mama dir sagt, oder ich spiele nicht mehr mit dir.“ Das Ultimatum wurde ruhig, aber so entschieden gestellt, daß Wladimir sofort den Auftrag durchführte. Anna selbst geriet, obwohl sie, wie sie sagt, „die Spottlust, die Frechheit und die Arroganz“ Wolodjas erbitterte, dennoch unter seinen Einfluß; auf jeden Fall plauderte sie immer gern mit ihm, unter Witzen, Sticheleien und Gelächter. Alexander nahm an solchen Plaudereien nicht nur nicht teil, sondern konnte sie kaum ertragen: Er litt unter der Last der eigenen Stimmung, und Anna erhaschte mehrmals seinen mißbilligenden Blick. Im Herbst, schon in Petersburg, raffte sie sich dazu auf, Sascha die Frage zu stellen: „Wie gefällt dir unser Wolodja?“ Sascha antwortete: „Zweifellos ein sehr fähiger Mensch, aber wir stimmen nicht überein.“ Vielleicht sagte er sogar: „Wir stimmen absolut nicht überein“, verbessert sich Jelisarowa; auf jeden Fall äußerte sich der Bruder „entschieden und bestimmt“. „Warum?“ fragte überrascht die Schwester. Aber Alexander verweigerte die Antwort und unterstrich damit, wie tief die Kluft war, die sie trennte. Der ältere nannte den jüngeren Bruder nicht von oben herab einen „fähigen Jungen“, sondern einen „fähigen Menschen“, als Ebenbürtigen; und alles veranlaßt uns zu der Ansicht, daß Annas Gedächtnis diesen Akzent richtig behalten hat. Aber gleichzeitig überraschte er die Schwester durch eine gewisse moralische Distanzierung vom Bruder. Das Fehlen einer Seelenverwandtschaft genügte für Alexander vollkommen, um die Möglichkeit von Gesprächen über vertrauliche Themen mit Wladimir auszuschließen. Es gab aber auch noch einen anderen, nicht weniger triftigen Grund. Im Sommer 1836 hatte Alexander selbst für sich noch nichts entschieden. Er las Marx, wußte aber durchaus noch nicht, welche praktische Anwendung sich für ihn aus dieser Lektüre ergeben würde. Sogar im Herbst, schon in Petersburg, versuchte er noch immer, sich gegen revolutionäre Schlußfolgerungen zu wehren. Konnte er seinen jüngeren Bruder, mit dem er überdies „absolut nicht übereinstimmte“, in seine Schwankungen und Zweifel ein weihen?

Von einer direkten politischen Einflußnahme Alexanders auf Wladimir kann folglich gar nicht die Rede sein. Aber der moralische Einfluß mußte, wenn auch nicht sofort, seinen politischen Ausdruck finden. Alexander, der den Bruder schon durch sein Wesen zu hohen Anforderungen an sich selbst und an die anderen veranlaßte, brachte Wladimir, abgesehen von seinem eigenen Wunsch, dem – ganz allgemein gesprochen – unvermeidlichen Konflikt mit dem Milieu um ihn näher. Anna erinnert sich, wie Alexander, als er in den Ferien nach Hause kam, einem alten Diener des Vaters „freundschaftlich einfach“ die Hand drückte, was „nicht üblich war und daher Aufmerksamkeit erregte“. Diese interessante Episode, die der Schwester nicht zufällig im Gedächtnis geblieben ist, wirft übrigens ein Blitzlicht auf die Bräuche im damaligen Milieu der bourgeoisen Beamten, wie sie sich selbst in einer der besten Familien jener Zeit spiegelten: die ganze Atmosphäre war zum Ersticken gesättigt mit den Ausdünstungen der Leibeigenschaft:

Kein Zweifel, daß das ehrliche „demokratische“ Auftreten Alexanders für die Formung der Persönlichkeit Wladimirs ernstere Bedeutung hatte, als sie flüchtige Gespräche über die „Narodnaja Wolja“ oder über Marx gehabt hätten. Aber solche Gespräche hat es nie gegeben.

Welche Ideen und Stimmungen beherrschten Wladimir im Sommer 1886, vor der letzten Gymnasialklasse? Seit dem vergangenen Winter war er nach den Worten Jelisarowas in die Periode des „Verwerfens der Autorität, in die Periode der ernsten, gewissermaßen negativen Herausbildung der Persönlichkeit“ getreten. Aber seine Kritik erfaßte, bei all ihrer Heftigkeit, erst einen sehr begrenzten Radius: sie richtete sich gegen das Gymnasium, die Lehrer und mitunter gegen die Religion. „In unseren Gesprächen gab es nichts ausgesprochen Politisches.“ Wladimir stellte seiner Schwester, die aus der Hauptstadt kam, keinerlei Fragen über revolutionäre Organisationen, illegale Bücher, politische Gruppierungen der Studentenschaft. Anna fügte hinzu: „Ich bin überzeugt, daß Wolodja bei unseren damaligen Beziehungen derartige Interessen vor mir nicht verheimlicht hätte, wenn er sie gehabt hätte.“ Die Erzählungen über politische Debatten im Haus der Uljanows schon zu Lebzeiten des Vaters, bei denen Alexander die führende Rolle innehatte und Wladimir erfolgreich replizierte, sind von Anfang bis Ende erfunden. Obwohl es unter den Simbirsker Gymnasiasten selbst in der finstersten Periode der achtziger Jahre, wie die neuesten Ausgrabungen in den Papieren der Gendarmerie zeigen, irgendwelche geheime Zirkel und tendenziös zusammengestellte kleine Bibliotheken gab, blieb Wladimir ein halbes Jahr nach dem Tod seines Vaters politisch vollständig unberührt und zeigte nicht das geringste Interesse für die ökonomischen Bücher, die im gemeinsamen Zimmer der Brüder das Bücherbrett füllten. Der Name Marx sagte dem Jungen, dessen Interessen ausschließlich der schönen Literatur galten, nichts. Dieser hingegen widmete er sich mit Leidenschaft. Ganze Tage verschlang er die Romane Turgenjews, Seite für Seite, lag auf dem Bett und ließ sich von der Phantasie davontragen in das Königreich der „überflüssigen Leute“ und der idealisierten Mädchen unter den Linden der herrschaftlichen Alleen. Wenn er das Buch ausgelesen hatte, begann er wieder von vorne: sein Hunger war unersättlich.

So lebte, trotz der engen Nachbarschaft, jeder der Brüder in diesem Sommer sein eigenes Leben. Alexander saß von morgens bis abends über das Mikroskop gebeugt. Krupskaja legt aus diesem Anlaß Lenin folgenden Satz in den Mund: „Nein, aus dem Bruder wird kein Revolutionär, dachte ich damals, ein Revolutionär kann den Ringelwürmern nicht so viel Zeit widmen.“ Ein offenkundiger Anachronismus: Wladimir, der damals keine Beziehung zur Politik hatte, konnte sich nicht solchen Gedanken über den Bruder hingeben, den die ganze Familie als zukünftigen Gelehrten betrachtete. Dafür mußte Wladimir nach der Verhaftung Alexanders tatsächlich wiederholt haben: Wer hätte gedacht, daß dieser Bruder morgen das Mikroskop gegen eine Bombe eintauscht?

Nach ihrer Befreiung aus dem Gefängnis schonte Anna Wladimir und teilte ihm die Äußerung des hingerichteten Bruders über ihn nicht mit. Aber Wladimir war weder taub noch blind. In der Beziehung Alexanders zu ihm mußte er die von unausgesprochener Gereiztheit, wenn nicht Feindschaft gefärbte Entfremdung fühlen. Kein Unglück, das geht alles vorbei – so muß er sich getröstet haben: Die enge Bindung wird sich schon wieder herstellen; er, Wolodja, wird zeigen, was er wert ist, und Sascha wird genötigt sein, ihn anzuerkennen: vor ihm liegt noch das ganze Leben, das heißt, die Ewigkeit. Heute aber steht die wundervolle Welt Turgenjews auf der Tagesordnung. Doch auf die Tagesordnung traten die Petropawlowsker Festung und der Tod Saschas.

Einige Jahre später befragte der Sozialdemokrat Lalajanz Lenin über die Ereignisse des 1. März. Dieser antwortete: „Für uns alle kam die Beteiligung Alexanders an dem Terrorakt absolut überraschend. Vielleicht hat die Schwester irgend etwas gewußt – ich wußte nichts.“ Tatsächlich hat auch die Schwester nichts gewußt. Das Zeugnis Lalajanz’ bestätigt voll und ganz die Erzählung Annas und deckt sich mit dem, was Krupskaja in ihren Erinnerungen aus diesem Anlaß nach den Worten Lenins mitteilt. Um diese Tatsache zu erklären, die ihre eigene Version von der engen Bindung der Brüder zueinander total zerstört, versucht sich Krupskaja auf den Altersunterschied zu berufen; aber diese Berufung ist zumindest unzureichend und ändert nichts an der Tatsache. Dem Schmerz um den Bruder mußte sich bei Wladimir das bittere Bewußtsein zugesellen, daß Alexander vor ihm das Wichtigste und Tiefste verheimlicht hatte, und die Unzufriedenheit mit sich selbst, daß er dem Bruder infolge der herausfordernden Unterstreichung seiner Unabhängigkeit nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Die kindliche Vergötterung Saschas muß nun mit verzehnfachter Kraft wiedererstanden sein, verschärft durch das Gefühl der Schuld gegenüber Sascha und das Bewußtsein, daß es unmöglich war, die „Schuld“ wiedergutzumachen. „Vor mir saß schon nicht mehr der frühere unbekümmerte, lebenslustige Knabe“, erinnert sich seine ehemalige Lehrerin, die ihm den schicksalsschweren Brief aus Petersburg brachte, „sondern ein erwachsener, in Gedanken versunkener Mensch ...“ Mit zusammengebissenen Zähnen machte Wladimir seine letzten Gymnasialprüfungen. Es ist ein Photo von ihm erhalten geblieben, das offenbar für das Reife-Zeugnis gemacht wurde: auf dem noch ungeformten, aber sehr konzentrierten Gesicht mit der herausfordernd vorgeschobenen Oberlippe liegt ein Schatten von Schmerz und tiefem Haß. So stehen zwei Todesfälle am Beginn der neuen Periode im Leben Wladimirs. Das in seiner physiologischen Natürlichkeit überzeugende Ende des Vaters gab den Anstoß zu einer kritischen Einstellung zur Kirche und dem religiösen Mythos. Die Hinrichtung des Bruders weckte glühenden Haß gegen die Henker. Der künftige Revolutionär war schon präformiert im Charakter des jungen Menschen und in den gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihn formten. Es fehlte nur der erste Anstoß, Und der wurde gegeben durch den unerwarteten Tod des Bruders. Die ersten politischen Gedanken Wladimirs mußten unvermeidlich einem zweifachen Bedürfnis entspringen: Sascha zu rächen und das Mißtrauen Saschas durch die Tat zu widerlegen.

Warum betrat dann Wladimir den Weg des Marxismus und nicht den des Terrors? fragen die offiziellen Biographen und beantworten die Frage mit der universellen Berufung auf die „Genialität“. In Wirklichkeit hat aber nicht nur die Antwort, sondern auch die Frage selbst fiktiven Charakter: den Weg des Marxismus betrat Wladimir, wie wir sehen werden, erst nach einigen Jahren, in der Folge einer großen geistigen Arbeit, wobei er auch noch nachher lange Zeit Anhänger des Terrors blieb. Die groben Anachronismen ergeben sich fatal aus der Abneigung dagegen, den lebendigen Menschen in seiner lebendigen Entwicklung zu sehen. Selbst Krupskaja wurde ein Opfer der Vorstellung von dem Marxisten Lenin des Jahres 1887: Sie versucht zu erklären, warum die Hinrichtung Alexanders bei Wladimir nicht die „Entschlossenheit und das Bestreben weckte, den Weg des Bruders zu gehen“, und äußert die durch nichts begründete Annahme, Wladimir habe „zu dieser Zeit schon über vieles selbständig nachgedacht und für sich bereits die Notwendigkeit des revolutionären Kampfes beschlossen“. Noch weiter ging auf demselben Wege die Jüngste der Uljanows, Maria, die bei der Gedenkfeier für Lenin am 7. Februar 1924 erzählte, daß Wladimir, als er die Nachricht von der Hinrichtung des Bruders erhielt, angeblich ausgerufen habe: „Nein, diesen Weg werden wir nicht beschreiten. Nicht diesen Weg muß man beschreiten.“ Man konnte die offene Sinnwidrigkeit in der Erzählung M. Uljanowas übergehen, die zur Zeit des Geschehens noch keine neun Jahre alt war, wenn nicht der von ihr unvorsichtig hingeworfene Satz im wahrsten Sinne des Wortes kanonisiert worden wäre, als Beweis für die Tiefe des politischen Denkens des Simbirsker Gymnasiasten, der erst gestern die Eierschale der Rechtgläubigkeit abgeworfen hatte, den Namen Marx noch nicht kannte, kein einziges illegales Buch gelesen hatte, die Geschichte der russischen revolutionären Bewegung nicht kannte und gar nicht kennen konnte und der in sich noch nicht einmal das Interesse für Politik entdeckt hatte. Was konnten unter diesen Umständen die ihm von der jüngeren Schwester zugeschriebenen Worte bedeuten? Auf keinen Fall, daß er dem Terror der Intelligenz den revolutionären Kampf der Massen gegenüberstellte. Wenn man einen Augenblick annimmt, daß ein ähnlicher Satz wirklich ausgesprochen wurde, so konnte er nicht Ausdruck eines Programms, sondern nur der Verzweiflung sein: Nein, Sascha durfte, durfte diesen Weg nicht beschreiten! Warum hat er sich nicht der Wissenschaft gewidmet? Warum hat er sich selbst ins Verderben gestürzt?

Zum Unterschied vom Geld werden Erfindungen bekanntlich nicht abgenützt, sondern wachsen beim Umlaufen. Der alte Bolschewik Schelgunow erzählt: „Als sie das Telegramm lasen, daß Alexander hingerichtet wurde, rieb Wladimir Iljitsch die Stirn und sagte: „Und wenn schon, wir werden einen wirksameren Weg suchen.““ Alle Gesetze der menschlichen Psychologie werden mit Füßen getreten. Als Wolodja die schreckliche Nachricht erhält, ist er nicht verzweifelt, voll Schmerz über den unersetzlichen Verlust, sondern „reibt sich die Stirn“ und erklärt, daß es notwendig ist, einen „wirksameren Weg“ zu beschreiten. An wen waren diese Worte gerichtet? Die Mutter war in Petersburg, Anna saß noch im Gefängnis. Offenbar teilte Wladimir seine taktischen Erwägungen dem dreizehnjährigen Dmitrij und der neunjährigen Maria mit ...

Diese ergebenen Schüler gehen nur deshalb so leicht über die Tatsachen und über die Logik hinweg, weil sie nicht zufrieden sind mit dem Lehrer, wie er wirklich war. Sie wollen einen besseren Lenin. Sie versehen ihn in früher Jugend mit der Geistesmacht, die er erst in titanischer Arbeit errang. Sie legen ihm aus Mildtätigkeit zusätzliche Eigenschaften bei. So erschaffen sie sich einen anderen, einen vollkommeneren Lenin. Uns genügt Lenin, wie er wirklich war.

Wir haben von Krupskaja gehört, daß der junge Wladimir nach der Hinrichtung des Bruders dessen Fußstapfen gefolgt wäre, wenn er nicht schon eigene revolutionäre Ansichten gehabt hätte. Im Grunde genommen hat Wladimir das tatsächlich getan. Er ging nicht ins Dorf zu den Bauern, nicht in die Fabrik zu den Arbeitern, sondern ebenso wie Alexander an die Universität. Dort traf er das gleiche Milieu einer demokratischen Jugend an, die mit dem Kampf um das Recht begann, ihre eigenen Speisehäuser und Leseräume einzurichten, und mit terroristischen Verschwörungen endete. Als er wegen eines rein studentischen Protestes aus der Universität hinausgeworfen wurde, verstärkte dies in Wladimir die Idee des Terrors. Wenn er nicht in der Praxis den Weg der Verschwörung betrat, dann nicht aus prinzipiellen Erwägungen, sondern deshalb, weil nach der Katastrophe des 1. März 1887 Attentate für lange Zeit psychologisch und physisch unmöglich geworden waren. Die einzelnen Revolutionäre waren ohne Erfahrung und ohne Perspektiven, so isoliert vom gesellschaftlichen, sogar vom studentischen Milieu und so ohne jede Verbindung untereinander, daß keiner zu praktischem Handeln die Hand erhob. Der alte Pfad der Intelligenz war durch das Grab der fünf Studenten endgültig versperrt. Ein neuer Weg wurde nicht gefunden. Von nirgends waren Aufrufe zum Kampf zu hören. Wladimir wußte nicht, wie er zur Rache schreiten sollte Die lückenlose Dichte der Reaktion und die politische Entmutigung der Intelligenz gaben dem jungen Mann einen Aufschub. Wir werden sehen, daß er ihn gut genutzt hat.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008