Leo Trotzki

 

Der junge Lenin


Die „Samarer Periode“

Im Herbst übersiedelte die Familie in die Stadt, wo sie, gemeinsam mit den Jelisarows, die aus sechs bis sieben Zimmern bestehende obere Etage eines einstöckigen Holzhauses bewohnte. So wurde Samara für fast viereinhalb Jahre zum Hauptwohnsitz der Uljanows. Im Leben Lenins gibt et daher eine besondere Samarer Periode. Später, um die Mute der neunziger Jahre, wurde Samara, nicht ohne Einfluß Lenins, gewissermaßen zur marxistischen Hauptstadt des Wolgalandes. Es ist notwendig, daß wir uns zumindest oberflächlich die Physiognomie dieser Stadt anschauen.

Die administrative Geschichte Samaras unterscheidet sich wenig von der Geschichte von Simbirsk: derselbe Kampf mit den Nomaden, dieselbe Epoche der Errichtung der „Stadt“, das heißt von hölzernen Befestigungsanlagen, derselbe Kampf mit Rasin und Pugatschow. Aber die soziale Physiognomie Samaras ist wesentlich anders. Simbirsk wurde zu einem soliden Adelsnest. Das weiter draußen in der Steppe liegende Samara begann wesentlich später, schon nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, als Zentrum des Getreidehandels zu wachsen. Die Hauptstraße der Stadt trug wohl den Namen „Dworjanskaja“ (Adelsstraße), war aber nur anderen nachgeahmt. Tatsächlich hatte die Leibeigenschaft in der Samarer Steppe fast gar nicht Fuß fassen können, die Stadt kannte keine Ahnen und keine Tradition. Sie hatte auch keine Universität wie Kasan, daher auch keinen Gelehrtenstand und keine Studentenschaft. Um so selbstbewußter wirtschafteten hier die Viehzüchter, die Landwirte, Getreidehändler und Müller, kräftige Pioniere des Agrarkapitalismus. Ganz ohne Interesse für Ästhetik und persönlichen Komfort, errichteten sie kleine Herrschaftshäuser mit Säulen, Parks und Gipsnymphen. Sie brauchten Landebrücken, Speicher, Mühlen, Mehlläden, schmiedeeiserne Tore, schwere Schlösser. Sie hatten nichts übrig für Jagdhunde, sondern nur für Wachhunde. Erst wenn sie reich genug geworden waren, bauten sie sich große, gemauerte Häuser.

Rund um die Getreidebourgeoisie des Wolgalandes mit ihren Landebrücken und Warenlagern nistete sich fahrendes und halbfahrendes Volk ein. Die ursprünglichen Bewohner der Samarer Vorstadtsiedlungen versuchten einmal, nach dem Beispiel der deutschen Mennoniten in Sarepta, den gewinnbringenden Anbau von Senf; aber dem russischen Menschen fehlte es dazu an Erfahrung und Geduld. Von den mißlungenen Senfpflanzungen blieben den Samarer Kleinbürgern nur die Bitternis der Enttäuschung und der ironische Spitzname „Gortschitschniki“ (Senflinge). Wenn sie der Zorn packte, verursachten die Bewohner der Samarer Vororte gemeinsam mit den Wolgaschleppern, vor allem wenn sie betrunken waren, der Obrigkeit nicht wenige Sorgen. Aber ihre Meutereien waren sinn- und zwecklos wie ihr ganzes verpfuschtes Leben.

Der alte Schelgunow, derselbe, dem die Petersburger Arbeiter später die Adresse überreichten, gab 1887 eine interessante Schilderung von Samara, der Stadt der Pioniere: „Neben den Palazzi erstrecken sich entweder Wüsteneien oder Zäune, oder ragen die Kamine von vor fünfzehn Jahren abgebrannten Häusern, die schon niemand mehr wieder aufbauen wird, so wie ein Pionier, der sich übernommen und Bankrott gemacht hat, niemals mehr hochkommt. Noch weiter draußen, jenseits der Zähne und Wüsteneien und der verstreuten Häuser am Stadtrand, liegen die Vorstadtsiedlungen, wo sich elende Hütten mit zwei oder drei Fenstern dicht zusammendrängen. Das sind die Dorfbewohner, die die Steppe verlassen und sich in der Stadt angesiedelt haben, um für die Pioniere zu arbeiten ...“

In Samara gab es fast keine Industrie und daher auch keine Industriearbeiter. Und da es in Samara auch nicht den Infektionsherd einer Universität gab, schien es in der Liste jener Städte auf, in denen nichts zu befürchten ist und wo die Behörden den Revolutionären, wenn die Frist ihrer Verbannung nach Sibirien abgelaufen war, den Aufenthalt gestatteten und wohin man gelegentlich ein unzuverlässiges Element aus der Hauptstadt und den Universitätsstädten unter Polizeiaufsicht aussiedelte. Um diese nomadisierende Sippschaft, die bis zum Beginn der neunziger Jahre durchwegs im Lager der Volkstümler stand, gruppierte sich die örtliche linke Jugend. Nicht nur Landwirte und Kaufleute, sondern gelegentlich auch Beamte erlaubten sich in dem Gouvernement, in dem es weder Adelswillkür noch Studenten- und Arbeiterunruhen gab, ungestraft ats Liberale aufzutreten. Die dumpfen Meutereien der Hafenarbeiter hatten keinen Platz im Buch der Politik. Unter den unter Polizeiaufsicht Stehenden konnte man immer vernünftige und anständige Gutsangestellte, Verwalter, Sekretäre und Repetitoren finden, wenn auch dem Gesetz nach viele dieser Beschäftigungen offizielle Zuverlässigkeit erforderten. Nach den Angaben der Samarer Polizei gab auch Wladimir Uljanow 1889 Privatstunden. Bei kleinen Begünstigungen des unzuverlässigen Elements schauten die Behörden von Samara durch die Finger.

Die ehemaligen Verbannten und die unter Polizeiaufsicht Stehenden, die zu ihnen hingezogenen Zirkel der Gymnasiasten, Seminaristen, Schülerinnen der Feldscherschule des Semstwo und schließlich die zu den Sommerferien kommenden Studenten bildeten sozusagen die Avantgarde des Gouvernements. Von dieser kleinen Welt gingen Fäden zu den Liberalen aus dem Kreis der Landwirte, Advokaten, Kaufleute und Beamten. Beide Gruppen bezogen ihre Nahrung aus den liberal-volkstümlerischen Russkije Wjedomosti (Russische Nachrichten); der solide Flügel interessierte sich hauptsächlich für die sich gemäßigt anbiedernden Leitartikel und den landwirtschaftlichen Teil; die radikale Intelligenz vertiefte sich in die ausländischen Korrespondenzen. Von den Monatsschriften verschlang der linke Flügel gierig jede neue Nummer des Russkoje Bogatstwo (Russischer Reichtum), besonders die Artikel des begabten volkstümlerischen Publizisten Michailowskij, eines unermüdlichen Verkünders der „subjektiven Soziologie“. Das solidere Publikum bevorzugte den Wjestnik Jewropy (Europabote) oder Russkaja Mysl (Russisches Denken), Organe des heimlichen Konstitutionalismus. Über den Rahmen der Intelligenz ging die Propaganda in Samara abolut nicht hinaus. Das kulturelle Niveau der wenigen Arbeiter war äußerst niedrig. Einige Eisenbahner kamen allerdings in die Volkstümlerzirkel, aber nicht um in Arbeiterkreisen Propaganda zu betreiben, sondern um das eigene Bildungsniveau zu heben.

Die unter Polizeiaufsicht Stehenden besuchten ohne Bedenken die Familie Uljanow, bei der ihrerseits nach und nach jeder Grund wegfiel, die Gesellschaft von Feinden des Zaren und des Vaterlandes zu meiden. Die Witwe des Wirklichen Staatsrates kam in Berührung mit jener Welt, über die sie sich zu Lebzeiten ihres Mannes kaum jemals Gedanken gemacht hatte. Ihre Gesellschaft bestand jetzt nicht aus Gouvernementsbeamten mit ihren Frauen, sondern aus alten russischen Radikalen, Sektierern, Menschen, die Jahre im Gefängnis und in der Verbannung verbracht hatten und die sich ihrer Freunde erinnerten, die bei Terrorakten, bei bewaffneten Zusammenstößen oder im Zwangsarbeitslager zugrunde gegangen waren; mit einem Wort: mit Menschen jener Welt, in die Sascha fortgegangen war, um nicht wiederzukehren. Sie hatten über vieles ungewöhnliche Ansichten, ihre Manieren waren nicht immer auf der Höhe, einige von ihnen waren in den langen Jahren erzwungener Einsamkeit Sonderlinge geworden, aber es waren keine schlechten Menschen, im Gegenteil, Maria Alexandrowna mußte sich überzeugen, daß es gute Menschen waren: uneigennützig, treu in der Freundschaft, kühn. Man mußte ihnen wohlgesinnt sein; gleichzeitig mußte man sie aber auch fürchten: werden sie nicht auch den zweiteh Sohn auf einen verhängnisvollen Weg locken?

Unter den Revolutionären, die unter Polizeiaufsicht in Samara lebten, waren Dolgow, der am berühmten Fall Netschajew beteiligt war, und das Ehepaar Liwanow: der Mann stand im „Prozeß der 193“ vor Gericht, die Frau im Odessaer Prozeß Kowalskijs, der bei seiner Verhaftung bewaffneten Widerstand zu leisten versuchte. Die Gespräche mit diesen Menschen, vor allem mit den Liwanows, die Jelisarowa als „typische Narodowolzen, sehr lauter und gedankenreich“, bezeichnete, wurden für Wladimir zu einer wirklichen praktischen Akademie der Revolution. Gierig folgte er ihren Erzählungen, stellte eine Frage nach der andern, wollte immer neue Einzelheiten wissen, um eine möglichst lebendige Vorstellung vom Verlauf des einstigen Kampfes zu bekommen. Eine große revolutionäre Epoche, die damals noch nicht erforscht und über die fast nichts geschrieben war und die außerdem von der neuen Generation durch eine Periode der Reaktion geschieden war, erstand vor Wladimir in lebenden menschlichen Gestalten. Dieser junge Mann hatte eine äußerst seltene Gabe: er verstand es, zuzuhören. Alles, was den revolutionären Kampf betraf, interessierte ihn: die Ideen, die Menschen, die Methoden der Konspiration, die Technik der Illegalität, die gefälschten Pässe, die Gerichtsprozesse, die Bedingungen der Verbannung und der Flucht.

Eine der Heimstätten der radikalen ländlichen Intelligenz in Samara war das Haus des Friedensrichters Samoilow. Jelisarow pflegte des öfteren hierherzukommen, und einmal kam ihm der glückliche Gedanke, seinen Schwager zu den Samoilows zu bringen. Dieser Besuch ermöglichte es dem Sohn Samoilows, viele Jahre später mit einigen sehr bezeichnenden Strichen das Bild des jungen Uljanow wieder lebendig zu machen: „Als ich hinausging, um die Gäste zu begrüßen“, erzählte Samoilow, „lenkte plötzlich eine neue Gestalt meine Aufmerksamkeit auf sich: am Tisch saß in freier Pose ein sehr magerer junger Mensch mit stark geröteten Backenknochen im etwas kalmückischen Gesicht, mit spärlichem, leicht kupferfarbigem Bart, der offenbar noch keine Schere gesehen hatte, und lachlustigem Blick der lebendigen dunklen Augen. Er sprach wenig, aber das rührte offenbar durchaus nicht daher, daß er sich in der unbekannten Umgebung unbehaglich fühlte: nein, es war ganz klar, daß ihn diese Umgebung absolut nicht bedrückte. Im Gegenteil, es kam mir sofort irgendwie deutlich zum Bewußtsein, daß M.T. Jelisarow, der sich bei uns gewöhnlich ganz wie zu Hause benahm, diesmal sich zwar nicht gerade vor dem neuen Gast genierte, aber doch in seiner Gegenwart irgendwie ein wenig befangen war. Die Unterhaltung war ganz unbedeutend und betraf, wie ich mich erinnere, die Studentenbewegung in Kasan, die zur Folge hatte, daß Wladimir Iljitsch [das war er] genötigt war, die Kasaner Universität zu verlassen ... Er war offenbar nicht geneigt, sein Schicksal tragisch zu nehmen ... Mitten im Gespräch, mit der Formulierung einer Bemerkung beschäftigt, die ihm offenbar treffend erschien, brach er unvermittelt in ein kurzes, ganz und gar russisches Lachen aus. Und es war klar, daß ein kraftvoller, scharfsinniger Gedanke das Licht der Welt erblickt hatte, den er zuvor gesucht hatte. Dieses Lachen, gesund und nicht ohne Verschmitztheit, unterstrichen durch die verschmitzten Fältchen in den Augenwinkeln, ist mit im Gedächtnis geblieben. Alle lachten, aber er saß schon wieder ruhig da und hörte der allgemeinen Unterhaltung zu, wobei er die Gesprächspartner mit aufmerksamem und ein wenig spöttischem Blick fixierte.“ Als der Gast gegangen war, resümierte der von Natur aus zu lauten Gefühlsäußerungen neigende Hausherr den Eindruck mit den bewegten Worten: „Was für ein kluger Kopf!“ Und der Ausruf des Vaters verschmolz in der Erinnerung des Sohnes für immer mit dem Bild des jungen Lenin, mit dem ironischen Spiel der Augen, mit seinem kurzen, „russischen“ Lachen. „Was für ein kluger Kopf!“ Diese von einem scharfen Beobachter erhaschte Skizze entschädigt uns für tausend Seiten pathetischer Hilflosigkeit, in der die meisten Erinnerungen untergehen.

Es überraschen etwa die Worte: „Ein sehr magerer junger Mensch“. Auch ein anderer Samarer, Semjonow, nennt Wladimir „schmächtig“. In der Kindheit nannte man Wladimir „Kubyschka“ (Fäßchen). Auf den Gymnasialphotos schaut er gesund und kräftig aus. Der Samarer Klemenz schreibt über ihn: „Das war ein junger Mensch von nicht hohem Wuchs, aber kräftiger Statur, mit frischem, rotem Gesicht.“ Ebenso zeichnet ihn, allerdings drei Jahre später, der Wladimir nahestehende Lalajanz: „Von nicht hohem Wuchs, aber sehr kräftig und solid gebaut.“ Diese Beschreibung entspricht weit mehr dem, was wir über Wladimir in diesen Jahren wissen: ein großer Wanderer, ein Jäger, ein Meister im Schwimmen und Eislaufen, Turner auf dem Reck und, außer dem allem, ein Liebhaber davon, den Gesang auf hohen Noten abzubrechen. Möglich ist auch, daß er als abgemagerter Halbwüchsiger nach Samara kam und sich dann in der freien Steppe kräftigte.

Es besteht überhaupt kein Zweifel, daß Wladimir in der Samarer Periode Marxist und Sozialdemokrat wurde. Aber die Samarer Periode dauerte fast viereinhalb Jahre. Wie vollzieht sich in diesem weiten Rahmen die Entwicklung des jungen Mannes? Die offiziellen Biographien sind dieser Schwierigkeit ein für allemal enthoben durch die rettende Theorie, daß Lenin Revolutionär aus Vererbung und Marxist von Geburt war. Aber trotzdem ist das nicht so. Wir verfügen freilich über keine Dokumente, die beweisen würden, daß Wladimir in den ersten Samarer Jahren narodowolzische Anschauungen hatte; aber die Daten der späteren Jahre lassen in dieser Hinsicht kaum einen Zweifel. Wir werden später unwiderlegliche Zeugnisse von Lalajanz, Krshishanowski und anderen hören, daß Wladimir in den Jahren 1893 bis 1895, also als er schon vollendeter Marxist war, in der Frage des Terrors Anschauungen hatte, die im sozialdemokratischen Milieu ungewöhnlich waren und von allen als Überbleibsel der vorhergehenden Periode in seiner Entwicklung betrachtet wurden. Aber selbst wenn diese eindeutige Bestätigung a posteriori nicht vorläge, müßten wir auf jeden Fall fragen: Ist es nicht möglich, daß es seine solche Periode gab?

Der politische Schatten Alexanders folgte Wladimir jahrelang ständig auf den Fersen. „Ist das nicht der Bruder von jenem Uljanow?“ schrieb ein hoher Bürokrat an den Rand eines offiziellen Dokuments. Mit denselben Augen sah ihn auch seine Umgebung. „Der Bruder des gehenkten Uljanow“, sagte von ihm mit Hochachtung die radikale Jugend. Le mort saisit le vif! Wladimir selbst erwähnte seinen Bruder nie, wenn er nicht durch direkte Fragen dazu genötigt war; und kein einziges Mal nannte er später in der Presse seinen Namen, obwohl es genügend Anlässe dazu gab. Aber gerade diese Zurückhaltung zeugt zuverlässiger als alles andere davon, welche tiefe Wunde der Tod Alexanders in seinem Bewußtsein hinterlassen hat. Um mit der Narodowolzentradition zu brechen, bedurfte es für Wladimir unvergleichlich überzeugenderer und gewichtigerer Motive als für jeden anderen.

Das hartnäckige Festhalten an seinen terroristischen Sympathien, das retrospektiv ein Licht auf seine vom Narodowolzenrum beeinflußte Entwicklungsperiode wirft, hatte jedoch nicht nur persönliche Wurzeln. Wladimir entwickelte sich mit der ganzen Generation, mit der ganze Epoche. Selbst die ersten Arbeiten der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ stellten ihn – wenn man annimmt, daß Wladimir schon Gelegenheit gehabt hatte, sie kennenzulernen – nicht auf Biegen und Brechen vor die Entscheidung, nicht weiter der Fahne seines älteren Bruders zu folgen. Plechanow entwickelte die Perspektive der kapitalistischen Entwicklung Rußlands, stellte aber die künftige Sozialdemokratie noch nicht der „Narodnaja Wolja“ entgegen, sondern verlangte von den Narodowolzen nur, daß sie sich den Marxismus aneignen. Kurz vorher hatte die „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ in der Praxis den Versuch unternommen, sich mit der Auslandsvertretung der „Narodnaja Wolja“ zusammenzuschließen. Wenn es – freilich nur zu Beginn des Jahrzehnts – in der Emigration so war, wo die streitbaren Theoretiker beider Richtungen wirkten, so mußte in Rußland selbst die Scheidung zwischen den Narodowolzen und den Sozialdemokraten auch noch Ende der achtziger Jahre sehr verschwommen und unklar gewesen sein. Axelrod bemerkt in seinen Erinnerungen sehr richtig, daß „die wesentliche Scheidelinie zwischen den Narodowolzen und den Sozialdemokraten Ende der achtziger Jahre nicht auf der Linie Marxismus-Volkstümlerbewegung verlief, sondern auf der Linie unmittelbarer politischer Kampf, was damals gleichbedeutend mit Terror war, oder Propaganda“. In den Fällen, wo die Marxisten den Terror anerkannten, verschwand die Scheidelinie überhaupt. So war Alexander, der bereits Unsere Meinungsverschiedenheiten gelesen hatte, der Ansicht, daß es zwischen den Narodowolzen und den Sozialdemokraten praktisch keine Meinungsverschiedenheiten gebe und daß Plechanow seiner Arbeit gegen Tichomirow ganz überflüssigerweise polemischen Charakter verliehen habe. In der Verschwörung des 1. März 1887 handelten Vertreter beider Schattierungen unter der Fahne der Narodowolzen.

Die Annäherung der beiden Tendenzen, die sich später unversöhnlich trennten, hatte in Wahrheit illusorischen Charakter und fand ihre Erklärung in ihrer Schwäche und im politischen Dämmerlicht der Epoche. Aber eben in diesem Dämmerlicht begann Wladimir das theoretische Studium des Marxismus. Gleichzeitig lernte er durch die Erzählungen der „Alten“ die Praxis des Kampfes der letzten Zeit kennen, deren abschließendes Glied der Kette der Fall Alexander war. In Samara, wo es nicht einmal die ersten Anfänge einer Arbeiterbewegung gab, entstanden die Gruppierungen unter der Intelligenz mit Verspätung und entwickelten sich in verlangsamtem Tempo. Sozialdemokraten gab es überhaupt noch nicht. Unter diesen Bedingungen konnte Wladimir im Studium der marxistischen Klassiker weit fortschreiten, ohne zur endgültigen Wahl zwischen Sozialdemokratie und Narodowolzentum genötigt zu sein. Das Streben nach Klarheit und Vollendung war zweifellos die wichtigste Triebfeder seines Willens wie auch seines Intellekts. Aber ein nicht minder wichtiger Zug war bei ihm das Verantwortungsbewußtsein. Das Schicksal Alexanders hatte mit einem Schlag den Gedanken des Kampfes für die Freiheit aus der Sphäre der rosaroten Jugendträume ins Reich der harten Wirklichkeit verlegt. Die Wahl treffen bedeutete unter diesen Umständen: lernen, verstehen, überprüfen, sich überzeugen. Das erforderte Zeit.

Einer der ersten Freunde Wladimirs auf Samarer Boden war sein Altersgenosse Skljarenko. 1887 aus der sechsten Gymnasialklasse ausgeschlossen und verhaftet, saß er ein Jahr in den Petersburger „Kreuzen“ (Festungen) und nahm nach der Rückkehr nach Samara die Propaganda unter der Jugend wieder auf. Vor allem seinen Bemühungen war die Gründung einer halb legalen, halb illegalen Selbstbildungsbibliothek zu danken. Aus alten Monatsschriften wurden nach einem speziellen Propagandakatalog die lehrreichsten Artikel herausgeschnitten, wobei nicht selten die erste und die letzte Seite mit der Hand abgeschrieben Werden mußte. Die Sammelbände dieser Artikel wurden gebunden und bildeten zusammen mit etwa zweihundert ausgewählten Büchern die BSG (Bibliothek der Samarer Gymnasiasten), zu der Wladimir in den Samarer Jahren wiederholt Zuflucht nehmen mußte. Gemeinsam mit seinem Freund Semjonow verbreitete Skljarenko hektographierte Literatur von narodowolzischer Tendenz, die in ihrer Umgebung überhaupt dominierte. Wenn sich Uljanow schon in den ersten zwei Jahren seines Aufenthaltes in Samara als Sozialdemokraten betrachtet hätte, hätte es zwischen ihm und Skljarenko, Semjonow und ihren Freunden erbitterte Diskussionen gegeben, die bei entsprechender Hartnäckigkeit der Gegner unweigerlich und sehr bald zum Bruch geführt hätten. Aber nichts dergleichen geschah, die persönlichen Beziehungen blieben ungestört. Anderseits führten die freundschaftlichen Bindungen mit den jungen Narodowolzen nicht zur Beteiligung Wladimirs an ihrer illegalen Arbeit. Die revolutionären Pläne der grünen Jungen konnten ihm nach der Geschichte mit Alexander nicht imponieren. Er wollte vor allem lernen und brachte bald auch Skljarenko und Semjonow auf diesen Weg.

Vier Winter sollte Wladimir in Samara zubringen. Er wuchs und änderte sich in diesen Jahren und wechselte nach und nach auf das sozialdemokratische Geleise hinüber. Aber auch die änderten sich, die ihn beobachteten und unter seinem Einfluß standen. Die Grenzen zwischen den einzelnen Etappen verwischten sich in der Erinnerung. Die Ergebnisse der Evolution, wie sie sich 1892 zeigten, werden jetzt gewöhnlich auf die ganze Samarer Periode übertragen. Besonders klar zu erkennen ist das in den Erinnerungen der älteren Schwester. Wladimir stritt ihren Worten nach „immer erbitterter“ mit den alten Narodowolzen über ihre grundlegenden Anschauungen. Zweifellos war es auch so. Aber in welchem Augenblick begannen die Streite, und wann nahmen sie erbitterten Charakter an? Anna, die sich damals in den prinzipiellen Fragen überhaupt wenig auskannte, heiratete gerade zur Zeit der Übersiedlung nach Samara Jelisarow, und obwohl beide Familien im selben Haus wohnten, sonderte sich das junge Paar natürlich von den anderen ab. An die ersten zwei Samarer Jahre im Leben Wladimirs kann sich die ältere Schwester fast überhaupt nicht erinnern.

Es fällt nicht schwer, zu glauben, daß die archaischen Anschauungen der „Alten“ nicht geeignet waren, den tiefschürfenden jungen Verstand zu befriedigen. Wladimir kann und muß wohl schon in den ersten Jahren mit den Alten gestritten haben, nicht deshalb, weil er die Wahrheit gefunden hatte, sondern weil er sie suchte. Aber erst wesentlich später, gegen Ende der Samarer Periode, verwandelte sich dieser Streit in den Konflikt zweier Richtungen. Bemerkenswert ist, daß Jelisarowa selbst, auf der Suche nach lebendiger Illustration der Dispute, als Gegner den unter Aufsicht stehenden Wodowosow nennt. Aber die Streitgespräche mit diesem hoffnungslosen Eklektiker, der sich weder als Narodnik noch als Marxist betrachtete, fallen schon in den Winter 1891/92, also in das Ende des dritten Jahres von Wladimirs Aufenthalt in Samara.

Ein Samarer erzählt allerdings, wie Uljanow bei einer Bootsfahrt der radikalen Jugend, offenbar im Sommer oder Herbst 1890, die von einem gewissen Buchholz entwickelte idealistische Moraltheorie zerpflückte und zerfetzte und ihr die Klassenkonzeption entgegenstellte. Diese Episode läßt den Rhythmus der Entwicklung Wladimirs etwas rascher erscheinen, als auf Grund zuverlässiger Angaben angenommen werden kann. Aber bemerkenswert ist, daß Buchholz selbst, ein in Rußland geborener deutscher Sozialdemokrat, in dem uns interessierenden Punkt die eben angeführte Erzählung widerlegt. „In den Versammlungen, die wir gemeinsam besuchten“, schreibt er, „zeigte W.I. Uljanow, soweit ich mich erinnern kann, keinerlei besondere Aktivität, und auf jeden Fall hat er keine marxistischen Anschauungen entwickelt.“ Der Wert dieses Zeugnisses ist unbestreitbar. Kann man daran zweifeln, daß Uljanow sein Licht nicht unter den Scheffel gestellt hätte, wenn das Licht schon geleuchtet hätte? Wenn er keine marxistischen Anschauungen entwickelte, so deshalb, weil er sie noch nicht herausgearbeitet hatte ...

Im Oktober 1889, schon nach der Übersiedlung nach Samara, schickt Wladimir „Seiner Exzellenz dem Herrn Minister für Volksbildung“ ein neues, in seinem Ton höchst eindrucksvolles Gesuch. Im Laufe der zwei Jahre nach Abschluß des Gymnasiums hatte er, Wladimir Uljanow, „reichlich Gelegenheit, sich von der ungeheuren Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit zu überzeugen, für einen Menschen, der keine Spezialausbildung erhalten hat, eine Beschäftigung zu finden“. Indessen benötigte der Unterzeichnete dringend eine Beschäftigung, um „durch seine Arbeit die Familie zu unterstützen, bestehend aus der sehr alten Mutter und einem minderjährigen Bruder und einer Schwester“. Er bittet diesmal nicht um Zulassung an die Universität, sondern um das Recht, das Schlußexamen als Externist abzulegen. Deljanow schrieb mit Bleistift auf das Gesuch: „Über ihn beim Kurator und beim Polizeidepartement nachfragen, er ist ein übler Mensch.“ Klarerweise konnte das Polizeidepartement keine günstigere Meinung über den Bittsteller haben als der Unterrichtsminister. So erhielt der „üble Mensch“ vom „guten, lieben Menschen“ eine neuerliche Ablehnung.

Damit war, wie es schien, die Tür zur offiziellen Wissenschaft vor Wladimir für immer zugeschlagen. Letzten Endes hätte das wahrscheinlich nicht viel an seinem künftigen Schicksal geändert. Aber in jenen Tagen erschien Wladimir selbst und besonders der Mutter die Frage des Universitätsdiploms wesentlich bedeutsamer. Maria Alexandrowna reiste im Mai 1390 nach Petersburg, um dort für die Zukunft Wolodjas alles in Bewegung zu setzen, wie sie vor drei Jahren für das Leben Saschas alles in Bewegung gesetzt hatte. „Es quält und schmerzt“, schrieb sie, „wenn man sieht, wie die besten Jahre des Sohnes nutzlos vorübergehen ...“ Und um das Herz des Ministers noch eher zu erweichen, suchte die Mutter ihn damit zu schrecken, daß die sinnlose Existenz des Sohnes „ihn fast unabwendbar sogar auf den Gedanken des Selbstmordes bringen muß“. Ehrlich gesagt, glich Wladimir sehr wenig einem Selbstmordkandidaten. Doch im Krieg, und die Mutter führte Krieg für den Sohn, geht es nicht ohne Kriegslist. Deljanow war offenbar etwas sentimental besaitet: wenn er den „üblen Menschen“ auch nicht auf die Universität zurückkehren ließ, erlaubte er ihm diesmal doch, an einer der kaiserlichen Universitäten die Abschlußprüfungen in den Fächern der juridischen Fakultät abzulegen. Die Samarer Polizeiverwaltung verständigte die Witwe des Wirklichen Staatsrates, Maria Uljanowa, offiziell von der Gnade. Auf die Bitte Wladimirs, die Prüfungen an der Petersburger Universität ablegen zu dürfen, erfolgte wieder eine positive Antwort. Außer Bemühungen der Mutter half dabei zweifellos auch der Umstand, daß in den zweieinhalb Jahren seit seinem Ausschluß bei Wladimir nichts Verdächtiges beobachtet werden konnte. Die Familie war sichtlich nicht mehr in Ungnade.

Ende August vermerken die Federn der Polizei von Samara und Kasan in einer Reihe von Rapporten die Reise Wladimir Uljanows über Kasan nach Petersburg, um Auskünfte über den Vorgang bei der Ablegung der Prüfungen einzuholen. Sechs Tage verbrachte Wladimir in Kasan. Wen von seinen ehemaligen Freunden suchte er dort auf? Der Rapport des Kasaner Polizeimeisters enthält darüber keinerlei Hinweis. Fast zwei Monate verbrachte Wladimir in Petersburg: die Daten sind in den Rapporten des Samarer Polizeichefs festgehalten. Aber sonst wissen wir darüber fast nichts. Indessen hat Wladimir seine Zeit bestimmt nicht nutzlos vergeudet. Sein wichtiges Anliegen war, seine Vorbereitung für die Prüfungen in jeder Hinsicht sicherzustellen. Er hatte nicht die Absicht, die Prüfungen auf gut Glück zu machen, durchzufallen und seinen Zug zurückzunehmen. Er mußte alle Elemente der bevorstehenden Aufgabe im vorhinein klarstellen: den Umfang jedes Faches, die Lehrbücher, die Anforderungen der Professoren. Einen beträchtlichen Teil der in Petersburg verbrachten Zeit beanspruchten zweifellos die Studien in der Petersburger Bibliothek. Auszüge mußten gemacht, Konspekte zusammengestellt werden, um nicht allzu viele teure Bücher kaufen zu müssen. Durch seine Schwester Olga, die in Petersburg studierte, lernte Wladimir seinen künftigen Antagonisten Wodowosow kennen, einen Universitätskollegen Alexanders, der aus der Verbannung gekommen war, um die Staatsprüfungen abzulegen, und mit dessen Hilfe er Einlaß in das Gebäude fand, wo etwa vierhundert Studenten geprüft wurden. Wladimir mischte sich unter diese Menge und „saß“, wie Wodowosow berichtet, „dort einige Stunden, um zuzuhören und zuzuschauen“. Diese vorbereitende Erkundung des Schauplatzes und der Bedingungen des künftigen Prüfungskampfes ist für den jungen Lenin höchst bezeichnend. Er liebte es nicht, irgend etwas der Willkür des Schicksals zu überlassen, das man nur irgendwie voraussehen und vorbereiten konnte.

Wladimir hatte noch eine nicht unwichtige Sache in Petersburg zu erledigen. Auf dieser seiner Reise beschaffte er sich endlich durch Beziehungen beim Lehrer des Technologischen Instituts, Jawein, Engels’ Buch Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. Wenn sich der glückliche Eigentümer, wie man sich denken kann, nicht entschließen konnte, das verbotene Buch in die ferne Provinz ziehen zu lassen, dann blieb Wladimir nichts anderes übrig, als die hervorragende wissenschaftlich-philosophische Streitschrift während seines kurzen Aufenthaltes in der Hauptstadt zu studieren. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß der junge Professor nach einem Gespräch mit dem hartnäckigen jungen Mann kapitulierte und der Anti-Dühring von der Newa an die Wolga übersiedelte. Auf jeden Fall hat Wladimir dieses Buch nicht vor dem Herbst 1890 in die Hand bekommen. Radek, der diese Episode unter Berufung auf Lenin selbst erzählt, fügt hinzu: „Lange noch gelang es ihm nicht, sich die im Ausland erschienenen Werke Plechanows zu beschaffen.“ Wenn das Wort „lange“ hier auch nur einige Monate bedeutet, so zeigt sich auch dann, daß Wladimir die Werke der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ frühestens Anfang 1891 kennengelernt hat. Merken wir uns diese Daten. Wenn auch die Zeugnisse Radeks im allgemeinen keinen Anspruch auf Genauigkeit erheben können, so finden sie doch in diesem Fall – ganz abgesehen von den überzeugenden äußeren Zügen der Erzählung – eine Stütze in der allgemeinen Evolution Wladimirs, wie sie sich nach den übrigen Umständen abzeichnet.

Anfang November meldet der Samarer Polizeichef bereits dem Polizeimeister die Rückkehr Wladimir Uljanows von der Reise. Der Polizeichef bemerkte auch diesmal offenbar „nichts Verdächtiges“. Indessen brachte der aus Petersburg zurückkehrende Verbrecherkandidat, wenn nicht unter dem Schädeldach, so im Koffer die Sprengstoffladung der materialistischen Dialektik. Aber es gab keinen Grund, in nächster Zeit Explosionen zu erwarten. Im Vordergrund standen derzeit weder Marxismus noch Revolution. Es galt, der kaiserlichen Universität das Diplom zu entreißen. Ein gigantisches Büffeln stand bevor.

Die Befürchtung Ilja Nikolajewitschs, daß Wladimir keinen Arbeitseifer entwickeln werde, erwies sich als wirklich unbegründet. Eine der unter Aufsicht Stehenden, die „Jakobinerin“ Jassnewa, die im Frühling 1891 nach Samara kam, erinnert sich: „Eine solche Ausdauer und Hartnäckigkeit, wie sie Wladimir Iljitsch schon damals hatte, habe ich sonst niemals bei irgendwem gesehen.“ Wladimir kam nur zum Tee und zum Nachtmahl und sprach sehr wenig. Selten kam jemand von den Hausgenossen in sein Zimmer. In seiner Lebensführung mußte er jetzt an Alexander erinnern. Sein Arbeitsplatz auf dem Land war nach wie vor im Garten, im Schatten einer Lindenallee. Jeden Tag ging er um ein und dieselbe Morgenstunde mit seinen juridischen Büchern dorthin und kam nicht vor drei Uhr nach Hause. „Du gehst, um ihn zum Mittagessen zu rufen“, sagte eine ehemalige Dienerin, „aber er ist bei seinen Büchern.“ Daß er keine Zeit verlor, davon zeugte der festgestampfte Fußweg bei seiner Bank, auf dem er hin und her lief, wenn er das Gelesene oder Gelernte wiederholte. Nach dem Essen las er zur Erholung in deutscher Sprache Die Lage der arbeitenden Klasse in England von Engels oder andere marxistische Literatur. Deutsch hatte er so nebenbei gelernt, nicht der Sprache wegen, sondern des Marxismus wegen, und daher mit desto größerem Erfolg. Nach einem Spaziergang, dem Bad und dem Abendtee folgte der letzte Teil des Arbeitstage:, schon unter der Lampe im Vorbau. Wladimir arbeitete zu intensiv, als daß es irgendwem von den Älteren oder Jüngeren einfallen konnte, ihn während seines Studiums zu stören. Und er hätte sich auch jetzt natürlich nicht geniert, wie in den Gymnasiastenjahren jedem beliebigen zu sagen: „Beglücken Sie uns mit Ihrer Abwesenheit.“ Dafür war er in den Stunden der Entspannung, am Mittagstisch, beim Baden, lärmend, gesprächig, lachlustig und von ansteckender Fröhlichkeit. Jede Fiber seines Hirns und seines Körpers nahm Revanche für die langen Stunden des römischen Rechts oder des Kirchenrechts. Dieser junge Mann erholte sich ebenso intensiv und leidenschaftlich, wie er lernte.

Wie lange brauchte er für die Vorbereitung? Anderthalb Jahre, sagte Jelisarowa. Von ihr wissen wir auch, daß Wladimir sich erst „zum Büffeln setzte“, als ihm erlaubt wurde, als Externist die Prüfung abzulegen. Man kann auch kaum annehmen, daß er zum Privatvergnügen oder aufs Geratewohl angefangen hätte, Polizei-, Kirchen- oder auch nur römisches Recht zu studieren. Dann aber hat die Vorbereitung nicht einmal anderthalb Jahre in Anspruch genommen. Von der ministeriellen „Amnestie“ bis zum Beginn der Prüfungen vergingen keine elf Monate, bis zum Abschluß der Prüfungen anderthalb Jahre. Jelisarowa selbst spricht in einem anderen Artikel von einem Jahr. Die Studenten der Universität brauchten für die gleiche Arbeit vier Jahre!

Die Prüfungen mußten in zwei Etappen abgelegt werden: im Frühling, im April und Mai, und im Herbst, im September und November. Wladimir kam im März nach Petersburg, eine Woche vor den Prüfungen, gerüstet mit einer schriftlichen Arbeit über das Strafrecht. Höchstwahrscheinlich war die zusätzliche Woche für die Durchsicht der von den Studenten herausgegebenen Vorlesungsskripten bestimmt. Bei der Planung der eigenen Arbeit war Uljanow schon vor Taylor Taylorist. Der Prüfungskommission, deren Vorsitzender der damals populäre Professor für die Geschichte des russischen Rechts Sergejewitsch war, gehörten die Leuchten der juridischen Fakultät an. Der Auswärtige, den die Examinatoren zum erstenmal sahen, wurde besonders gründlich ins Verhör genommen. Aber bald mußte das Mißtrauen der Anerkennung weichen. Der Externist Uljanow erwies sich als ausgezeichnet vorbereitet.

Die Aufzählung der Prüfungsthemen klingt wie eine ironische Introduktion zur ganzen späteren Tätigkeit des Anwalts der Unterdrückten, des Anklägers der Unterdrücker. In Geschichte des russischen Rechts bekam Wladimir Uljanow die Frage der „Unfreien“, der Leibeigenen aller Kategorien; in Staatsrecht die Frage nach den Standesinstitutionen, wozu die Geschichte der Adelseinrichtungen und der Organisation der bäuerlichen Selbstverwaltung gehörten. Dadurch, daß die kaiserliche Universitat dem Prüfling in diesen Fächern die beste Note gab, bestätigte sie, daß Wladimir Uljanow, bevor er sich an die Liquidiarung der „unfreien“ Zustände, der Leibeigenschaft und der Standesbarbarei machte, sich auf seinen Beruf genau vorbereitet hatte.

In politischer Okonomie mußte er, ebenfalls noch im Frühling, über den Arbeitslohn und seine Formen Auskunft geben; in Ezyklopädie und Geschichte der Rechtsphilosophie – über die Ansichten Platons über die Gesetze. Ob Uljanow seinen Examinatoren als Gegengewicht gegen den Ausbeuterplatonismus aller Art die Arbeitswerttheorie und die materialistische Rechtskonzeption dargelegt hat, wissen wir leider nicht. Aber selbst wenn seine Antworten der offiziellen Wissenschaft gegen den Strich gingen, so mit aller nötigen Vorsicht. Die Kommission vermerkte: „Höchst befriedigend“, was die beste Note war. Der größte Teil der Prüfungen fiel jedoch in den Herbst.

Am ersten Sonntag im Mai feierte eine kleine Gruppe Petersburger Arbeiter, siebzig Mann stark, zum erstenmal den proletarischen Festtag mit einer Versammlung außerhalb der Stadt und mit Reden, die bald darauf hektographiert und später im Ausland veröffentlicht wurden. Die sozialdemokratische Propaganda, bei der der junge Technologe Brussnjow die entscheidende Rolle spielte, hatte schon beträchtliche Ergebnisse gezeitigt. Wladimir, der sich zur Zeit der Maifeier in Petersburg aufhielt, wußte offenbar nichts von diesem bemerkenswerten Ereignis. Er hatte keine revolutionären Verbindungen und suchte sie wohl kaum. In den nächsten Jahren stand ihm noch bevor, die Petersburger Marxisten einzuholen, um ihnen dann sofort vorauszueilen.

Als die Frühlingsprüfungen voll im Gange waren, traf die Familie ein neuer Schlag. Sein Opfer wurde Olga, jene Schwester, die gemeinsam mit Wladimir aufgewachsen war, die sich mit ihm entwickelt und die ihn am Flügel begleitet hatte, wenn er von den „bezaubernden Augen“ sang. Seit Herbst des vorigen Jahres lernte Olga mit großem Erfolg an den Hochschulkursen für Frauen in Petersburg. Alle, die sich ihrer erinnern, schildern dieses Mädchen als ungewöhnlich anziehend. Nachdem sie mit fünfzehneinhalb Jahren das Gymnasium absolviert hatte – ebenso wie die Brüder mit der goldenen Medaille -, beschäftigte sie sich mit Musik, Englisch und Schwedisch und las viel. Olgas Freundin in den Kursen, S. Newsorowa, die spätere Frau des Ingenieurs Krshishanowski, des sowjetischen Elektrifikators, schreibt in ihren Erinnerungen: „Olga Uljanowa war nicht der gewöhnliche Typ einer Kursistin jener Zeit: ein, kleiner schwarzer Käfer, bescheiden und auf den ersten Blick unauffällig; aber ein gescheiter Kopf, begabt, mit einer gewissen stillen, konzentrierten Willenskraft und Energie bei der Verfolgung ihrer Absichten. Trotz ihrer neunzehn Jahre tief und ernst, ein wunderbarer Kamerad.“ „Das in ihrem Charakter vorherrschende Gefühl“; schreibt Jelisarowa, „war wie bei Sascha das Pflichtgefühl.“ Olga hatte Sascha mehr als die übrigen Brüder und Schwestern geliebt. Wladimir stand sie, trotz des geringen Altersunterschiedes und der Ähnlichkeit der Entwicklungsbedingungen, charakterlich nicht nahe. Aber Olga hörte sehr auf ihn und schätzte seine Meinung.

Während Wladimirs Petersburger Aufenthalt im Frühling erkrankte Olga an Bauchtyphus. Zwischen zwei Prüfungen mußte Wladimir die Schwester in ein Spital bringen, und zwar, wie sich später herausstellte, in ein sehr schlechtes. Vom Sohn telegraphisch gerufen, eilte Maria Alexandrowna sofort nach Petersburg, aber nur, um hier das zweite Kind zu verlieren. Olga starb am 8. Mai, an dem gleichen Tag, an dem vier Jahre früher Alexander gehenkt wurde: Und so wie damals, in Kasan, als Wladimir die Reifeprüfung unmittelbar nach der Hinrichtung des älteren Bruders ablegen mußte, so mußte er jetzt die Universitätsprüfungen in den Tagen ablegen, als seine Schwester todkrank war. Offenbar unmittelbar nach ihrem Begräbnis besuchte er einen Universitätskollegen von Alexander, Sergej Oldenburg, der später als Orientalist Akademiemitglied wurde; zum Unterschied von allen anderen erinnert sich dieser an seinen Gesprächspartner als düster und schweigsam, ohne ein einziges Lächeln. Die ersten und schwersten Tage blieb Wladimir mit der Mutter in Petersburg; gemeinsam traten sie dann den traurigen Weg nach Samara an. Und wieder wunderten sich alle über die Tapferkeit der Mutter, die Selbstbeherrschung, ihre unermüdliche Sorge für die übrigen Kinder.

Mehr als drei Sommermonate lang stapfte Wladimir auf seinem Fußweg im Schatten der Lindenallee. Im September kam er wohlgerüstet in die Hauptstadt. Im Strafrecht beantwortete er einwandfrei die Fragen über die Verteidigung im Strafprozeß und über den Dokumentendiebstahl. Im römischen Recht wurde er über die unerlaubten Handlungen und über den Einfluß der Zeit auf die Entstehung und die Erlöschung von Rechtsverhältnissen befragt: zwei recht interessante Themen für einen Menschen, der später einmal unerlaubte Handlungen in reichlich großem Maßstab vollbringen und nicht unwichtige Rechtsverhältnisse zur Erlöschung bringen sollte. Mit vollem Erfolg beantwortete Uljanow die Frage nach der „Polizeiwissenschaft“, die „der Sicherung der Voraussetzungen für das moralische und materielle Wohlergehen des Volkes“ dient. Nicht minder beneidenswerte Kenntnisse zeigte der Prüfling auf dem Gebiet der Organisation der orthodoxen Kirche und der Geschichte ihrer Gesetzgebung. In Völkerrecht kam auf ihn die Frage der Neutralität und der Blockade. Ob ihm diese Kenntnisse 28 Jahre später zustatten kamen, als Clemenceau und Lloyd George den Versuch der Sowjets, sich aus dem Krieg herauszulösen, mit der Blockade beantworteten, diese Frage kann man offenlassen. Für das Diplom ersten Grades mußte man in mehr als der Hälfte der Fächer die beste Note („höchst befriedigend“) haben; Wladimir hatte in allen dreizehn Fächern die beste Note. Er konnte im geheimen sich selbst loben und für sich in ein kurzes „russisches“ Lachen ausbrechen.

Einen Monat vor Beendigung der Prüfungen, im Oktober 1891, wurde ein drittes Gesuch Wladimir Uljanows um Ausstellung eines Passes zur Reise ins Ausland abgelehnt. Welchen Zweck konnte diese Reise haben? Wladimir stöberte alle grundlegenden Werke der marxistischen Literatur auf und studierte sie. Vieles fehlte ihm zweifellos, besonders auf dem Gebiet der periodischen sozialdemokratischen Presse. Der Gedanke daran, nach Ablegung der Prüfungen in der Freiheit, in den großen öffentlichen Bibliotheken Berlins zu arbeiten, mußte für ihn verlockend sein. Von Berlin konnte man unschwer nach Zürich und Genf fahren, die „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ kennenlernen, alle ihre Schriften studieren und strittige Fragen klären. Motive, die mehr als hinreichend waren. Aber das Polizeidepartement urteilte anders. Und nachdem sich Wladimir über die hohe Obrigkeit entsprechend kräftig geäußert hatte, wartete er nicht in der Hauptstadt auf die Entscheidung der Prüfungskommission: es gab keinen Grund, an ihrem Ergebnis zu zweifeln. Und tatsächlich: am 15. November, an demselben Tag, an dem der Samarer Polizeichef dem Polizeimeister geheim über die Rückkehr des unter geheimer Überwachung stehenden Wladimir Uljanow berichtete, wurde derselben Person von der juridischen Prüfungskommission der Sankt-Petersburger kaiserlichen Universität das Diplom ersten Grades zuerkannt. In einem oder anderthalb Jahren hatte Wladimir im hinterwäldlerischen Samara ohne jede Hilfe durch Professoren oder ältere Kameraden eine Arbeit geleistet, für die andere vier Jahre ihres Lebens aufwandten, und zwar besser als die anderen: unter 134 Studenten und Externisten war er der Beste. Über dieses Ergebnis „wunderten sich viele“, wie die Schwester bemerkt. Kein Wunder: an dieser glänzenden Leistung besticht unter anderem das Element des geistigen Athletismus. Gut „ausbalanciert“: besser geht es nicht!


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008