Leo Trotzki

 

Verratene Revolution

VIII. Außenpolitik und Heer

Zertrümmerung der Miliz und Wiederherstellung der Offiziersränge

In welchem Masse entspricht die Sowjetarmee am Ende des zweiten Jahrzehnts ihrer Existenz dem Typus, den die bolschewistische Partei auf ihr Banner geschrieben hatte

Die Armee der proletarischen Diktatur soll entsprechend dem Programm „offenen Klassencharakter haben, d.h. sich ausschließlich aus dem Proletariat und den ihm nahestehenden halbproletarischen Schichten der Bauernschaft formieren. Erst im Zusammenhang mit der Vernichtung der Klassen wird eine solche Klassenarmee sich in die sozialistische Volksmiliz umwandeln“. Dadurch dass die Partei für die nächste Periode den allgemeinen Volkscharakter des Heeres verwarf, verzichtete sie keineswegs auf das Milizsystem. Im Gegenteil, laut Beschluss des 8. Kongresses (März 1919) „stellen wir die Miliz auf eine Klassengrundlage und verwandeln sie in eine Klassenmiliz“. Aufgabe der militärischen Arbeit sollte sein die allmähliche Schaffung einer Armee, „nach Möglichkeit nicht kaserniert, d.h. unter Bedingungen, die den Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse nahe kommen“. Letzten Endes sollten alle Armeeteile territorial zusammenfallen mit Fabriken, Bergwerken, Dörfern, landwirtschaftlichen Kommunen und sonstigen organischen Gruppierungen, die „einen lokalen Kommandostamm, lokale Waffen- und überhaupt Versorgungsreserven aller Art“ besitzen. Die Verbundenheit über Landsmannschaft, Schule, Betrieb und Sport sollte der Jugend den von der Kaserne gezüchteten Korpsgeist mehr als ersetzen und ihr eine bewusste Disziplin einimpfen, ohne Zutun eines über der Armee stehenden Korps von Berufsoffizieren.

Dem Wesen der sozialistischen Gesellschaft am meisten entsprechend, verlangt die Miliz jedoch ein hohes wirtschaftliches Fundament. Für eine kasernierte Armee werden künstliche Bedingungen geschaffen, ein Territorialheer dagegen spiegelt die tatsächliche Lage des Landes viel unmittelbarer wieder. Je niedriger die Kultur, je krasser der Unterschied zwischen Stadt und Land, um so unvollkommener und verschiedenartiger die Miliz. Unzulängliche Eisenbahnen, Straßen und Wasserwege, fehlende Autostraßen und mangelhafte Kraftwagenparks, all das verurteilt das Territorialheer in den ersten kritischen Kriegswochen und -monaten zu äußerster Langsamkeit. Zur Besetzung der Grenzen für die Zeit der Mobilmachung, zu strategischen Verschiebungen und Konzentrationen sind neben den Territorialtruppen auch kasernierte erforderlich. Die Rote Armee wurde von Anfang an als erzwungener Kompromiss zweier Systeme aufgebaut, bei Überwiegen der Kaserne.

Im Jahre 1924 schrieb der damalige Kriegskommissar: „Man muss sich stets zwei Dinge vor Augen halten: ist an sich durch das Sowjetregime zum ersten Mal die Möglichkeit eines Übergangs zum Milizsystem gegeben, so hängt doch das Tempo dieses Übergangs vom allgemeinen Stand der Kultur des Landes, der Technik, der Verkehrswege, der Bildung usw. ab. Die politischen Voraussetzungen für die Miliz sind bei uns unwiderruflich geschaffen, aber die wirtschaftlich-kulturellen sind äußerst zurückgeblieben“. Wären die notwendigen materielle Voraussetzungen vorhanden, das Territorialheer würde nicht nur nicht der Kasernenarmee nachstehen, sondern sie bei weitem übertreffen. Die Sowjetunion muss ihre Verteidigung teuer bezahlen, da sie für das billigere Milizheer nicht reich genug ist. Man wundere sich nicht: gerade wegen ihrer Armut hat sich die Sowjetgesellschaft ja auch die kostspielige Bürokratie auf den Hals geladen.

Dasselbe Problem – das Missverhältnis zwischen ökonomischem Unterbau und gesellschaftlichem Überbau – begegnet uns immer wieder mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit ausnahmslos auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens. Ob in Fabrik, Kolchos, Familie, Schule, Literatur oder in der Armee, der Widerspruch zwischen dem selbst vom kapitalistischen Standpunkt aus gesehen niedrigen Stand der Produktivkräfte und den im Prinzip sozialistischen Eigentumsformen liegt überall sämtlichen Beziehungen zu Grunde. Die neuen Gesellschaftsbeziehungen heben die Kultur empor. Die ungenügende Kultur jedoch zieht die Gesellschaftsformen hinab. Die Sowjetwirklichkeit ist die Resultante aus diesen beiden Tendenzen. Im Heer ist diese Resultante dank seiner äußerst präzisen Struktur in ziemlich genauen Zahlen zu ermitteln. Das Verhältnis zwischen Kasernen- und Miliztruppen ist kein so schlechtes Merkmal des tatsächlichen Vordringens zum Sozialismus.

Natur und Geschichte haben dem Sowjetstaat, bei geringer Bevölkerungsdichte und schlechten Verkehrswegen offene, 10.000 km voneinander entfernte Grenzen beschieden. Am 15. Oktober 1924 warnte das alte Kriegskommissariat in den letzten Monaten seines Wirkens nochmals, eins nicht zu vergessen: „In der nächsten Zeit wird der Aufbau der Miliz zwangsläufig vorbereitender Natur sein müssen. Jeden nächstfolgenden Schritt müssen wir aus dem streng geprüften Ergebnis des vorhergehenden ableiten“, Aber 1925 brach eine neue Ära an: an die Macht kamen nun die ehemaligen Verkünder der Proletarischen Kriegsdoktrin. Dem Wesen der Sache nach widersprach das Territorialheer radikal dem Ideal der „Angriffsbereitschaft“ und „Manövrierfähigkeit“, von dem diese Schule ausgegangen war. Doch die Weltrevolution geriet allmählich in Vergessenheit. Den Krieg hofften die neuen Führer durch „Neutralisierung“ der Bourgeoisie zu vermeiden. Im Laufe der nächsten Jahre wurden 74% der Armee auf die Milizgrundlagen gestellt.

Solange Deutschland abgerüstet und zudem noch „befreundet“ blieb, basierten die Berechnungen des Moskauer Generalstabs hinsichtlich der Westgrenzen auf den Streitkräften der unmittelbaren Nachbarn – Rumänien, Polen, Litauen, Lettland, Estland, Finnland, denen wahrscheinlich materielle Unterstützung durch mächtigere Gegner, hauptsächlich Frankreich, zuteil werden würde: in jener fernen Zeit (sie endete 1933) war Frankreich noch nicht der ausersehene „Friedensfreund“. Die Randstaaten könnten insgesamt ungefähr 120 Infanteriedivisionen, d.h. etwa 3.500.000 Menschen stellen. Der Mobilmachungsplan der Roten Armee sah an der Westgrenze eine Armee erster Ordnung von annähernd derselben Größe vor. Im fernen Osten kann, entsprechend allen Umständen des Kriegsschauplatzes nur von Hunderttausenden nicht aber von Millionen Kämpfern die Rede sein. Je hundert Frontsoldaten brauchen im Laufe eines Jahres als Ersatz für Verluste annähernd 75 Mann. Zwei Jahre Krieg müssten, sieht man von den aus den Lazaretten an die Front Zurückkehrenden ab, dem Lande etwa 10 bis 12 Millionen Menschen entziehen, Die Rote Armee zählte 1935 insgesamt 562.000 Mann, mit den GPU-Truppen 620.000, davon 40.000 Offiziere, wobei noch Anfang 1935 wie gesagt 74% auf die territorialen und nur 26% auf die kasernierten Divisionen entfielen. Bedarf es eines besseren Beweises, dass die sozialistische Miliz, wenn nicht zu 100, so doch zu 74%, jedenfalls aber „endgültig und unwiderruflich“ gesiegt hat?

Jedoch all diese, schon an und für sich reichlich bedingten Berechnungen, hingen nach Hitlers Machtübernahme plötzlich in der Luft. Deutschland begann, fieberhaft zu rüsten, in erster Linie gegen die UdSSR Die Perspektive friedlichen Zusammenlebens mit dem Kapitalismus war mit einem Male dahin. Die schnell nahende Kriegsgefahr veranlasste die Sowjetregierung, außer einer Erhöhung der Streitkräfte auf 1.300.000 Mann, auch die Struktur der Roten Armee radikal zu ändern: gegenwärtig umfasst die Rote Armee 77% sogenannte „Kader“- und nur 23% Territorialdivisionen! Diese Zerstörung der Territorialtruppen ähnelt nur allzu sehr einem Verzicht auf das Milizsystem, vergisst man nicht, dass die Armee nicht für ungetrübte Friedenszeiten, sondern gerade für den Kriegsfall gebraucht wird. So zeigt die geschichtliche Erfahrung, angefangen mit dem Gebiet, auf dem es sich am wenigsten spaßen lässt, unbarmherzig, dass nur das „endgültig und unwiderruflich“ erkämpft ist, was durch die Produktionsgrundlagen der Gesellschaft gesichert wurde.

Immerhin erscheint das Hinabgleiten von 74% auf 23% über die Maßen stark. Das geschah vermutlich nicht ohne „freundschaftlichen“ Druck seitens des französischen Generalstabs. Noch wahrscheinlicher ist, dass die Bürokratie die günstige Gelegenheit nutzte, um diese in bedeutendem Maße von politischen Erwägungen diktierte Zerschlagung vorzunehmen. Die Milizdivisionen stehen ihrer ganzen Natur nach in unmittelbarer Abhängigkeit von der Bevölkerung: darin liegt eben, vom sozialistischen Standpunkt aus gesehen, der wesentliche Vorteil dieses Systems, aber auch vom Standpunkt des Kreml, sein Nachteil, Lehnen doch die Militärfachleute der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, wo die Miliz technisch durchaus verwirklichbar wäre, sie gerade wegen der allzu großen Nähe des Heeres zum Volke ab. Die starke Gärung in der Roten Armee in den Jahren des ersten Fünfjahresplanes war zweifellos ein ernster Grund für die spätere Zerschlagung der Territorialdivisionen.

Unsere Annahme ließe sich unbestreitbar durch ein genaues Diagramm der Roten Armee vor und nach der Gegenreform bestätigen; die Daten eines solchen Diagramms besitzen wir jedoch nicht, und besäßen wir sie, würden wir es nicht für möglich erachten, sie öffentlich auszuwerten. Es gibt aber eine allen zugängliche Tatsache, die nur eine Deutung zulässt: zur selben Zeit, als die Sowjetregierung das spezifische Gewicht der Miliz in der Armee um 51% verringert, stellt sie das Kosakentum wieder her, die einzige Milizformation der Zarenarmee! Die Kavallerie ist stets ein privilegierter und der konservativste Teil der Armee. Die Kosaken aber waren von jeher der konservativste Teil der Kavallerie. Während des Krieges und der Revolution dienten sie als Polizeimacht, erst dem Zaren, dann Kerenski. Unter der Sowjetmacht blieben sie unabänderlich die Vendée. Die Kollektivierung, die zudem bei den Kosaken besonders gewaltsam durchgeführt wurde, hat deren Traditionen und Denkart natürlich noch nicht verändern können. Dafür wurde den Kosaken ausnahmsweise das Recht eingeräumt, eigene Pferde zu halten. Auch an anderen Begünstigungen besteht natürlich kein Mangel. Kann man daran zweifeln, dass die Steppenreiter sich aufs neue auf die Seite der Privilegierten gegen die Unzufriedenen schlagen werden? Auf dem Hintergrund unausgesetzter Repression gegen die oppositionelle Arbeiterjugend ist die Wiederauferstehung der Hosenstreifen und Schöpfe der Kosaken zweifellos eine der krassesten Erscheinungen des Thermidor!
 

Ein noch betäubenderer Schlag für die Oktoberrevolution war das Dekret über die Wiederherstellung des Offizierskorps in seiner ganzen bürgerlichen Herrlichkeit. Der Stab der Roten Armee ist mit allen seinen Mängeln, aber auch unschätzbaren Verdiensten aus der Revolution und dem Bürgerkrieg hervorgegangen. Die Jugend, der selbständige politische Tätigkeit untersagt ist, entsendet zweifellos nicht wenige hervorragende Vertreter in die Reihen der Roten Armee. Andererseits musste auch die fortschreitende Umwandlung des Staatsapparates sich auf breite Kreise des Kommandostabs auswirken. Auf einer öffentlichen Tagung entwickelte Woroschilow Allgemeinplätze darüber, wie notwendig es sei, dass der Kommandeur seinen Untergebenen zum Vorbild diene, er hielt es aber für nötig, sofort zu bekennen: „Leider kann ich mich nicht sehr rühmen“,: die einfachen Soldaten machen Fortschritte, „die Kommandokader kommen häufig nicht mit“: „oft indes sind die Kommandeure nicht in der Lage, auf neue Anforderungen zu reagieren, wie es sich gehört“, usw. Dies bittere Bekenntnis des wenigstens der Form nach verantwortlichsten Heerführers kann wohl Unruhe hervorrufen, aber kein Erstaunen: was Woroschilow von den Kommandeuren sagt, gilt für die ganze Bürokratie, Allerdings, der Redner selbst lässt nicht einmal den Gedanken zu, dass die herrschende Spitze zu denen gerechnet werden könne, die „nicht mitkommen“: nicht umsonst schilt sie stets und überall gegen jedermann, stampft sie mit den Füßen und befiehlt, auf der Höhe zu sein. Jedoch in Wirklichkeit ist gerade diese kontrolllose Korporation der „Führer“, zu der Woroschilow gehört, die Hauptursache des Zurückbleibens, der Routine und vieles anderes mehr.

Das Heer ist ein Abbild der Gesellschaft und leidet an all ihren Krankheiten, meistens mit erhöhter Temperatur, Das Kriegshandwerk ist zu rau, um sich mit Fiktionen und Fälschungen zufriedenzugeben. Das Heer braucht die frische Luft der Kritik. Der Stab braucht demokratische Kontrolle. Die Organisatoren der Roten Armee haben von Anfang an die Augen hiervor nicht verschlossen und hielten es für notwendig, Maßnahmen wie die Wählbarkeit des Kommandopersonals vorzubereiten. „Das Wachsen der inneren Geschlossenheit der Truppen, die Entwicklung der Selbstkritik der Soldaten sich und ihren Offizieren gegenüber...“. so lautet der grundlegende Beschluss der Partei zur Militärfrage, „schaffen jene günstigen Bedingungen, unter denen das Prinzip der Wählbarkeit des Kommandopersonals immer größere Anwendbarkeit erhalten kann“. Jedoch, fünfzehn Jahre nachdem dieser Beschluss gefasst wurde – eine doch offenbar genügende Frist, um den inneren Zusammenhalt und die Selbstkritik zu festigen – hat die herrschende Spitze den direkt entgegengesetzten Weg eingeschlagen.

Im September 1935 erfuhr die zivilisierte Menschheit, Freunde wie Feinde, nicht ohne Erstaunen, dass die Rote Armee von nun an eine Offiziershierarchie krönen würde, die beim Leutnant beginnt und beim Marschall aufhört. Nach einer Erklärung Tuchatschewskis, des tatsächlichen Militärchefs, „schafft die Einführung der Militärtitel durch die Regierung eine festere Grundlage zur Heranbildung der kommandierenden und der technischen Kader“, Die Erklärung ist bewusst zweideutig. Die Kommandokader werden vor allem durch das Vertrauen der Soldaten gefestigt. Eben darum begann die Rote Armee mit der Abschaffung des Offizierskorps. Die Wiederherstellung der hierarchischen Kaste ist im Interesse der militärischen Sache keineswegs erforderlich. Praktisch von Bedeutung ist der Kommandoposten, nicht die Rangstufe. Ingenieure oder Ärzte haben keinen Rang, und dennoch findet die Gesellschaft Mittel, jeden von ihnen an den rechten Platz zu stellen. Das Recht auf einen Kommandoposten wird erworben durch Studium, Begabung, Charakter, Erfahrung, die einer ununterbrochenen und zwar individuellen Bewertung bedürfen. Der Majorsrang wird dem Bataillonskommandanten nichts hinzufügen. Die Erhebung der fünf Oberbefehlshaber der Roten Armee in den Marschallstand wird ihnen weder neue Talente noch mehr Macht verleihen. Auf „feste Grundlage“ wird in Wirklichkeit nicht das Heer, sondern das Offizierskorps gestellt, um den Preis der Distanzierung von der Armee. Die Reform verfolgt einen rein politischen Zweck: den Offizieren ein neues soziales Gewicht zu verleihen. So hat Molotow das Dekret im Grunde auch ausgelegt: „die Bedeutung der leitenden Kader unseres Heeres heben“. Die Sache beschränkt sich dabei nicht bloß auf die Einführung der Titel. Gleichzeitig ist ein verstärkter Wohnungsbau für das Kommandopersonal zu beobachten: im Jahre 1936 sollen 47.000 Zimmer bereitgestellt werden; für den Sold wurden 57% mehr bewilligt als im vergangenen Jahr. „Die Bedeutung der leitenden Kader heben“, heißt, das Offizierskorps um den Preis einer Schwächung des moralischen Zusammenhalts der Armee enger mit den herrschenden Spitzen zu verbinden.

Bemerkenswert ist, dass die Reformatoren es nicht für nötig hielten, für die wiedereingeführten Rangstufen neue Benennungen zu erfinden: im Gegenteil, sie wollten offensichtlich mit dem Westen Tritt fassen. Gleichzeitig zeigten sie ihre Achillesferse, indem sie es nicht gewagt haben, den Generalstitel wiedereinzuführen, der in der Sprache des russischen Volkes allzu ironisch klingt. Die Sowjetpresse hat, als sie die Erhebung von fünf militärischen Würdenträgern in den Marschallstand meldete – die Auswahl der Fünf ist, nebenbei bemerkt, mehr gemäß der persönlichen Ergebenheit zu Stalin erfolgt als nach Begabung und Verdiensten – nicht vergessen. hierbei auch an die Zarenarmee zu erinnern, mit ihrem... „Kastengeist, ihrer Titelverehrung und Unterwürfigkeit“. Wozu sie dann so sklavisch nachahmen, fragt man sich. Zur Schaffung neuer Privilegien benutzt die Bürokratie auf Schritt und Tritt die Argumente, die einst zur Vernichtung der alten Privilegien dienten. Unverschämtheit mischt sich mit Feigheit, ergänzt durch immer stärkere Dosen Heuchelei.

So unerwartet auf den ersten Blick die offizielle Wiederauferstehung „des Kastengeistes, der Titelverehrung und der Unterwürfigkeit“ auch scheinen mag, man muss zugeben, dass die Regierung in der Wahl des Weges kaum mehr große Freiheit hatte. Die Beförderung der Kommandeure nach Gesichtspunkten persönlicher Befähigung ist verwirklichbar nur bei Vorhandensein von Initiativ- und Kritikfreiheit in der Armee selbst und von Kontrolle über die Armee seitens der öffentlichen Meinung des Landes. Strenge Disziplin kann sich ausgezeichnet mit größter Demokratie vertragen und sich sogar unmittelbar auf sie stützen. Allein, keine Armee vermag demokratischer zu sein als das sie nährende Regime. Quelle des Bürokratismus mit seiner Routine und seinem Dünkel sind nicht die besonderen Erfordernisse des Militärwesens, sondern die politischen Bedürfnisse der herrschenden Schicht. In der Armee kommen diese nur am vollendetsten zum Ausdruck. Die Wiederherstellung der Offizierskaste achtzehn Jahre nach ihrer revolutionären Abschaffung zeugt gleich stark sowohl von dem Abgrund, der die Leitenden bereits von den Geleiteten trennt, wie davon, dass die Sowjetarmee ihre wichtigsten Eigenschaften, die ihr erlaubten, sich „Rote“ Armee zu nennen, eingebüßt hat, wie schließlich von dem Zynismus, mit dem die Bürokratie diese Zersetzungswirkungen zum Gesetz erhebt.

Die bürgerliche Presse hat diese Gegenreform nach Gebühr beurteilt. Das französische halbamtliche Blatt Le Temps schrieb am 25. September 1935: „Dieser äußere Wandel ist eines der Anzeichen der tiefen Transformation, die sich heute in der ganzen Sowjetunion vollzieht. Das heute endgültig gefestigte Regime stabilisiert sich allmählich. Die revolutionären Gewohnheiten und Gebräuche innerhalb der Sowjetfamilie und der Sowjetgesellschaft machen Gefühlen und Sitten Platz, die nach wie vor innerhalb der sogenannten kapitalistischen Länder herrschen. Die Sowjets verbürgerlichen“. Diesem Urteil ist fast nichts hinzuzufügen.

 

 

Die UdSSR im Kriege

Die Kriegsgefahr ist nur eine der Formen, in der sich die Abhängigkeit der Sowjetunion von der übrigen Welt ausdrückt, folglich auch eins der Argumente gegen die Utopie einer isolierten Sowjetgesellschaft; aber gerade in der Gegenwart wird dies schreckliche „Argument“ in erster Linie vorgebracht.

Alle Faktoren der bevorstehenden Völkerschlacht im voraus berechnen, ist ein hoffnungsloses Unternehmen: wäre eine derartige apriorische Berechnung möglich, so würde der Interessenkonflikt immer mit einem friedlichen Buchhaltervergleich beigelegt werden. Die blutige Gleichung des Krieges enthält viele Unbekannten. Auf der Seite der Sowjetunion gibt es jedenfalls gewaltige Plusgrößen, sowohl aus der Vergangenheit geerbte, als auch vom neuen Regime geschaffene. Die Erfahrung der Interventionen in der Bürgerkriegsperiode hat erneut bewiesen, dass die Flächenausdehnung Russlands größter Vorteil war und bleibt. Sowjetungarn wurde vom ausländischen Imperialismus, allerdings nicht ohne Mithilfe der unseligen Regierung Béla Kun, in einigen Tagen gestürzt. Sowjetrussland, das von Anfang an von seinen Randgebieten abgeschnitten war, kämpfte drei Jahre lang gegen die Interventionen; in gewissen Momenten reduzierte sich das Territorium der Revolution fast auf das alte Moskauer Fürstentum, aber das genügte. um sich zu halten und später auch zu siegen.

Ein zweiter großer Vorteil ist das Menschenreservoir. Bei einer jährlichen Zunahme von 3 Millionen hat die Bevölkerung der UdSSR offenbar 170 Millionen bereits überschritten. Ein einziger Rekrutenjahrgang beträgt etwa 1.300.000 Mann. Allerstrengste körperliche und politische Auslese entfernt nicht mehr als 400.000. Die Reserven, die man theoretisch auf 18 bis 20 Millionen schätzen darf, sind praktisch unbegrenzt.

Aber die Natur und die Menschen sind nur das Rohmaterial des Krieges. Das sogenannte Kriegs-„Potential“ hängt vor allem von der wirtschaftlichen Stärke des betreffenden Staates ab. Auf diesem Gebiet sind die Vorteile der Sowjetunion im Vergleich zum alten Russland gewaltig. Die Planwirtschaft hat bisher, wie bereits gesagt, die größten Vorzüge gerade vom militärischen Standpunkt gezeitigt. Die Industrialisierung der Randgebiete, besonders Sibiriens, gibt den ausgedehnten Steppen und Wäldern ganz neuen Wert. Die geringe Arbeitsproduktivität, die ungenügende Qualität der Produktion und die unzulänglichen Verkehrsmittel, all das wird durch die Flächenausdehnung. die Naturreichtümer und die hohe Bevölkerungszahl nur bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen. In Friedenszeiten kann die ökonomische Kraftprobe der feindlichen sozialen Systeme – lange, aber keinesfalls für immer – mit Hilfe politischer Maßnahmen, hauptsächlich des Außenhandelsmonopols, aufgeschoben werden. Während des Krieges geschieht sie unmittelbar auf den Schachtfeldern. Daher die Gefahr.

Wenn militärische Niederlagen an sich auch gewöhnlich große politische Veränderungen hervorrufen, bewirken sie jedoch bei weitem nicht immer eine Erschütterung der ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft. Eine Gesellschaftsordnung, die höheren Reichtum und höhere Kultur sichert, kann nicht durch Bajonette gestürzt werden. Im Gegenteil, die Sieger übernehmen Institutionen und Sitten der Besiegten, wenn ihnen diese in ihrer Entwicklung überlegen sind. Eigentumsformen können nur dann mit Waffengewalt gestürzt werden, wenn sie sich in scharfem Widerspruch zu den ökonomischen Grundlagen des Landes befinden. Eine Niederlage Deutschlands im Kriege gegen die Sowjetunion würde unweigerlich nicht nur den Zusammenbruch Hitlers, sondern auch des kapitalistischen Systems nach sich ziehen. Andererseits kann man kaum daran zweifeln, dass eine militärische Niederlage nicht nur der herrschenden Sowjetschicht. sondern auch den sozialen Grundlagen der UdSSR zum Verhängnis gereichen würde. Die Unsicherheit des heutigen Regimes in Deutschland ist bedingt dadurch, dass seine Produktivkräfte längst über die kapitalistischen Eigentumsformen hinausgewachsen sind. Und umgekehrt ist die Unsicherheit des Sowjetregimes dadurch hervorgerufen, dass seine Produktivkräfte den sozialistischen Eigentumsformen noch längst nicht gewachsen sind. Die sozialen Grundlagen der UdSSR sind durch eine militärische Niederlage aus demselben Grunde gefährdet, aus dem sie in Friedenszeiten der Bürokratie und des Außenhandelsmonopols bedürfen, d.h. wegen ihrer Schwäche.

Kann man jedoch erwarten, dass die Sowjetunion aus dem kommenden großen Krieg ohne Niederlage hervorgehen wird? Auf diese deutlich gestellte Frage wollen wir ebenso deutlich antworten: bliebe der Krieg nur ein Krieg, dann wäre die Niederlage der Sowjetunion unvermeidlich. Technisch, wirtschaftlich und militärisch ist der Imperialismus unvergleichlich stärker. Wenn die Revolution im Westen ihn nicht lähmt, wird er das aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Regime auslöschen.

Man mag antworten, „Imperialismus“ sei eine Abstraktion, da ihn selbst Gegensätze zerreißen. Vollkommen richtig: gäbe es diese Widersprüche nicht, die Sowjetunion wäre längst von der Bildfläche verschwunden. Auf diesen Gegensätzen ruhen im besonderen die diplomatischen und militärischen Abkommen der UdSSR. Es wäre jedoch ein verhängnisvoller Fehler. nicht die Grenze zu sehen, wo diese Gegensätze verstummen müssen. So wie der Kampf zwischen den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien, von den allerreaktionärsten bis zu den sozialdemokratischen, vor der unmittelbaren Gefahr der proletarischen Revolution aufhört, so werden auch die imperialistischen Widersacher stets ein Kompromiss finden, um den militärischen Sieg der Sowjetunion zu vereiteln.

Diplomatische Abmachungen sind, wie ein Kanzler [der deutsche Reichskanzler Bethmann-Hollweg 1914] nicht zu Unrecht sagte, nur „Fetzen Papier“. Nirgends steht geschrieben, ob sie auch nur den Kriegsausbruch erleben werden. Bei der unmittelbaren Gefahr einer sozialen Umwälzung in irgendeinem Teil Europas wird kein einziger Vertrag mit der UdSSR. standhalten. Genügen würde, dass die politische Krise in Spanien – von Frankreich schon gar nicht zu reden – in eine revolutionäre Phase tritt, damit alle bürgerlichen Regierungen unwiderstehlich gepackt werden von den von Lloyd George gepredigten Hoffnungen auf Hitler den Retter. Würde andererseits die unsichere Lage in Spanien, Frankreich, Belgien u.a. mit einem vollen Sieg der Reaktion enden, so bliebe von den Sowjetpakten ebenfalls keine Spur. Schließlich darf man bei der Variante, dass die „Fetzen Papier“ noch in der ersten Zeit der Kriegsoperationen in Kraft bleiben, nicht daran zweifeln, dass die Kräftegruppierung in der entscheidenden Phase des Krieges von Faktoren unermesslich größerer Bedeutung bestimmt werden, als es die Eide der Diplomaten, diesen Eidbrüchigen von Beruf, sind.

Die Lage würde sich natürlich gründlich ändern, wenn die bürgerlichen Verbündeten die materiellen Garantien bekämen, dass die Moskauer Regierung nicht nur militärisch, sondern auch klassenmäßig mit ihnen im selben Schützengraben steht. Die kapitalistischen „Friedensfreunde“ werden sich die Schwierigkeiten der zwischen zwei Feuer geratenen UdSSR zunutze machen und selbstverständlich alle Maßnahmen ergreifen um in das Außenhandelsmonopol und die Sowjeteigentumsgesetze eine Bresche zu schlagen. Die wachsende „Vaterlandsverteidigungs“bewegunq innerhalb der weißen russischen Emigration Frankreichs und der Tschechoslowakei fußt gänzlich auf solchen Berechnungen. Und nimmt man an, dass das Weltringen sich ausschließlich auf der Ebene des Krieges abspielt, so werden die Verbündeten ernsthafte Aussicht haben, ihr Ziel zu erreichen. Ohne Dazwischentreten der Revolution werden die sozialen Grundlagen der UdSSR nicht nur im Falle einer Niederlage, sondern auch eines Sieges Schiffbruch erleiden müssen.

Vor mehr als zwei Jahren zeichnete das programmatische Dokument „Die 4. Internationale und der Krieg“ diese Perspektive mit folgenden Worten: „Unter dem Einfluss des dringenden Bedürfnisses des Staates nach den allernotwendigsten Gegenständen werden die individualistischen Tendenzen der Bauernwirtschaft eine beträchtliche Stärkung erfahren und die Zentrifugalkräfte innerhalb der Kolchosen mit jedem Kriegsmonat wachsen... In der überhitzten Kriegsatmosphäre darf man gefasst sein auf... Heranziehung auswärtigen „verbündeten“ Kapitals, Breschen im Außenhandelsmonopol Abschwächung der Staatskontrolle über die Trusts, Verschärfung der Konkurrenz unter den Trusts, ihren Zusammenprall mit den Arbeitern usw. ... Mit anderen Worten: im Falle eines langen Krieges, bei Passivität des Weltproletariats würden die inneren sozialen Widersprüche der UdSSR zur bürgerlich-bonapartischen Konterrevolution nicht nur führen können, sondern müssen“. Die Ereignisse der letzten zwei Jahre verleihen dieser Voraussage doppelte Kraft.

Aus all dem vorher Gesagten ergeben sich jedoch keinesfalls sogenannte „pessimistische“ Schlussfolgerungen. Wollen wir weder vor dem riesigen materiellen Übergewicht der kapitalistischen Welt, noch vor dem unausbleiblichen Treubruch der imperialistischen „Verbündeten“ noch vor den inneren Widersprüchen des Sowjetregimes die Augen verschließen, so sind wir andererseits keineswegs geneigt, die Haltbarkeit des kapitalistischen Systems sowohl der feindlichen als auch der verbündeten Länder zu überschätzen. Lange bevor der Ermattungskrieg das ökonomische Kräfteverhältnis bis auf den Grund wird ausmessen können, wird er die relative Stabilität ihrer Regime auf die Probe gestellt haben. Alle ernsten Theoretiker des zukünftigen Völkermordens rechnen in seinem Gefolge mit der Wahrscheinlichkeit, ja Unvermeidlichkeit der Revolution. Die in gewissen Kreisen immer wieder auftauchende Idee kleiner „Berufs“-Armeen, kaum realer als die Idee eines Heldenzweikampfes nach dem Vorbild Goliaths und Davids, enthüllt durch ihre Fantasterei die reale Angst vor dem bewaffneten Volke. Hitler versäumt keine Gelegenheit, seine „Friedensliebe“ zu bekräftigen unter Berufung auf die Unvermeidlichkeit eines neuen bolschewistischen Ansturms im Falle eines Krieges im Westen. Die Kraft, die einstweilen die Kriegsfurie noch bändigt, ist nicht der Völkerbund, sind nicht die Garantieverträge und pazifistischen Volksbefragungen, sondern einzig und allein die heilsame Angst der Herrschenden vor der Revolution.

Gesellschaftliche Regime gilt es wie alle anderen Erscheinungen relativ einzuschätzen. Trotz all seinen Widersprüchen hat das Sowjetregime hinsichtlich der Stabilität immer noch große Vorzüge im Vergleich zu den Regimes seiner wahrscheinlichen Gegner. Schon die Möglichkeit der Naziherrschaft über das deutsche Volk ist eine Folge der unerträglichen Spannung der sozialen Gegensätze in Deutschland. Sie sind nicht beseitigt und nicht einmal gemildert, sondern nur mit dem Bleideckel des Faschismus zugedeckt. Ein Krieg wird sie wieder hervorbrechen lassen. Hitler hat viel weniger Aussichten, einen Krieg siegreich zu beenden als Wilhelm II. Nur eine rechtzeitige Revolution könnte Deutschland vor dem Kriege und so vor einer neuen Niederlage bewahren.

Die Weltpresse stellt das blutige Abrechnen der japanischen Offiziere mit den Ministern als unvorsichtige Äußerungen eines allzu glühenden Patriotismus dar. In Wirklichkeit gehören diese Handlungen, trotz der Unterschiede in der Ideologie, zur selben historischen Kategorie wie die Bomben der russischen Nihilisten gegen die Zarenbürokratie. Japans Bevölkerung erstickt unter dem vereinten Druck des asiatischen Agrarjochs und ultramoderner kapitalistischer Ausbeutung. Korea, Mandschukuo, China werden sich beim ersten Nachlassen der Militärschraube gegen die japanische Tyrannei erheben. Der Krieg wird das Imperium des Mikado in die gewaltigste aller sozialen Katastrophen stürzen.

Nicht viel besser ist die Lage Polens. Pilsudskis Regime, das unfruchtbarste aller Regime, erwies sich als außerstande, die Hörigkeit des Bauern auch nur zu mildern. Die Westukraine (Galizien) lebt unter schwerer nationaler Bedrückung. Die Arbeiter erschüttern das Land durch ununterbrochene Streiks und Empörungen. Durch ihre Versuche, sich durch ein Bündnis mit Frankreich und durch Freundschaft mit Deutschland Sicherheit zu verschaffen, und mit ihren Manövern vermag die polnische Bourgeoisie nur den Krieg zu beschleunigen, um dann um so sicherer darin umzukommen.

Die Gefahr des Krieges und einer Niederlage für die UdSSR. ist Realität. Aber auch die Revolution ist Realität. Wenn die Revolution den Krieg nicht verhindern wird, so wird der Krieg der Revolution helfen. Eine zweite Geburt ist meistens leichter als die erste. im neuen Kriege wird man nicht zweieinhalb Jahre auf den ersten Aufstand warten müssen. Einmal begonnen, wird die Revolution dann nicht mehr auf halbem Wege stehen bleiben. Das Schicksal der UdSSR wird letzten Endes nicht auf der Generalstabskarte entschieden, sonderndem auf der Karte der Klassenkämpfe. Nur das europäische Proletariat, das seiner Bourgeoisie, auch im Lager der „Friedensfreunde“ unversöhnlich trutzt wird die UdSSR. vor einer Zerschmetterung oder einem Dolchstoß in den Rücken seitens ihrer „Verbündeten“ bewahren können. Ja, sogar eine militärische Niederlage der UdSSR. wäre im Falle des Sieges des Proletariats in anderen Ländern nur eine kurze Episode. Umgekehrt aber wird kein militärischer Sieg das Erbe der Oktoberrevolution retten können, wenn in der übrigen Welt der Imperialismus sich behauptet.

Die Nachbeter der Sowjetbürokratie werden sagen, wir „unterschätzen“ die inneren Kräfte der UdSSR., die Rote Armee usw., wie sie auch sagten, wir „leugneten“ die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande. Diese Argumente stehen auf einem so tiefen Niveau, dass sie nicht einmal einen fruchtbaren Meinungsaustausch zulassen. Ohne Rote Armee würde die Sowjetunion ähnlich wie China erdrückt und zerstückelt werden. Nur ihr hartnäckiger, heroischer Widerstand gegen die künftigen kapitalistischen Feinde kann günstige Voraussetzungen für die Entwicklung des Klassenkampfes im Lager des Imperialismus schaffen. Die Rote Armee ist somit ein Faktor von größter Bedeutung. Das heißt aber nicht, dass sie der einzige historische Faktor ist. Genug schon, dass sie der Revolution einen mächtigen Antrieb geben kann. Aber nur die Revolution kann die Hauptarbeit leisten, der die Rote Armee allein nicht gewachsen ist.

Niemand verlangt von der Sowjetregierung internationale Abenteuer, Unbesonnenheiten, Versuche, den Gang der Weltereignisse gewaltsam zu forcieren. Im Gegenteil, sofern solche Versuche von der Bürokratie in der Vergangenheit gemacht wurden (Bulgarien, Estland, Kanton u.a.) haben sie nur der Reaktion in die Hände gespielt und sind seinerzeit von der linken Opposition verurteilt worden. Es handelt sich um die allgemeine Richtung der Politik des Sowjetstaates. Die Widersprüche zwischen seiner Außenpolitik und den Interessen des Weltproletariats sowie der Kolonialvölker kommen am verheerendsten zum Ausdruck in der Unterwerfung der Komintern unter die konservative Bürokratie mit ihrer neuen Religion der Regungslosigkeit.

Nicht unter dem Banner des Status quo werden sich die europäischen Arbeiter und Kolonialvölker gegen den Imperialismus und den neuen Krieg erheben können, der ausbrechen und den Status quo mit fast derselben Unvermeidlichkeit umstürzen muss, mit der ein ausgereifter Embryo den Status quo der Schwangerschaft durchbricht. Die Werktätigen haben nicht das geringste Interesse, die heutigen Grenzen, insbesondere in Europa zu verteidigen, weder unter dem Kommando ihrer Bourgeoisie, noch erst recht im revolutionären Aufstand gegen sie. Europas Verfall ist gerade dadurch verursacht, dass es ökonomisch in beinahe vierzig scheinbare Nationalstaaten zerfällt, die mit ihren Zöllen, Pässen, Währungen und ungeheuerlichen Armeen zum Schutz des nationalen Partikularismus das größte Hemmnis für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Menschheit geworden sind.

Aufgabe des europäischen Proletariats ist nicht, die Grenzen zu verewigen, sondern im Gegenteil, sie revolutionär zu beseitigen. Nicht Status quo, sondern Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa!

 


Zuletzt aktualisiert am 5.1.2004