Leo Trotzki

 

Neunzig Jahre Kommunistisches Manifest

(30. Oktober 1937)


Vorwort zur ersten Ausgabe des Manifest der kommunistischen Partei in Afrikaans.
Transkription: Heinz Hackelberg.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Man glaubt kaum, daß uns nur zehn Jahre trennen vom hundertsten Jahrestag des Manifest der kommunistischen Partei! Dieses Manifest, das genialste von allen der Weltliteratur, überrascht noch heute durch seine Frische. Die wichtigsten Abschnitte scheinen gestern geschrieben worden zu sein. In der Tat konnten die jungen Autoren (Marx war 29 Jahre alt, Engels 27) in Richtung Zukunft schauen wie niemand vor, und vielleicht auch nicht nach ihnen.

Schon im Vorwort zur Ausgabe von 1872 haben Marx und Engels darauf hingewiesen, daß sie, obwohl einige nebensächliche Abschnitte des Manifest veraltet waren, sich nicht berechtigt hielten, den ursprünglichen Text zu verändern, da das Manifest im Laufe der vergangenen 25 Jahre ein geschichtliches Dokument geworden war. Seitdem sind 65 Jahre vergangen. Einige isolierte Abschnitte des Manifest sind noch tiefer in die Vergangenheit gesunken. Wir werden uns bemühen, in diesem Vorwort in zusammengefaßter Form zugleich die Ideen des Manifest, die bis zum heutigen Tag ihre ganze Kraft bewahrt haben, und diejenigen, welche heute ernsthafter Abänderungen oder Ergänzungen bedürfen, vorzustellen.

1. Die materialistische Geschichtsauffassung, von Marx erst kurze Zeit vor der Veröffentlichung des Manifest entdeckt und dort mit vollendeter Meisterschaft angewandt, hat ganz und gar der Erprobung durch die Ereignisse und den Hieben der feindlichen Kritik standgehalten: Sie stellt heute eines der wertvollsten Instrumente menschlichen Denkens dar. Alle anderen Interpretationen des geschichtlichen Prozesses haben jeden wissenschaftlichen Wert verloren. Man kann mit Bestimmtheit sagen, daß es heutzutage unmöglich ist, nicht nur ein revolutionärer Aktivist, sondern auch einfach nur ein politisch gebildeter Mensch zu sein, ohne sich die materialistische Auffassung der Geschichte angeeignet zu haben.

2. Das erste Kapitel des Manifest beginnt mit folgendem Satz: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ Diese These, die wichtigste Schlußfolgerung aus der materialistischen Geschichtsauffassung, wurde selbst schnell ein Gegenstand des Klassenkampfs. Die Theorie, die das „allgemeine Wohlbefinden“, die „nationale Einheit“ und die „ewigen Wahrheiten der Moral“ durch den Kampf materieller Interessen ersetzte, die als bewegende Kraft betrachtet werden, hat besonders erbitterte Angriffe erfahren von Seiten der heuchlerischen Reaktionäre, der liberalen Doktrinäre und der idealistischen Demokraten. Zu ihnen gesellten sich später, diesmal innerhalb der Arbeiterbewegung selbst, die sogenannten Revisionisten, das heißt Anhänger der Revision des Marxismus im Geiste der Kollaboration und Aussöhnung zwischen den Klassen. Schließlich haben in unserer Epoche die verachtungswürdigen Epigonen der kommunistischen Internationale (die „Stalinisten“) den selben Weg eingeschlagen: Die Politik der sogenannten „Volksfronten“ folgt ganz und gar aus der Verneinung des Klassenkampfs. Dabei ist es die Epoche des Imperialismus, die, indem sie alle gesellschaftlichen Widersprüche auf die Spitze treibt, den theoretischen Triumph des kommunistischen Manifests darstellt.

3. Die Anatomie des Kapitalismus als bestimmtes Stadium der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft ist von Marx in seinem Kapital in vollendeter Form erklärt worden (1867). Doch schon im kommunistischen Manifest wurden die Grundlinien seiner zukünftigen Analyse mit sicherem Meißel ausgearbeitet: die Entlohnung der Arbeit in der für die Produktion unentbehrlichen Höhe; die Aneignung des Mehrwerts: die Konkurrenz als Grundgesetz der gesellschaftlichen Beziehungen; der Zusammenbruch der Mittelklassen, das heißt des städtischen Kleinbürgertums und der Bauernschaft; die Konzentration der Reichtümer in den Händen einer immer geringeren Zahl Besitzender auf der eine Seite und das zahlenmäßige Anwachsen des Proletariats auf der entgegengesetzten; die Vorbereitung der materiellen und politischen Bedingungen für die sozialistische Ordnung.

4. Die These des Manifest über die Tendenz des Kapitalismus, den Lebensstandard der Arbeiter abzusenken und sie sogar zu verarmen, ist unter heftiges Feuer geraten. Die Priester, Professoren, Minister, Journalisten, sozialdemokratischen Theoretiker und Gewerkschaftsführer haben sich gegen die Theorie der fortschreitenden „Verarmung“ erhoben. Sie haben beständig das steigende Wohlergehen der Arbeiter entdeckt, indem sie die Arbeiteraristokratie für das Proletariat ausgegeben haben, oder indem sie eine vorübergehende Tendenz für eine allgemeine gehalten haben. Zu gleicher Zeit hat selbst die Entwicklung des mächtigsten Kapitalismus, dem nordamerikanischen, Millionen von Arbeitern in Arme verwandelt, die auf Kosten von staatlichen, kommunalen oder privaten Almosen ernährt werden.

5. Im Gegensatz zum Manifest, das die Handels- und Industriekrisen als Reihe wachsender Katastrophen beschrieb, behaupteten die Revisionisten, daß die nationale und internationale Entwicklung der Trusts eine Kontrolle des Markts garantiert und schrittweise zur Beherrschung der Krisen führt. Es stimmt, daß sich das Ende des letzten und der Anfang dieses Jahrhunderts durch eine so ungestüme Entwicklung ausgezeichnet haben, daß die Krisen nur „überraschende“ Flauten zu sein schienen. Doch diese Epoche ist unwiederbringlich abgelaufen. In letzter Analyse befand sich auch in dieser Frage die Wahrheit auf Seiten des Manifest.

6. „Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.“ In dieser gerafften Formulierung, die den sozialdemokratischen Führern ein journalistisches Paradox schien, ist in Wirklichkeit die einzige wissenschaftliche Theorie des Staates enthalten. Die von der Bourgeoisie geschaffene Demokratie ist keine leere Hülle, die man, wie es sowohl Bernstein als auch Kautsky dachten, friedlich mit dem Klasseninhalt füllen kann, den man möchte. Die bürgerliche Demokratie kann nur der Bourgeoisie dienen. Die „Volksfront“-Regierung, ob von Blum oder Chautemps, [Largo] Caballero oder Negrin [1] geführt, ist „nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.“ Wenn diese „Verwaltung“ sich schlecht aus der Affäre zieht, jagt die Bourgeoisie sie mit einem Fußtritt davon.

7. „Jeder Klassenkampf aber ist ein politischer Kampf.“ „Diese Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei ...“ Dem Verständnis dieser historischen Gesetze haben sich Syndikalisten einerseits, Anarcho-Syndikalisten andererseits lange entzogen – und versuchen noch heute sich zu entziehen. Der „reine“ Syndikalismus erhält heute einen fürchterlichen Schlag in seinem hauptsächlichen Zufluchtsort, den Vereinigten Staaten. Der Anarcho-Syndikalismus hat in seiner letzten Bastion, in Spanien, eine nicht wieder gutzumachende Niederlage erfahren. Auch in dieser Frage hatte das Manifest recht.

8. Das Proletariat kann nicht im Rahmen der von der Bourgeoisie erlassenen Gesetze die Macht erringen. „Die Kommunisten ... erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.“ Der Reformismus hat versucht diese These des Manifest mit der Unreife der Bewegung zu jener Zeit und der ungenügenden Entwicklung der Demokratie zu erklären. Das Schicksal der deutschen, italienischen und einer langen Reihe weiterer „Demokratien“ beweist, daß wenn eine Sache unreif war, es sich um die Ideen der Reformisten selbst handelte.

9. Um die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft vorzunehmen, muß die Arbeiterklasse in ihren Händen eine Macht konzentrieren, die fähig ist, alle politischen Hindernisse auf dem Weg zur neuen Ordnung zu brechen. Das „als herrschende Klasse organisierte Proletariat“ ist die Diktatur. Zugleich ist es die einzige proletarische Demokratie. Ihr Umfang und ihre Reichweite hängen von den konkreten historischen Bedingungen ab. Je mehr Staaten in die sozialistische Revolution eintreten, desto freier und biegsamer werden die Formen der Diktatur sein und um so breiter und weitreichender die Arbeiterdemokratie.

10. Die internationale Entwicklung des Kapitalismus bringt den internationalen Charakter der proletarischen Revolution mit sich. „Vereinigte Aktion, wenigstens der zivilisierten Länder, ist eine der ersten Bedingungen seiner [des Proletariats] Befreiung.“ Die spätere Entwicklung des Kapitalismus hat die verschiedenen Teile unseres Planeten, „zivilisierte“ und „unzivilisierte“, so eng aneinander gebunden, daß das Problem der sozialistischen Revolution vollständig und endgültig einen weltweiten Charakter angenommen hat. Die sowjetische Bürokratie hat versucht, das Manifest in dieser grundsätzlichen Frage zunichte zu machen. Die bonapartistische Entartung des Sowjetstaates hat die Lüge der Theorie vom Sozialismus in einem Land mörderisch veranschaulicht.

11. „Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter.“ Anders gesagt, der Staat stirbt ab. Es bleibt die Gesellschaft, von ihrer Zwangsjacke befreit. Das ist der Sozialismus. Im Umkehrschluß beweist das ungeheuerliche Wachstum des staatlichen Zwangs in der UdSSR, daß die Gesellschaft sich vom Sozialismus entfernt.

12. „Die Arbeiter haben kein Vaterland.“ Dieser Satz des Manifest wurde oft von den Spießern als Scherzwort aufgefaßt, gut für die Agitation. In Wirklichkeit gab er dem Proletariat die einzig vernünftige Richtlinie für das Problem des sozialistischen „Vaterlandes“. Die Mißachtung dieser Richtlinie durch die II. Internationale hatte nicht nur die Zerstörung Europas während vier Jahren zur Folge, sondern auch die heutige weltweite kulturelle Stagnation. Vor dem Heranrücken des neuen Krieges bleibt das Manifest auch heute noch der sicherste Berater in der Frage des kapitalistischen „Vaterlandes“.


Wir sehen somit, daß das kleine Werk der beiden jungen Autoren weiterhin unersetzliche Hinweise liefert in den grundsätzlichen und brennendsten Fragen des Befreiungskampfes. Welches andere Buch könnte sich auch nur von weitem mit dem kommunistischen Manifest messen ? Das bedeutet allerdings keineswegs, daß nach neunzig Jahren beispielloser Entwicklung der Produktivkräfte und grandioser gesellschaftlicher Kämpfe das Manifest nicht einiger Korrekturen und Ergänzungen bedürfte. Das revolutionäre Denken hat nichts gemein mit dem Götzendienst. Die Programme und die Vorhersagen werden geprüft und korrigiert unter dem Licht der Erfahrung, die für das menschliche Denken die höchste Instanz ist. Korrekturen und Ergänzungen, das bezeugt die historische Erfahrung selbst, können nur erfolgreich angebracht werden, wenn man von der Methode ausgeht, die dem Manifest zugrunde liegt. Wir werden versuchen, das zu zeigen, indem wir die wichtigsten Beispiele zu Hilfe nehmen.

1. Marx hat gelehrt, daß keine Gesellschaftsordnung von der Bühne abtritt, bevor sie ihre schöpferischen Möglichkeiten. ausgeschöpft hat. Das Manifest hat den Kapitalismus gebrandmarkt, weil er die Entwicklung der Produktivkräfte hemmt. Zu seiner Zeit jedoch, wie auch im Laufe der folgenden Jahrzehnte, war diese Hemmung nur relativ: Wenn die Wirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf sozialistischen Grundlagen hätte organisiert werden können, so wäre der Rhythmus ihres Wachstums unvergleichlich schneller gewesen. Diese These, theoretisch unbestreitbar, ändert nichts daran, daß die Produktivkräfte bis zum Weltkrieg im Weltmaßstab ununterbrochen weiter gewachsen sind. Erst im Laufe der letzten zwanzig Jahre ist trotz der modernsten Entdeckungen von Wissenschaft und Technik die Periode der unmittelbaren Stagnation und sogar des Niedergangs der Weltwirtschaft angebrochen. Die. Menschheit beginnt von dem angehäuften Kapital zu zehren, und der nächste Krieg droht auf lange Zeit selbst die Grundlagen der Zivilisation zu zerstören. Die Autoren des Manifest rechneten damit, daß das Kapital zerbrechen würde, lange bevor es sich von einem relativ reaktionären Regime in ein absolut reaktionäres Regime verwandelt. Diese Verwandlung hat erst vor den Augen der heutigen Generation Gestalt angenommen und sie hat unsere Zeit zu der der Kriege, der Revolutionen und des Faschismus gemacht.

2. Der Fehler von Marx-Engels in Bezug auf die geschichtlichen Zeiträume entsprang einerseits der Unterschätzung der weiteren dem Kapitalismus innewohnenden Möglichkeiten, andererseits der Überschätzung der revolutionären Reife des Proletariats. Die Revolution von 1848 hat sich nicht in eine sozialistische verwandelt, wie es das Manifest erwartet hatte, hat aber Deutschland in der Folge die Möglichkeit eines fabelhaften Aufblühens eröffnet. Die Commune von Paris hat bewiesen, daß das Proletariat der Bourgeoisie die Macht nicht entreißen kann, ohne eine erprobte revolutionäre Partei an seiner Spitze zu haben. Nun brachte die folgende lange Periode des kapitalistischen Aufschwungs allerdings nicht die Erziehung einer revolutionären Avantgarde, sondern im Gegenteil die bürgerliche Entartung der Arbeiterbürokratie, die ihrerseits das Haupthindernis der proletarischen Revolution wurde. Diese „Dialektik“ konnten die Autoren des Manifest selbst nicht vorhersehen.

3. Der Kapitalismus ist für das Manifest die Herrschaft der freien Konkurrenz. Wenn das Manifest von der zunehmenden Konzentration des Kapitals spricht, so zieht es daraus noch nicht die notwendige Schlußfolgerung in Bezug auf das Monopol, das zu unserer Zeit die vorherrschende Form des Kapitals, und die wichtigste Prämisse der sozialistischen Wirtschaft geworden ist. Erst später hat Marx in seinem Kapital die Tendenz der freien Konkurrenz, sich in Monopol zu verwandeln, festgestellt. Die wissenschaftliche Charakterisierung des Monopolkapitalismus wurde von Lenin in seinem. Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus gegeben.

4. Indem die Autoren des Manifest sich hauptsächlich auf das Beispiel der englischen „industriellen Revolution“ bezogen, machten sie sich eine zu geradlinige Vorstellung von dem Auflösungsprozeß der Mittelklassen in der Form einer völligen Proletarisierung des Handwerks, des Kleinhandels und der Bauernschaft. In Wirklichkeit sind die elementaren Kräfte der Konkurrenz weit davon entfernt, dieses zugleich fortschrittliche und barbarische Werk vollendet zu haben. Das Kapital hat das Kleinbürgertum schneller ruiniert, als proletarisiert. Außerdem strebt die bewußte Politik des bürgerlichen Staates seit langem danach, die kleinbürgerlichen Schichten künstlich zu erhalten. Indem die Entwicklung der Technik und die Organisierung der Großproduktion eine organische Arbeitslosigkeit erzeugen, bremsen sie im Gegensatz die Proletarisierung des Kleinbürgertums. Gleichzeitig hat die Entwicklung des Kapitalismus das Heer von Technikern, Verwaltern, Handelsangestellten, mit einem Wort, von allem, was man die „neue Mittelklasse“ nennt, außerordentlich vermehrt. Das Ergebnis hiervon ist; dass die Mittelklassen, deren Verschwinden das Manifest so kategorisch vorhersieht, selbst in einem so hochindustrialisierten Land wie Deutschland ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Die künstliche Erhaltung der seit langem überlebten kleinbürgerlichen Schichte mildert jedoch in keiner Weise die gesellschaftlichen Widersprüche. Im Gegenteil, sie werden besonders krankhaft. Zusammen mit dem permanenten Arbeitslosenheer ist sie der unheilbringendste Ausdruck der Fäulnis des Kapitalismus.

5. Das Manifest, für eine revolutionäre Epoche entworfen, enthält (am Ende des zweiten Kapitels) zehn Forderungen. die dem Zeitraum des unmittelbaren Überganges vom Kapitalismus zum Sozialismus entsprechen. In ihrem Vorwort von 1872 haben Marx und Engels darauf hingewiesen, daß diese Forderungen zum Teil veraltet seien und auf jeden Fall nur noch zweitrangige Bedeutung hätten. Die Reformisten haben sich dieser Einschätzung bemächtigt; sie haben sie in dem Sinne interpretiert, daß revolutionäre Übergangsparolen endgültig dem „Minimalprogramm“ der Sozialdemokratie weichen, das, wie man weiß, den Rahmen der bürgerlichen Demokratie nicht verläßt.

In Wirklichkeit haben die Autoren des Manifest sehr genau die hauptsächliche Korrektur angegeben, die an ihrem Übergangsprogramm vorzunehmen war, nämlich: „daß die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann.“ Anders gesagt. die Korrektur zielte auf den Fetischismus der bürgerlichen Demokratie. Dem kapitalistischen Staat stellte Marx später den Staat vom Typ der Commune entgegen. Dieser „Typ“ hat in der Folge die sehr viel bestimmtere Form der Sowjets angenommen. Heutzutage kann es kein revolutionäres Programm geben ohne Sowjets und ohne Arbeiterkontrolle. Was alles andere angeht, die zehn Forderungen des Manifest, die zur Zeit der friedlichen parlamentarischen Tätigkeit „archaisch“ erschienen, sie haben bis heute ihre ganze Bedeutung offenbart. Was hingegen hoffnungslos veraltet ist, ist das sozialdemokratische „Minimalprogramm“.

6. Um die Hoffnung zu begründen. daß „die deutsche bürgerliche Revolution ... nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann“, beruft sich das Manifest auf die im Vergleich zu England im 17. und Frankreich im 18. Jahrhundert sehr viel fortgeschritte neren allgemeinen Bedingungen der europäischen Zivilisation und auf die deutlich stärkere Entwicklung des Proletariats. Der Fehler dieser Prognose ist nicht nur ein Fehler in Bezug auf die Frist. Einige Monate später hat die Revolution von 1848 genau gezeigt, daß in der Situation einer fortgeschritteneren Entwicklung keine der bürgerlichen Klassen fähig ist, die Revolution bis zu Ende zu führen: Die große und mittlere Bourgeoisie ist zu eng mit den Großgrundbesitzern verbunden und zu sehr durch die Angst vor den Massen zusammengeschweißt; das Kleinbürgertum ist zu verstreut und über seine Führer zu abhängig von der Großbourgeoisie. Wie die spätere Entwicklung in Europa und Asien gezeigt hat, kann die bürgerliche Revolution, für sich genommen, gar nicht mehr verwirklicht werden. Die Reinigung der Gesellschaft von feudalen Überbleibseln ist nur möglich, wenn das Proletariat vom Einfluß der bürgerlichen Parteien befreit, fähig ist, sich an die Spitze der Bauernschaft zu stellen, und seine revolutionäre Diktatur aufzubauen. Dadurch verknüpft sich die bürgerliche Revolution mit der ersten Etappe der sozialistischen Revolution, um sich später darin aufzulösen. Die nationale Revolution wird so ein Kettenglied der internationalen Revolution. Die Umwandlung der ökonomischen Grundlagen und aller gesellschaftlichen Verhältnisse bekommt einen permanenten Charakter.

Das klare Verständnis der organischen Verbindung zwischen der demokratischen Revolution und der Diktatur des Proletariats und infolgedessen mit der internationalen sozialistischen Revolution ist für die revolutionären Parteien der rückständigen Länder Asiens, Lateinamerikas, Afrikas eine Frage auf Leben und Tod.

7. Während das Manifest zeigt, wie der Kapitalismus die zurückgebliebenen und barbarischen Länder in seinen Strudel mitreißt, erwähnt es nicht den Kampf der kolonialen und halbkolonialen Völker für ihre Unabhängigkeit. Indem Marx und Engels dachten, die sozialistische Revolution. „wenigstens der zivilisierten Länder“, sei eine Sache der nächsten Jahre, war die Kolonialfrage in ihren Augen gelöst, nicht als Resultat einer autonomen Bewegung der unterdrückten Völker, sondern als Resultat des Sieges des Proletariats in den Mutterländern des Kapitalismus. Deshalb werden die Fragen der revolutionären Strategie in den kolonialen und halbkolonialen Ländern im Manifest nicht einmal gestreift. Aber diese Fragen verlangen besondere Lösungen. So ist zum Beispiel sehr klar, daß wenn auch das „nationale Vaterland“ in den entwickelten kapitalistischen Ländern zum schlimmsten geschichtlichen Hemmnis geworden ist, es in den zurückgebliebenen Ländern, die gezwungen sind für ihre Existenz und ihre Unabhängigkeit zu kämpfen, ein relativ fortschrittlicher Faktor bleibt. „Die Kommunisten“, erklärt das Manifest, „unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände.“ Die Bewegung der farbigen Rassen gegen die imperialistischen Unterdrücker ist eine der mächtigsten und wichtigsten Bewegungen gegen die bestehenden Zustände und deshalb braucht sie die vollständige Unterstützung, ohne Vorbehalte, des Proletariats weißer Rasse. Das Verdienst, die revo-lutionäre Strategie der unterdrückten Völker entwickelt zu haben, kommt vor allem Lenin zu.

8. Der am meisten veraltete Teil des Manifest – nicht was die Methode, aber was den Gegenstand betrifft – ist die Kritik der „sozialistischen“ Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Festlegung der Position der Kommunisten den verschiedenen Oppositionsparteien gegenüber. Die im Manifest aufgezählten Tendenzen und Parteien wurden so gründlich von der Revolution von 1848 oder von der darauf folgenden Konterrevolution hinweggefegt, daß die Geschichte sie nicht einmal mehr erwähnt. Dennoch ist auch in diesem Teil uns das Manifest heute vielleicht näher als der vorigen Generation. Zur Blütezeit der II. Internationale, als der Marxismus ohne Anfechtungen zu herrschen schien, konnten die Ideen des Sozialismus vor Marx als endgültig überholt angesehen werden.

Das ist heute nicht mehr der Fall. Die Dekadenz der Sozialdemokratie und der Kommunistischen Internationale ruft bei jedem Schritt ungeheuerliche ideologische Rückfälle hervor. Das senile Denken fällt sozusagen in die Kindheit zurück. Auf der Suche nach Heilsformeln stoßen die Propheten der Verfallszeit wieder auf die schon längst vom wissenschaftlichen Sozialismus begrabenen Doktrinen. In Bezug auf die Frage der Oppositionsparteien haben die vergangenen Jahrzehnte die tiefsten Veränderungen mit sich gebracht: die alten Parteien sind nicht nur seit langem von neuen abgelöst worden, sondern der Charakter selbst der Parteien und ihrer wechselseitigen Beziehungen hat sich unter den Bedingungen der imperialistischen Epoche grundlegend verändert. Das Manifest muß also vervollständigt werden durch die wichtigsten Dokumente der vier ersten Kongresse der Kommunistischen Internationale, durch die grundlegende Literatur des Bolschewismus und die Entschlüsse der Konferenzen der IV. Internationale.

Wir haben oben daran erinnert, daß für Marx keine Gesellschaftsordnung von der Bühne abtritt, bevor sie ihre Möglichkeiten ausgeschöpft hat. Dennoch überläßt selbst die überlebte Gesellschaftsordnung ihren Platz nicht widerstandslos einer neuen. Die Aufeinanderfolge von gesellschaftlichen Systemen setzt den schärfsten Klassenkampf, das heißt die Revolution voraus. Wenn das Proletariat sich aus dem einen oder anderen Grund als unfähig erweist, die sich überlebende bürgerliche Ordnung umzustürzen, so bleibt dem Finanzkapital in seinem Kampf für die Aufrechterhaltung seiner erschütterten Herrschaft nichts anderes, als das von ihm zu Verzweiflung und Demoralisierung gebrachte Kleinbürgertum in ein Pogromheer des Faschismus zu verwandeln. Die bürgerliche Degenerierung der Sozialdemokratie und die faschistische Degenerierung des Kleinbürgertums sind verschlungen wie Ursache und Wirkung.

Heutzutage betreibt die III. Internationale mit noch ungebremsterer Zügellosigkeit ihr Werk der Täuschung und Demoralisierung der Arbeiter. Indem die skrupellosen Söldner Moskaus die Avantgarde des spanischen Proletariats schlagen, bereiten sie nicht nur dem Faschismus den Weg, sondern erledigen auch ein gut Teil seiner Arbeit. Die lange Krise der internationalen Revolution, die mehr und mehr zur Krise der menschlichen Kultur wird, ist letztlich auf eine Krise der revolutionären Führung zurückzuführen.

Die IV. Internationale, Erbin der großen Tradition, deren kostbarstes Kettenglied das Manifest der kommunistischen Partei ist, bildet neue Kader heran, um die alten Aufgaben zu lösen. Die Theorie ist die verallgemeinerte Wirklichkeit. Der leidenschaftliche Wille, die Struktur der gesellschaftlichen Wirklichkeit umzubilden, drückt sich in einer ehrlichen Haltung gegenüber der revolutionären Theorie aus. Die Tatsache, daß unsere Genossen im Süden des schwarzen Kontinents zum ersten Mal das Manifest in die Sprache der afrikaansen Buren übersetzt haben, ist eine glänzende Bestätigung dafür, daß das marxistische Denken heutzutage nur unter der Fahne der IV. Internationale lebendig ist. Ihr gehört die Zukunft. Zum hundertsten Jahrestag des kommunistischen Manifest wird die IV. Internationale die bestimmende revolutionäre Kraft auf unserem Planeten sein.


Anmerkung

1. Leon Blum (1872–1950): Führer der sozialistischen Partei, wurde Regierungschef in Frankreich nach dem Sieg der Volksfront. Camille Chautemps (1885-1963): Radikal-Sozialist und hoher Würdenträger der Freimaurerei, Minister und Regierungschef, hatte Blum als Regierungschef abgelöst, sich auf die Volksfront stützend. Francisco Largo Caballero (1869-1946): Führer der spanischen Sozialisten, übernahm im September 1936 den Vorsitz einer die Volksfrontkräfte vereinigenden Regierung. Juan Negrin Lopez (1889-1956): Finanzminister unter Largo Caballero, wurde von den Russen für dessen Nachfolge vorgeschlagen.

 


Zuletzt aktualiziert am 9. Juni 2108