Leo Trotzki

 

Gegen den Strom kämpfend

(April 1939)


Übersetzt aus The Fourth International [New York], Bd. 2, Nr. 4, Mai 1941, S. 125–137.
Übersetzer: Heinz Hackelberg.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.



Anmerkung

Dies ist eine unkorrigierte Nachschrift einer Diskussion von April 1939 zwischen Trotzki und einem amerikanischen Genossen, der eine Menge Fragen bezüglich der Entwicklung der IV. Internationale in Frankreich, Spanien, Großbritannien und den Vereinigten Staaten aufgeworfen hatte. In seiner Antwort skizzierte, Trotzki die Hauptgründe für die Isolation und den langsamen Fortschritt der IV. Internationale in den ersten Stadien ihrer Entwicklung und zeigte, wie eine neue Wendung der Weltlage, wie der gegenwärtige Krieg, unvermeidlich zu einem radikalen Umschwung im Entwicklungstempo, der sozialen Zusammensetzung und der Verbindung der IV. Internationale zu den Massenführen werde.)



Trotzki: Ja, die Frage ist, warum wir nicht in Übereinstimmung mit dem Wert unserer Konzeptionen, die nicht so bedeutungslos sind, wie manche Freunde glauben, Fortschritte machen. Wir machen politisch keine Fortschritte. Ja, diese Tatsache ist Ausdruck des allgemeinen Niedergangs der Arbeiterbewegung in den letzten fünfzehn Jahren. Dies ist der allgemeinere Grund. Wenn die revolutionäre Bewegung im Allgemeinen zurückgeht, wenn eine Niederlage der anderen folgt, wenn der Faschismus sich über die Welt ausbreitet, wenn der offizielle „Marxismus“ die mächtigste Organisation zum Betrug der Arbeiter ist, usw., dann ergibt sich unvermeidlich die Lage, daß die revolutionären Elemente gegen den allgemeinen geschichtlichen Strom arbeiten müssen, selbst wenn ihre Ideen, unsere Erklärungen so exakt und klug sind, wie man es nur wünschen kann.

Aber die Massen werden nicht durch theoretische Prognosen erzogen, vielmehr durch die allgemeinen Erfahrungen ihres Lebens. Das ist die umfassendste Erklärung – die ganze Situation ist gegen uns. Es muß ein Umschwung in der Erkenntnis der Klasse, in den Empfindungen und Gefühlen der Massen eintreten; eine Wende, die uns die Möglichkeit eines großen politischen Erfolges eröffnen wird.

Ich erinnere mich an einige Diskussionen 1927 in Moskau, nachdem Tschiang Kai-Schek die chinesischen Arbeiter zum Schweigen gebracht hatte. Zehn Tage vorher sagten wir das voraus, und Stalin widersetzte sich uns mit dem Argument, daß Borodin wachsam sei, daß Tschiang Kai-Schek nicht die Möglichkeit habe, uns zu betrügen usw.. Ich glaube, acht oder zehn Tage später ereignete sich die Tragödie, und unsere Genossen drückten ihren Optimismus aus, weil unsere Analyse so klar sei, daß jeder es erkennen würde, und wir sicher sein könnten, die Partei zu gewinnen. Ich antwortete, daß das Abwürgen der chinesischen (proletarischen) Revolution tausendmal wichtiger für die Massen ist als unsere Vorhersagen. Unsere Prognosen können einige wenige Intellektuelle gewinnen, die Interesse für solche Dinge haben, doch nicht die Massen. Der militärische Sieg Tschiang Kai-Scheks wird unvermeidlich eine Depression erzeugen, und das ist dem Wachstum einer revolutionären Fraktion nicht förderlich.

Seit 1927 hatten wir eine lange Serie von Niederlagen. Wir ähneln einer Gruppe, die versucht, einen Berg zu erklimmen, während über sie wieder und wieder Stein- und Schneelawinen niedergehen. In Asien und Europa ist eine neue verzweifelte Massenstimmung geschaffen worden. Die Massen hörten etwas, vergleichbar mit dem, was wir vor zehn oder fünfzehn Jahren über die Kommunistische Partei sagten, und sie sind pessimistisch. Das ist die allgemeine Stimmung der Arbeiter. Das ist der allgemeinste Grund. Wir können uns nicht der allgemeinen historischen Strömung entziehen – nicht der allgemeinen Konstellation der Kräfte. Die Strömung ist gegen uns, das steht fest. Ich erinnere mich an die, Periode von 1908 – 1913 in Rußland: Da herrschte eine Reaktion.1905 waren die Arbeiter mit uns – 1907 begann die große Reaktion.

Jeder erfand Parolen und Methoden, um die Massen zu gewinnen, und niemand gewann sie – sie waren verzweifelt. Das einzige, was wir in dieser Zeit machen konnten, war die Erziehung der Kader, und sie schmolzen zusammen. Es gab eine Serie von Spaltungen nach rechts oder nach links oder zum Syndikalismus usw. Lenin blieb mit einer kleinen Gruppe, einer Sekte, in Paris, im Vertrauen darauf, daß es neue Möglichkeiten des Aufschwungs geben würde. 1913 waren sie da. Eine neue Flut kam, aber der Krieg unterbrach diese Entwicklung. Während des Krieges lag ein Schweigen wie der Tod auf den Arbeitern. Die Zimmerwalder Konferenz bestand in ihrer Mehrheit aus sehr verwirrten Elementen. Im tiefsten Innern der Massen, in den Schützengräben usw. war eine neue Stimmung entstanden, aber sie waren so tief eingeschüchtert, daß wir sie nicht erreichen und ihrer Stimmung keinen Ausdruck geben konnten. Daran liegt es, daß die Bewegung sich selbst so armselig vorkam, und sogar die Elemente, die sich in Zimmerwald trafen, rückten in ihrer Mehrheit im nächsten Jahr, im nächsten Monat nach rechts. Ich will sie nicht von ihrer persönlichen Verantwortung befreien, aber die allgemeine Erklärung bleibt, daß die Bewegung gegen den Strom schwimmen mußte.

Unsere Situation ist unvergleichlich viel schwieriger als die irgendeiner Organisation zu irgendeiner Zeit, weil wir dem furchtbaren Verrat der Kommunistischen Internationale gegenüberstehen, die wiederum aus dem Verrat der Zweiten Internationale hervorging. Die Entartung der Dritten Internationale entwickelte sich so schnell und so unerwartet (für die Massen), daß dieselbe Generation, die ihre Herausbildung erlebte, uns nun zuhört, und sie sagen: „Aber wir haben dies schon einmal gehört!“

Die Niederlage der Linken Opposition in Rußland ist eine weitere Gegebenheit. Die IV. Internationale ist von ihren Ursprüngen her mit der Linken Opposition verbunden; die Massen nennen uns Trotzkisten. „Trotzki will die Macht erobern, doch warum verlor er sie?“ Das ist eine elementare Frage. Wir müssen daran gehen, dies mit der Dialektik der Geschichte, mit dem Konflikt der Klassen zu erklären, daß selbst eine Revolution eine Reaktion hervorbringt.

Max Eastman schrieb, Trotzki lege zu viel Wert auf die Doktrin, und wenn er mehr gesunden Menschenverstand gehabt hätte, hätte er die Macht nicht verloren. Nichts auf der Welt ist so überzeugend wie der Erfolg, und nichts wirft die großen Massen so zurück wie die Niederlage.

Wir haben einerseits also die Entartung der III. Internationale und andererseits die furchtbaren Niederlagen der Linken Opposition mit der Auslöschung der ganzen Gruppe. Diese Tatsachen sind tausendmal überzeugender für die Arbeiterklasse als unsere armseligen Papiere, selbst mit der ungeheuren Verbreitung von 5.000 wie der Socialist Appeal (in den USA).
 

Gegen den Strom

Wir befinden uns in einem kleinen Boot inmitten einer ungeheuren Strömung. Von fünf oder zehn Booten kentert eines, und wir sagen, die schlechte Steuerführung war schuld. Aber das ist nicht der wirkliche Grund. – Die Wahrheit ist, daß die Strömung zu reißend ist. Das ist die allgemeinste Erklärung, und wir dürfen sie nie vergessen, um nicht in Pessimismus zu verfallen – wir, die Vorhut der Vorhut. Wir haben mutige Elemente, die es nicht lieben, mit der Strömung zu schwimmen – das entspricht ihrem Charakter. Außerdem intelligente Elemente mit schlechtem Charakter, die nie diszipliniert waren, die fortwährend nach einer noch radikaleren oder noch unabhängigeren Tendenz Ausschau hielten und unsere Tendenz gefunden haben, aber sie alle sind mehr oder weniger Außenseiter – abseits vom allgemeinen Strom der Arbeiterbewegung. Ihr Wert hat unvermeidlich seine negative Seite. Wer gegen den Strom schwimmt, ist nicht mit den Massen verbunden. Darüber hinaus besteht die soziale Zusammensetzung jeder revolutionären Bewegung anfangs nicht aus Arbeitern. Es sind Intellektuelle, Halbintellektuelle oder die mit ihnen verbundenen Arbeiter, die mit den bestehenden Organisationen unzufrieden sind. In jedem Land gibt es viele Ausländer, die nicht so leicht in die Arbeiterbewegung des Landes hineingezogen werden. Aber ein Tscheche in Amerika oder Mexiko würde hier leichter ein Mitglied der IV. Internationale als in der Tschechoslowakei. Dasselbe gilt für einen Franzosen in den USA. Die nationale Atmosphäre übt eine ungeheure Macht auf die Individuen aus.

In vielen Ländern stellen Juden jene Halb-Fremden dar, die nicht so vollständig angepaßt sind, und sie schließen sich irgendwelchen neuen, kritischen, revolutionären oder halb revolutionären Tendenzen in Politik, Kunst, Literatur usw. an. Eine neue radikale Tendenz, die gegen den allgemeinen Strom der Geschichte in dieser Periode gerichtet ist, kristallisiert sich um die Elemente, die mehr oder weniger vom nationalen Leben irgendeines Landes losgelöst sind. Für sie ist es schwieriger, in die Massen einzudringen. Wir alle sind sehr kritisch.gegenüber der sozialen Zusammensetzung unserer Organisation, und wir müssen sie ändern, aber wir müssen begreifen, daß diese soziale Zusammensetzung nicht vom Himmel fiel, sondern durch die objektive Situation und unsere historische Mission in dieser Periode bestimmt war.

Das bedeutet nicht, daß wir uns mit dieser Situation zufrieden geben sollen. Insoweit es Frankreich betrifft, handelt es sich um eine lange Tradition in der französischen Bewegung, die mit der sozialen Zusammensetzung des Landes zusammenhängt: besonders in der Vergangenheit kleinbürgerliche Mentalität – Individualismus auf der einen Seite, auf der anderen ein Elan, eine ungeheure Fähigkeit zu improvisieren.

Wenn man in der klassischen Zeit der II. Internationale Vergleiche anstellt, wird man feststellen können, daß die französische Sozialistische Partei und die deutsche Sozialdemokratie dieselbe Anzahl von Parlamentsabgeordneten hatten. Aber wenn man die Organisationen vergleicht, wird man feststellen, daß sie unvergleichbar sind. Die französische konnte unter größten Schwierigkeiten 25.000 Francs sammeln, in Deutschland war es ein Leichtes, eine halbe Million zu schicken. Die Deutschen hatten einige Millionen Arbeiter in den Gewerkschaften, und die Franzosen hatten einige Millionen, die nicht einmal ihre Beiträge bezahlten. Engels schrieb einmal einen Brief, in dem er die französische Organisation charakterisierte, und schloß mit der Bemerkung: „und wie immer kommen die Beiträge nicht an“!

Unsere Organisation leidet an der.gleichen Krankheit, der traditionellen französischen Krankheit; dieser Unfähigkeit zu organisieren, und zusätzlich fehlt noch die Fähigkeit zur Improvisation. Die Flut, die wir gerade in Frankreich hatten, hing mit der Volksfront zusammen. In dieser Situation war die Niederlage der Volksfront Beweis für die Richtigkeit unserer Konzeptionen, genauso, wie die Ausrottung der chinesischen Arbeiter. Aber die Niederlage war eine Niederlage, und sie richtet sich gegen die revolutionären Tendenzen, bis eine Flut auf höherem Niveau in der neuen Zeit auftaucht. Wir müssen abwarten uns auf ein neues Element vorbereiten, einen neuen Faktor in dieser Konstellation.

Wir haben Genossen, wie Naville und andere, die vor 15 oder 16 Jahren oder vorher zu uns kamen, als sie noch Jungen waren. Nun sind sie reife Menschen, und während ihres ganzen bewußten Lebens erlebten sie nur Schläge, Niederlagen und schreckliche Niederlagen auf internationaler Ebene, und sie kennen diese Situation mehr oder weniger. Sie schätzen die Richtigkeit ihrer Konzeption sehr hoch ein, und sie können analysieren, aber sie hatten nie die Fähigkeit, in die Massen einzudringen, mit ihnen zu arbeiten, und sie haben sich diese Fähigkeit nicht angeeignet. Es besteht eine ungeheure Notwendigkeit zu beobachten, was die Massen tun. Wir haben solche Leute in Frankreich. Ich weiß viel weniger über die englische Situation, aber ich glaube, wir haben dort ebensolche Leute.

Warum haben wir Leute verloren? Nach furchtbaren internationalen Niederlagen entstand in Frankreich eine Flut auf sehr primitivem und niedrigem Niveau unter den Führern der Volksfront. Die Volksfront – und ich glaube, die ganze Periode – ist eine Art Karikatur auf unsere Februarrevolution. Es wäre beschämend, wenn ein Land wie Frankreich, daß vor 150 Jahre die größte bürgerliche Revolution der Welt durchmachte, wenn seine Arbeiterbewegung eine Karikatur der russischen Revolution durchmachen sollte.

Johnson: Du würdest der Kommunistischen Partei nicht die ganze Verantwortung geben?

Trotzki: Sie ist ein ungeheurer Faktor für die Mentalität der Massen. Der aktive Faktor war die Entartung der Kommunistischen Partei.
 

Von der Isolation zur Reintegration in die Massen

1914 beherrschten die Bolschewiki die Arbeiterbewegung vollständig. Das war an der Schwelle des Krieges.Die genauesten Statistiken beweisen, daß die Bolschewiki nicht weniger als drei Viertel der proletarischen Vorhut ausmachten. Aber mit dem Beginn der Februarrevolution wurden die rückständigsten Leute, Bauern, Soldaten, sogar ehemalige bolschewistische Arbeiter von der Volksfront-Strömung angezogen, und die Bolschewistische Partei wurde isoliert und schwach. Die allgemeine Strömung bewegte sich auf sehr niedrigem Niveau, aber sie war mächtig und bewegte sich auf die Oktoberrevolution hin. Es ist eine Frage des Tempos. In Frankreich zog die Volksfront nach all den Niederlagen Elemente an, die mit uns theoretisch sympathisierten, aber in die Bewegung der Massen einbezogen waren, und für eine gewisse Zeit waren wir stärker isoliert alsje zuvor. Ihr könnt all diese Elemente kombinieren. Und ich kann sogar versichern, daß viele (aber nicht alle) unserer führenden Genossen, besonders in alten Sektionen, bei einer neuen Wende der Situation von der revolutionären Massenbewegung zurückgewiesen werden. In der revolutionären Strömung werden neue Führer und eine frische Führung entstehen.

In Frankreich begann die Regeneration mit dem Eintritt in die Sozialistische Partei. Die Politik der SP war nicht klar, aber sie gewann viele neue Mitglieder. Diese neuen Mitglieder waren an ein großes Milieu gewöhnt. Nach der Spaltung wurden sie ein wenig entmutigt. Sie waren nicht so gestählt. Dann verloren sie ihr nicht so gestähltes Interesse, und wurden von der Bewegung der Volksfront zurückgewonnen. Es ist bedauernswert, aber erklärbar.

In Spanien spielten dieselben Gründe dieselbe Rolle zuzüglich zum kläglichen Verhalten der Nin-Gruppe. Er war als Vertreter der Russischen Linken Opposition in Spanien, und im ersten Jahr versuchten wir nicht, unsere unabhängigen Elemente zu mobilisieren und zu organisieren. Wir hofften, Nin für die richtige Konzeption gewinnen zu können usw. Offiziell gab ihm die Linke Opposition ihre Unterstützung. In privater Korrespondenz versuchten wir, ihn zu gewinnen und vorwärts zu stoßen, aber ohne Erfolg. Wir verloren Zeit. War unser Verhalten richtig? Das ist schwer zu sagen. Wenn wir in Spanien einen erfahrenen Genossen gehabt hätten, wäre die Situation unvergleichlich günstiger gewesen, aber wir hatten keinen. Wir setzten alle unsere Hoffnungen auf Nin, und seine Politik bestand aus persönlichen Manövern, um der Verantwortung zu entgehen. Er spielte mit der Revolution. Er war aufrichtig, aber seine ganze Mentalität war die eines Menschewiken. Das war ein ungeheures Hindernis, und dieses Hindernis nur mit richtigen Formeln zu bekämpfen, die von unseren eigenen Vertretern in der ersten Periode, von den Nins, verfälscht wurden, machte die eigene Angelegenheit sehr schwierig.

Vergeßt nicht, daß wir die erste Revolution 1905 verloren haben. Vor unserer ersten Revolution standen wir in der Tradition großen Mutes, der Selbstaufopferung usw.. Dann wurden wir auf die Position einer elenden Minderheit von 30 oder 40 Leute zurückgestoßen. Dann kam der Krieg.

Johnson: Wieviele Mitglieder hatte die Bolschewistische Partei?

Trotzki: 1910 waren es im ganzen Land ein paar Dutzend, einige waren in Sibirien. Aber sie waren nicht organisiert. Die Leute, die Lenin per Korrespondenz oder durch einen Vermittler erreichen konnte, zählten höchstens 30 oder 40. Dennoch waren die Traditionen und die Ideen unter den fortgeschrittenen Arbeitern ein ungeheures Kapital, das später während der Revolution genutzt wurde, aber praktisch waren wir zu der Zeit völlig isoliert.

Ja, die Geschichte hat ihre eigenen Gesetze, die sehr mächtig sind, mächtiger als unsere Theorie der Geschichte. Wir erleben jetzt in Europa eine Katastrophe, den Abstieg Europas, die Ausrottung ganzer Länder. Es hat eine furchtbare Wirkung auf die Arbeiter, wenn sie diese Bewegungen der Armeen, der Diplomatie usw. beobachten, und auf der anderen Seite eine kleine Gruppierung mit einem kleinen Papier, das Erklärungen gibt. Doch es geht hier um die Frage seiner Mobilisierung von Morgen und darum, ob seine Kinder getötet werden. Es besteht ein schreckliches Auseinanderklaffen zwischen der Aufgabe und den Mitteln.

Wenn der Krieg beginnt, und es sieht so aus, daß er beginnen wird, dann werden wir in Frankreich in den ersten Monaten zwei Drittel verlieren. Sie werden zerstreut werden. Subjektiv werden viele unserer Bewegung treu bleiben. Diejenigen, die nicht verhaftet werden und die bleiben – es mögen drei oder fünf sein, ich weiß nicht wieviele, aber sie werden völlig isoliert sein.

Aber schon nach ein paar Monaten wird sich die Kritik und die Verachtung auf breiter Skala äußern, und überall werden unsere isolierten Genossen, in einem Krankenhaus, in einem Graben, eine Frau in einem Dorf, eine veränderte Atmosphäre vorfinden und ein mutiges Wort sagen. Und derselbe Genosse, der in seiner Sektion in Paris unbekannt war, wird Führer eines Regiments, einer Division, und wird sich selbst als ein mächtiger revolutionärer Führer vorkommen. Dieser Wechsel liegt im Charakter unserer Periode begründet.

Ich möchte nicht sagen, daß wir uns mit der Unfähigkeit unserer französischen Organisation versöhnen müssen. Ich glaube, mit Hilfe der amerikanischen Genossen können wir die PSOP [1] gewinnen und einen großen Sprung vorwärts machen. Die Situation reift heran und sie sagt uns: Ihr müßt diese Gelegenheit nützen. Und wenn unsere Genossen sich wenden werden, wird sich die Situation ändern. Es ist unbedingt notwendig, daß unsere amerikanischen Genossen wieder nach Europa gehen und nicht einfach Ratschläge erteilen, sondern gemeinsam mit dem Internationalen Sekretariat entscheiden, daß unsere Sektion in die PSOP eintritt. Diese hat einige tausend Mitglieder. Vom Standpunkt der Revolution ist das kein großer Unterschied, aber vom Standpunkt unserer Arbeit ein gewaltiger. Mit frischen Elementen können wir einen ungeheuren Schritt vorwärts machen.

In den USA hat unsere Arbeit jetzt einen anderen Charakter, und ich glaube, wir können ohne Illusionen und Übertreibungen sehr optimistisch sein. In den USA läßt uns die Zeit größeren Spielraum. Die Situation ist nicht so drängend, so akut. Das ist sehr wichtig.

Dann stimme ich mit dem Genossen Stanley überein, der schreibt, daß wir gegenwärtig sehr wichtige Erfolge in den kolonialen und halbkolonialen Ländern davontragen können. In Indochina haben wir eine sehr wichtige Bewegung. Ich stimme auch vollkommen mit Genossen Johnson überein, daß wir eine sehr bedeutende Bewegung der Schwarzen erleben können, weil diese Leute mit der Geschichte der letzten Jahrzehnte nicht so eng verflochten waren. Sie wußten im Allgemeinen nichts von der Russischen Revolution und der Dritten Internationale. Sie können die Geschichte wie von vorn beginnen. Wir brauchen unbedingt frisches Blut. Darum haben wir mehr Erfolg bei der Jugend, soweit es uns gelingt, Zugang zu ihr zu finden. Insofern wir in der Lage waren, uns ihr zu nähern, haben wir gute Resultate erzielt. Sie sind sehr aufmerksam gegenüber einem klaren und revolutionären Programm.

April 1939


Anmerkung

1. Die PSOP (sozialistische Arbeiter- und Bauernpartei) wurde 1937 von Marceau Pivert nach seiner Beteiligung an der französischen Volksfrontregierung gegründet. In der Periode vor der Volksfront 1936 war Pivert der Führer der stärksten zentristischen Gruppierung innerhalb der französischen Sozialdemokratie (SFIO) gewesen. Die Taktik des zeitweiligen Entrismus in die SFIO, die die französischen Bolschewiki-Leninisten in den Jahren 1934–35 auf den Rat Trotzkis befolgt hatten, zielte vor allem darauf, solche im Zuge des Anstiegs der proletarischen Massenkämpfe sich innerhalb oder am Rande der Sozialdemokratie bildenden zentristischen Strömungen – die in ihrem Schwanken die Suche des Proletariats nach einer neuen Führung ausdrücken – für die Politik der revolutionären Organisation zu gewinnen. Dies war – z.T. aus eigener politischer Schwäche – den französischen Trotzkisten im Fall dieser wichtigsten zentristischen Gruppierung jedoch nicht gelungen: Marceau Pivert hatte innerhalb der SFIO eine Scheinalternative zur revolutionären Linken aufbauen können, die natürlich mit der gesamten Sozialdemokratie den Weg zur Kollaboration mit der Bourgeoisie weiterging: den Weg in die Volksfront. Der Rat Trotzkis nach der Gründung der PSOP, in dieser Partei Entrismus zu machen,fand faktisch jedoch nicht statt, da überhaupt keine organisierte kommunistische Arbeit innerhalb der PSOP erfolgte, da die französischen Trotzkisten vereinzelt und zersplittert in diese Partei eintraten. (Anmerkung des Übersetzers)


Zuletzt aktualiziert am 5.7.2011