Leo Trotzki

 

Verteidigung des Marxismus

 

Offener Brief an Genossen Burnham


Veröffentlicht 1942 in der Sammlung In Defense of Marxism.
Übersetzung leicht korrigiert: Einde O’Callaghan.
Transkription: Tim Vanhoof.
HTML-Markierung: Tim Vanhoof u. Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Lieber Genosse!

Wie ich erfahren habe, haben Sie als Reaktion auf meinen Artikel über die kleinbürgerliche Opposition geäußert, Sie hätten nicht die Absicht, mit mir über die Dialektik zu streiten, und Sie wollten nur über die „konkreten Fragen“ diskutieren. „Ich habe schon lange aufgehört, über Religion zu streiten“, fügten Sie ironisch hinzu. Ich hörte einst Max Eastman die gleiche Meinung äußern.

 

 

Ist es logisch, Logik mit Religion gleichzusetzen?

Wie ich dies verstehe, unterstellen Sie, daß die Dialektik von Marx, Engels und Lenin dem Bereich der Religion angehört. Was bedeutet diese Behauptung? Die Dialektik, erlauben Sie mir, noch einmal daran zu erinnern, ist die Logik der Entwicklung. Genauso wie eine Maschinenwerkstatt in einer Fabrik Werkzeuge für alle Abteilungen liefert, ist die Logik für alle Bereiche des menschlichen Wissens unerläßlich. Wenn man Logik im allgemeinen als ein religiöses Vorurteil betrachtet (es ist traurig zu sagen, daß die sich selbst widersprechenden Schriften der Opposition immer mehr zu dieser kläglichen Idee neigen), welche Logik akzeptieren Sie dann? Ich kenne zwei Systeme der Logik, die Beachtung verdienen: die Logik Aristoteles’ (formale Logik) und die Logik Hegels (Dialektik). Die Aristotelische Logik nimmt unveränderliche Gegenstände und Phänomene als ihren Ausgangspunkt. Das wissenschaftliche Denken unserer Zeit untersucht alle Phänomene in ihrer Veränderung und in ihrer Zersetzung. Sind Sie der Ansicht, daß der Fortschritt der Wissenschaften, eingeschlossen Darwinismus, Marxismus, moderne Physik, Chemie usw., die Formen unseres Denkens nicht auf irgendeine Weise beeinflußt hat? Mit anderen Worten, glauben Sie, daß in einer Welt, in der sich alles verändert, der Syllogismus allein unveränderlich und ewig bleibt? Das Evangelium nach St. Johannes beginnt mit den Worten: „Im Anfang war das Wort“, d.h., am Anfang war die Vernunft oder das Wort (Vernunft nämlich ausgedrückt durch das Wort Syllogismus). Für St. Johannes ist Syllogismus eines der literarischen Pseudonyme Gottes. Wenn Sie der Meinung sind, daß der Syllogismus unveränderlich ist, d.h. weder Ursprung noch Entwicklung hat, dann bedeutet das, daß er für Sie ein Produkt der göttlichen Offenbarung ist. Aber wenn Sie anerkennen, daß die logischen Formen unserer Gedanken sich in dem Prozeß unserer Anpassung an die Natur entwickeln, dann machen Sie sich bitte die Mühe, uns zu unterrichten, wer genau, Aristoteles folgend, die spätere Entwicklung der Logik analysierte und in ein System brachte. Solange Sie diesen Punkt nicht klären, werde ich mir die Freiheit nehmen zu erklären, daß die Gleichsetzung von Logik (Dialektik,) mit der Religion völlige Unwissenheit und Oberflächlichkeit in den Grundfragen menschlichen Denkens offenbart.

 

 

Ist ein Revolutionär nicht Verpflichtet, gegen die Religion zu kämpfen?

Wollen wir trotzdem annehmen, Ihre mehr als anmaßende Unterstellung sei richtig. Aber das verändert die Dinge nicht zu Ihrem Vorteil. Die Religion lenkt, ich hoffe, Sie werden zustimmen, die Aufmerksamkeit von wirklichem auf fiktives Wissen, weg vom Kampf für ein besseres Leben auf falsche Hoffnungen auf Belohnung im zukünftigen Leben. Religion ist Opium fürs Volk. Wer nicht gegen die Religion kämpft, darf nicht den Namen Revolutionär tragen. Auf welcher Grundlage rechtfertigen Sie dann Ihre Weigerung, gegen die Dialektik zu kämpfen, wenn Sie sie für eine der Abarten der Religion halten?

Sie selbst hörten, wie Sie sagen, vor langer Zeit auf, sich mit der Frage der Religion abzugeben. Aber nur Sie selbst hörten auf. Außer Ihnen gibt es aber noch alle anderen. Ziemlich viele. Wir Revolutionäre „hören“ niemals „auf“, uns mit religiösen Fragen abzugeben, weil unsere Aufgabe darin besteht, nicht nur uns selbst von dem Einfluß der Religion freimachen, sondern auch die Massen. Wenn die Dialektik Religion ist, wie kann man dann auf den Kampf gegen dieses Opium innerhalb der eigenen Partei verzichten?

Oder vielleicht wollten Sie unterstellen, daß die Religion keine politische Bedeutung besitzt? Daß es möglich sei, religiös und gleichzeitig ein konsequenter Kommunist und revolutionärer Kämpfer zu sein? Sie werden kaum eine so unbesonnene Behauptung wagen. Natürlich, wir bewahren eine rücksichtsvolle Haltung gegenüber den religiösen Vorurteilen eines rückständigen Arbeiters. Sollte er für unser Programm kämpfen wollen, würden wir ihn als Parteimitglied aufnehmen. Aber gleichzeitig würde ihn unsere Partei beharrlich im Geist des Materialismus und Atheismus erziehen. Wenn Sie damit übereinstimmen, wie können Sie ablehnen, gegen eine „Religion“ zu kämpfen, die nach meinem Wissen von der überwältigenden Mehrheit jener Mitglieder Ihrer eigenen Partei vertreten wird, die an theoretischen Fragen interessiert Sind? Sie haben offensichtlich diesen sehr wichtigen Gesichtspunkt der Frage übersehen.

Unter der gebildeten Bourgeoisie gibt es nicht wenige, die persönlich mit der Religion gebrochen haben, aber der Atheismus dieser Leute ist ausschließlich für ihren eigenen privaten Gebrauch. Gedanken wie diese behalten sie für sich, aber in der Öffentlichkeit behaupten sie oft, es sei gut, daß die Leute eine Religion hätten. Ist es möglich, daß Sie einen derartigen Standpunkt Ihrer eigenen Partei gegenüber einnehmen? Ist es möglich, daß dies Ihre Ablehnung erklärt, mit uns die philosophischen Grundlagen des Marxismus zu diskutieren? Wenn das der Fall ist, klingt in Ihrer Geringschätzung des Materialismus die Verachtung für die Partei mit.

Wenden Sie bitte nicht ein, daß ich mich auf eine Redewendung gestützt habe, die von Ihnen in einem privaten Gespräch geäußert wurde und daß Sie sich nicht damit beschäftigen, den dialektischen Materialismus öffentlich zu widerlegen. Das ist nicht wahr. Ihre Redewendung diente nur zur Veranschaulichung. Immer wenn sich eine Gelegenheit bot, haben Sie aus verschiedenen Gründen Ihre negative Haltung gegenüber der Lehre verkündet, die die theoretische Grundlage unseres Programms ausmacht. Das ist jedem in der Partei gut bekannt. In dem Artikel Intellektuelle auf dem Rückzug, den Sie zusammen mit Shachtman geschrieben und im theoretischen Parteiorgan veröffentlicht haben, wird kategorisch versichert, daß Sie den dialektischen Materialismus verwerfen. Hat die Partei nicht nach alldem das Recht, den Grund genau zu wissen? Nehmen Sie wirklich an, daß in der Vierten Internationale der Herausgeber eines theoretischen Organs sich auf die bloße Erklärung beschränken kann: „Ich lehne den dialektischen Materialismus entschieden ab“ – als handle es sich um eine angebotene Zigarette: „Danke, ich rauche nicht.“ Die Frage einer richtigen philosophischen Lehre, d.h. einer richtigen Denkmethode, ist von entscheidender Bedeutung für eine revolutionäre Partei, ebenso wie eine gute Maschinenwerkstatt von entscheidender Bedeutung für die Produktion ist. Die alte Gesellschaft kann immer noch mit den materiellen und intellektuellen Methoden der Vergangenheit verteidigt werden. Es ist völlig undenkbar, daß diese alte Gesellschaft umgestürzt und eine neue aufgebaut werden kann, ohne zuerst die gängigen Methoden kritisch zu analysieren. Wenn sich die Partei gerade in den Grundlagen ihres Denkens irrt, ist es Ihre elementare Pflicht, den richtigen Weg aufzuzeigen. Sonst wird Ihr Verhalten unausweichlich als Kavaliers-Verhalten eines Akademikers gegenüber einer proletarischen Organisation gedeutet, die schließlich doch nicht fähig ist, eine wirklich „wissenschaftliche“ Lehre zu begreifen. Was könnte schlimmer sein?

 

 

Lehrreiche Beispiele

Wer die Geschichte der Kämpfe von Tendenzen innerhalb von Arbeiterparteien kennt, weiß, daß die Desertion in das Lager der bürgerlichen Reaktion nicht selten mit der Ablehnung der Dialektik begann. Kleinbürgerliche Intellektuelle halten die Dialektik für den verwundbarsten Punkt des Marxismus, und gleichzeitig nutzen sie es aus, daß es für Arbeiter viel schwieriger ist, Streitpunkte auf philosophischer Ebene auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen als auf politischer. Diese altbekannte Methode wird durch sämtliche Erfahrungen bestätigt. Es ist wiederum unzulässig, von einer sogar noch bedeutenderen Tatsache abzusehen, nämlich, daß alle großen und hervorragenden Revolutionäre – zu allererst Marx, Engels, Lenin, Luxemburg, Franz Mehring – auf dem Boden des dialektischen Materialismus standen. Kann man annehmen, daß sie alle nicht zwischen Wissenschaft und Religion unterscheiden konnten? Sind Sie da nicht zu anmaßend, Genosse Burnham? Die Beispiele von Bernstein, Kautsky und Franz Mehring sind äußerst lehrreich. Bernstein verwarf die Dialektik kategorisch als „Scholastik“ und „Mystizismus“. Kautsky blieb gegenüber der Frage des dialektischen Materialismus gleichgültig, so ähnlich wie Genosse Shachtman. Mehring war ein unermüdlicher Propagandist und Verteidiger des dialektischen Materialismus. Jahrzehntelang verfolgte er alle Neuerungen der Philosophie und der Literatur und entlarvte dabei unermüdlich das reaktionäre Wesen des Idealismus, des Neo-Kantianertums, des Utilitarismus, aller Formen des Mystizismus usw. Das politische Schicksal dieser drei Persönlichkeiten ist sehr gut bekannt. Bernstein beendete sein Leben als selbstgefälliger kleinbürgerlicher Demokrat; Kautsky wurde aus einem Zentristen zu einem gewöhnlichen Opportunisten. Was Mehring betrifft, so starb er als revolutionärer Kommunist.

In Rußland begannen drei bekannte akademische Marxisten, Berdjajew, Struwe und Bulgakow, damit, die philosophische Lehre des Marxismus zu verwerfen und endeten im Lager der Reaktion und der orthodoxen Kirche. In den Vereinigten Staaten gebrauchten Eastman, Sidney Hook und ihre Freunde die Opposition zur Dialektik als Deckmantel für ihre Verwandlung aus Mitläufern des Proletariats in Mitläufer der Bourgeoisie. Ähnliche Beispiele in dieser Hinsicht könnten aus anderen Ländern angeführt werden. Das Beispiel Plechanows, der eine Ausnahme zu sein scheint, bestätigt in Wirklichkeit nur die Regel. Plechanow war ein bemerkenswerter Propagandist des dialektischen Materialismus, aber während seines ganzen Lebens hatte er niemals die Gelegenheit, am wirklichen Klassenkampf teilzunehmen. Sein Denken war von der Praxis getrennt. Die Revolution von 1905 und der Weltkrieg schleuderten ihn in das Lager der kleinbürgerlichen Demokratie und zwangen ihn schließlich, sich vom dialektischen Materialismus loszusagen. Während des Weltkrieges trat Plechanow offen als Vorkämpfer des Kantschen Kategorischen Imperativs im Bereich der internationalen Beziehungen hervor: „Handle so, daß du jederzeit wollen kannst, die Maxime deines Handelns solle allgemeines Gesetz werden“. Das Beispiel Plechanows beweist nur, daß der dialektische Materialismus an und für sich einen Menschen noch nicht zum Revolutionär macht.

Andererseits deutet Shachtman darauf hin, daß Liebknecht ein (posthumes) Werk gegen den dialektischen Materialismus hinterlassen hat, das er im Gefängnis schrieb. Im Gefängnis kommen einem Menschen viele Gedanken, die nicht durch die Gesellschaft mit anderen Leuten überprüft werden können. Liebknecht, den niemand, am allerwenigsten er selbst, für einen Theoretiker hielt, wurde Symbol für Heldentum in der Weltarbeiterbewegung. Sollte einer von diesen amerikanischen Gegnern der Dialektik während des Krieges eine ähnliche Opferbereitschaft und Unabhängigkeit vom Patriotismus erkennen lassen, werden wir ihm zukommen lassen, was ihm als Revolutionär gebührt. Aber dadurch wird nicht die Frage der dialektischen Methode gelöst.

Man kann nicht sagen, was Liebknechts endgültige Schlußfolgerungen gewesen wären, wäre er in Freiheit geblieben. Jedenfalls hätte er sein Werk vor der Veröffentlichung seinen kompetenteren Freunden gezeigt, nämlich Franz Mehring und Rosa Luxemburg. Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß er das Manuskript auf ihren Rat hin einfach ins Feuer geworfen hätte. Jedoch wollen wir zugestehen, daß er sich, gegen den Rat von Leuten, die ihn auf dem Gebiet der Theorie weit übertrafen, entschlossen hätte, sein Werk zu veröffentlichen. Mehring, Luxemburg, Lenin und andere hätten selbstverständlich nicht vorgeschlagen, daß er deswegen aus der Partei ausgeschlossen wird. Im Gegenteil, sie hätten sich in entschiedener Weise für ihn verwendet, hätte jemand einen solch dummen Vorschlag gemacht. Aber gleichzeitig hätten sie mit ihm keinen philosophischen Block gebildet, sondern hätten sich eher von seinen theoretischen Fehlern entschieden distanziert.

Das Verhalten des Genossen Shachtman ist, wie wir bemerken, ziemlich anders. „Ihr werdet sehen,“ sagte er – und das um die Jugend zu lehren! –, „daß Plechanow ein hervorragender Theoretiker des dialektischen Materialismus war, aber als Opportunist endete. Liebknecht war ein bemerkenswerter Revolutionär, aber er hatte seine Zweifel am dialektischen Materialismus.“ Falls dieses Argument überhaupt etwas bedeutet, so, daß der dialektische Materialismus ohne den geringsten Nutzen für einen Revolutionär ist. Mit diesen Beispielen Liebknechts und Plechanows, die künstlich aus der Geschichte herausgerissen sind, bekräftigt und „vertieft“ Shachtman die Ansicht seines Artikels aus dem vergangenen Jahr, das nämlich die Politik nicht von der Methode abhängt, weil die Methode von der Politik durch die göttliche Gabe der Inkonsequenz getrennt ist. Dadurch, daß er zwei „Ausnahmen“ falsch deutet, versucht Shachtman die Regel umzustürzen. Wenn dies das Argument eines „Vertreters“ des Marxismus ist, was können wir dann von einem Gegner erwarten? Die Revision des Marxismus geht hier in die offene Liquidation über, mehr noch, in die Liquidation jeder Lehre und jeder Methode.

 

 

Was schlagen Sie stattdessen vor?

Der dialektische Materialismus ist selbstverständlich keine ewige und unveränderliche Philosophie. Etwas anderes anzunehmen, heißt, dem Geist der Dialektik widersprechen. Die weitere Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens wird ohne Zweifel eine tiefgründigere Lehre schaffen, in die der dialektische Materialismus nur als Baumaterial eingehen wird. Gleichwohl gibt es keinen Grund zu erwarten, daß diese philosophische Revolution unter dem verfallenden bürgerlichen Regime durchgeführt wird, ganz zu schweigen davon, daß ein Marx nicht jedes Jahr oder jedes Jahrzehnt geboren wird. Die lebensnotwendige Aufgabe des Proletariats besteht jetzt nicht darin, die Welt neu zu interpretieren, sondern sie von Grund auf zu verändern. Im nächsten Zeitabschnitt können wir große Revolutionäre der Tat erwarten, aber kaum einen neuen Marx. Nur auf der Grundlage der sozialistischen Kultur wird die Menschheit die Notwendigkeit verspüren, das ideologische Erbe der Vergangenheit einer Revision zu unterziehen, und zweifellos wird sie uns nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft weit übertreffen, sondern auch im Bereich des intellektuellen Schaffens. Das Regime der bonapartistischen Bürokratie in der UdSSR ist nicht nur verbrecherisch, weil es eine ständig wachsende Ungleichheit in allen Bereichen des Lebens schafft, sondern auch weil sie die intellektuelle Tätigkeit des Landes auf die Tiefen von zügellosen Dummköpfen der GPU degradiert.

Nehmen wir jedoch entgegen unserer Vermutung an, daß das Proletariat während der gegenwärtigen Epoche der Kriege und Revolutionen in der glücklichen Lage ist, einen neuen Theoretiker oder eine neue Konstellation von Theoretikern hervorzubringen, die über den Marxismus hinausgehen im besonderen die Logik über die materialistische Dialektik hinaus vorwärtsbringen. Unnötig zu sagen, daß alle fortschrittlichen Arbeiter von diesen neuen Lehrern lernen werden, und die alten Leute sich selbst wieder neu erziehen werden müssen. Aber vorerst bleibt das Zukunftsmusik. Oder irre ich mich ? Vielleicht werden Sie meine Aufmerksamkeit auf jene Werke lenken, die das System des dialektischen Materialismus für das Proletariat ersetzen sollen? Hätten wir diese zur Hand, hätten Sie es sicher nicht abgelehnt, einen Kampf gegen das Opium der Dialektik zu führen. Aber es gibt sie nicht. Während Sie versuchen, die Philosophie des Marxismus in Verruf zu bringen, schlagen Sie nichts vor, womit man sie ersetzen könnte.

Stellen Sie sich vor, daß ein junger Amateurarzt einem Chirurgen, der das Skalpell benutzt, davon überzeugen will, daß die moderne Anatomie, Neurologie usw. wertlos seien, daß vieles darin unklar und unvollständig bleibt und daß nur „konservative Bürokraten“ anfangen können, auf der Grundlage dieser Pseudowissenschaften mit dem Skalpell zu arbeiten usw. Ich glaube, daß der Chirurg seinen unverantwortlichen Kollegen bitten würde, den Operationssaal zu verlassen. Auch wir, Genosse Burnham, können uns nicht billigen Anspielungen auf die Philosophie des wissenschaftlichen Sozialismus unterwerfen. Im Gegenteil, seit im Verlauf des Fraktionskampfes die Frage klipp und klar gestellt ist, werden wir zu allen Parteimitgliedern, insbesondere zur Jugend, sagen: Nehmt Euch vor dem Eindringen bürgerlichen Skeptizismus in Eure Reihen in acht. Erinnert Euch, daß der Sozialismus bis jetzt keinen höheren wissenschaftlichen Ausdruck als den Marxismus gefunden hat. Berücksichtigt, daß die Methode des wissenschaftlichen Sozialismus der dialektische Materialismus ist. Beschäftigt Euch mit ernsthaften Studien! Studiert Marx, Engels, Plechanow, Lenin und Franz Mehring! Das ist hundertmal wichtiger für Euch als das Studium einseitiger, unfruchtbarer und leicht lächerlicher Abhandlungen über den Konservatismus Cannons. Die gegenwärtige Diskussion soll schließlich das positive Resultat hervorbringen, daß die Jugend versucht, in ihren Köpfen eine ernsthafte theoretische Grundlage für den revolutionären Kampf zu verankern!

 

 

Falscher politischer „Realismus“

In Ihrem Fall jedoch beschränkt sich die Frage nicht nur auf den dialektischen Materialismus. Die Bemerkungen in Ihrer Resolution, daß Sie der Partei jetzt nicht die Frage nach dem Charakter des Sowjetstaates zur Entscheidung vorlegen, bedeutet in Wahrheit, daß Sie diese Frage stellen, wenn nicht juristisch, dann theoretisch und politisch. Nur Kinder können dies nicht verstehen. Dieselbe Behauptung hat ebenso eine andere Bedeutung, die wesentlich empörender und schädlicher ist. Sie bedeutet, daß Sie die Politik von der marxistischen Soziologie trennen. Für uns jedoch liegt die Schwierigkeit der Sache genau darin. Wenn es möglich ist, eine richtige Definition des Staates zu geben, ohne die Methode des dialektischen Materialismus anzuwenden, wenn es möglich ist, die Politik richtig zu bestimmen, ohne eine Klassenanalyse des Staates zu geben, dann erhebt sich die Frage: Besteht irgendeine Notwendigkeit für den Marxismus?

Wenn auch die Oppositionsführer untereinander uneins über den Klassencharakter des Sowjetstaates sind, stimmen sie doch darin überein, daß die Außenpolitik des Kremls als „imperialistisch“ bezeichnet werden muß und daß die UdSSR nicht „bedingungslos“ unterstützt werden kann. (Äußerst feste Plattform!) Wenn die andere „Clique“ die Frage nach dem Charakter des Sowjetstaates klipp und klar auf dem Parteitag aufwirft (Was für ein Verbrechen!), seid Ihr im voraus einig, ... uneins zu sein, d.h., verschieden zu stimmen. In der britischen „National“regierung findet sich dieser Präzedenzfall bei Ministern, die „sich einig sind, uneins zu sein“, d.h., verschieden zu stimmen. Aber die Minister Ihrer Majestät erfreuen sich des Vorteils, daß sie gute Kenntnis vom Charakter ihres Staates haben, und sie können sich den Luxus leisten, über zweitrangige Fragen geteilter Meinung zu sein. Die Oppositionsführer befinden sich in einer weit ungünstigeren Lage. Sie erlauben sich den Luxus, über die grundlegende Frage verschiedener Meinung zu sein, um sich in zweitrangigen Fragen zu solidarisieren. Wenn das Marxismus und Politik von hohen Grundsätzen ist, dann weiß ich nicht, was gewissenlose Kombiniererei bedeutet.

Sie scheinen offensichtlich anzunehmen, daß Sie die Rolle eines realistischen Politikers spielen, wenn Sie es ablehnen, über den dialektischen Materialismus und die Klassennatur des Sowjetstaates zu diskutieren, und wenn Sie sich an „konkrete“ Fragen halten. Dieser Selbstbetrug ist das Ergebnis davon, daß Sie die Geschichte der Fraktionskämpfe in der Arbeiterbewegung in den letzten 50 Jahren unzureichend kennen. Wir Marxisten versuchten in jedem prinzipiellen Konflikt, ohne eine einzige Ausnahme, die Partei mit den grundlegenden Problemen der Lehre und des Programms offen zu konfrontieren, da wir davon ausgingen, daß nur unter dieser Bedingung die „konkreten“ Fragen ihren geeigneten Platz und ihr richtiges Ausmaß finden können. Andererseits stellten Opportunisten aller Schattierungen, besonders solche, die bereits ein paar Niederlagen im Bereich der Grundsatzdiskussion erlitten hatten, der marxistischen Klassenanalyse beständig „konkrete“ konjunkturelle Einschätzungen gegenüber, die, wie es üblich ist, unter dem Druck der bürgerlichen Demokratie formuliert wurden. Jahrzehnte des Fraktionskampfes hindurch bestand diese Rollenverteilung fort. Die Opposition, das versichere ich Ihnen, hat nichts Neues erfunden. Sie setzt die Tradition des Revisionismus an der Theorie und des Opportunismus in der Politik fort.

Ungefähr am Ende des vergangenen Jahrhunderts wurden die revisionistischen Versuche Bernsteins unbarmherzig zurückgeschlagen, der in England unter den Einfluß des angelsächsischen Empirismus und Utilitarismus kam die niederträchtigste aller Philosophien! Daraufhin wichen die deutschen Opportunisten plötzlich vor der Philosophie und der Soziologie zurück. Auf Parteitagen und in der Presse hörten sie nicht auf, die marxistischen „Pedanten“ zu schelten, die „konkrete politische Fragen“ durch allgemeine grundsätzliche Überlegungen ersetzten. Lesen Sie sich die Protokolle der deutschen Sozialdemokratie um das Ende des vergangenen und den Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts durch – und Sie werden sich wundern, in welchem Maße, wie die Franzosen sagen, le mort saisit le vif (das Tote das Lebende in der Gewalt hat)!

Sie kennen genau die wichtige Rolle, die die Iskra in der Entwicklung des russischen Marxismus gespielt hat. Die Iskra begann mit dem Kampf gegen den sogenannten „Ökonomismus“ in der Arbeiterbewegung und gegen die Narodniki (Partei der Sozialrevolutionäre). Das Hauptargument der „Ökonomisten“ war, daß die Iskra in den Bereich der Theorie abgleite, während sie, die „Ökonomisten“, vorschlügen, die konkrete Arbeiterbewegung zu führen. Das Hauptargument der Sozialrevolutionäre war: Die Iskra will eine Schule des dialektischen Materialismus gründen, während wir die zaristische Selbstherrschaft stürzen wollen. Man muß sagen, daß die Terroristen der Narodniki ihre eigenen Worte sehr ernst nahmen: Mit der Bombe in der Hand opferten sie ihr Leben. Wir wollten sie überzeugen: „Unter bestimmten Umständen ist eine Bombe eine ausgezeichnete Sache, aber wir sollten zuerst unsere Ansichten klären“. Es ist eine geschichtliche Erfahrung, daß die größte Revolution in der ganzen Geschichte nicht von der Partei geführt wurde, die mit Bombenlegen begann, sondern von der Partei, die mit dem dialektischen Materialismus begann.

Als die Bolschewiki und die Menschewiki noch Mitglieder gleichen Partei waren, war die Zeit vor dem Parteitag und der Parteitag selbst beständiges Zeugnis eines erbitterten Kampfes über die Tagesordnung. Lenin pflegte als einen der ersten Tagesordnungspunkte solche Fragen vorzuschlagen, wie Klärung des Charakters der Zarenmonarchie, die Analyse des Klassencharakters der Revolution, die Abschätzung der Stufen der Revolution, die wir durchgemacht haben, usw. Martow und Dan, die Führer der Menschewiki, wendeten immer ein: Wir sind kein soziologischer Klub, sondern eine politische Partei; wir müssen nicht über den Klassencharakter der zaristischen Wirtschaft, sondern über „konkrete politische Aufgaben“ zu Übereinstimmung kommen. Ich zitiere dies aus dem Gedächtnis, aber ich laufe dabei nicht Gefahr, mich zu irren, weil diese Debatte von Jahr zu Jahr wiederholt und abgedroschen wurde. Ich möchte hinzufügen, daß ich selbst in dieser Hinsicht nicht wenige Sünden begangen habe, aber ich habe seit damals etwas gelernt.

Denen, die in die „konkreten politischen Fragen“ verliebt waren, erklärte Lenin ständig, daß unsere Politik keinen konjunkturellen, sondern einen grundsätzlichen Charakter habe, daß die Taktik der Strategie untergeordnet sei, daß wir, wie bei jeder politischen Kampagne, hauptsächlich daran interessiert seien, daß sie die Arbeiter von besonderen zu allgemeinen Fragen führt, daß sie ihnen die Natur der modernen Gesellschaft und den Charakter ihrer wesentlichen Kräfte klar macht. Die Menschewiki sahen sich immer dazu genötigt, in ihrem unbeständigen Haufen grundsätzlichen Differenzen durch Ausflüchte auszuweichen, wohingegen Lenin grundsätzliche Fragen klipp und klar stellte. Die augenblicklichen Argumente der Opposition gegen Philosophie und Soziologie zugunsten von „konkreten politischen Fragen“ sind eine verspätete Wiederholung von Dans Argumenten. Kein einziges neues Wort! Es ist traurig, daß Shachtman die grundsätzliche Politik des Marxismus nur berücksichtigt, wenn sie reif für die Archive ist.

Von Ihren Lippen, Genosse Burnham, klingt der Appell, sich von der marxistischen Theorie auf „konkrete politische Fragen“ zu stellen, besonders unangenehm und unpassend, denn nicht ich, sondern Sie waren es, der die Frage nach dem Charakter der UdSSR aufwarf, und mich dabei zwang, die Frage der Methode zu stellen, durch die der Klassencharakter eines Staates bestimmt wird. Es ist nur zu wahr, Sie zogen Ihre Resolution zurück. Aber dieses Fraktionsmanöver hat keinerlei sachliche Bedeutung. Sie haben Ihre politische Schlußfolgerung aus Ihrer soziologischen Prämisse gezogen, selbst wenn Sie sie zeitweilig in Ihre Aktenmappe gesteckt haben. Shachtman zieht genau die gleichen politischen Schlußfolgerungen ohne eine soziologische Prämisse: Er paßt sich Ihnen an. Für seine „organisatorische“ Kombination sucht Abern aus beidem seinen Nutzen zu ziehen, aus der versteckten Prämisse und aus dem Nichtvorhandensein einer Prämisse. Dies ist die tatsächliche und nicht die diplomatische Situation im Lager der Opposition. Sie gehen als Anti-Marxist vor, Shachtman und Abern – als platonische Marxisten. Wer der Schlimmere ist, ist nicht leicht zu entscheiden.

 

 

Die Dialektik der gegenwärtigen Diskussion

Wenn wir der diplomatischen Front gegenüberstehen, die die versteckten Prämissen und den Mangel an Prämissen unserer Gegner versteckt, antworten wir, die Konservativen, natürlich: Eine ertragreiche Diskussion über „konkrete Fragen“ ist nur möglich, wenn Sie klar angeben, von welchen Klassenprämissen Sie ausgehen. Wir sind nicht gezwungen, uns auf jene Themen in der Diskussion zu beschränken, die Sie künstlich ausgewählt haben. Sollte jemand vorschlagen, wir sollten als „konkrete“ Fragen die Invasion der Schweiz durch die sowjetische Flotte oder die Länge des Schwanzes einer Hexe nehmen, dann darf ich im voraus solche Fragen stellen wie: Hat die Schweiz eine Küste? Gibt es überhaupt Hexen?

Eine ernsthafte Diskussion entwickelt sich vom Besonderen und sogar Zufälligen zum Allgemeinen und Grundsätzlichen. Die unmittelbaren Anlässe und Beweggründe einer Diskussion sind in den meisten Fällen nur als Symptome von Interesse. Nur die Probleme haben aktuelle politische Bedeutung, die im Verlauf der Diskussion aufgeworfen werden. Gewissen Intellektuellen, die den „bürokratischen Konservatismus“ anklagen und ihren „dynamischen Geist“ entfalten wollen, mag es scheinen, daß Fragen zur Dialektik, zum Marxismus, zum Charakter des Staates, zum Zentralismus „künstlich“ aufgeworfen werden und daß die Diskussion eine „falsche“ Richtung eingeschlagen hat. Der Kern der Sache liegt jedoch darin, daß die Diskussion ihre eigene objektive Logik hat, die durchaus nicht mit der subjektiven Logik von Individuen oder Gruppen zusammenfällt. Der dialektische Charakter der Diskussion geht daraus hervor, daß ihre objektive Richtung durch den lebendigen Kampf entgegengesetzter Tendenzen und nicht durch einen vorgefaßten logischen Plan bestimmt wird. Die materialistische Grundlage der Diskussion besteht darin, daß sie den Druck der verschiedenen Klassen widerspiegelt. Daher entwickelt sich die gegenwärtige Diskussion in der SWP wie der geschichtliche Prozeß in seiner Gesamtheit – mit oder ohne Ihre Erlaubnis, Genosse Burnham – nach den Gesetzen des dialektischen Materialismus. Diesen Gesetzen kann man nicht entfliehen.

 

 

„Wissenschaft“ gegen den Marxismus und „Experimente“ gegen ein Programm

Sie klagen Ihre Gegner des „bürokratischen Konservatismus“ an (eine bloße psychologische Abstraktion insoweit, als keine besonderen gesellschaftlichen Interessen gezeigt werden, die diesem „Konservatismus“ zu Grunde liegen) und verlangen in Ihrer Schrift, daß konservative Politik durch „kritische und experimentelle Politik – in einem Wort, wissenschaftliche Politik“ (S.32) ersetzt werden solle. Diese Darlegung, die auf den ersten Blick in ihrer ganzen Pomphaftigkeit so harmlos und bedeutungslos scheint, ist in sich selbst eine vollständige Entlarvung. Sie sprechen nicht über marxistische Politik. Sie sprechen nicht über proletarische Politik. Sie sprechen von „experimenteller“, „kritischer“, „wissenschaftlicher“ Politik. Warum diese anmaßende und mit Bedacht schwer verständliche Terminologie, die in unseren Reihen so ungebräuchlich ist? Ich will es Ihnen sagen. Sie ist das Ergebnis Ihrer Anpassung an die bürgerliche öffentliche Meinung, Genosse Burnham, und die Anpassung Shachtmans und Aberns an Ihre Anpassung. Der Marxismus ist breiten Kreisen der bürgerlichen Intellektuellen nicht länger in Mode. Zudem, wenn jemand den Marxismus erwähnen sollte, Gott bewahre, wird er möglicherweise als ein dialektischer Materialist angesehen. Es ist besser, dieses in Verruf genommene Wort zu vermeiden. Womit soll man es ersetzen? Nun, selbstverständlich mit „Wissenschaft“, sogar mit kapitalisierter Wissenschaft. Und Wissenschaft beruht, wie jedermann weiß, auf „Kritik“ und „Experimenten“. Das hört sich so gut an, so solide, so tolerant, so frei von Sektierertum, so gelehrt! Mit dieser Formel kann man jeden demokratischen Salon betreten.

Lesen Sie bitte Ihre Behauptung noch einmal: „Anstelle der konservativen Politik müssen wir kühne, anpassungsfähige, kritische und experimentelle Politik setzen – mit einem Wort: wissenschaftliche Politik“. Sie hätten das nicht besser sagen können! Aber das ist genau die Formel, die alle kleinbürgerlichen Empiristen, alle Revisionisten und schließlich alle politischen Abenteurer dem „engen“, „begrenzten“, „dogmatischen“ und „konservativen“ Marxismus entgegengestellt haben.

Buffon sagte einst: Der Stil ist der Mensch. Politische Terminologie ist nicht nur der Mensch, sondern die Partei. Die Terminologie ist eines der Elemente des Klassenkampfes. Nur leblose Pedanten können dies nicht verstehen. In Ihrer Schrift tilgen Sie – ja, niemand anders als Sie, Genosse Burnham – sorgfältig nicht nur solche Begriffe wie Dialektik und Materialismus, sondern auch solche Begriffe wie Marxismus. Sie sind über dies alles erhaben. Sie sind ein Mann der „kritischen“, „experimentellen“ Wissenschaft. Aus eben diesem Grund suchen Sie die Bezeichnung „Imperialismus“ aus, um die Außenpolitik des Kremls zu beschreiben. Diese Neuerung unterscheidet Sie von der zu unbequemen Terminologie der Vierten Internationale, und Sie schaffen weniger „sektiererische“, weniger „religiöse“, weniger unerbittliche Formeln, die Sie und – oh glücklicher Zufall! – die bürgerliche Demokratie gemeinsam haben.

Sie wollen experimentieren? Aber erlauben Sie mir, Sie daran zu erinnern, daß die Arbeiterbewegung eine lange Geschichte hat und es ihr nicht an Erfahrung und, wenn Sie so wollen, Experimenten mangelt. Diese so teuer erkaufte Erfahrung kristallisiert sich in Form einer bestimmten Lehre, desselben Marxismus, dessen Namen Sie so sorgfältig vermeiden. Bevor die Partei Ihnen das Recht zu experimentieren gibt, hat sie das Recht zu fragen: Welche Methode wollen Sie anwenden? Henry Ford würde kaum jemanden an seiner Maschinerie experimentieren lassen, der sich nicht die erforderlichen Ergebnisse der letzten Entwicklung der Industrie und der unzähligen, bereits durchgeführten Versuche angeeignet hätte. Ferner sind Versuchslaboratorien in Fabriken sorgfältig von der Massenproduktion getrennt. Noch weit unzulässiger sind Versuche von Hexenmeistern im Bereich der Arbeiterbewegung – auch wenn sie unter dem Banner der namenlosen „Wissenschaft“ ausgeführt werden. Für uns ist die Wissenschaft der Arbeiterbewegung der Marxismus. Namenlose gesellschaftliche Wissenschaft – Wissenschaft in Großbuchstaben geschrieben – überlassen wir Eastman und ähnlichen Leuten.

Ich weiß, daß Sie sich an Debatten mit Eastman beteiligt haben, und in einigen Fragen haben Sie sehr gut argumentiert. Aber Sie debattierten mit ihm als dem Repräsentanten Ihres eigenen Zirkels und nicht als Vertreter des Klassenfeindes. Das wurde in Ihrem Artikel deutlich, den Sie gemeinsam mit Shachtman geschrieben haben und den Sie schließlich mit der unerwarteten Einladung in Eastman, Hook, Lyons und den Rest beendet haben, auf den Seiten der New International ihre Ansichten darzustellen. Sie kamen nicht einmal auf den Gedanken, daß sie die Fragen der Dialektik stellen und Sie so aus Ihrem diplomatischen Schweigen treiben könnten.

Am 20. Januar vergangenen Jahres, also lange vor dieser Diskussion, bestand ich in einem Brief an Genossen Shachtman auf der dringenden Notwendigkeit, die innere Entwicklung der stalinistischen Partei aufmerksam zu verfolgen. Ich schrieb: „Es wäre tausendmal wichtiger, als Eastman, Lyons und die anderen dazu einzuladen, ihre persönlichen Ausdünstungen vorzulegen. Ich wunderte mich ein bißchen, warum Sie Eastmans letztem belanglosen und anmaßenden Artikel Platz einräumten. Es stehen ihm Harper’s Magazine, Modern Monthly, Common Sense usw. zur Verfügung. Aber ich bin vollkommen verblüfft, daß Sie persönlich diese Leute einluden, die nicht so zahlreichen Seiten der New International zu besudeln. Die Fortdauer dieser Polemik kann einige kleinbürgerliche Intellektuelle, aber nicht die revolutionären Elemente interessieren. Es ist meine feste Überzeugung, daß eine bestimmte Neugestaltung der New International und des Socialist Appeal notwendig ist: mehr Abstand von Eastman, Lyons usw. und näher an die Arbeiter und, in diesem Sinne, an die stalinistische Partei.“

Wie immer in solchen Fällen antwortete Shachtman nachlässig und unüberlegt. In Wirklichkeit wurde diese Frage dadurch gelöst, daß die Feinde des Marxismus, die Sie eingeladen hatten, Ihre Einladung nicht annahmen. Diese Episode verdient trotzdem genaue Beachtung. Einerseits laden Sie, Genosse Burnham, unterstützt von Shachtman, bürgerliche Demokraten ein, freundliche Erklärungen einzuschicken, damit sie auf den Seiten unseres Parteiorgans abgedruckt werden. Andrerseits lehnen Sie es ab, von dem gleichen Shachtman unterstützt, sich mit mir in eine Debatte über die Dialektik und über den Klassencharakter des Sowjetstaates einzulassen. Bedeutet dies nicht, daß Sie zusammen mit Ihrem Verbündeten Shachtman, ihr Gesicht etwas den bürgerlichen Semi-Gegner und ihren Rücken Ihrer eigenen Partei zugewendet haben? Vor langer Zeit kam Abern zu dem Schluß, daß der Marxismus eine Lehre sei, der man Achtung erweisen müsse, daß aber eine gute oppositionelle Verbindung weitaus handgreiflicher sei. Unterdessen schlittert und gleitet Shachtman nach unten, wobei er sich mit klugen Bemerkungen tröstet. Trotzdem fühle ich, daß ihm das Herz etwas schwer ist. Wenn Shachtman einen bestimmten Punkt erreicht, wird er sich, hoffe ich, zusammenreißen und wieder den Aufstieg beginnen. Hier besteht die Hoffnung, daß seine „experimentelle“ Fraktionspolitik sich schließlich als Vorteil für die „Wissenschaft“ erweisen wird.

 

 

„Ein unbewußter Dialektiker“

Shachtman hat, wie ich gehört habe, erklärt, daß Sie ein „unbewußter Dialektiker“ seien, wobei er meine Bemerkung über Darwin als Grundlage benutzte. Dieses zweideutige Kompliment enthält ein Körnchen Wahrheit. Jedes Individuum ist mehr oder weniger, meistens unbewußt, ein Dialektiker. Eine Hausfrau weiß, daß eine bestimmte Menge Salz eine Suppe schmackhaft würzt, aber daß weiteres Salz die Suppe ungenießbar macht. Folglich läßt sich eine ungebildete Bauersfrau beim Suppekochen vom Hegelschen Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität leiten. Ähnliche Beispiele aus dem täglichen Leben könnten endlos angeführt werden. Selbst Tiere gelangen zu ihren praktischen Schlüssen nicht nur aufgrund des Aristotelischen Syllogismus, sondern auch aufgrund der Hegelschen Dialektik. So weiß ein Fuchs, daß Vierfüßler und Vögel nahrhaft und schmackhaft sind. Sieht er einen Hasen, ein Kaninchen oder ein Huhn, so schließt der Fuchs: Diese besonderen Wesen gehören zu der schmackhaften und nahrhaften Gruppe und jagt der Beute nach. Wir haben hier einen vollständigen Syllogismus, obwohl der Fuchs vermutlich nie Aristoteles gelesen hat. Trifft der gleiche Fuchs jedoch mit dem ersten Tier zusammen, daß ihn an Größe übertrifft, zum Beispiel mit einem Wolf, schließt er schnell, daß Quantität in Qualität übergeht, und wendet sich zur Flucht. Klar, die Beine eines Fuchses sind mit Hegelschen Tendenzen ausgestattet, wenn auch nicht mit völlig bewußten. All das zeigt beiläufig, daß unsere Denkmethoden, sowohl die formale Logik als auch die Dialektik, keine willkürlichen Konstruktionen unseres Verstandes sind, sondern eher Ausdruck der tatsächlichen Wechselbeziehungen in der Natur selbst. In diesem Sinne ist die Welt durch und durch von „unbewußter“ Dialektik durchdrungen. Aber die Natur hört damit nicht auf. Eine große Entwicklung ereignete sich, bevor die inneren Beziehungen der Natur in die Sprache des Bewußtseins der Füchse und der Menschen übersetzt war, und der Mensch diese Formen des Bewußtseins verallgemeinern und in logische (dialektische) Kategorien umwandeln konnte, und sich so die Möglichkeit schuf, tiefer in die Welt um uns einzudringen.

Der vollendetste Ausdruck der Gesetze der Dialektik, die sich in der Natur und in der Gesellschaft durchsetzen, wurde bis heute von Hegel und Marx gegeben. Trotz der Tatsache, daß Darwin nicht daran interessiert war, seine logische Methode als wahr zu beweisen, erreichte sein Empirismus – der eines Genies – im Bereich der Naturwissenschaften die höchsten dialektischen Verallgemeinerungen. In diesem Sinne war Darwin, wie ich in meinem vorigen Artikel erklärt habe, ein „unbewußter Dialektiker“. Wir schätzen Darwin jedoch nicht wegen seiner Unfähigkeit hoch ein, bis zur Dialektik aufzusteigen, sondern weil er uns, trotz seiner philosophischen Rückständigkeit den Ursprung der Arten erklärt hat. Engels war, darauf sollte hingewiesen werden, aufgebracht durch den beschränkten Empirismus der Darwinschen Methode, obwohl er wie Marx sofort die Bedeutung der Theorie der natürlichen Auslese würdigte. Darwin blieb im Gegenteil leider bis zu seinem Lebensende ohne Kenntnis von der Bedeutung der Marxschen Soziologie. Wäre Darwin in der Presse gegen die Dialektik oder den Materialismus aufgetreten, hätten Marx und Engels ihn mit doppelter Kraft angegriffen, um zu verhindern, daß seine Autorität die ideologische Reaktion deckt.

In der Verteidigungsrede von Shachtman mit dem Inhalt, daß Sie ein „unbewußter Dialektiker“ seien, muß die Betonung auf unbewußt gelegt werden. Shachtmans Ziel, auch zum Teil unbewußt, ist es, seinen Block mit Ihnen durch die Herabsetzung des dialektischen Materialismus zu verteidigen. Denn tatsächlich sagt Shachtman: Der Unterschied zwischen einem „bewußten“ und einem „unbewußten“ Dialektiker ist nicht so groß, daß man darüber streiten muß. So versucht Shachtman, die marxistische Methode in Verruf zu bringen.

Aber das Übel geht sogar darüber hinaus. Es gibt auf der Welt sehr viele unbewußte oder halb-bewußte Dialektiker. Einige von ihnen wenden die materialistische Dialektik vorzüglich auf die Politik an, wenn sie sich auch niemals mit Fragen der Methode beschäftigt haben. Es wäre offensichtlich pedantische Dummheit, solche Genossen anzugreifen. Aber mit Ihnen ist das anders, Genosse Burnham. Sie sind Herausgeber des theoretischen Organs, dessen Aufgabe es ist, die Partei im Geist der marxistischen Methode zu erziehen. Dennoch sind sie ein bewußter Gegner der Dialektik und durchaus kein unbewußter Dialektiker. Selbst wenn Sie, wie Shachtman beharrlich behauptet, der Dialektik in politischen Fragen erfolgreich gefolgt sind, d.h. selbst wenn Sie mit einem dialektischen „Instinkt“ begabt wären, wären wir immer noch gezwungen, einen Kampf gegen Sie zu führen, da Ihr dialektischer Instinkt, wie andere persönliche Fähigkeiten, nicht anderen vermittelt werden kann, wohingegen die bewußte dialektische Methode der ganzen Partei in diesem oder jenem Maße zugänglich gemacht werden kann.

 

 

Die Dialektik und Mr. Dies

Wenn Sie auch einen dialektischen Instinkt haben – ich will darüber nicht befinden –, ist er beinahe erstickt durch akademische Routine und intellektuelle Hochnäsigkeit. Was wir als Klasseninstinkt des Arbeiters bezeichnen, akzeptiert verhältnismäßig leicht das dialektische Herangehen an Fragen. Es kann keine Rede sein von einem derartigen Klasseninstinkt bei einem kleinbürgerlichen Intellektuellen. Ein Intellektueller kann, getrennt vom Proletariat, zur marxistischen Politik nur emporsteigen, indem er bewußt eine kleinbürgerliche Gesinnung überwindet. Unglücklicherweise tun Shachtman und Abern alles, was in ihrer Macht steht, um Ihnen diesen Weg zu versperren. Durch ihre Unterstützung leisten sie Ihnen einen sehr schlechten Dienst, Genosse Burnham.

Unterstützt durch Ihren Block, den man „Bund fraktioneller Ungezwungenheit“ nennen sollte, begehen Sie einen Fehler nach dem anderen: in der Philosophie, in der Soziologie, in der Politik, im organisatorischen Bereich. Ihre Irrtümer sind nicht zufällig. Sie gehen an jede Frage heran, indem Sie sie abtrennen, aus ihrem Zusammenhang mit anderen Fragen, aus ihrem Zusammenhang mit sozialen Umständen herausreißen, – und die internationale Erfahrung nicht berücksichtigen. Ihnen fehlt die dialektische Methode. Trotz all Ihrer Bildung verhalten Sie sich in der Politik wie ein Hexenmeister.

In der Frage des Dies-Komitees offenbarte sich Ihr Popanz nicht weniger deutlich als in der Frage Finnlands. Auf meine Argumente, das Parlament zu gebrauchen, antworteten Sie, daß die Frage nicht durch grundsätzliche Überlegungen entschieden werden solle, sondern durch einige besondere Umstände, die nur Ihnen allein bekannt seien, die aber einzeln anzugeben Sie unterließen. Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, welches diese Umstände waren: Ihre ideologische Abhängigkeit von der bürgerlichen öffentlichen Meinung. Obwohl die bürgerliche Demokratie in allen ihren Teilen volle Verantwortung für das kapitalistische Regime trägt, das Dies-Komitee eingeschlossen, ist sie für die Interessen genau desselben Kapitalismus gezwungen, schamhaft die Aufmerksamkeit von den allzu unverhüllten Organen des Regimes abzulenken. Eine einfache Arbeitsteilung! Ein alter Betrug, der jedoch immer noch weiter funktioniert! Was die Arbeiter betrifft, auf die sie sich undeutlich beziehen, so steht auch ein Teil von ihnen, ein sehr beträchtlicher Teil, genau wie Sie selbst, unter dem Einfluß der bürgerlichen Demokratie. Aber der Durchschnittsarbeiter, der nicht von den Vorurteilen der Arbeiteraristokratie angesteckt ist, würde jedes kräftige revolutionäre Wort freudig begrüßen, das dem Klassenfeind genau ins Gesicht geschleudert wird. Und je reaktionärer die Institution, die als Kampfarena dient, desto vollkommener ist die Befriedigung der Arbeiter. Das wurde durch die geschichtliche Erfahrung bewiesen. Selbst Dies, der Angst bekam und sich rechtzeitig zurückzog, zeigte, wie falsch Ihr Standpunkt war. Es ist immer besser, den Feind zum Rückzug zu zwingen, als sich kampflos zu verstecken.

Aber an diesem Punkt sehe ich die zornige Gestalt Shachtmans sich erheben, um mich mit einer Gebärde des Protestes aufzuhalten: Die Opposition trägt keine Verantwortung für Burnhams Ansicht über das Dies-Komitee. Diese Frage hat keinen Fraktionscharakter angenommen usw. usf. Das weiß ich alles. Als ob der ganzen Opposition nichts anderes fehlte, als sich für die Taktik des Boykotts zu erklären, die in diesem Fall völlig sinnlos ist! Es reicht aus, daß der Oppositionsführer, der seine eigenen Ansichten hat und sie offen ausdrückt, für den Boykott eintrat. Wenn Sie zufällig dem Alter entwachsen sind, in dem man über „Religion“ diskutiert, dann nehme ich offengestanden an, daß die Vierte Internationale dem Alter entwachsen ist, in dem man Enthaltsamkeit für die revolutionärste aller Politik hält. Außer Ihrem Mangel an Methode offenbarten Sie in diesem Fall einen deutlichen Mangel an politischem Scharfsinn. In der gegebenen Situation hätte ein Revolutionär nicht lange diskutieren brauchen, bis er durch die vom Feind aufgerissene Tür gesprungen wäre und die Gelegenheit möglichst gut ausgenutzt hätte. Für jene Mitglieder der Opposition, die ich zusammen mit Ihnen gegen eine Teilnahme am Dies-Komitee ausgesprochen haben – das waren nicht so wenige – muß man meiner Meinung nach besondere Einführungskurse einrichten, um ihnen die Grundwahrheiten der revolutionären Taktik zu erklären, die nichts mit der pseudoradikalen Enthaltung der intellektuellen Zirkel zu tun haben.

 

 

„Konkrete politische Fragen“

Die Opposition ist genau in dem Bereich am schwächsten, in dem sie sich selbst besonders stark vorkommt – dem Bereich der tagtäglichen revolutionären Politik. Das bezieht sich vor allem auf Sie, Genosse Burnham. Hilflosigkeit angesichts großer Ereignisse zeigte sich bei Ihnen wie bei der ganzen Opposition offenkundig in der Frage Polens, des Baltikums und Finnlands. Zuerst entdeckte Shachtman den „Stein der Weisen“: die Durchführung eines gleichzeitigen Aufstandes gegen Hitler und Stalin im besetzten Polen. Die Idee war ausgezeichnet. Es ist nur zu dumm, daß Shachtman sie nicht in die Tat umsetzen konnte. Die fortschrittlichen Arbeiter in Ostpolen könnten mit vollem Recht sagen: „Ein gleichzeitiger Aufstand gegen Hitler und Stalin in einem von Truppen besetzten Land mag vielleicht von Bronx aus sehr bequem geplant werden. Aber hier am Ort ist es schwieriger. Wir würden gerne hören, was Burnham und Shachtman auf eine ‚konkrete politische Frage‘ antworten: Was sollen wir von jetzt an bis zum kommenden Aufstand machen?“ In der Zwischenzeit forderte der Kommandostab der Sowjetarmee Bauern und Arbeiter auf, Land und Fabriken zu besetzen. Dieser Aufruf, unterstützt durch die Streitkräfte, spielte eine ungeheuer große Rolle im Leben des besetzten Landes. Die Moskauer Zeitungen waren bis zum Überlaufen voll von Berichten über den grenzenlosen „Enthusiasmus“ der Arbeiter und armen Bauern. Wir sollten und müssen an diese Berichte mit berechtigtem Mißtrauen herangehen. Es fehlt nicht an Lügen. Aber man darf trotzdem seine Augen nicht vor den Tatsachen verschließen. Der Aufruf, mit den Gutsherrn abzurechnen und die Kapitalisten zu verjagen, hat unfehlbar den Mut der gehetzten und unterdrückten ukrainischen und weißrussischen Bauern und Arbeiter aufrichten müssen, die in den polnischen Gutsherren einen doppelten Feind sahen.

Im Pariser Organ der Menschewiki, die sich mit der bürgerlichen Demokratie Frankreichs und nicht mit der Vierten Internationale verbünden, wurde kategorisch behauptet, daß der Vormarsch der Roten Armee von einer Welle revolutionärer Erhebungen begleitet würde, ein Nachhall davon drang bis zu den Bauernmassen Rumäniens durch. Was den Nachrichten dieses Organs besonderes Gewicht zukommen läßt, ist die nahe Verbindung der Menschewiki zu den Führern des Jüdischen Bundes, der Polnischen Sozialistischen Partei und anderer Organisationen, die dem Kreml gegenüber feindlich gesinnt und aus Polen geflohen sind. Daher hatten wir vollkommen recht, als wir den Bolschewiki in Ostpolen sagten: Zusammen mit den Arbeitern und Bauern und in der vordersten Front müßt ihr gegen die Gutsherrn und Kapitalisten kämpfen; entfernt euch nicht von den Massen, trotz ihrer Illusionen, wie sich auch die russischen Revolutionäre nicht von den Massen entfernten, die ihre Illusionen in den Zaren noch nicht verloren hatten (Blutsonntag, 22. Januar 1905); erzieht die Massen im Verlaufes des Kampfes, warnt sie vor naiven Hoffnungen auf Moskau, aber entfernt euch nicht von ihnen, kämpft in ihren Lager, versucht, ihren Kampf auszudehnen und zu vertiefen und ihm die größtmögliche Unabhängigkeit zu geben! Nur auf diese Weise werdet ihr den bevorstehenden Aufstand gegen Stalin vorbereiten. Der Verlauf der Ereignisse in Polen hat diese Direktive vollkommen bestätigt, die eine Fortsetzung und Entwicklung unserer ganzen bisherigen Politik, insbesondere der in Spanien war.

Da es keinen grundlegenden Unterschied zwischen der polnischen und der finnischen Situation gibt, gibt es für uns keinen Grund, die Direktive zu verändern. Aber die Opposition, die die Bedeutung der polnischen Ereignisse nicht verstanden hat, versucht nun, nach Finnland zu greifen als einem neuen Rettungsanker. „Wo gibt es Bürgerkrieg in Finnland? Trotzki spricht von einem Bürgerkrieg. Wir haben davon nichts in der Presse gelesen“ usw. Die Frage Finnlands erscheint der Opposition als grundverschieden von der Frage der Westukraine und Weißrußlands. Jede Frage wird isoliert und unabhängig vom allgemeinen Verlauf der Entwicklung betrachtet. Vom Gang der Ereignisse verwirrt, versucht sich die Opposition auf einige zufällige, zweitrangige, zeitweilige und konjunkturelle Umstände zu stützen.

Bedeutet dieses Geschrei, daß es in Finnland keinen Bürgerkrieg gäbe, daß die Opposition unsere Politik übernehmen würde, wenn sich der Bürgerkrieg tatsächlich in Finnland entfaltet? Ja oder nein? Wenn ja, verurteilt die Opposition damit ihre eigene Politik in bezug auf Polen, da sie sich dort trotz des Bürgerkrieges darauf beschränkte, an den Ereignissen nicht teilzunehmen, während sie auf einen gleichzeitigen Aufstand gegen Hitler und Stalin wartete – Es ist offensichtlich, Genosse Burnham, daß Sie und Ihre Verbündeten diese Frage nicht bis zu Ende durchdacht haben.

Wie steht es mit meiner Behauptung über einen Bürgerkrieg in Finnland? Gleich bei der Eröffnung der militärischen Feindseligkeiten hätte man mutmaßen können, daß Moskau versucht, durch eine „kleine“ Strafexpedition eine Veränderung der Regierung in Helsinki herbeizuführen und die gleiche Beziehung mit Finnland wie mit den anderen baltischen Staaten zu schaffen. Aber die Ernennung der Kuusinen-Regierung in Terioki zeigte, daß Moskau andere Pläne und Ziele hatte. Depeschen berichteten dann, daß eine finnische „Rote Armee“ geschaffen worden sei. Natürlich, es handelte sich nur um kleine Formationen, die von oben aufgestellt wurden. Kuusinens Programm war erlassen worden. Dann erschienen Meldungen, große Güter seien unter die armen Bauern aufgeteilt worden. In ihrer Gesamtheit stellen die Meldungen einen Versuch Moskaus dar, einen Bürgerkrieg zu organisieren. Natürlich, das ist ein Bürgerkrieg besonderer Art. Er entspringt nicht spontan aus den Tiefen der Volksmassen. Er wird nicht unter Leitung der finnischen revolutionären Partei geführt, die sich auf eine Massenbasis stützt, er ist durch Bajonette von außen eingeführt worden. Er wird von der Moskauer Bürokratie kontrolliert. All das wissen wir, und wir behandelten all dies, als wir Polen diskutierten. Trotzdem ist es genau eine Frage des Bürgerkriegs, eines Appells an die Niedrigen, an die Armen, eine Aufforderung an sie, die Reichen zu enteignen, sie zu verjagen, sie einzusperren usw. Ich weiß keinen anderen Namen für diese Aktionen als Bürgerkrieg.

„Aber schließlich entfaltete sich der Bürgerkrieg in Finnland nicht“, entgegnen die Oppositionsführer. „Das bedeutet, daß sich Ihre Vorhersagen nicht verwirklichten“. Nach der Niederlage und dem Rückzug der Roten Armee, antworte ich, kann sich der Bürgerkrieg selbstverständlich nicht unter den Bajonetten Mannerheims entfalten. Diese Tatsache ist kein Argument gegen mich, sondern eins gegen Shachtman. Denn sie zeigt, daß es in den ersten Phasen des Krieges, zu einer Zeit, wo die Disziplin in Armeen noch gut ist, weil leichter ist, einen Aufstand zu organisieren und zudem von zwei Fronten, von Bronx und von Terioki.

Wir sahen die Niederlagen der ersten Abteilungen der Roten Armee nicht voraus. Wir konnten nicht vorhersehen, in welchem Maße Dummheit und Demoralisierung im Kreml und in den Führungsstäben der Armee herrschten, die vom Kreml enthauptet wurden. Trotzdem handelt es sich lediglich um eine militärische Episode, die unsere Linie nicht bestimmen kann. Sollte sich Moskau nach seinen ersten erfolglosen Versuchen jeder weiteren Offensive gegen Finnland enthalten, dann würde gerade die Frage, die die ganze Weltlage in den Augen der Opposition verdunkelt, von der Tagesordnung verschwinden. Aber das ist kaum wahrscheinlich. Wenn andrerseits England, Frankreich und die Vereinigten Staaten, die sich auf Skandinavien stützen, Finnland mit militärischer Gewalt helfen würden, würde die finnische Frage in einem Krieg zwischen der UdSSR und den imperialistischen Ländern untergehen. In diesem Fall müssen wir annehmen, daß sogar die Mehrheit der Oppositionellen sich an das Programm der Vierten Internationale erinnern würde.

Gegenwärtig jedoch ist die Opposition nicht an diesen beiden Varianten interessiert: entweder die Einstellung der Offensive seitens der UdSSR oder der Ausbruch von Feindseligkeiten zwischen der UdSSR und den imperialistischen Demokratien. Die Opposition hat nur an der isolierten Frage des Einmarsches der UdSSR in Finnland Interesse. Gut, nehmen wir das als unseren Ausgangspunkt. Wenn, wie man annehmen kann, die zweite Offensive besser vorbereitet und geleitet wird, wird der Vormarsch der Roten Armee in das Land wiederum die Frage des Bürgerkrieges auf die Tagesordnung setzen, und außerdem in wesentlich größerem Ausmaß als während des ersten und jämmerlich erfolglosen Versuchs. Folglich bleibt unsere Direktive solange vollständig gültig, wie die Frage selbst aktuell bleibt. Aber was schlägt die Opposition schließlich vor, wenn die Rote Armee nach Finnland vorrückt und dort den Bürgerkrieg entfacht? Die Opposition denkt offensichtlich darüber überhaupt nicht nach, denn sie lebt von einem Tag in den anderen, von einem Zufall in den anderen, wobei sie sich an Episoden, an isolierte Phrasen in einem Leitartikel klammert, von Sympathien und Antipathien lebt und auf diese Weise für sich selbst den Anschein einer Plattform schafft. Die Schwäche der Empiriker und Impressionisten wird sich immer am auffälligsten daran zeigen, wie sie „konkrete politische Fragen“ angehen.

 

 

Theoretische Verwirrung und politische Enthaltsamkeit

Durch alle Schwankungen und Zuckungen der Opposition, mögen sie auch widersprüchlich sein, ziehen sich zwei Grundzüge wie ein roter Faden von den Gipfeln der Theorie hinunter zu den geringfügigsten politischen Episoden. Der erste Grundzug ist, daß eine vereinheitlichte Auffassung fehlt. Die Oppositionsführer trennen die Soziologie vom dialektischen Materialismus. Sie trennen Politik von Soziologie. Im Bereich der Politik trennen die unsere Aufgaben in Polen von unserer Erfahrung in Spanien, unsere Aufgaben in Finnland von unserer Stellung zu Polen. Geschichte wird in eine Reihe von außerordentlichen Zufällen, Politik in eine Reihe von Improvisationen verwandelt. Wir haben hier, im wahrsten Sinne des Wortes, die Auflösung des Marxismus, die Auflösung des theoretischen Denkens, die Auflösung der Politik in ihre einzelnen Bestandteile. Der Empirismus und sein Stiefbruder, der Impressionismus, herrschen überall vor. Deswegen liegt die ideologische Führung bei Ihnen, Genosse Burnham, als einem Gegner der Dialektik, als einem Empiristen der sich seines Empirismus nicht schämt.

In allen Schwankungen und Zuckungen der Opposition gibt es einen zweiten Grundzug, der fest mit dem ersten verknüpft ist, nämlich die Tendenz, sich von der aktiven Teilnahme zurückzuhalten, eine Tendenz zur Selbstvernichtung, zur Enthaltsamkeit, selbstverständlich unter dem Deckmantel ultralinker Phrasen. Sie sind für den Sturz Hitlers und Stalins in Polen, Stalins und Mannerheims in Finnland. Und bis dahin lehnen Sie beide Seiten gleichermaßen ab, mit anderen Worten, Sie ziehen sich vom Kampf, einschließlich des Bürgerkrieges, zurück. Daß Sie das Fehlen eines Bürgerkrieges in Finnland anführen, ist nur ein unwesentliches konjunkturelles Argument. Sollte sich der Bürgerkrieg ausbreiten, wird die Opposition versuchen, ihn nicht zu bemerken, wie sie auch versuchte, ihn in Polen nicht zu bemerken, oder sie wird erklären, daß, weil ja die Politik der Moskauer Bürokratie „imperialistisch“ ist, „wir“ nicht an diesem schmutzigen Geschäft teilnehmen. Die Opposition, die den „konkreten“ politischen Aufgaben direkt auf der Spur ist, stellt sich in Wirklichkeit außerhalb des historischen Prozesses. Ihre Haltung, Genosse Burnham, zum Dies-Komitee verdient genau deswegen Aufmerksamkeit, weil sie ein anschaulicher Ausdruck dieser gleichen Neigung zur Enthaltsamkeit und zur Verwirrung ist. Ihr Leitsatz bleibt noch derselbe: „Danke, ich rauche nicht“.

Natürlich kann jeder Mensch, jede Partei und sogar jede Klasse verwirrt werden. Aber bei der Kleinbourgeoisie ist Verwirrung, besonders angesichts großer Ereignisse, eine unausweichliche und sozusagen angeborene Bedingung. Die Intellektuellen versuchen, ihren Zustand der Verwirrung in der Sprache der „Wissenschaft“ auszudrücken. Die widersprüchliche Plattform der Opposition spiegelt die kleinbürgerliche Verwirrung wider, die sich in der hochtrabenden Sprache der Intellektuellen ausdrückt. Daran ist nichts Proletarisches.

 

 

Das Kleinbürgertum und der Zentralismus

Im organisatorischen Bereich sind Ihre Ansichten genauso schematisch, empirisch, nichtrevolutionär wie im Bereich der Theorie und Politik. A. Stolberg jagt mit der Laterne in der Hand einer idealen Revolution nach, die nicht von irgendwelchen Exzessen begleitet ist und geschützt vor Thermidor und Konterrevolution. Genauso suchen Sie eine ideale Parteidemokratie, die für immer und für jeden die Möglichkeit sichern würde, alles zu sagen und zu tun, was ihm in den Kopf kommt, und die die Partei gegen bürokratische Degeneration sichern würde. Sie übersehen eine Kleinigkeit, nämlich daß die Partei nicht der Schauplatz ist, um die freie Individualität zur Geltung zu bringen, sondern ein Instrument der proletarischen Revolution; daß nur eine siegreiche Revolution nicht nur die Degenerierung der Partei, sondern auch die Degenerierung des Proletariats selbst und der modernen Zivilisation in ihrer Gesamtheit verhindern kann. Sie sehen nicht, daß unsere amerikanische Sektion nicht an zuviel Zentralismus leidet – es ist sogar lächerlich, davon zu reden –, sondern an ungeheuerlichem Mißbrauch und ungeheuerlicher Verzerrung der Demokratie durch kleinbürgerliche Elemente. Das ist die Ursache der gegenwärtigen Krise.

Ein Arbeiter verbringt seinen Tag in der Fabrik. Er hat vergleichsweise wenig Zeit für die Partei übrig. Auf den Treffen möchte er die wichtigsten Dinge lernen: die richtige Einschätzung der Lage und die politischen Folgerungen. Er schätzt jene Führer, die dies am klarsten und genausten machen und die mit den Ereignissen Schritt halten. Kleinbürgerliche und vor allem deklassierte Elemente, die vom Proletariat getrennt sind, vegetieren in einer künstlichen und kranken Umgebung dahin. Sie haben genügend Zeit, in der Politik oder ihrem Ersatz herumzupfuschen. Sie finden Fehler heraus, tauschen Leckerbissen und Geschwätz über Ereignisse in den Partei“spitzen“ aus. Sie machen immer einen Führer ausfindig, der sie in alle „Geheimnisse“ einweiht. Die Diskussion ist ihr Element. Demokratie kann es für sie niemals genug geben. Für ihren Krieg mit Worten suchen sie die vierte Dimension. Sie werden nervös, sie drehen sich in einem Circulus vitiosus, und sie stillen ihren Durst mit Salzwasser. Wollen Sie das organisatorische Programm der Opposition kennenlernen? Es besteht aus einer verrückten Jagd nach der vierten Dimension der Parteidemokratie. In der Praxis bedeutet das, Politik unter der Diskussion zu begraben und den Zentralismus unter der Anarchie intellektueller Zirkel. Wenn ein paar tausend Arbeiter in die Partei eintreten, werden sie die kleinbürgerlichen Anarchisten ernsthaft zur Ordnung rufen. Je früher, desto besser.

 

 

Schlußfolgerungen

Warum wende ich mich an Sie und nicht an die anderen Oppositionsführer? Weil Sie der ideologische Führer des Blockes sind. Genossen Aberns Fraktion, die weder Programm noch Banner hat, braucht immer einen Deckmantel. Einmal diente Shachtman als Deckmantel, dann Muste und Spector und nun Sie mit Shachtman, der sich Ihnen anpaßt. Ich betrachte Ihre Ideologie als bürgerlichen Einfluß auf das Proletariat.

Einigen Genossen wird vielleicht der Ton dieses Briefes zu scharf erscheinen. Ich jedoch muß eingestehen, daß ich alles getan habe, was in meiner Macht steht, um mich zurückzuhalten. Denn es geht schließlich um nichts mehr oder weniger als den Versuch, die theoretischen Grundlagen, die politischen Grundsätze und organisatorischen Methoden unserer Bewegung zu verwerfen, für untauglich zu erklären und umzustürzen.

Als Reaktion auf meinen letzten Artikel hat Genosse Abern, so wurde berichtet, bemerkt: „Das bedeutet Spaltung.“ Solch eine Antwort zeigt nur, daß es Abern an Treue zur Partei und zur Vierten Internationale fehlt; er ist ein Mensch, der nur für Zirkel taugt. Jedenfalls werden uns Spaltungsdrohungen nicht davon abhalten, eine marxistische Analyse der Differenzen vorzulegen. Für uns Marxisten handelt es sich nicht um Spaltung, sondern um die Erziehung der Partei. Ich habe die feste Hoffnung, daß der kommende Parteitag die Revisionisten unbarmherzig zurückweisen wird.

Der Parteitag muß meiner Meinung nach kategorisch erklären, daß die Oppositionsführer durch ihre Versuche, die Soziologie vom dialektischen Materialismus und die Politik von der Soziologie zu trennen, mit dem Marxismus gebrochen haben und ein Vermittlungsmechanismus für den kleinbürgerlichen Empirismus geworden sind. Indem die Partei in entschiedener Weise und vollzählig ihre Loyalität gegenüber der marxistischen Lehre und den politischen und organisatorischen Methoden des Bolschewismus von neuem bekräftigt, indem sie den Herausgeber ihrer offiziellen Publikationen verpflichtet, diese Lehre und diese Methoden zu verbreiten und zu verteidigen, wird sie in Zukunft selbstverständlich die Seiten ihrer Publikationen denjenigen Parteimitgliedern zur Verfügung stellen, die sich für fähig halten, der Lehre des Marxismus etwas Neues hinzufügen. Aber sie wird kein Versteckspiel mit dem Marxismus und keinen leichtfertigen Spott über ihn zulassen.

Die Politik der Partei hat Klassencharakter. Ohne eine Klassenanalyse des Staates, der Parteien und der ideologischen Richtungen kann man unmöglich zu einer richtigen politischen Orientierung gelangen. Die Partei muß den Versuch als vulgären Opportunismus verdammen, die Politik gegenüber der UdSSR von Ereignis zu Ereignis und unabhängig vom Klassencharakter des Sowjetstaates zu bestimmen.

Die Zersetzung des Kapitalismus, die heftige Unzufriedenheit unter der Kleinbourgeoisie erzeugt und ihre unterste Schicht nach links treibt, eröffnet große Möglichkeiten, aber sie enthält auch ernste Gefahren. Die Vierte Internationale bedarf nur jener Abwanderer aus der Kleinbourgeoisie, die völlig mit ihrer sozialen Vergangenheit gebrochen haben und entschieden zum Standpunkt des Proletariats übergegangen sind.

Dieser theoretische und politische Übergang muß von einem tatsächlichen Bruch mit der alten Umgebung begleitet sein und von der Errichtung fester Bindungen an die Arbeiter, im besonderen durch die Teilnahme an der Rekrutierung und Erziehung von Proletariern für ihre Partei. Abwanderer aus dem kleinbürgerlichen Milieu, die sich nicht im proletarischen Milieu festsetzen konnten, müssen nach Ablauf einer bestimmten Zeit von der Parteimitgliedschaft zum Status eines Sympathisanten degradiert werden.

Parteimitglieder, die nicht im Klassenkampf erprobt sind, dürfen nicht auf verantwortungsvolle Posten kommen. Es spielt keine Rolle, wie begabt und dem Sozialismus ergeben ein Abwanderer aus dem bürgerlichen Milieu sein mag; bevor er ein Lehrer wird, muß er durch die Schule der Arbeiterklasse gehen. Junge Intellektuelle dürfen nicht an die Spitze der intellektuellen Jugend gestellt werden, sondern müssen ein paar Jahre lang in die Provinzen geschickt werden, in die rein proletarischen Zentren, zu harter praktischer Arbeit.

Die Klassenzusammensetzung der Partei muß ihrem Klassenprogramm entsprechen. Die amerikanische Sektion der Vierten Internationale wird entweder proletarisch werden oder sie wird aufhören zu existieren.

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Genosse Burnham! Wenn wir auf der Grundlage dieser Prinzipien zu einer Übereinstimmung mit Ihnen kommen können, werden wir ohne Schwierigkeiten eine richtige Politik in bezug auf Polen, Finnland und sogar Indien finden. Gleichzeitig verpflichte ich mich, Ihnen beim Kampf gegen jede beliebige Äußerung des Bürokratismus und des Konservatismus zu helfen. Das sind meiner Meinung nach die Bedingungen für die Beendigung der gegenwärtigen Krise.

Mit bolschewistischen Grüßen,
Leo Trotzki

Coyoacan, D.F.,
7. Januar 1940

 


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008