Leo Trotzki

 

Verteidigung des Marxismus

 

Bilanz der Finnischen Ereignisse


Zuerst veröffentlicht in Fourth International, Juni 1940.
Später veröffentlicht 1942 in der Sammlung In Defense of Marxism.
Transkription: Tim Vanhoof.
HTML-Markierung: Tim Vanhoof u. Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Sie konnten es nicht vorhersehen

„Wir“ sahen das Bündnis mit Hitler vorher, schreiben Shachtman und Burnham, aber die Besetzung Ostpolens? Den Einmarsch in Finnland? – Nein, diese Ereignisse konnten „wir“ nicht vorhersehen. Solche vollkommen unwahrscheinlichen und äußerst unerwarteten Ereignisse erfordern, daß betonen sie, eine vollständige Umwälzung unserer Politik. Diese Politiker arbeiteten offensichtlich unter dem Eindruck, daß Stalin ein Bündnis mit Hitler brauche, um Ostereier mit ihm zu suchen. Sie „sahen“ die Allianz „vorher, (wann?, wo?), aber ihre Absichten und Gründe konnten sie nicht vorhersehen.

Sie erkennen das Recht des Arbeiterstaates an, zwischen den imperialistischen Lagern zu manövrieren und Abkommen mit dem einen gegen ein anderes abzuschließen. Offensichtlich sollten diese Verträge zum Ziel haben, den Arbeiterstaat zu verteidigen, die Errungenschaft wirtschaftlicher, strategischer und anderer Vorteile abzusichern, die Grundlagen des Arbeiterstaates auszudehnen, falls die Umstände dies zulassen. Der degenerierte Arbeiterstaat versucht, diese Ziele mit seinen eigenen bürokratischen Methoden zu erreichen, die auf jedem Schritt mit den Interessen des Weltproletariats in Konflikt geraten. Aber was genau ist so unerwartet und unvorhersehbar an dem Versuch des Kremls, möglichst großen Nutzen aus dem Bündnis mit Hitler zu ziehen?

Wenn unsere unglücklichen Politiker „dies“ nicht vorher sehen konnten, so nur deshalb, weil sie keine einzige Frage ernsthaft bis zu Ende durchdenken. Während der verschleppten Verhandlungen mit der englisch-französischen Delegation im Sommer 1939 verlangte der Kreml offen die militärische Kontrolle über die baltischen Staaten. Weil England und Frankreich sich weigerten, ihm diese Kontrolle zuzugestehen, brach Stalin die Verhandlungen ab. Das allein weist deutlich darauf hin, daß ein Abkommen mit Hitler Stalin zumindest die Kontrolle über die baltischen Staaten sichern wurde. Politisch reife Leute überall auf der Welt gingen an diese Angelegenheit von eben diesem Standpunkt heran und fragten sich: Wie genau will Stalin diese Aufgabe lösen? Wird er zu militärischer Gewalt greifen? Usw. Der Verlauf der Ereignisse hing jedoch sehr viel mehr von Hitler ab als von Stalin. Allgemein gesprochen, konkrete Ereignisse können nicht vorhergesagt werden. Aber die Hauptrichtung der Ereignisse, wie sie sich tatsächlich entwickelten, enthielt nichts wesentlich Neues.

Die Degenerierung des Arbeiterstaates bewirkte, daß die Sowjetunion an der Schwelle des zweiten imperialistischen Krieges weitaus schwächer war, als es nötig gewesen wäre. Stalins Übereinkommen mit Hitler sollte die UdSSR vor einem deutschen Angriff sichern und die UdSSR im allgemeinen davor schützen, in einen größeren Krieg gezogen zu werden. Während Hitler Polen besetzte, mußte er sich nach Osten hin absichern. Stalin war gezwungen, mit Zustimmung Hitlers, im östlichen Polen einzumarschieren, um sich selbst einige zusätzliche Sicherheiten gegen Hitler an der Westgrenze der UdSSR zu verschaffen. Diese Ereignisse hatten jedoch zur Folge, daß die UdSSR eine gemeinsame Grenze mit Deutschland bekam, und gerade hierdurch wurde die Gefahr von seiten eines siegreichen Deutschlands wesentlich unmittelbarer, während sich Stalins Abhängigkeit von Hitler stark vergrößerte.

Die Episode der Teilung Polens fand ihre Fortsetzung und Erweiterung in Skandinavien. Hitler hat seinem „Freund“ Stalin sicherlich angedeutet, daß er die Besetzung der skandinavischen Länder plane. Stalin muß daraufhin der kalte Schweiß ausgebrochen sein. Schließlich bedeutete dies die deutsche Alleinherrschaft über die Ostsee, über Finnland und stellte daher eine offene Drohung gegen Leningrad dar. Wieder einmal mußte Stalin nachträglich Garantien gegen seinen Verbündeten suchen, diesmal in Finnland. Jedoch stieß er dort auf ernsten Widerstand. Der „militärische Abstecher“ zog sich weiter hin. Währenddessen drohte Skandinavien der Schauplatz eines größeren Krieges zu werden. Hitler, der seine Vorbereitungen zum Schlag gegen Dänemark und Norwegen beendet hatte, verlangte, daß Stalin schnell Frieden schließen solle. Stalin mußte seine Pläne einschränken und darauf verzichten, Finnland zu sowjetisieren. Das sind die herausragenden Charakterzüge der Ereignisse in Nordwesteuropa.

 

 

Kleine Nationen im imperialistischen Krieg

Sich unter den Bedingungen des Weltkrieges mit dem Schicksal kleiner Staaten vom Standpunkt der „nationalen Unabhängigkeit“, „Neutralität“ usw. zu beschäftigen, bedeutet, in der Sphäre der imperialistischen Mythologie zu bleiben. Der Kampf geht um die Weltherrschaft. Die Frage der Existenz der UdSSR wird beiläufig ihre Lösung finden. Dieses Problem, das heute im Hintergrund bleibt, tritt in einem bestimmten Augenblick in den Vordergrund. Was die kleinen und zweitrangigen Staaten betrifft, so sind sie heute bereits Schachfiguren in den Händen der Großmächte. Die einzige Freiheit, die sie noch behalten haben, ist die Freiheit, zwischen ihren Herren zu wählen, aber auch das nur in beschränktem Maße.

Zwei Regierungen kämpften eine Zeitlang in Norwegen: die Regierung der norwegischen Nazis, die von den deutschen Truppen im Süden gedeckt wurde, und die alte sozialdemokratische Regierung mit ihrem König im Norden. Hätten die norwegischen Arbeiter das „demokratische“ Lager gegen das faschistische verteidigen sollen? Folgt man der Analogie mit Spanien, so sieht es auf den ersten Blick so aus. In Wirklichkeit wäre dies ein fürchterlicher Fehler. In Spanien handelte es sich um einen isolierten Bürgerkrieg; die Einmischung der fremden imperialistischen Mächte, wie wichtig diese Einmischung an sich auch sein mochte, behielt dennoch einen nebensächlichen Charakter. In Norwegen handelt es sich um den direkten und unmittelbaren Zusammenstoß zweier imperialistischer Lager, in deren Händen die sich bekämpfenden norwegischen Regierungen nur Hilfsmittel sind. Auf der Weltarena unterstützen wir weder das Lager der Allierten noch das der Deutschen. Folglich haben wir nicht den leisesten Grund oder die geringste Berechtigung, irgendeines ihrer zeitweiligen Werkzeuge innerhalb Norwegens selbst zu unterstützen.

Genauso muß man Finnland betrachten. Vom Standpunkt der Strategie des Weltproletariats aus war der finnische Widerstand ebensowenig ein Akt unabhängiger nationaler Verteidigung wie der Widerstand Norwegens. Die finnische Regierung selbst zeigte das am besten, als sie lieber den Widerstand einstellte, als Finnland vollkommen zu einer Militärbasis Englands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten zu machen. Zweitrangige Faktoren wie die nationale Unabhängigkeit Finnlands oder Norwegens, die Verteidigung der Demokratie usw.“ wie wichtig sie auch für sich genommen sein mögen, sind nun mit dem Kampf der bei weitem mächtigeren Weltmächte verknüpft und ihnen vollständig untergeordnet. Wir müssen die zweitrangigen Faktoren abziehen und unsere Politik nach den grundlegenden Faktoren bestimmen.

Die programmatischen Thesen der Vierten Internationale über den Krieg gaben vor sechs Jahren eine erschöpfende Antwort auf diese Frage. Die Thesen erklärten: „Die Idee der nationalen Verteidigung, insbesondere in Verbindung mit der Idee der Verteidigung der Demokratie, kann sehr leicht verwendet werden, um die Arbeiter der kleinen und neutralen Staaten (Schweiz, im besonderen Belgien, die skandinavischen Länder ...) zu täuschen.“ Und weiter: „Nur kleinbürgerliche Dummköpfe (wie Robert Grimm) aus einem gottverlassenen Schweizer Dorf können ernsthaft glauben, der Weltkrieg, in den sie hineingezerrt werden, sei ein Mittel, die Unabhängigkeit der Schweiz zu verteidigen.“ Andere ebenso dumme Kleinbürger stellten sich vor, daß der Weltkrieg ein Mittel der Verteidigung Finnlands sei und daß es möglich sei, die proletarische Strategie auf der Grundlage einer taktischen Episode, wie der Invasion Finnlands durch die Rote Armee, zu bestimmen.

 

 

Georgien und Finnland

Ebenso wie bei Streiks gegen Großkapitalisten die Arbeiter häufig nebenbei sehr ehrbare Geschäfte von Kleinbürgern zugrunde richten, so kann sich der Arbeiterstaat, der selbst vollkommen gesund und revolutionär ist, im Kampf gegen den Imperialismus oder bei der Suche nach Garantien gegen den Imperialismus gezwungen sehen, die Unabhängigkeit dieses oder jenes Kleinstaates zu verletzen. Demokratische Philister, nicht aber proletarische Revolutionäre, mögen Tränen vergießen über die Unbarmherzigkeit des Klassenkampfes auf dem heimischen oder auf internationalem Kampfplatz.

Die Sowjetrepublik sowjetisierte 1921 gewaltsam Georgien, das ein offenen Tor für einen imperialistischen Angriff im Kaukasus darstellte. Vom prinzipiellen Standpunkt der nationalen Selbstbestimmung hätte man ziemlich viel gegen eine solche Sowjetisierung einwenden können. Von dem Standpunkt aus, daß der Kampfplatz der sozialistischen Revolution ausgedehnt werden müsse, war die militärische Intervention in einem Agrarland mehr als zweifelhaft. Vom Standpunkt der Selbstverteidgung eines Arbeiterstaates, der von Feinden umzingelt ist, war die gewaltsame Sowjetisierung gerechtfertigt: Der Schutz der sozialistischen Revolution hat Vorrang vor formalen demokratischen Grundsätzen.

Der Weltimperialismus benutzte lange Zeit die Frage der Gewaltanwendung als die Sammellosung, um die öffentliche Weltmeinung gegen die Sowjets aufzubringen. Die Zweite Internationale übernahm die Führung in dieser Kampagne. Die Entente hatte das Ziel, eine mögliche neue militärische Intervention gegen die Sowjets vorzubereiten.

Genauso wie im Fall Georgiens nutzte die Weltbourgeoisie die Invasion in Finnland dazu aus, die öffentliche Meinung gegen die UdSSR zu mobilisieren. Auch in diesem Fall trat die Sozialdemokratie als die Vorhut des demokratischen Imperialismus auf. Das unglückliche „dritte Lager“ der in Panik versetzten Kleinbourgeoisie bildete die Nachhut.

Zusammen mit der eindrucksvollen Ähnlichkeit dieser beiden Fälle militärischer Intervention gibt es jedoch einen tiefreichenden Unterschied - die UdSSR jetzt ist weit davon entfernt, die Sowjetrepublik von 1921 zu sein. 1934 erklärten die Thesen der Vierten Internationale über den Krieg: „Die ungeheure Entwicklung der Sowjetbürokratie und die kläglichen Lebensbedingungen der Arbeiter haben die Anziehungskraft der UdSSR für die Weltarbeiterklasse stark eingeschränkt.“ Der sowjetisch-finnische Krieg enthüllte anschaulich und vollständig, daß das gegenwärtige Regime der UdSSR unfähig ist, innerhalb der Schußweite von Leningrad, der Wiege der Oktoberrevolution, eine Anziehungskraft auszuüben. Trotzdem folgt daraus nicht, daß die UdSSR dem Imperialismus ausgeliefert werden muß, sondern nur daß die UdSSR den Händen der Bürokratie entrissen werden muß.

 

 

„Wo ist der Bürgerkrieg?“

„Aber wo ist in Finnland der Bürgerkrieg, den Sie versprochen haben?“, fragt der Führer der früheren Opposition, der nun der Führer des „dritten Lagers“ geworden ist. Ich habe nichts versprochen. Ich habe lediglich eine der möglichen Varianten der weiteren Entwicklung des sowjetisch-finnischen Konflikts analysiert. Die Besetzung der einzelnen Militärbasen in Finnland war genauso wahrscheinlich wie die Okkupation ganz Finnlands. Die Besetzung von Militärstützpunkten setzte die Beibehaltung der bürgerlichen Regierung im ganzen übrigen Land voraus. Die Besetzung setzte einen gesellschaftlichen Umsturz voraus, der unmöglich wäre, zöge er nicht die Arbeiter und armen Bauern in den Bürgerkrieg hinein. Die anfänglichen diplomatischen Verhandlungen zwischen Moskau und Helsinki zeigen den Versuch an, die Frage so zu lösen, wie mit den anderen baltischen Staaten. Finnlands Widerstand zwang den Kreml, sein Ziel durch militärische Maßnahmen zu verfolgen. Stalin konnte den Krieg vor den breitesten Massen nur durch die Sowjetisierung Finnlands rechtfertigen. Die Einsetzung der Kuusinen-Regierung zeigte, daß Finnland nicht das Schicksal der baltischen Staaten, sondern das Polens erwartete, wo Stalin - es spielt keine Rolle, was die Amateur-Kommentatoren des „dritten Lagers“ kritzeln, sich selbst gezwungen sah, einen Bürgerkrieg hervorzurufen und Besitzverhältnisse umzustürzen.

Ich führte verschiedene Male genau aus, daß Stalin gezwungen wäre, die Sowjetisierung Finnlands durchzuführen, wenn der Krieg in Finnland nicht in einem allgemeinen Krieg unterginge und wenn er nicht genötigt wäre, sich vor einer Drohung von außen zurückzuziehen. Diese Aufgabe selbst war weitaus schwieriger als Ostpolen zu sowjetisieren. Schwieriger vom militärischen Standpunkt, weil Finnland zufällig besser vorbereitet war. Schwieriger vom nationalen Standpunkt, denn Finnland besitzt eine lange Tradition im Kampf um nationale Unabhängigkeit von Rußland, während die Ukrainer und die Weißrussen gegen Polen kämpften. Schwieriger vom sozialen Standpunkt, denn die finnische Bourgeoisie hatte das vorkapitalistische Agrarproblem auf ihre eigene Weise gelöst, indem sie ein landwirtschaftliches Kleinbürgertum schuf. Dennoch hätte ein militärischer Sieg Stalins über Finnland sehr wahrscheinlich dazu geführt, daß die Eigentumsverhältnisse mit mehr oder weniger Unterstützung der finnischen Arbeiter und Kleinbauern umgestürzt worden wären.

Warum führte Stalin diesen Plan dann nicht aus? Weil eine enorme Mobilisierung der bürgerlichen öffentlichen Meinung gegen die UdSSR begann. Weil Frankreich und England sich ernsthaft die Frage einer militärischen Intervention stellten. Schließlich – das ist nicht am unwichtigsten – weil Hitler nicht länger warten konnte. Das Erscheinen englischer und französischer Truppen in Finnland hätte eine direkte Bedrohung von Hitlers skandinavischen Plänen bedeutet, die auf Komplott und Überraschung fußten. Verfangen in einer doppelten Gefahr – auf der einen Seite von den Alliierten, auf der anderen von Hitler verzichtete Stalin auf die Sowjetisierung Finnlands und beschränkte sich selbst auf die Besetzung isolierter strategischer Positionen.

Die Anhänger des „dritten Lagers“ (des Lagers der in Panik versetzten Kleinbourgeoisie) flickten folgende Konstruktion zusammen: Trotzki leitete den Bürgerkrieg in Finnland aus der Klassennatur der UdSSR ab; da es ja keinen Bürgerkrieg gab, kann die UdSSR kein Arbeiterstaat sein. In Wirklichkeit war es durchaus nicht notwendig, einen möglichen Bürgerkrieg in Finnland aus der soziologischen Definition der UdSSR logisch „herzuleiten“ – es reichte aus, sich auf die Erfahrung in Ostpolen zu verlassen. Der Umsturz der Besitzverhältnisse, der dort durchgeführt wurde, hätte nur von dem Staat geleistet werden können, den die Oktoberrevolution hervorgebracht hat. Dieser Umsturz wurde der Kremloligarchie durch ihren Kampf um Selbsterhaltung unter besonderen Bedingungen aufgezwungen. Es bestand nicht der leiseste Grund, daran zu zweifeln, daß sie sich unter entsprechenden Bedingungen gezwungen sehen würde, genau die gleichen Aktionen in Finnland zu wiederholen. Mehr habe ich nicht behauptet. Aber die Bedingungen änderten sich im Laufe des Kampfes. Ein Krieg, genau wie eine Revolution, nimmt oft jähe Wendungen. Mit dem Aufhören der militärischen Operationen auf seiten der Roten Armee konnte natürlich keine Rede davon sein, einen Bürgerkrieg in Finnland zu entfesseln.

Jede historische Vorhersage ist bedingt, und um so konkreter sie ist, um so mehr Bedingungen hat sie. Eine Prognose ist kein Schuldschein, der an einem bestimmten Tag eingelöst werden kann. Eine Prognose skizziert nur bestimmte Entwicklungstendenzen. Aber zusammen mit diesen Entwicklungstendenzen wirkt eine verschiedenartige Anordnung von Kräften und Tendenzen, die in einem bestimmten Augenblick vorzuherrschen beginnt. Wer exakte Prophezeiungen konkreter Ereignisse sucht, sollte einen Astrologen befragen. Eine marxistische Prognose hilft nur bei der Orientierung. Ich machte verschiedene Male Vorbehalte, was die Bedingtheit meiner Vorhersage als einer verschiedener möglicher Varianten betrifft. Nun wie einen Rettungsring die zehntrangige historische Tatsache zu ergreifen, daß das Schicksal Finnlands zeitweilig eher nach dem Muster Litauens, Lettlands und Estlands als nach dem Ostpolens bestimmt wurde, kann nur öden Scholastikern einfallen oder – den Führern des „dritten Lagers“.

 

 

Die Verteidigung der Sowjetunion

Stalins Angriff auf Finnland war selbstverständlich nicht nur eine Handlung zur Verteidigung der UdSSR. Die Politik der Sowjetunion wird von der bonapartistischen Bürokratie geführt. Die Bürokratie ist zuerst und vor allem um ihre Macht besorgt, um ihren Einfluß und ihr Einkommen. Sie verteidigt sich selbst viel besser als die UdSSR. Sie verteidigt sich auf Kosten der UdSSR und auf Kosten des Weltproletariats. Dies wurde nur zu klar durch die ganze Entwicklung des sowjetisch-finnischen Konfliktes aufgedeckt. Daher können wir weder direkt noch indirekt auch nur einen Schatten von Verantwortung für die Invasion in Finnland auf uns nehmen. Diese Invasion stellt nur ein einziges Glied in der Kette der Politik der bonapartistischen Bürokratie dar.

Es ist eine Sache, sich mit Stalin zu solidarisieren, seine Politik zu verteidigen, Verantwortung dafür zu übernehmen – wie es die dreifach berüchtigte Komintern tut –, es ist eine andere Sache, der Weltarbeiterklasse zu erklären, daß wir es nicht zulassen können – welcher Verbrechen Stalin auch immer schuldig sein mag –, daß der Weltimperialismus die Sowjetunion zerschmettert, den Kapitalismus wieder einführt und das Land der Oktoberrevolution in eine Kolonie verwandelt. Diese Erklärung liefert gleichfalls die Grundlage für unsere Verteidigung der UdSSR.

Der Versuch der konjunkturellen Defätisten, d.h. der Abenteurer im Defätismus, sich aus ihren Schwierigkeiten herauszuwinden, indem sie versprechen, daß sie im Fall der alliierten Intervention ihre defätistische Politik in eine Verteidigungspolitik umwandeln, ist eine verächtliche Ausflucht. Es ist in der Regel nicht leicht, seine Politik mit einer Stoppuhr zu bestimmen, insbesondere nicht unter Kriegsbedingungen. In den kritischen Tagen des sowjetisch-finnischen Krieges kam, wie nun bekannt geworden ist, der alliierte Generalstab zu dem Schluß, daß Finnland ernsthafte und schnelle Hilfe gebracht werden könnte nur durch die Zerstörung der Murmansk-Eisenbahnlinien durch einen Luftangriff. Vom strategischen Standpunkt aus war dies völlig richtig. Die Frage der Intervention oder Nicht-Intervention durch alliierte Luftstreitkräfte hing an einem seidenen Faden. An demselben Faden baumelte augenscheinlich auch die grundlegende Position des „dritten Lagers“. Gleich am Anfang aber hielten wir es für notwendig, unsere Position nach den grundlegenden Klassenlagern im Krieg zu bestimmen. Das ist weit zuverlässiger.

 

 

Man soll dem Feind keine bereits eingenommene Stellung überlassen

Die Politik des Defätismus ist nicht die Bestrafung einer bestimmten Regierung für dieses oder jenes Verbrechen, das sie begangen hat, sondern das Ergebnis von Klassenbeziehungen. Die marxistische Verhaltensweise in einem Krieg basiert nicht auf abstrakter Moral und sentimentalen Erwägungen, sondern auf der sozialen Einschätzung eines Regimes in seinen wechselseitigen Beziehungen zu anderen Regimes. Wir unterstützten Abessinien, nicht weil der Negus politisch oder „moralisch“ Mussolini überlegen war, sondern weil die Verteidigung eines rückständigen Landes gegen koloniale Unterdrückung dem Imperialismus, dem Hauptfeind der Weltarbeiterklasse, einen Schlag versetzt. Wir verteidigen die UdSSR unabhängig von der Politik des Moskauer Negus aus zwei wesentlichen Gründen: Erstens, die Niederlage der UdSSR würde dem Imperialismus riesige Hilfsmittel in die Hand geben und könnte den Todeskampf der kapitalistischen Gesellschaft um viele Jahre verlängern. Zweitens, die soziale Grundlage der UdSSR, befreit von der parasitären Bürokratie, kann grenzenlosen wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt sichern, während die kapitalistischen Grundlagen nur weiter verfaulen können.

Die lärmenden Kritiker werden dadurch am meisten entlarvt, daß sie die UdSSR weiterhin für einen Arbeiterstaat hielten zu einer Zeit, als Stalin die bolschewistische Partei zerstörte, als er die proletarische Revolution in Spanien erwürgte, als er das Weltproletariat im Namen der „Volksfront“ und der „kollektiven Sicherheit“ betrog; unter all diesen Umständen erkannten sie die Notwendigkeit an die UdSSR als Arbeiterstaat zu verteidigen! Aber kaum marschierte derselbe Stalin in das „demokratische“ Finnland ein, kaum erhob die bürgerliche öffentliche Meinung der imperialistischen Demokratien – die alle Verbrechen Stalins gegen die Kommunisten, die Arbeiter und Bauern bemäntelt und gutgeheißen hatte – ein Geheul gen Himmel, als unsere Neuerer augenblicklich verkündeten: „Ja, das ist untragbar!“ Und Roosevelt folgend, erklärten sie ein moralisches Embargo gegen die Sowjetunion.

Die Überlegung des gebildeten Hexenmeisters Burnham zum Thema, daß wir durch die Verteidigung der UdSSR gleichzeitig Hitler verteidigten, ist ein treffendes kleines Beispiel kleinbürgerlicher Sturheit, die die widersprüchliche Realität in den Rahmen eines zweidimensionalen Syllogismus zu zwingen sucht. Unterstützten die Arbeiter die Hohenzollern, als sie die Sowjetrepublik nach dem Frieden von Brest-Litowsk verteidigten? Ja oder nein? Die programmatischen Thesen der Vierten Internationale über den Krieg, die sich ausführlich mit dieser Frage beschäftigen, stellen kathegorisch fest, daß Abkommen zwischen einem Sowjetstaat und diesem oder jenem imperialistischen Land der revolutionären Partei dieses Landes keine Einschränkungen auferlegen. Die Interessen der Weltrevolution stehen über einem isolierten diplomatischen Abkommen, wie berechtigt dies selbst auch sein mag. Indem wir die UdSSR verteidigen, kämpfen wir weitaus ernsthafter gegen Stalin und Hitler, als Burnham & Co.

Es ist wahr, Burnham und Shachtman stehen nicht allein, Leon Jouhaux, der berüchtigte Vertreter des französischen Kapitalismus, wird ebenfalls ungehalten, daß die „Trotzkisten die UdSSR verteidigen“. Wer sollte ungehalten sein, wenn nicht er! Aber unsere Haltung gegenüber der UdSSR ist die gleiche wie die gegenüber der CGT (Confederation Generale des Travailleurs): Wir verteidigen sie gegen die Bourgeoisie, obgleich die CGT von Schurken wie Leon Jouhaux geführt wird, die die Arbeiter auf Schritt und Tritt täuschen und betrügen. Die russischen Menschewiki heulen auch „Die Vierte Internationale befindet sich in einer Sackgasse!“, weil die Vierte Internationale die UdSSR immer noch als Arbeiterstaat anerkennt. Diese Herren sind selbst Mitglieder der Zweiten Internationale, die von solchen herausragenden Verrätern wie dem typischen Bourgeois-Bürgermeister Huysmans und Leon Blum geführt wird, der eine außerordentlich erfolgversprechende revolutionäre Situation im Juni 1936 verriet und dadurch den gegenwärtigen Krieg möglich machte. Die Menschewiki erkennen die Parteien der Zweiten Internationale als Arbeiterparteien an, lehnen es aber ab, die Sowjetunion als Arbeiterstaat anzuerkennen, da sie von bürokratischen Verrätern geführt wird. Diese Lüge strotzt von Unverschämtheit und Zynismus. Stalin, Molotow und der Rest sind als gesellschaftliche Schicht weder besser noch schlechter als die Blums, Jouhaux, Citrines, Thomases usw. Der Unterschied zwischen ihnen ist nur der, daß Stalin & Co. die lebensfähigen ökonomischen Grundlagen der sozialistischen Entwicklung ausbeuten und verkrüppeln, während die Blums sich an die durch und durch verfaulten Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft klammern.

Der Arbeiterstaat muß so aufgefaßt werden, wie er in dem unbarmherzigen Laboratorium der Geschichte entstanden ist und nicht wie ein „sozialistischer“ Professor ihn sich vorstellt, der nachdenklich mit dem Finger in der Nase bohrt. Es ist die Pflicht der Revolutionäre, jede Eroberung der Arbeiterklasse zu verteidigen, auch wenn sie durch den Druck feindlicher Kräfte entstellt sein mag. Wer alte Positionen nicht verteidigen kann, wird niemals neue einnehmen.

25. April 1940

 


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008