Leo Trotzki

 

Verteidigung des Marxismus

 

Von einer Schramme – zur Gefahr der Knochenfäulle

(3. Teil)

 

Die Theorie der „Blöcke“

Um seinen Block mit Burnham und Abern – gegen den proletarischen Flügel der Partei, gegen das Programm der Vierten Internationale und gegen die marxistische Methode – zu rechtfertigen, hat Shachtman die Geschichte der revolutionären Bewegung nicht verschont, die er – nach seinen eigenen Worten – sorgsam untersucht hat, besonders um der jüngeren Generation große Traditionen zu übermitteln. Das Ziel selbst ist natürlich vortrefflich. Aber es verlangt eine wissenschaftliche Methode. Unterdessen hat Shachtman angefangen, die wissenschaftliche Methode aus Rücksicht auf einen Block zu opfern. Seine historischen Beispiele sind willkürlich, nicht durchdacht und ausgesprochen falsch.

Nicht jede Zusammenarbeit ist ein Block in dem eigentlichen Sinne des Wortes. Gelegentliche Übereinkommen sind keineswegs selten, aber sie müssen keineswegs zu einem langandauernden Block werden und haben auch nicht dieses Ziel. Andrerseits kann die Mitgliedschaft in ein und derselben Partei kaum Block genannt werden. Wir gehörten zu ein und derselben internationalen Partei wie Genosse Burnham (und werden das hoffentlich weiterhin tun); aber das ist noch kein Block. Zwei Parteien können auf lange Zeit einen Block miteinander gegen einen gemeinsamen Feind schließen: Das war die Politik der „Volksfront“. Innerhalb ein und derselben Partei können einander nahestehende, aber nicht übereinstimmende Tendenzen einen Block gegen eine dritte Fraktion schließen.

Für die Einschätzung eines Blocks innerhalb einer Partei sind zwei Fragen von entscheidender Bedeutung: (1) Zu allererst, gegen wen oder was ist der Block gerichtet? (2) Welches Kräfteverhältnis herrscht innerhalb des Blocks? Demgemäß ist zum Kampf gegen den Chauvinismus innerhalb der eigenen Partei ein Block zwischen den Internationalisten und den Zentristen durchaus zulässig. Das Ergebnis des Blocks würde in diesem Fall von der Klarheit des Programms der Internationalisten, von ihrem Zusammenhalt und ihrer Disziplin abhängen, denn diese Merkmale sind für die Bestimmung des Kräfteverhältnisses nicht selten wichtiger als die zahlenmäßige Stärke.

Wie wir vorhin sagten, beruft sich Shachtman auf Lenins Block mit Bogdanow. Ich habe bereits festgestellt, daß Lenin nicht die geringsten theoretischen Zugeständnisse an Bogdanow gemacht hat. Nun werden wir die politische Seite des „Blocks“ untersuchen. Zu allererst muß man feststellen, daß es tatsächlich nicht um einen Block ging, sondern um die Zusammenarbeit in einer gemeinsamen Organisation. Die bolschewistische Fraktion führte eine unabhängige Existenz. Lenin bildete mit Bogdanow keinen „Block“ gegen andere Tendenzen seiner eigenen Organisation. Im Gegenteil, er bildete sogar mit den bolschewistischen Versöhnlern (Dubrowinski, Rykow und anderen) einen Block gegen die theoretische Ketzerei Bogdanows. Was Lenin betraf, so ging es ihm im wesentlichen darum, ob er mit Bogdanow in ein und derselben Organisation bleiben konnte, die zwar „Fraktion“ genannt wurde, aber alle Merkmale einer Partei trug. Wenn Shachtman die Opposition nicht als eine unabhängige Organisation ansieht, bricht seine Anspielung auf den „Lenin-Bogdanow“-Block zusammen.

Aber der Fehler der Analogie beschränkt sich nicht darauf. Die bolschewistische Fraktionspartei führte einen Kampf gegen den Menschewismus, der sich zu dieser Zeit schon als völlig kleinbürgerliche Vertretung der liberalen Bourgeoisie verraten hatte. Dies war weit ernsthafter als die Beschuldigung des sogenannten „bürokratischen Konservatismus“, dessen Klassenwurzeln Shachtman nicht einmal zu bestimmen versucht. Lenins Zusammenarbeit mit Bogdanow war die Zusammenarbeit zwischen einer proletarischen Tendenz und eitler sektiererischen, zentristischen Tendenz gegen den kleinbürgerlichen Opportunismus. Die Klassenlinien sind klar. Der „Block“ (wenn man diesen Begriff hier benutzen will) war gerechtfertigt.

Der weiteren Geschichte des „Blocks“ fehlt es nicht an Bedeutung. In dem Brief an Gorki, den Shachtman anführt, bringt Lenin seine Hoffnung zum Ausdruck, daß man die politischen von den rein philosophischen Fragen trennen kann. Shachtman vergißt hinzuzufügen, daß sich Lenins Hoffnung nicht verwirklichte. Meinungsverschiedenheiten entwickelten sich von den Höhen der Philosophie bis zu allen anderen Fragen, die gängigsten eingeschlossen. Wenn der „Block“ den Bolschewismus nicht in Verruf brachte, so nur deswegen, weil Lenin ein abgeschlossenes Programm hatte, eine richtige Methode, eine fest zusammengeschweißte Fraktion, der Bogdanows Gruppe eine kleine unbeständige Minderheit ausmachte.

Shachtman schloß mit Burnham und Abern einen Block gegen proletarischen Flügel seiner eigenen Partei. Dem kann man sich nicht entziehen. Das Kräfteverhältnis innerhalb dieses Blocks richtet sich vollständig gegen Shachtman. Abern hat seine eigene Fraktion. Burnham kann mit Shachtmans Unterstützung die äußere Form einer Fraktion schaffen, die sich aus vom Bolschewismus enttäuschten Intellektuellen zusammensetzt. Shachtman hat kein eigenständiges Programm, keine eigenständige Methode und keine eigenständige Fraktion. Der eklektische Charakter des Oppositions-„Programms“ wird von den widersprüchlichen Richtungen innerhalb des Blockes bestimmt. Wenn der Block zusammenbricht, und der Zusammenbruch ist unvermeidlich, wird Shachtman nur der Partei und sich selbst Schaden gebracht haben.

Ferner verweist Shachtman darauf, daß Lenin und Trotzki sich 1917 nach einem langen Kampf verbündet haben und daß es deswegen falsch sei, sie an ihre vergangenen Differenzen zu erinnern. Dieses Beispiel wird dadurch kompromittiert, daß Shachtman es bereits früher einmal verwendet hat, um seinen Block mit Cannon gegen Abern zu erklären. Aber abgesehen von diesem unerfreulichen Umstand ist die historische Analogie bis ins Innerste falsch. Trotzki erkannte beim Eintritt in die bolschewistische Partei voll und ganz Lenins Methoden des Parteiaufbaus an. Gleichzeitig berichtigte die unversöhnliche Klassentendenz des Bolschewismus eine falsche Vorhersage. Wenn ich 1917 nicht noch einmal die Frage der „permanenten Revolution“ aufwarf, so deshalb, weil sie bereits für beide Seiten durch die Märzereignisse entschieden war. Die Grundlage für die gemeinsame Arbeit wurde nicht durch subjektive oder vorübergehende Kombinationen gelegt, sondern durch die proletarische Revolution. Das ist eine feste Grundlage. Überdies stand hier kein „Block“ zur Debatte, sondern die Vereinigung in einer einzigen Partei – gegen die Bourgeoisie und ihre kleinbürgerlichen Agenten. Innerhalb der Partei war der Oktober-Block von Lenin und Trotzki gegen kleinbürgerlichen Wankelmut in der Frage des Aufstandes gerichtet.

Ebenso oberflächlich ist Shachtmans Anspielung auf Trotzkis Block mit Sinowjew 1926. Zu dieser Zeit wurde der Kampf nicht gegen „bürokratischen Konservatismus“ als ein psychologisches Merkmal einiger unsympathischer Individuen geführt, sondern gegen die mächtigste Bürokratie auf der Welt, gegen ihre Privilegien, ihre willkürliche Herrschaft und ihre reaktionäre Politik. Der Rahmen der zulässigen Differenzen in einem Block Wird durch den Charakter des Gegners bestimmt.

Das Verhältnis der Elemente innerhalb des Blocks war ebenfalls und gar verschieden. Die Opposition von 1923 hatte ihr eigenes Programm und ihre eigenen Kader, die sich keineswegs aus Intellektuellen zusammensetzten, wie behauptet (indem er den Stalinisten nachbetet), sondern hauptsächlich aus Arbeitern. Die Sinowjew-Kamenjew-Opposition bestätigte auf unser Verlangen hin in einem besonderen Dokument, daß die Opposition von 1923 in allen grundlegenden Fragen recht hatte. Da wir jedoch verschiedene Traditionen hatten und da wir weit davon entfernt waren, in allem übereinzustimmen, fand die Verschmelzung niemals statt. Beide Gruppen blieben unabhängige Fraktionen. In bestimmten wichtigen Fragen machte die Opposition von 1923 im Jahre 1926 tatsächlich grundlegende Zugeständnisse an die Opposition – gegen meine Stimme – Zugeständnisse, die ich für unzulässig hielt und noch halte. Daß ich nicht offen gegen diese Zugeständnisse protestiert habe, war ein großer Fehler. Aber es gab allgemein nicht viel Raum für offene Proteste – wir arbeiteten illegal. Jedenfalls kannten beide Seiten meine Ansichten über die strittigen Fragen sehr genau. Innerhalb der Opposition von 1923 waren 99%, wenn nicht mehr, meiner Meinung und nicht der Sinowjews und Radeks. Bei solch einem Verhältnis zwischen den beiden Gruppen innerhalb des Blocks mag es diesen oder jenen Teilfehler gegeben haben, aber es gab nicht einmal den Anschein des Abenteurertums.

Bei Shachtman liegt der Fall vollkommen anders. Wer hatte in der Vergangenheit recht, wann genau und wo? Warum verbündete sich Shachtman erst mit Abern, dann mit Cannon und nun wieder mit Abern? Shachtmans eigene Erklärung über die vergangenen heftigen Fraktionskämpfe ist nicht eines verantwortlichen Politikers würdig, sondern eines Kindermädchens: Jonny hatte ein bißchen unrecht, Max ein bißchen, alle hatten ein bißchen unrecht, und nun haben wir alle ein bißchen recht. Wer im Unrecht war und worin – kein Wort darüber. Es gibt keine Tradition. Das Gestern ist aus den Berechnungen gestrichen – und warum? Weil Genosse Shachtman im Organismus der Partei die Rolle einer Wanderniere spielt.

Auf der Suche nach historischen Analogien umgeht Shachtman das eine Beispiel, mit dem sein heutiger Block tatsächlich Ähnlichkeit hat. Ich denke an den sogenannten August Block von 1912. Ich beteiligte mich aktiv an diesem Block. In gewissem Sinne schuf ich ihn. Ich stimmte in allen grundlegenden Fragen nicht mit den Menschewiki überein. Ich stimmte auch mit den ultralinken Bolschewiki, den Wperjodisten, nicht überein. In der allgemeinen Richtung der Politik stand ich den Bolschewiki weit näher. Aber ich war gegen das Lenin-„Regime“, weil ich noch nicht verstehen gelernt hatte, daß eine fest zusammengeschweißte, zentralisierte Partei unentbehrlich ist, um das revolutionäre Ziel zu verwirklichen. Daher bildete ich diesen vorübergehenden Block, der aus grundverschiedenen Elementen bestand und gegen den proletarischen Parteiflügel gerichtet war.

In diesem August-Block hatten die Liquidatoren ihre eigene Fraktion, auch die „Wperjodisten“ hatten etwas Ähnliches wie eine Fraktion. Ich war isoliert, hatte zwar einige Gesinnungsgenossen, aber keine Fraktion. Die meisten der Dokumente wurden von mir geschrieben und sollten unter Umgehung grundlegender Differenzen einen Schein der Einmütigkeit über „konkrete politische Fragen“ schaffen. Kein Wort über die Vergangenheit! Lenin unterwarf den August-Block schonungsloser Kritik und die härtesten Schläge trafen mich. Lenin wies nach, daß meine Politik Abenteurertum war, da ich ja politisch weder mit den Menschewiki noch mit den Wperjodisten übereinstimmte. Das war streng, aber wahr.

Als „mildernde Umstände“ möchte ich erwähnen, daß ich nicht die rechte oder die ultralinke Fraktion gegen die Bolschewiki unterstützen wollte, sondern die Partei als Ganzes vereinen wollte. Die Bolschewiki wurden auch zur August-Konferenz eingeladen. Da Lenin es aber glatt ablehnte, sich mit den Menschewiki zu vereinen (damit hatte er vollkommen recht), verblieb ich in einem unnatürlichen Block mit den Menschewiki und den Wperjodisten. Der zweite mildernde Umstand ist, daß das bloße Phänomen des Bolschewismus als einer wirklich revolutionären Partei damals zum ersten Mal entwickelt wurde – in der Praxis der Zweiten Internationale gab es keine Vorbilder. Aber ich versuche dabei nicht im geringsten, mich von Schuld reinzuwaschen. Ungeachtet der Vorstellung der permanenten Revolution, die zweifellos die richtige Perspektive aufdeckte, hatte ich mich zu dieser Zeit, besonders auf organisatorischem Gebiet, von den Zügen eines kleinbürgerlichen Revolutionärs noch nicht gelöst. Ich litt an der Krankheit des Versöhnlertums gegenüber dem Menschewismus und einer mißtrauischen Haltung gegenüber dem Leninschen Zentralismus. Sofort nach der August-Konferenz begann der Block sich in seine Bestandteile aufzulösen. Ein paar Monate später stand ich nicht nur in den Grundsätzen, sondern auch organisatorisch außerhalb des Blockes.

Ich mache Shachtman heute genau denselben Vorwurf, den Lenin vor 27 Jahren mir machte: „Ihr Block ist prinzipienlos.“ „Ihre Politik ist Abenteurertum.“ Ich hoffe mit ganzem Herzen, daß Shachtman aus diesen Anschuldigungen die gleichen Schlüsse zieht, die ich damals gezogen habe.

 

 

Die Fraktionen im Kampf

Shachtman drückt sein Erstaunen darüber aus, daß Trotzki, „der Führer der Opposition von 1923“, es fertig bringt, die bürokratische Fraktion Cannons zu unterstützen. Hierin wie in der Frage der Arbeiterkontrolle offenbart Shachtman wieder, daß ihm das Gefühl für historische Weitsicht fehlt. Tatsächlich nützte die Sowjetbürokratie, um ihre Diktatur zu rechtfertigen, die Prinzipien des bolschewistischen Zentralismus aus, aber gerade dadurch verwandelte sie sie in ihr genaues Gegenteil. Aber das bringt nicht im mindesten die Methoden des Bolschewismus in Verruf. Viele Jahre lang erzog Lenin die Partei im Geiste der proletarischen Disziplin und des strengen Zentralismus. Dabei zog er sich wiederholte Male die Angriffe der kleinbürgerlichen Fraktionen und Cliquen zu. Der bolschewistische Zentralismus war ein durch und durch fortschrittlicher Faktor und sicherte auf die Dauer den Triumph der Revolution. Es ist nicht schwer zu verstehen, daß der Kampf der heutigen Opposition in der Socialist Workers Party nichts mit dem Kampf der russischen Opposition von 1923 gegen die privilegierte Bürokratenkaste gemeinsam hat, sondern große Ähnlichkeit mit dem Kampf der Menschewiki gegen den bolschewistischen Zentralismus besitzt.

Cannon und seine Gruppe sind der Opposition zufolge „ein Ausdruck der Gattung der Politik, die man am besten als bürokratischen Konservatismus beschreiben kann“. Was bedeutet das? Die Herrschaft der konservativen Arbeiteraristokratie, der Teilhaber am Profit der nationalen Bourgeoisie, wäre ohne die direkte oder indirekte Unterstützung des kapitalistischen Staates undenkbar. Die Herrschaft der stalinistischen Bürokratie wäre ohne die GPU, die Armee, die Gerichte usw. undenkbar. Die sowjetische Bürokratie unterstützt Stalin genau deswegen, weil er der Bürokrat ist, der ihre Interessen am besten verteidigt. Die Gewerkschaftsbürokratie unterstützt Green und Lewis, gerade weil ihre Entartung zu fähigen und geschickten Bürokraten die materiellen Interessen der Arbeiteraristokratie schützt. Aber auf welcher Grundlage ruht der „bürokratische Konservatismus“ in der SWP? Offensichtlich nicht auf materiellen Interessen, sondern auf einer Auswahl von Bürokraten, die im Gegensatz zu einem anderen Lager stehen, wo Neuerer, Initiatoren und dynamische Geister zusammengefaßt sind. Die Opposition zeigt keine objektive, d.h. soziale Grundlage für den „bürokratischen Konservatismus“ auf. Alles wird auf seine Psychologie zurückgeführt. Unter solchen Bedingungen wird jeder denkende Arbeiter sagen: Es ist möglich, daß Genosse Cannon tatsächlich in Richtung bürokratischer Tendenzen sündigt – es ist für mich schwierig, von weitem zu urteilen –, aber wenn die Mehrheit des Nationalkomitees und der ganzen Partei, die ganz und gar nicht an bürokratischen Privilegien interessiert sind, Cannon unterstützen, so tun sie das nicht wegen der bürokratischen Tendenzen, sondern trotz dieser. Das bedeutet, daß er andere Vorzüge hat, die seine persönlichen Schwächen weit überwiegen. Das würde ein ernstzunehmendes Parteimitglied sagen. Und meiner Meinung nach hätte es recht.

Um ihre Beschwerden und Anschuldigungen zu beweisen, bringen die Oppositionsführer zusammenhanglose Episoden und Anekdoten zur Sprache, die es in jeder Partei zu Hunderten und Tausenden gibt und die noch dazu meistens nicht objektiv auf ihre Richtigkeit überprüft werden können. Nichts liegt mir ferner, als mich mit einer Kritik der anekdotischen Abschnitte des Oppositionsdokumentes abzugeben. Aber es gibt eine Episode, über die ich mich als Teilnehmer und Augenzeuge äußern will. Die Führer der Opposition berichteten sehr herablassend, wie leicht, wahrscheinlich ohne Kritik und Beratung, Cannon und seine Gruppe das Programm der Übergangsforderungen annahmen. Folgendes schrieb ich am 15. April 1938 an Genossen Cannon über die Ausarbeitung dieses Programms:

„Wir haben Ihnen den Entwurf des Übergangsprogramms und eine kurze Darlegung über die Arbeiterpartei geschickt. Ohne Ihren Besuch in Mexiko hätte ich niemals diesen Programmentwurf schreiben können, weil ich während der Diskussion viele wichtige Dinge erfuhr, die es mir erlaubten, deutlicher und konkreter zu sein ...“

Shachtman kennt diese Umstände sehr genau, da er einer der Diskussionsteilnehmer war.

Gerüchte, persönliche Vermutungen und einfacher Klatsch werden immer einen sehr bedeutenden Platz in kleinbürgerlichen Zirkeln einnehmen, wo Leute nicht durch das Band der Partei, sondern durch persönliche Beziehungen verbunden sind, und wo man nicht daran gewöhnt ist, an die Ereignisse vom Klassenstandpunkt heranzugehen. Es ist von Mund zu Mund gegangen, daß ich ausschließlich von Vertretern der Mehrheit besucht worden sei und daß ich vom Pfad der Wahrheit abgebracht worden sei. Liebe Genossen, glaubt doch nicht solchen Unsinn! Ich sammle politische Informationen mit denselben Methoden, die ich sonst in meiner Arbeit gebrauche. Eine kritische Haltung zu Informationen ist ein organischer Teil der politischen Physiognomie jedes Politikers. Wenn ich falsche Nachrichten nicht von wahren unterscheiden kann, welchen Wert könnte mein Urteil überhaupt noch haben?

Ich kenne persönlich nicht weniger als zwanzig Mitglieder der Fraktion Aberns. Verschiedenen von ihnen bin ich wegen ihrer freundlichen Hilfe bei meiner Arbeit verpflichtet, und ich halte sie alle, oder beinahe alle, für wertvolle Parteimitglieder. Aber gleichzeitig muß ich sagen, daß jeden von ihnen mehr oder weniger das Fluidum des kleinbürgerlichen Milieus, Mangel an Erfahrung im Klassenkampf und in gewissem Maße auch das Fehlen der notwendigen Verbindung zur proletarischen Bewegung kennzeichnet. Ihre positiven Merkmale ketten sie an die Vierte Internationale. Ihre negativen Züge binden sie an die konservativste aller Fraktionen.

„Eine ‚anti-intellektuelle‘ Haltung wurde den Parteimitgliedern eingepaukt“, beklagt sich die Schrift über den „bürokratischen Konservatismus“. (Internal Bulletin, Bd.2, Nr.13, Januar 1940, S.12) Dieses Argument ist an den Haaren herbeigezogen. Es geht nicht um die Intellektuellen, die völlig auf die Seite des Proletariats übergegangen sind, sondern um jene Elemente, die die Partei auf die Position des kleinbürgerlichen Eklektizismus drängen wollen. Die gleiche Schrift erklärt: Eine Anti-New-York-Propaganda wird verbreitet, die im Grunde nur für Vorurteile sorgt, die nicht immer gesund sind.“ (Ebenda) Auf welche Vorurteile wird hier angespielt? Offensichtlich auf den Antisemitismus. Wenn es in unserer Partei Antisemitismus oder ein anderes Rassenvorurteil gibt, dann muß man einen rücksichtslosen Kampf dagegen führen, und zwar offen und nicht durch nebelhafte Andeutungen. Aber die Frage der jüdischen Intellektuellen und Halb-Intellektuellen in New York ist eine soziale Frage, keine nationale. In New York gibt es eine große Anzahl jüdischer Proletarier, aber Aberns Fraktion besteht nicht aus ihnen. Die kleinbürgerlichen Elemente haben sich bis heute als unfähig erwiesen, Zugang zu den jüdischen Arbeitern zu finden. Sie begnügen sich mit ihrem eigenen Milieu.

Es gibt mehr als ein Beispiel in der Geschichte – genauer gesagt, es war in der Geschichte immer so –, daß jene Elemente, die in der Vergangenheit eine fortschrittliche Rolle gespielt haben, sich aber als unfähig erwiesen, sich rechtzeitig den neuen Aufgaben anzupassen, beim Übergang der Partei von einer Periode in die nächste angesichts der Gefahr näher zusammengerückt sind; und dabei traten nicht ihre positiven, sondern fast ausschließlich ihre negativen Züge zu Tage. Genau das ist heute die Rolle von Aberns Fraktion, in der Shachtman die Rolle des Journalisten und Burnham die des Expertenrates spielt. „Cannon weiß“, beharrt Shachtman, „wie falsch es ist, in der gegenwärtigen Diskussion die ‚Abern-Frage‘ aufzuwerfen“. Er weiß, was jeder informierte Parteiführer und viele Mitglieder wissen, nämlich daß es zumindest in den letzten Jahren keine „Abern-Gruppe“ gegeben hat. Ich nehme mir die Freiheit zu bemerken, daß, wenn hier jemand die Realität entstellt, es kein anderer als Shachtman selbst ist. Ich habe die Entwicklung der internen Verhältnisse der amerikanischen Sektion ungefähr zehn Jahre lang verfolgt. Die besondere Zusammensetzung und die besondere Rolle, die die New Yorker Organisation spielt, wurde mir als erstes klar. Shachtman wird sich vielleicht erinnern, daß ich noch von Prinkipo aus dem Nationalkomitee riet, für eine Weile aus New York und seiner Atmosphäre kleinbürgerlichen Gezänks in ein Industriezentrum in der Provinz zu ziehen. Durch meine Ankunft in Mexiko erhielt ich die Gelegenheit, besser Englisch zu lernen und, dank der vielen Besuche meiner Freunde aus dem Norden, zu einem lebendigeren Bild der sozialen Zusammensetzung und politischen Psychologie der verschiedenen Gruppierungen zu gelangen. Aufgrund meiner eigenen persönlichen und unmittelbaren Beobachtungen während der letzten drei Jahre behaupte ich, daß die Abern-Fraktion ununterbrochen und statisch, wenn nicht „dynamisch“ existiert hat. Mit ein bißchen politischer Erfahrung sind die Mitglieder der Abern-Fraktion leicht zu erkennen, nicht nur an ihrer sozialen Merkmalen, sondern auch daran, wie sie an alle Fragen herangehen. Diese Genossen haben die Existenz ihrer Fraktion immer formal bestritten. Es gab eine Zeit, als tatsächlich einige von ihnen versuchten, sich selbst mit der Partei zu verschmelzen. Aber sie versuchten dies, indem sie sich selbst Gewalt antaten, und in allen kritischen Fragen stellten sie sich in Beziehung zur Partei als Gruppe heraus. Sie waren weit weniger an grundsätzlichen Fragen, besonders an der Frage der Veränderung der sozialen Zusammensetzung der Partei interessiert, als an der Zusammensetzung in der Spitze, persönlichen Streitigkeiten und im allgemeinen an Ereignissen im „Generalstab“. Das ist die Schule von Abern. Ich warnte beharrlich viele dieser Genossen, daß das Versacken in dieser künstlichen Existenz früher oder später sicher einen neuen fraktionellen Ausbruch mit sich bringen würde.

Die Oppositionsführer sprechen ironisch und geringschätzig von der proletarischen Zusammensetzung der Cannon-Fraktion. In ihren Augen ist dieses „zufällige“ Detail bedeutungslos. Was ist das außer kleinbürgerlicher Geringschätzung gepaart mit Blindheit? Auf dem Zweiten Kongreß der russischen Sozialdemokraten 1903, auf dem die Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki stattfand, gib es nur drei Arbeiter unter einer großen Anzahl von Delegierten. Alle drei gingen mit der Mehrheit. Die Menschewiki verhöhnten Lenin, weil er dieser Tatsache symptomatische Bedeutung beimaß. Die Menschewiki selbst erklärten die Position, die die drei Arbeiter einnahmen, mit ihrem Mangel an „Reife“. Aber wie man weiß, stellte sich heraus, daß Lenin recht hatte.

Wenn die proletarische Gruppe unserer amerikanischen Partei „politisch rückständig“ ist, dann sollte die erste Aufgabe der „Fortgeschrittenen“ darin bestanden haben, die Arbeiter auf ein höheres Niveau zu lieben. Aber warum fand die gegenwärtige Opposition ihren Weg zu den Arbeitern nicht? Warum überließen sie diese Arbeit der „Cannon-Clique“? Worum geht es hier? Sind die Arbeiter der Opposition nicht gut genug? Oder ist die Opposition untauglich für die Arbeiter?

Es wäre dumm anzunehmen, die Gruppe der Arbeiter in unserer Partei sei fehlerlos. Die Arbeiter erlangen nur nach und nach ein klares Klassenbewußtsein. Die Gewerkschaften schaffen immer einen Nährboden für opportunistische Abweichung. Unvermeidlich werden wir in einer der nächsten Etappen auf diese Frage stoßen. Mehr als einmal wird die Partei ihre eigenen Gewerkschafter daran erinnern müssen, daß eine erzieherische Anpassung an die rückständigen Schichten des Proletariats nicht zu politischer Anpassung an die konservative Gewerkschaftsbürokratie werden darf. Jedes neue Entwicklungsstadium, jedes Wachstum in den Reihen der Partei und die Erschwerung in ihren Arbeitsmethoden eröffnet nicht nur neue Möglichkeiten, sondern birgt auch neue Gefahren. Arbeiter in den Gewerkschaften zeigen die Neigung, selbst wenn sie die revolutionärste Schule durchlaufen haben, sich selbst von der Kontrolle durch die Partei zu befreien. Gegenwärtig steht das aber überhaupt nicht zur Debatte. Gegenwärtig versucht die nicht-proletarische Opposition, die die Mehrheit der nicht-proletarischen Jugend hinter sich herzieht, unsere Theorie, unser Programm und unsere Tradition zu revidieren – und sie tut das alles leichtsinnig, beiläufig, zur Erleichterung des Kampfes gegen die „Cannon-Clique“. Gegenwärtig wird Geringschätzung für die Partei nicht von den Gewerkschaftern, sondern von den kleinbürgerlichen Oppositionellen an den Tag gelegt. Gerade um zu vermeiden, daß die Gewerkschafter der Partei in Zukunft den Rükken kehren, muß man diese kleinbürgerlichen Oppositionellen entschieden zurückweisen.

Außerdem darf man nicht vergessen, daß die augenblicklichen oder möglichen Fehler dieser Genossen, die in den Gewerkschaften arbeiten, den Druck des amerikanischen Proletariats widerspiegeln, wie es heute existiert. Das ist unsere Klasse. Wir bereiten uns nicht darauf vor, vor ihrem Druck zu kapitulieren. Aber gleichzeitig zeigt uns dieser Druck unsere historische Richtung. Die Fehler der Opposition spiegeln andererseits den Druck einer anderen und fremden Klasse. Ein ideologischer Bruch mit dieser Klasse ist die Grundvoraussetzung für unsere zukünftigen Erfolge.

Die Argumentation der Opposition bezüglich der Jugend ist vollkommen falsch. Gewiß, ohne die Eroberung der proletarischen Jugend kann die Partei sich nicht entwickeln. Leider haben wir bereits eine gänzlich kleinbürgerliche Tugend, die zu einem beträchtlichen Teil eine sozialdemokratische, d.h. opportunistische Vergangenheit hat. Die Führer dieser Jugend haben unzweifelhafte Vorzüge und Fähigkeiten, aber, ach, sie sind im Geiste des kleinbürgerlichen Verbündlertums erzogen, und sie können für immer in der revolutionären Bewegung verloren gehen, wenn sie nicht ohne hochtrabende Titel zur schmutzigen Alltagsarbeit im Proletariat in die Arbeiterviertel geschickt werden. Bezüglich der Jugend hat Shachtman wie zu allen anderen Fragen leider eine grundfalsche Haltung eingenommen.

 

 

Es ist Zeit anzuhalten!

Wie sehr Shachtmans Gedanken von einem falschen Ausgangspunkt verdorben sind, kann man daraus ersehen, daß er meine Haltung als eine Verteidigung der „Cannon-Clique“ darstellt und daß er wiederholt darauf herumreitet, daß ich in Frankreich genauso fälschlich die „Molinier-Clique“ unterstützt habe. Alles wird darauf zurückgeführt, daß ich isolierte Individuen oder Gruppen durchaus unabhängig von ihrem Programm unterstützte. Das Beispiel Moliniers macht den Nebel nur undurchdringlicher. Ich werde versuchen, ihn zu zerteilen. Molinier wurde nicht beschuldigt, von unserem Programm abgewichen, sondern undiszipliniert und launenhaft zu sein und sich in alle Arten von Finanzabenteuern einzulassen, um die Partei und die Fraktion zu unterstützen. Da Molinier ein sehr tatkräftiger Mann ist und unstreitige praktische Fähigkeiten besitzt, hielt ich es für notwendig – nicht nur im Interesse Moliniers, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um ihn zu überzeugen und im Geiste der proletarischen Disziplin neu zu erziehen. Da viele seiner Gegner alle seine Schwächen besaßen, aber keinen seiner Vorzüge, unternahm ich alles, um sie zu überzeugen, die Spaltung nicht zu überstürzen, sondern Molinier immer wieder zu prüfen. Darin bestand meine „Verteidigung“ Moliniers in der Jugend der französischen Sektion.

Weil ich eine nachsichtige Haltung gegenüber sich irrenden oder undisziplinierten Genossen und wiederholte Versuche, sie im revolutionären Geist neu zu erziehen, als völlig obligatorisch betrachte, wandte ich diese Methoden keineswegs bei Molinier allein an. Ich versuchte, Kurt Landau, Field, Weisbord, den Österreicher Frey, den Franzosen Treint und eine Reihe anderer stärker in die Partei zu ziehen und sie ihr zu bewahren. In vielen Fällen erwiesen sich meine Anstrengungen als vergeblich, in einigen Fällen konnte ich wertvolle Genossen retten.

Jedenfalls machte ich Molinier nicht die geringsten grundsätzlichen Zugeständnisse. Als er sich entschloß, eine Zeitung auf der Grundlage der „vier Losungen“ anstelle unseres Programms zu gründen und diesen Plan selbständig auszuführen begann, war ich bei denen, die auf einem sofortigen Ausschluß bestanden. Aber ich will nicht verbergen, daß ich auf dem Gründungskongreß der Vierten Internationale dafür war, Molinier und seine Gruppe noch einmal innerhalb des Systems der Internationale zu prüfen, um zu sehen, ob sie von der Irrigkeit ihrer Politik überzeugt worden sind. Auch dieser Versuch führte zu nichts. Aber ich bin nicht dagegen, ihn unter entsprechenden Bedingungen noch einmal zu wiederholen. Es ist sehr merkwürdig, daß unter den schärfsten Gegner Moliniers Leute wie Vereecken und Sneevliet waren, die sich nach ihrem Bruch mit der Vierten Internationale erfolgreich mit ihm zusammenschlossen.

Eine Anzahl von Genossen haben mir nach Durchsicht meiner Archive freundlich vorgeworfen, daß ich So viel Zeit damit vergeudet habe und noch weiterhin vergeude, „hoffnungslose Leute“ zu überzeugen. Ich antwortete, daß ich oft die Gelegenheit hatte zu beobachten, wie Menschen sich mit den Umständen veränderten, und daß ich daher nicht bereit bin, Leute aufgrund einiger, wenn auch ernster Fehler, für „hoffnungslos“ zu erklären.

Als mir klar wurde, daß Shachtman sich selbst und eine bestimmte Gruppe der Partei in eine Sackgasse führte, schrieb ich ihm, daß ich, hätte ich die Gelegenheit, sofort ein Flugzeug nähme und nach New York flöge, um mit ihm zweiundsiebzig Stunden lang ununterbrochen zu diskutieren. Ich fragte ihn, ob er eine Zusammenkunft nicht irgendwie ermöglichen könne. Shachtman antwortete nicht. Das ist sein volles Recht. Es ist durchaus möglich, daß die Genossen, die in Zukunft mein Archiv durchsehen, auch in diesem Fall sagen werden, daß mein Brief an Shachtman ein falscher Schritt von mir war, und sie werden diesen meinen „Fehler“ zusammen mit meiner über-beharrlichen „Verteidigung“ Moliniers anführen. Sie werden mich nicht überzeugen. Es ist eine äußerst schwierige Aufgabe, unter den heutigen Bedingungen eine internationale proletarische Vorhut zu bilden. Hinter Individuen auf Kosten der Prinzipien herzujagen, wäre selbstverständlich ein Verbrechen. Aber alles Mögliche zu tun, um hervorragende, jedoch im Irrtum befangene Genossen zu unserem Programm zurückzubringen, betrachtete und betrachte ich noch als meine Pflicht.

Aus genau derselben Gewerkschaftsdiskussion, die Shachtman offenkundig belanglos verwertete, zitiere ich die Worte Lenins, die Shachtman sich tief ins Gedächtnis einprägen sollte: „... ein Fehler“ (fängt) „stets als kleiner Fehler“ (an) „und“ (wird) „dann zu einem großen. Meinungsverschiedenheiten fangen immer mit Kleinigkeiten an. Jeder hat sich einmal eine kleine Verletzung zugezogen, aber wenn diese Wunde zu eitern anfängt, so kann eine tödliche Krankheit daraus entstehen.“ So sprach Lenin am 23. Januar 1921. Es ist unmöglich, keine Fehler zu machen. Einige irren sich öfter, andere seltener. Die Pflicht eines proletarischen Revolutionärs besteht darin, nicht auf Fehlern zu bestehen, nicht Ehrgeiz über die Interessen der guten Sache zu stellen, sondern rechtzeitig Halt zu machen. Es ist Zeit für Genosse Shachtman, Halt zu machen! Sonst kann die Schramme, die sich schon zum Geschwür entwickelt hat, zur Knochenfäule führen.

24. Januar 1940,
Coyoacan, D.F.

 


Zuletzt aktualisiert am 16.06.2010