MIA > Deutsch > Geschichte > International > Zweite Internationale > Protokoll des Ersten Kongresses
Bürger Vaillant führt den Vorsitz und zeigt an, daß er in der Abendsitzung eine große Anzahl neu angekommener Briefe und Telegramme mittheilen werde.
Auf der Tagesordnung sieht die Berichterstattung über die Lage der Arbeit und die socialistische Bewegung in den verschiedenen Ländern.
Lafargue zeigt an, daß ein finnländischer Delegirter eingetroffen ist, Bürger Finn. Derselbe wird durch Akklamation in’s Bureau gewählt.
Ein Brief der Labor Elector Association (Arbeiter-Wähler-Gesellschaft) zeigt dem Congreß an, daß ihr Abgesandter Cunninghame Graham, Mitglied des englischen Parlamentes, heute oder morgen in Paris eintreffen werde.
Lafargue ersucht jede Nationalität, eine vollständige Liste ihrer Delegirten mit deren Adressen anzufertigen und dem Bureau zu übergeben, damit die Liste, einem Antrag Vollmar’s entsprechend, an alle Congreßmitglieder als Andenken vertheilt werden könne.
Der Congreß genehmigt diesen und noch einen Vorschlag Lafargue’s, nach welchem eine Uebersicht aller von den verschiedenen Congreß-Delegirten für die Arbeitersache erlittenen Verurtheilungen zusammengestellt werden soll.
Bürger Sebastien Faure, Anarchist, protestirt sowohl in seinem Namen wie in dem seiner Kameraden gegen jede Annahme, daß von ihrer Seite systematisch Schwierigkeiten bereitet würden. „Wir sind keine Gegner“ – fügt er hinzu.
Grade in diesem Augenblick wurde übrigens im Congreßsaale selbst ein Plakat angeheftet, mittels dessen die „Genossen“ die Socialisten aufforderten, sich ihrer angemaßten „Führer“ zu entledigen, wobei behauptet wurde, die Letzteren seien nichts anderes als Feinde der Proletarier-verbrüderung .
—24— Bürger Cipriani erzählt, daß er, entsprechend dem erhaltenen Auftrage, sich mit dem Bürger Costa zum Possibilisten-Congreß begeben habe, um den Antrag Liebknecht betreffs der Verschmelzung daselbst mitzutheilen. Sie fanden eine der Versöhnung günstige Stimmung. Gleichwohl hat der Possibilisten-Congreß beschlossen, die Verschmelzung von einer neuen gemeinsamen Prüfung sämmtlichen Delegirten-Vollmachten abhängig zu machen – ein Vorschlag, gegen welchen Bürger Costa Widerspruch erhoben hat, mit dem Hinweis darauf, daß „man einen Schritt der Brüderlichkeit nicht mit einem Akt des Mißtrauens einleiten dürfe.“
Auf den Vorschlag einer Commission behufs mündlicher Verhandlung mit der Possibilisten-Commission antwortet der Congreß, nach einer langen, besonders von den Bürgern Bernstein, Vaillant, Cipriani und Morris geführten Debatte, durch Annahme einer, von Jaclard wie folgt formulirten Resolution:
„Angesichts der vom Possibilisten-Congreß in der Sitzung des 16. d. M. getroffenen Entscheidung, beauftragt der Congreß sein permanentes Bureau, für die nothwendigen Maßregeln Sorge zu tragen.“
Hieran wird sogleich in die Tagesordnung eingetreten, und der Bürger Reichstagsabgeordnete Bebel liefert seinen Bericht über Deutschland, nachdem mehrfach wiederholter Beifall ihn begrüßt hat, etwa wie folgt:
Es ist eines der allerwichtigsten Symptome für den Gang unserer Entwicklung, daß man heute die Frage einer internationalen Arbeiterschutzgesetzgebung erörtern kann. Vor noch kaum zwanzig Jahren wäre es unmöglich gewesen, mit einen solchen Programme Verhandlungen zu eröffnen. Die Arbeiterbewegung beschäftigte sich damals weniger mit der Praxis als mit der Theorie. Die Diskussion der Prinzipienfragen legte die Vorstellung nahe, daß die Umgestaltung der Gesellschaft unmittelbar vor der Thür stehe. Seitdem hat man eingesehen, daß die bürgerliche Ordnung der Dinge zwar unwiderruflich um Untergang verurtheilt ist, für den Augenblick aber noch Widerstandsfähigkeit genug besitzt, um sich einige Zeit lang aufrecht zu halten; und daß andererseits die Kräfte der Arbeiterklasse noch nicht genügend erstarrt sind, die nothwendige gesellschaftliche Neugestaltung herbeiführen zu können. Die praktischen Fragen, die Fragen nach dem, was sogleich geschehen soll, um unmittelbar Nutzen zu schaffen, drängen sich in den Vordergrund, und sie haben dazu umsomehr ein Recht, als sie eine eminente Werbekraft besitzen, die Arbeiterklasse mehr und mehr in die socialistische Strömung ziehen und so dem Socialismus die Wege bahnen.
Anfänglich glaubte man bei uns in Deutschland ziemlich allgemein, daß die gewerkschaftliche Bewegung, die Verbände der Fachgenossen, mit ihrem Schwerpunkt in den Alltagsfragen des praktischen Lebens für die Entwicklung des Socialismus ein Hinderniß seien. Allmählich ist man sich über diesen Irrthum klar geworden, in den man hineingerathen war. Die Unmöglichkeit, die Massen mit einem Schlage für das ganze und schließliche Ziel des Socialismus zu gewinnen, und die Unmöglichkeit, dieses Ziel ohne weiteres zu erreichen, nöthigte von selbst dazu, daß man immer mehr für praktische Maßregeln eintrat, die geeignet sind, bei den Arbeitern zunächst das Klassenbewußtsein zu wecken. Die Resultate, welche an diesem Wege erreicht wurden, sind vortreffliche. Obgleich die deutsche Arbeiterbewegung verhältnißmäßig jung ist, jünger als die Arbeiterbewegung in England und Frankreich, zeichnet sie sich aus durch die Klarheit, mit der sie das zu erreichende Ziel in’s Auge faßt, und durch die Kraft, welche sie bereits im Kampfe erprobt hat. Diese ihre Kraft ist schon heute eine solche, daß sie den herrschenden Klassen vielleicht über Gebühr Furcht und Schrecken einflößt.
Diese Entwicklung verdanken wir einerseits der theoretischen Thätigkeit der Socialdemokratie, andererseits den ökonomischen Voraussetzungen —25— – dem rapiden Ausschwunge der Groß-Industrie in Deutschland namentlich während der letzten zwanzig Jahre. In dem Maße wie die Arbeiterbewegung immer lebhafter wurde und immer weitere Kreise erfaßte, erweckte sie einerseits bei ihren Gegnern mehr und mehr Besorgniß; andererseits flößte sie ihnen immer größere Achtung ein, und so mußten diese nach und nach die praktischen Forderungen der Arbeiter wenigstens im Prinzip anerkennen, unter diesen auch die einer internationalen Arbeiterschutzgesetzgebung. Heute diskutirt man allgemein, ich möchte sagen offiziell, Fragen, die vor weniger als 20 Jahren von jener Seite in Theorie und Praxis als unzulässig und verwerflich betrachtet wurden. Das ist ein glänzender Beweis für die große Macht, welche die Arbeiterbewegung sich errungen hat, und zeigt, welchen Einfluß sie übt. So wird, zum Beispiel, heut zu Tage Niemand in Deutschland mehr zu behaupten wagen, daß eine internationale Arbeiterschutzgesetzgebung eine Sache der Unmöglichkeit sei, und daß unser ökonomisches System nicht große Mängel und arge Uebelstände aufzuweisen habe.
Diese völlige Umwandlung der öffentlichen Meinung ist das Wert der deutschen Socialdemokratie, deren Bedeutung schon aus der Zahl ihrer aus diesem Congreß erschienenen Vertreter hervorleuchtet.
Schon um’s Jahr 1870 hatte die Bewegung eine ansehnliche Stärke erlangt. Aber seit jener Zeit, welche die politische und ökonomische Einheit Deutschlands brachte, ist erst der großartige Aufschwung, den wir seitdem beobachteten, erfolgt, und gleichzeitig wurde die Agitation für praktische Fragen ein charakteristischer Zug der Bewegung. Neben der politischen Organisation der Partei wuchsen Gewerkschaften und Fachvereine wie Pilze ans dem Boden, und traten zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften in’s Leben, welche die Vorurtheile der öffentlichen Meinung bekämpften und die Arbeiterklasse über ihre Lage aufklärten. Binnen wenig Jahren verfügte die socialistische Partei über nahezu 50 Preß-Organe, von welchen ein Theil täglich, ein anderer zwei oder dreimal wöchentlich erschien, der Rest Wochenschriften waren. Die auf solche Weise erreichten Fortschritte sind zu schätzen nach der wachsenden Anzahl der bei den verschiedenen Reichstagswahlen erzielten Stimmen. Der erste Wahlfeldzug der Partei im Jahre 1867 brachte ihr kaum 100.000 Stimmen. Im Jahre 1871 war die Stimmenzahl nur sehr unerheblich gestiegen, da unter dem Eindruck des Krieges ein enormer Gegendruck von Seiten der Regierung und der systematisch gefälschten öffentlichen Meinung geübt wurde, aber im Jahre 1874 erreichten unsere Stimmen die Zahl 351.000, im Jahre 1877 die Zahl 493.000.
Furcht und Sorge bemächtigten sich unserer herrschenden Klassen wie der Regierungen. Die Attentate Hödel und Nobiling kamen grade zu Paß, um einen Vorwand zur Unterdrückung unserer Partei zu gewähren. Fürst Bismarck, der in besonderem Maße die Geschäfte der deutschen Bourgeoisie besorgt, beantwortete das Hödel-Attentat mit der Vorlage eines „Ausnahmegesetzes gegen die Socialdemokratie!“ Der erste Entwurf wurde jedoch abgelehnt, da die Bourgeoisie noch die Besorgniß hegte, daß die Regierung, wenn ihr unumgeschränkte Vollmacht verliehen werde, dieselbe auch gegen die bürgerlichen Klassen anwenden könne.
Da kam das Attentat Nobiling und schlug alle Bedenken nieder. Die öffentliche Meinung wurde in einer Weise bearbeitet, wie es nie zuvor auch nur ähnlich geschehen war. Man stellte ihr die Attentate als Frucht der socialistischen Agitation dar und malte ihr das Gespenst der socialen Revolution vor die Augen. Die unter solchem Drucke zu Stande gekommenen Wahlen ergaben natürlich ein Parlament, welches dem Ausnahmegesetz zustimmte.
Was bedeutete dieses Gesetz? Regierungen und Polizei können und dürfen überall da, wo nach ihrer Ansicht, wie es im Gesetz heißt, „socialdemokratische, socialistische oder communistische, aus den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen, in —26— einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zu Tage treten“, diese Bestrebungen unterdrücken.
Das allgemeine für Alle gültige Recht wurde in Bezug auf die Thätigkeit der Socialdemokratie durch die Willkür der Polizei ergänzt. Sie entschied, was sie unter jenen Bestrebungen verstehen wollte und verbot und unterdrückte, was diese Bestrebungen zu fördern schien.
Kaum war das Gesetz angenommen, so wurden auch sämmtliche socialistische Journale unterdrückt und alle unsere Organisationen aufgelöst. Hunderten, ja Tausenden von Familien, deren Versorger in den Redaktionen und Expeditionen unserer Blätter oder in den Druckereien unserer Partei, ferner als Colporteure u. s. w. beschäftigt gewesen waren, wurde dadurch mit einem Schlage die Existenz untergraben, sie wurden ruinirt. Ferner wurden große dicht bevölkerte Gebietstheile dem sogenannten kleinen Belagerungszustande unterworfen, auf Grund dessen die Ausweisung aller für die „öffentliche Ordnung und Sicherheit“ angeblich gefährlicher Personen ermöglicht wurde. Man machte den Anfang mit Berlin nebst Umgebung, und vertrieb von dort mit einem Schlage 93 der eifrigsten und thätigsten Socialisten. Daran kamen im Jahre 1880 Hamburg-Altona und Umgegend, 1881 Leipzig und Umgegend an die Reihe, später folgten Frankfurt a. M., Stettin und andere Orte. Viele der Ausgewiesenen wurden von Distrikt zu Distrikt gehetzt, so daß viele, weil sie nirgends eine Existenz finden konnten, nach Amerika auswandern mußten. Ungefähr drei und eine halbe Million Deutsche sind gegenwärtig dem kleinen Belagerungszustande unterworfen; die Ausweisungen zählen nach vielen Hunderten und haben meistens Familienväter getroffen. Die Polizei ist die Herrin im Lande. Dieser Zustand der Dinge hat schließlich ein Spionage-System in Deutschland eingebürgert, wie Frankreich es selbst unter dem dritten Napoleon nicht kannte. Da dem Fürsten Bismarck verschiedene Millionen geheimer Fonds zur unkontrolirten Verfügung gestellt sind, hat die Ueberwachung unserer Partei-Genossen durch Agenten der Geheimpolizei eine beispiellose Ausbildung erreichen können. Daneben ist die Polizei befugt, jede Versammlung aufzulösen, jedes Journal und jede Organisation zu unterdrücken, sobald sie „umstürzlerische Tendenzen“ darin wittert. Ein freies Vereins- und Versammlungsrecht ist nicht mehr vorhanden; die Ausübung der von der Verfassung gewährleisteten staatsbürgerlichen Rechte ist für die Socialdemokratie illusorisch geworden, häufig selbst während der Wahlzeit. Mehr als 1.200 Schriften und Drucksachen aller Art sind unter der Herrschaft des Socialistengesetzes confiszirt und verboten worden. Die Eigenthümer der Säle werden vielfach bestimmt, uns keine Versammlung in ihren Lokalitäten zu gestatten. Alle Macht des Reiches und aller Witz seiner gepriesenen Staatskunst wurde aufgeboten, um die Socialdemokratie zu vernichten. Aber aus diesem Kampf ohne Gleichen ist die Partei als Siegerin hervorgegangen. Dort wo die Schläge gegen sie am härtesten fielen, hat sich ihre Tüchtigkeit am besten bewährt. Grade in den Gebieten des kleinen Belagerungszustandes hat die Partei die meisten, die intelligentesten, die überzeugungstreuesten und die opferwilligsten Anhänger. Die Korrektheit ihrer Haltung, ihr eifriges Bemühen, Ausschreitungen zu vermeiden, auch wo sie provozirt wurden, und sich so sorgfältig wie möglich von allen zweifelhaften Elementen rein zu halten, gewannen ihr allmählich die öffentliche Meinung. In wachsender Anzahl ergänzte und stärkte sie ihre Reihen ans der Arbeiterklasse wie aus den verschiedenen Schichten des Kleinbürgerthums, das durch die töttliche Concurrenz der Groß-Industrie und des Großhandels erdrückt wird. Sogar unsere Arbeiterpresse hat allmählich den Stand, den sie vor dem Ausnahmegesetz erreicht hatte, weit überholt. Die Grundsätze des Socialismus werden in derselben mit größerer Geschicklichkeit und mit größerem Erfolg als früher vertreten, und niemals hatten Unsere Zeitungen und Zeitschriften eine so große —27— Verbreitung wie heute. Neue Arbeiter-Organisationen entstehen unter den Augen der Polizei, wie diese in ihren jährlichen Rechenschaftsberichten über den kleinen Belagerungszustand an den Reichstag einräumen muß, ohne daß sie von ihrem Auflösungsrecht in Rücksicht ans die umgestimmte öffentliche Meinung vollen Gebrauch machen kann. Die Partei wächst ihr unter den Händen, ohne daß sie es verhüten kann. Fürst Bismarck versucht einen Zwischenfall mit der Schweiz als Handhabe zu benutzen, um von diesem Lande Unterdrückungsmaßregeln gegen uns zu erlangen. Nun, möge er, wenn’s ihm beliebt, längs der Schweizer Grenze eine ununterbrochene Reihe von Polizisten und Gendarmen ausstellen! Es wird ihm nichts helfen. Er vermag die socialistische Bewegung in ihrer Ausbreitung und Erstarkung nicht zu behindern. Der Ausgang dieses Konflikts mit der Schweiz, wie immer er ausfällt, wird uns nicht schädigen. Die Einzigen, welche darunter wirklich zu leiden haben, werden die guten Freunde des Kanzlers sein, die Herren und Damen des hohen Adels und der Bourgeoisie, welche ihre Erholung von den Strapazen der Wintervergnügungen in der Schweiz suchen und bei dieser Gelegenheit die Segnungen des Polizeistaats am eignen Leibe kennen lernen. Vielleicht wird ihnen dann einmal klar, durch was für Mittelchen ihr Abgott die großartigste Bewegung der Geschichte einzudämmen meint.
Einen anderen Beweis für die Bedeutung der Arbeiterbewegung liefern die ökonomischen Kämpfe, die großen Arbeiterausstände, welche überall in den letzten Monaten ausgebrochen sind. Das ökonomische System der Bourgeoisie sorgt selbst dafür, daß die socialistischen Ideen in die entlegensten Gegenden dringen. Nichts ist verkehrter, als die jüngsten Bergarbeiter-Ausstände in Rheinland und Westfalen auf unsere Rechnung zu setzen. Sie sind das natürliche Produkt der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung. Wahr ist aber, daß allein der Socialismus Vortheil zieht aus allen diesen Konflikten zwischen Arbeitern und Unternehmern, in welcher Form sie auch zu Tage treten. Sie wecken das Klassenbewußtsein der Arbeiter, indem sie zeigen, wie unversöhnlich die Interessen des Lohnherrn und des Lohnnehmers einander gegenüber stehen. Die Kapitalistenklasse selbst arbeitet uns also auf’s wunderschönste in die Hände. Ganz besonders hat sie dies beim westfälischen Bergarbeiterstreik gethan; sie brachte bei dieser Gelegenheit den Klassenkampf in seiner ganzen Nacktheit zur Anschauung, als sie, die sonst von Loyalität und monarchistischer Gesinnung überfließenden Eisen- und Kohlenbarone, selbst den direkt an sie ergangenen Mahnungen des Kaisers kein Gehör schenkten, weil diese Mahnungen sich gegen die schrankenlose Ausnutzung ihrer überlegenen wirthschaftlichens Stellung gegen die Arbeiter richteten. Die Wirkungen bleiben nicht aus, das wird mehr und mehr Allen einleuchten. Selbst die gegnerische Presse muß einräumen, daß Alles, was dort vorgeht, nur für die Socialdemokratie wirkt.
Die Wahlstatistik ist der schlagendste Beweis für die Ohnmacht des Ausnahmegesetzes. Dank den großen materiellen Schäden und der Verwirrung, welche der Erlaß dieses Gesetzes Anfangs angerichtet hatte und naturgemäß anrichten mußte – und bei jeder anderen Partei in höherem Grade angerichtet hätte –, fiel die Zahl unserer Stimmen bei den Wahlen im Jahre 1881 auf 310.000. Aber dieser Rückgang währte nur kurze Zeit. Zu unserer Genugthuung stieg die Zahl im Jahre 1884 aus 550.000 und im Jahre 1887 sogar aus 775.000 Stimmen. Dabei ist nicht zu übersehen, daß man in Deutschland erst mit dem 25. Lebensjahre Wähler wird, so daß hinter unseren 775.000 Votanten noch viele Hunderttausende überzeugter jüngerer Socialisten stehen. Wie sehr in die Tiefe und Breite die socialdemokratischen Ideen in’s deutsche Volk eingedrungen sind, das werden die nächsten Reichstagswahlen in ausreichender Deutlichkeit zeigen. Das Ergebniß dürfte selbst die in unsere Verhältnisse eingeweihtesten Parteigenossen überraschen. Unsere Gegner haben uns grade während der letzten —28— Jahre unfreiwillig die allerbesten Dienste geleistet. Doch geben wir uns darum nicht der falschen Hoffnung hin, als hätten wir nun in Deutschland freie und offene Bahn zum Ziele vor uns. Im Gegentheil! Unser Kampf wird in der Zukunft heftiger und schwerer sein als zu irgend einer früheren Zeit; aber da wir entschlossen sind, unser Ziel zu erreichen, so zweifeln wir nicht an unserm schließlichen vollen Siege.
Die deutsche Socialdemokratie strebt aber nicht nur danach, ihre eigentlichen Ideen auszubreiten, sie stellt sich auch die Aufgabe, auf dem Wege der Gesetzgebung die Arbeits- und Lebens-Bedingungen des Arbeiters zu verbessern, um ihm eine Existenz zu verschaffen, in welcher er den Emanzipationskampf leichter und mit größerer Aussicht auf Erfolg auszunehmen vermag. Von dieser Erwägung ausgehend, haben die Partei-vertreter im Reichstag seit einer langen Reihe von Jahren stetig die Initiative ergriffen, um Gesetze zu schaffen, welche einen Normalarbeitstag, die Unterdrückung der Nacht- und Feiertags-Arbeit, die Beschränkung oder Untersagung der Frauenarbeit in gewissen dem weiblichen Organismus schädlichen Zweigen der Industrie, das Verbot der Kinderarbeit, die Errichtung von Arbeitskammern, welche den Arbeitern die Geltendmachung ihrer Rechte ermöglichen, die Beaufsichtigung der großen und kleinen Industrie, wie auch der Hausindustrie u. dgl. m. zum Zwecke haben. Diese Anträge sind freilich bis jetzt systematisch mit großer Majorität verworfen worden, es, ist aber doch durch dieselben bereits soviel bewirkt, daß alle anderen Parteien sich genöthigt sehen, gleichsam eine Art Wettlauf um die Gunst der arbeitenden Klassen zu veranstalten. – –
Im weiteren Verlaufe seiner Rede gab Bebel eine Uebersicht über die Geschichte der Arbeitergesetzgebung im Reichstage. Er wies daraus hin, wie der entscheidendste Widerstand ihr bisher von Seiten Bismarck’s entgegengesetzt worden sei, welcher der Hauptgegner der Arbeiterschutzgesetzgebung wäre. Alsdann kam Redner aus das Vorgehen der Schweiz zu sprechen und beleuchtete deren Bemühungen um die internationale Regelung der Arbeiterschutzgesetzgebung und wies nach, wie die gleichartige ökonomische Entwicklung aller Kulturländer eine solche Gesetzgebung mehr und mehr unerläßlich mache. Der Congreß sei berufen um sich darüber auszusprechen, was er in dieser Beziehung für nöthig erachte.
Die Mitglieder des Bureau’s hätten sich über diesen Punkt noch nicht verständigt. So habe er, Redner, auf eigne Faust eine Resolution ausgearbeitet, welche er dem Congreß vorlege, damit jeder Delegirte in der Lage sei, sie im Laufe der Diskussion zu ergänzen oder zu modifiziren. Diese Resolution beanspruche, wohlverstanden, nicht die Aktion der Socialisten in den verschiedenen Ländern einzuschnüren, sie solle nur die Richtung angeben, in welcher marschirt werden müsse. In jedem Lande müßten die spezielle Lage und die speziellen Verhältnisse desselben maßgebend sein für das, was unmittelbar Anwendung finden könne. Wo es zunächst unmöglich sei, einen Normalarbeitstag von 8 Stunden zu erlangen, müsse man sich mit einem solchen von 9 oder 10 Stunden begnügen. Aber es sei wichtig, überall im Prinzip auf dem Achtstundentag zu bestehen, als auf einem Ziel, welches die Produktionsbedingungen von heute zu erreichen gestatteten. In Beziehung aus die Agitation in den verschiedenen Ländern stelle die Resolution keine undurchführbaren Forderungen.
Darauf nimmt Bebel die einzelnen Punkte seiner Resolution durch und verweilt besonders bei der Nothwendigkeit, eine gesetzliche Regelung der Beschäftigung in der Haus- und Kleinindustrie herbeizuführen. Die Inspektion auf diese Gebiete auszudehnen, sei besonders wichtig. Die traurige Lage großer Bevölkerungsschichten müsse endlich aus dem Dunkel an’s Tageslicht gezogen werden. Welche Schmach, daß unser mit seiner Humanität prahlendes Jahrhundert die Barbarei der Kinder-Arbeit zulasse. Es gebe freilich in Deutschland ein Gesetz, welches die —29— Arbeit der Kinder unter 14 Jahren auf 6 Stunden täglich beschränke, aber dieses Gesetz finde keine Anwendung auf die Kleinindustrie und die Hausindustrie. Und dennoch herrschen grade dort die schauderhaftesten Zustände. Die sächsische Bourgeoisie habe erklärt, wenn der Reichstag die Kinderarbeit in der Großindustrie verbiete, gäbe er damit die letztere der Vernichtung preis durch die mörderische Konkurrenz, welche ihr alsdann von Seiten der Kleinindustrie und der Hausindustrie mit Hülfe der Kinderarbeit gemacht werde. Der Einwand, daß eine so ausgedehnte Inspektion große Kosten erfordere, dürfe nicht als Gegengrund angeführt werden. So lange, wie thatsächlich der Fall, die Regierungen beständig zu Gunsten des Militarismus die Zölle und Steuern erhöhen, und dafür Hunderte und selbst Tausende von Millionen zur Verfügung hätten, sei es abgeschmackt zu behaupten, eine genügende Anzahl von Industrie-Inspektoren würde dem Staate unerschwingliche Lasten auferlegen. Es fehle nur am Gelde, wenn es sich um die Interessen der großen arbeitenden Menge handele, dagegen finde sich immer Geld, sobald die Interessen der Bourgeoisie im Spiele seien. Uebrigens sei die Arbeiterklasse bereit, die Ueberwachung und Inspektion der Industrie selbst in die Hand zu nehmen. Sie selbst wolle über die Beobachtung der Gesetze wachen, wenn man ihr nur die dazu nöthige Freiheit gewähre. Und sie werde diese Aufgabe bedeutend besser bewältigen als die gegenwärtigen Amtsinhaber, deren Berichte fast Alles zu wünschen übrig ließen, obgleich sie auf gewisse Punkte der heutigen Arbeiter-Zustände ein dankenswerthes Licht geworfen hätten.
Auf politischem Gebiete liegt eine Hauptschwierigkeit darin, daß es den Arbeitern fast unmöglich gemacht werde, sich ihres Koalitionsrechtes zur Verbesserung ihres Schicksals zu bedienen. Nichtsdestoweniger müsse das Proletariat ausharren in der Bemühung, seine Organisation zu vervollkommnen. Es müsse sich darüber klar werden, daß es vom guten Willen der Regierungen und der Bourgeoisie so gut wie nichts zu erwarten habe, daß es aber Alles erlangen werde im Kampfe um sein Recht und ausschließlich durch seine eigene Kraft. Es genüge nicht, Resolutionen zu fassen; es müsse die energische That, die feste Entschlossenheit hinzukommen, das, was der Congreß als richtig anerkannt habe, auch wirklich zum Siege zu bringen, und zwar durch thatkräftige Propaganda und Aktion. Habe erst das Proletariat aller Länder sich für eine internationale Arbeiterschutzgesetzgebung ausgesprochen, so werde ein solches Verlangen auch Beachtung finden müssen. „Je energischer wir auf unseren Forderungen bestehen, je klarer und bestimmter wir sie aussprechen, desto besser werden die Resultate sein, welche wir zum nächsten internationalen Congreß mitbringen können.” (Ein wahrer Donner von Beifallssalven folgt dem Schluß dieser Rede).
Der Congreß nimmt hierauf einen Antrag der belgischen Delegirten an, nach welchem die Resolutionen gedruckt und die Berichterstattungen publizirt werden sollen; er nimmt ferner an einen Antrag des Bürgers Duprès‘, daß täglich eine Kollekte zu Gunsten der westphälischen Streikenden und der Verunglückten von St. Etienne veranstaltet werden soll.
Nachdem die Reihe, in welcher die Berichte erstattet werden sollen, festgestellt ist, wird die Sitzung gegen 2 Uhr geschlossen.
Das vereinigte Bureau erhält Mittheilung vom Wortlaut der vom Possibilisten-Congreß in der Sache der Verschmelzung der beiden Congresse beschlossenen Resolution. Derselbe ist folgendermaßen festgestellt:
An den Internationalen Arbeiter-Congreß Rue Rochechouart 42.
Bürger! Im Namen des Internationalen Arbeiter-Congresses, Rue de Lancry 10, der Kraft der Beschlüsse der Internationalen —30— Congresse von Paris und London zusammengetreten ist, theilen wir Euch den Antrag mit, für welchen sich gestern Abend dieser Congreß entschieden hat.
Der Congreß erklärt, die Verschmelzung anzunehmen unter der Bedingung, daß die Prüfung der Mandate in dem geeinigten Congreß von jeder Nationalität [für sich] vorgenommen werde. Es versteht sich, daß die Delegirten, deren Mandat zurückgewiesen wird, an den Congreß appelliren dürfen, der in oberster Instanz entscheiden wird.
Die italienische Delegation ist beauftragt, diese Mittheilung zu überbringen
Der Sekretär N. Lavy
Der Vorsitzende J. Allemane
Das Bureau, welches zu diesem Behuf durch die Entscheidung des Congresses die nöthige Vollmacht besaß, antwortete wie folgt:
An den Internationalen Arbeiter-Congreß Rue de Lancry 10.
Bürger! Im Namen des Internationalen Sozialistischen Arbeiter-Congresses, Rue Rochechouart 42, der Kraft der Beschlüsse der Congresse von Bordeaux und Troyes und der Internationalen Conferenz vom Haag zusammengetreten ist, theilen wir Euch die von dem zu diesem Behuf bevollmächtigten permanenten Bureau getroffene Entscheidung betreffs Eures Briefes mit.
Nach der gestern von ihm angenommenen Resolution wird unser Congreẞ nur in eine reine und einfache Vereinigung der beiden Congresse einwilligen. Er hat keine Einschränkung gemacht und macht auch keine, er hat keine Bedingungen gestellt und stellt auch keine, aber er nimmt auch keine an.
Die italienische Delegation ist beauftragt, diese Mittheilung zu überbringen.
Für das Bureau:
Der Sekretär R. Lavigne.
Der Vorsitzende Wilhelm Liebknecht.
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Zuletzt aktualisiert am 26. December 2022