Protokoll des Internationalen Arbeiter-Congresses in Paris (1889)

* * *

Samstag, den 20. Juli. Nachmittags-Sitzung

Den Vorsitz führt Bürger Deville.

Dem früher gefaßten Beschluß gemäß sollte zunächst Verlesung der eingebrachten und vom Ausschuß thunlichst zusammengefaßten Resolutionen und Abstimmung über dieselben erfolgen. Eventuelle Bemerkungen, Erklärungen, Motivirungen, Zusätze, welche Einzelne geben wollten, sollten nach der Abstimmung diskutirt werden.

Verschiedene Anarchisten fanden, daß dieses Verfahren nicht demokratisch sei, daß es eine Vergewaltigung des Congresses bedeute etc. Sie machten also systematisch Lärm, sowie man zur Verlesung der Resolutionen und zur Abstimmung schreiten wollte.

Der Vorsitzende bemerkt, daß gewisse Persönlichkeiten sich auf dem possibilistischen Congreß ganz anders verhalten als hier. – Die große, ja übergroße Toleranz, welche man den Herren bis jetzt bewiesen, hatte dieselben offenbar – unverfroren gemacht. Der Lärm steigerte sich, als einer der französischen Delegirten bestimmt erklärte, daß die anarchistischen Hauptschreier, in erster Linie der Italiener Merlino sich auf dem possibilistischen 119 Congreß ganz ruhig verhielten, so daß man zu der Annahme berechtigt sei, sie wollten den socialistischen Congreß auseinandersprengen, ehe derselbe zu Resultaten gelangt wäre. Die Mittheilung ward nicht nur durch andere Delegirte, sondern auch durch die Zähigkeit bestätigt, mit welcher die Anarchisten stets wieder von Neuem Lärm erhoben. sobald die Ruhe zurückgekehrt und eine Abstimmung möglich schien. Offenbar lag System in diesem Verhalten, und es machte den Eindruck, als befinde sich der Congreß einer Abmachung gegenüber.

Bürger Vaillant fordert auf, daß jeder Delegirte an seinem Platz bleibe, damit man die Ruhestörer erkenne. Man solle ruhig bleiben, denn sonst könne ein Agent genug sein, um den ganzen Congreß in Verwirrung zu bringen.

Als sich alle Ordnungsrufe des Präsidenden [sic], als sich die unzweideutig manifestirte Entrüstung des Congresses als unwirksam erwiesen, dem anarchischen Unfug ein Ende zu machen, mußte der Congreß von seinem Hausrecht Gebrauch machen. Die Hauptstörer, Merlino und zwei seiner Freunde wurden aus dem Saale gebracht, und die an die Thüre postirten Delegirten erhielten Auftrag, nur mit Karten versehenen Personen den Eintritt in das Sitzungslokal zu gestatten.

Bürgerin Guillaume-Schack protestirte gegen die Ausschließung der Ruhestörer und verließ mit 7 Engländern und Italienern zusammen den Congreß.

Es gelangt hierauf die vierte Frage „Abschaffung der stehenden Heere etc.“ zuerst zur Abstimmung. Die dem Congreß vorgelegte Resolution ist von Vaillant eingebracht und durch verschiedene von deutscher und französischer Seite eingereichte Resolutionen amendirt und verändert worden. Sie lautet:

Vierte Frage.

Abschaffung der stehenden Heere und allgemeine Volksbewaffnung.

Der internationale Arbeiter-Congreß von Paris:

In Erwägung:

weist der Congreß mit Entrüstung die von den verzweifelt um ihre Existenz kämpfenden Regierungen unterhaltenen Kriegspläne zurück;

Betrachtet er den Frieden als die erste und unerläßliche Bedingung jeder Arbeiter-Emancipations:

Und fordert mit der Abschaffung der stehenden Heere die allgemeine Volksbewaffnung nach folgenden Grundsätzen:

Die National-Armee, die bewaffnete Nation, besteht aus allen kriegstüchtigen Bürgern; sie werden in Bezirken organisirt, in der Weise, daß jede Stadt, jeder Kreis, jeder Bezirk sein Bataillon oder mehrere – je nach der Bevölkerungszahl – hat, gebildet von Bürgern, welche sich kennen, und welche, wenn es sein muß, in 24 Stunden versammelt, bewaffnet und marschbereit sind. Jeder hat sein Gewehr und seine Ausrüstung im Hause, wie in der Schweiz, um die öffentlichen Freiheiten und die nationale Sicherheit zu vertheidigen.

Der Congreß erklärt weiter, daß der Krieg, das traurige Produkt der gegenwärtigen ökonomischen Verhältnisse erst verschwinden wird, wenn die kapitalistische Produktionsweise der Emanzipation der Arbeit und dem internationalen Triumph des Socialismus Platz gemacht hat.

* * *

Vorstehende Resolution wurde einstimmig angenommen. Der Abstimmung enthielten sich 7 Anwesende, die jedoch als Anarchisten erkannt wurden. –

Hieran gelangt die Resolution über die dritte Frage zur Abstimmung. Sie lautet:

Dritte Frage.

Mittel und Wege, um die Forderungen des Arbeiterschutzes zu verwirklichen.

Der internationale Arbeitercongreß von Paris fordert die Arbeiter-Organisationen und socialistischen Parteien aller Länder auf, sich sofort an’s Werk zu machen und alle Mittel (Versammlungen, Presse, Petitionen, Manifestationen etc.) anzuwenden, um damit auf ihre Regierungen einzuwirken und diese zu veranlassen:

  1. Die für Bern auf Vorschlag der Schweizer Regierung in Aussicht genommene internationale Conferenz der Regierungen zu beschicken;
     
  2. Auf dieser Conferenz die Resolutionen des internationalen Pariser Congresses zu unterstützen.

In allen Ländern, in denen sich Socialisten in der Gemeinde-, Cantons- oder Landesvertretung befinden, sollen dieselben in Form von Kundgebungen in den Gemeinderäthen, in Form von Gesetzvorschlägen in den Parlamenten für die Resolutionen des Pariser Congresses eintreten.

121 Bei allen Wahlen, sowohl für die Volksvertretung, als auch für die Gemeindevertretung, müssen die socialistischen Candidaten diese Resolutionen als ihr Programm anerkennen und vertreten.

Es wird eine Executiv-Commission ernannt, die mit der Ausführung derjenigen Resolutionen des Pariser Congresses, welche die von der Schweizer Regierung geplante internationale Arbeiterschutzgesetzgebung betreffen, betraut ist.

Diese von 5 Mitgliedern gebildete Commission ist beauftragt, der Berner Conferenz die Grundsätze, welche von den organisirten Arbeitern und socialistischen Parteien Europa’s und Amerika‘s auf ihrem Congreß in Paris vom 14.—20. Juli als unumgänglich nothwendig für eine Arbeiterschutzgesetzgebung festgestellt worden sind, mitzutheilen.

Diese Commission empfängt weiter das Mandat, den nächsten internationalen Arbeiter-Congreß einzuberufen, welcher in einem später näher zu bestimmenden Orte der Schweiz oder Belgiens stattfinden soll.

Unter dem Titel: „Der Achtstunden-Arbeitstag“, wird unter Mitwirkung der auf dem internationalen Congreß zu Paris vertretenen socialistischen Parteien eine wöchentliche Zeitung herausgegeben werden, welche bestimmt ist, alle Nachrichten zu sammeln, die Bezug auf die verschiedenen nationalen Bewegungen bezüglich der gesetzgeberischen Herabsetzung des Arbeitstages haben. –

* * *

Auf Antrag der Holländer wird über die Resolution nach Nationalitäten abgestimmt. 15 Nationen sind für den Beschluß, 3 enthalten sich der Abstimmung, 2 sind nicht anwesend. Für die Resolution stimmten: Deutschland, Frankreich (mit 4 Stimmenthaltungen), Ungarn, England, Spanien, Schweiz, Dänemark, Schweden (mit 1 Wahlenthaltung), Rumanien, Polen, Rußland (letztere beiden Länder mit Vorbehalt wegen der ausnahmsweisen Lage, in der sie sich befänden), Nordamerika (mit 1 Wahlenthaltung auf 3 Delegirte), Argentinien. Abwesend waren die norwegischen und italienischen Delegirten. Der Abstimmung enthielten sich: Belgien, Holland und Oesterreich.

Eine Ergänzung zu der Resolution:

der Ausschuß des internationalen Congresses wird von diesem beauftragt, die erwähnte Exekutiv-Commission zu wählen,

wird einstimmig angenommen.

Der Congreß schritt nun zur Abstimmung über die wichtigste der Resolutionen, welche sich auf die Arbeiterschutz-Gesetzgebung bezieht. Dieselbe war aus einer Verschmelzung der Anträge Bebel und Guesde entstanden, und in einzelnen Punkten von Morris, Keir Hardie, Scherrer etc. modifizirt worden.

Die Resolution lautet:

Erste und zweite Frage

Internationale Arbeiterschutzgesetzgebung. Gesetzliche Regelung des Arbeitstages. Tagarbeit, Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsarbeit, Arbeitszeit für jugendliche Personen, Frauen- und Kinderarbeit. Ueberwachung der Großindustrie und des Kleingewerbes einschließlich der Hausindustrie.

Der internationale Arbeiter-Congreß von Paris:

In der Ueberzeugung, daß die Emanzipation der Arbeit und der Menschheit nur ausgehen kann von dem als Klasse und international organisirten Proletariat, welches sich die politische Macht erringt, um die Expropriation des Kapitalismus und die gesellschaftliche Besitzergreifung der Produktionsmittel in’s Werk zu setzen:

In Erwägung:

beschließt der Congreß:

Eine wirksame Arbeiterschutz-Gesetzgebung ist in allen Ländern, welche von der kapitalistischen Produktionsweise beherrscht werden, absolut nothwendig.

Als Grundlage für diese Gesetzgebung fordert der Congreß:

  1. Festsetzung eines höchstens 8 Stunden betragenden Arbeitstages für jugendliche Arbeiter;
     
  2. Verbot der Arbeit der Kinder unter 14 Jahren und Herabsetzung des Arbeitstages auf 6 Stunden für beide Geschlechter;
     
  3. Verbot der Nachtarbeit, außer für bestimmte Industriezweige, deren Natur einen ununterbrochenen Betrieb erfordert;
     
  4. Verbot der Frauenarbeit in allen Industriezweigen, deren Betriebsweise besonders schädlich auf den Organismus der Frauen einwirkt;
     
  5. Verbot der Nachtarbeit für Frauen und jugendliche Arbeiter unter 18 Jahren;
     
  6. Ununterbrochene Ruhepause von wenigstens 36 Stunden die Woche für alle Arbeiter;
     
  7. Verbot derjenigen Industriezweige und Betriebsweisen, deren Gesundheitsschädlichkeit für die Arbeiter vorauszusehen ist;
     
  8. Verbot des Trucksystems;
     
  9. Verbot der Lohnzahlung in Lebensmitteln, sowie der Unternehmer-Kramladen (Cantinen u. s. w,);
     
  10. Verbot der Zwischenunternehmer (Schwitzsystem);
     
  11. Verbot der privaten Arbeits-Nachweise-Bureaus;
     
  12. Ueberwachung aller Werkstätten und industriellen Etablissements mit Einschluß der Hausindustrie, durch vom Staat besoldete und mindestens zur Hälfte von den Arbeitern gewählte Fabrikinspektoren.

Der Congreß erklärt, daß alle diese zur Gesundung der socialen Verhältnisse nothwendigen Maßregeln zum Gegenstand internationaler Gesetze und Verträge zu machen sind, und fordert die Proletarier aller Länder auf, in diesem Sinne auf ihre Regierungen einzuwirken. Sind solche Gesetze und Verträge erwirtt, so soll, um sie gründlicher durchzuführen, ihre Anwendung und Vollstreckung überwacht werden.

Der Congreß erklärt weiter, daß es die Pflicht der Arbeiter ist, die Arbeiterinnen als gleichberechtigt in ihre Reihen aufzunehmen, und fordert prinzipiell: gleiche Löhne für gleiche Arbeit für die Arbeiter beider Geschlechter und ohne Unterschied der Nationalität.

Um die vollständige Emanzipation des Proletariats zu erreichen, halt es der Congreß für durchaus nothwendig, daß die Arbeiter überall sich organisiren und fordert in Folge dessen das uneingeschränkte, vollkommen freie Vereins- und Koalitionsrecht.

* * *

123 Bürger Lavigne bringt darauf im Namen des Nationalverbandes der französischen Syndikatskammern und Corporativgruppen einen Antrag über eine große Manifestation ein, welche den Beschlüssen des Congresses zur Durchführung verhelfen soll. Der Antrag lautet:

Internationale Kundgebung zum 1. Mai 1890

Der Congreß beschließt:

Es ist für einen bestimmten Zeitpunkt eine große internationale Manifestation (Kundgebung) zu organisiren, und zwar dergestalt, daß gleichzeitig in allen Ländern und in allen Städten an einem bestimmten Tage die Arbeiter an die öffentlichen Gewalten (Behörden) die Forderung richten, den Arbeitstag auf acht Stunden festzusetzen und die übrigen Beschlüsse des internationalen Congresses von Paris zur Ausführung zu bringen.

In Anbetracht der Thatsache, daß, eine solche Kundgebung bereits von dem Amerikanischen Arbeiterbund (Federation of Labor) aus seinem im Dezember 1888 zu St. Louis abgehaltenen Congreß für den 1. Mai 1890 beschlossen worden ist, wird dieser Zeitpunkt als Tag der internationalen Kundgebung angenommen.

Die Arbeiter der verschiedenen Nationen haben die Kundgebung in der Art und Weise, wie sie ihnen durch die Verhältnisse ihres Landes vorgeschrieben wird, in’s Werk zu setzen.

* * *

Auf Antrag der Belgier wird nach Nationalitäten abgestimmt. Für die Resolution sind alle Nationalitäten mit Ausnahme der Belgier und Russen, von denen erstere ihr Votum später begründen wollen, und letztere nur deßhalb sich enthalten, weil in Rußland seine derartige Kundgebung unmöglich sei.

Es wird nun noch folgende Resolution angenommen:

Resolution:

Gemäß dem Beschluß des internationalen Arbeiter-Congresses in seiner 2. Sitzung vom 20. Juli, hat das permanente Bureau die Schweiz als Sitz der Executiv-Commissionen bestimmt; es hat die Delegirten dieses Landes beauftragt, eine Commission von 5 Mitgliedern zu bilden und in derselben Stadt einzusetzen, wo das Organ „Der Achtstunden-Arbeitstag“ herausgegeben wird.

* * *

Man schreitet nun zur Diskussion, welche einzelnen Delegirten ermöglichen soll, ihre Voten zu begründen, oder auch noch neue Zusätze und Verbesserungen der Resolutionen herbeizuführen.

Bürger Volders protestirt im Namen der Belgier gegen das Verfahren des Ausschusses, vor der Diskussion abstimmen zu lassen. Es macht aus ihn den Eindruck, als habe man die Debatten ersticken wollen. Der Redner hatte es bis zuletzt für unmöglich gehalten, daß man zuerst abstimmen und dann diskutiren würde. Obgleich die Belgier im Prinzip für die eingebrachten Resolutionen sind, haben sie sich der Abstimmung enthalten, um gegen das Verfahren des Ausschusses zu protestiren. Anstatt daß der Congreß frei diskutiren konnte, hat man Dogmen aufgestellt und zur Abstimmung gebracht. Er hofft, daß der nächste internationale Congreß demokratischer gehalten sein werde.

Bürger Deville erwidert, daß der Ausschuß Volders nichts zu antworten habe, da er nicht aus eigener Machtvollkommenheit gehandelt, sondern nur die vom Congre? getroffenen Entscheidungen und Anordnungen ausführt.

124 Bürger Körner protestirt gegen die mangelhafte Geschäftsführung des Ausschusses. Die Beschlüsse hätten vor der Abstimmung gedruckt vorgelegt werden müssen, damit Jeder genau wußte, wofür er stimmte. Er persönlich hat sich der Abstimmung enthalten, weil er die verlesenen Resolutionen nicht verstehen konnte.

Bürger Liebknecht findet es überflüssig, den Ausschuß zu vertheidigen. Wer den Verhandlungen beigewohnt, habe auch die Schwierigkeiten der Leitung gesehen. Was die Abstimmung vor der Diskussion anbetrifft, so war dieselbe durchaus nicht unpraktisch, wie behauptet worden, da es sich um Fragen handelte, über welche sich jeder Delegirte seit Langem klar war. Redner ist überzeugt, daß kein Einziger zum Congreß gekommen, um sich hier über die auf der Tagesordnung stehenden Fragen belehren zu lassen; Jeder brachte ein festes Programm schon mit. Die Abstimmung vor der Diskussion ward aber geradezu zur Nothwendigkeit in anbetracht der vorgeschrittenen Zeit, und wenn man darauf halten wollte, daß der Congreß nicht ohne Beschlüsse auseinanderginge. Die Diskussionen würden sich bei einem anderen Modus bis in’s Unendliche verschleppt haben. Wenn man nach der Abstimmung noch in Diskussionen eintritt, so kann dies nur zu dem Zwecke geschehen, Gelegenheit zur Begründung abweichender Voten zu geben.

Was die Leitung des Congresses anbetrifft, so darf man nicht die ungeheuren Schwierigkeiten vergessen, mit denen der Ausschuß schon allein wegen der verschiedenen Sprachen zu kämpfen gehabt. Man kennt die Schwierigkeiten, die mit der Leitung eines nationalen Parteitages verknüpft sind; für einen internationalen Congreß mit drei offiziellen Sprachen sind dieselben mindestens verdreifacht.

Gewiß wäre es gut gewesen, hätte man die Resolutionen gedruckt vorlegen können, aber man bedenke, daß die hiesigen Socialisten weder ein Organ noch eine Druckerei zur Verfügung haben, und daß es trotz aller Bemühungen unmöglich war, eine Druckerei zu finden, welche sofort für uns arbeiten wollte.

Der amerikanische Delegirte Bush bringt daraus noch eine Resolution ein, folgendermaßen lautend:

Resolution:

In Erwägung, daß die Berichte der Delegirten aller Länder auf diesem Congreß gezeigt haben, daß die einfache ökonomische Organisation der Arbeit (Trades Unions und ähnliche Verbindungen) zur Emanzipation der Arbeiterklasse nicht genügen, währendem die Agitation für Reduktion des Arbeitstages, für Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit, und für die Arbeiterschutzgesetze, sich als ein Mittel erwiesen hat, das Klassenbewußtsein der Arbeiter zu erwecken, was eine nothwendige Vorbedingung zur Emanzipation der Arbeiterklasse durch sich selbst ist;

In Erwägung, daß der Besitz der politischen Macht der herrschenden Klasse gestattet, ihr Ausbeutungssystem der Privatunternehmer und der kapitalistischen Produktionsweise aufrecht zu erhalten;

In Erwägung, daß mittelst der politischen Macht die Beaufsichtigung der Industrie durch den Staat und die Beaufsichtigung des Staates durch das Volk verhindert wird;

beschließt der internationale Congreß von Paris:

  1. in allen Ländern, wo die Proletarier im Besitze des Wahlrechts sind, sollen sie in die Reihen der socialistischen Partei eintreten, und, unter Ausschluß eines jeden Compromisses mit irgend einer andern politischen Partei, vermittelst ihres Wahlzettels, unter der Herrschaft der bezüglichen Staatsverfassung die Eroberung der politischen Macht betreiben;
     
  2. 125 in allen Ländern, wo das Wahlrecht und die konstitutionellen Rechte den Proletariern verweigert sind, sollen diese mit allen möglichen Mitteln sich das Wahlrecht zu erkämpfen suchen;
     
  3. die Anwendung repressiver Gewalt Seitens der herrschenden Klasse zu dem Zwecke, die friedliche Entwicklung der Gesellschaft zu einer genossenschaftlichen industriellen und socialen Organisation zu verhindern, wäre ein Verbrechen an der Menschheit, und würde die Unmenschlichkeit der Angreifer der verdienten Bestrafung durch die für die Vertheidigung ihres Lebens und ihrer Freiheit kämpfenden Menschen überliefern.

* * *

Diese Resolution wird mit allen gegen eine Stimme angenommen.

Bürger Werner (Berlin) erklärt, daß es gegen das demokratische Prinzip verstoße, ohne vorhergegangene Diskusssion abzustimmen. Nachdem der Congreß drei Tage mit Formalitätsfragen verloren, habe man jetzt keine Zeit mehr, die auf der Tagesordnung stehenden Fragen eingehend zu behandeln, und man habe die Abstimmung mit Hochdruck betrieben.

Bürger Dumortier, Vertreter der Maschinenbauer von Lyon, erklärt, daß er gegen den Beschluß des Congresses sei, weil er nicht der Conferenz von Bern zustimmen könne, welche von einer Bourgeois-Regierung zusammenberufen worden sei.

Die 4 französischen Delegirten, welche sich der Abstimmung über die Resolution betreffend die dritte Frage enthalten haben, erklären, daß sie durch ihre Abstention den Schein vermeiden wollten, als haben sie Vertrauen zu irgend einer Regierung.

Die zwei spanischen Delegirten Mesa und Iglesias und ein ungarischer Delegirter fordern durch einen Antrag, daß der Ausschuß des Congresses einen die verschiedenen Länder repräsentirenden Centralausschuß ernenne, welcher die internationale Verständigung der einzelnen Arbeiterorganisationen und Parteien aufrecht zu erhalten habe.

Bürger Vaillant erklärt, daß die Annahme dieses Antrags mit Rücksicht auf die Gesetze vieler Länder unmöglich sei, und der Antrag wird in der Folge auch zurückgezogen.

Bürger Kranz, Delegirter des jüdischen socialistischen Arbeitervereins zu London, verlangt als Zusatz zur Bebel-Guesde’schen Resolution die Abschaffung der Zwischenunternehmer (Faktoren, „Schwitzer“ im „Schwitzersystem“ – sweating system). Der Redner hat gerade in London Gelegenheit gehabt, das System und seine beklagenswerthen Folgen für die Arbeiter kennen zu lernen.

Der Zusatz wird vom Ausschuß und vom Congreß einstimmig angenommen. (S. k. in der Resolution zur ersten und zweiten Frage.)

Bürger Seitz (Berlin) protestirt gegen die Angriffe auf den Ausschuß. Er begreift vollkommen die großen Schwierigkeiten mit denen derselbe zu kämpfen hat. Es ist richtig, daß man zuletzt geeilt hat, allein es war durch die Situation geboten. Jedermann war über die auf der Tagesordnung stehenden Fragen klar, und außerdem weiß man, daß man dem Ausschuß vollständig vertrauen kann.

Bürger Liebknecht dankt für die Erklärung, obgleich dieselbe nicht nöthig gewesen, da der Ausschuß sich nicht zu vertheidigen braucht.

Bürger Chretien (Marseille) erklärt, daß er mit voller Ueberzeugung gestimmt hat, da er weiß, daß die geforderten Maßregeln thatsächlich die Lage der Arbeiter verbessern werden. Gewiß wäre eine ausführliche Diskussion wünschenswerth gewesen, allein in Anbetracht der kurzen Zeit hat der Ausschuß gut gehandelt, zuerst abstimmen zulassen.

Bürger Lenz beantragt im Namen der Kellner und Limonadiers einen Zusatz zu der Resolution Bebel-Guesde, in welchem die Abschaffung der privaten Stellenvermittlungs-Bureaus gefordert wird.

126 Der Antrag wird einstimmig angenommen. (§. k. in der Resolution zur ersten und zweiten Frage.)

Bürger Tressaud (Marseille) erklärt, daß voraussichtlich die Manifestation vom 1. Mai 1890 wirkungslos bleiben werde. Man müsse dieselbe also durch einen Generalstreikgrêve générale – unterstützen. Der Congreß soll aber „als Anfang der socialen Revolution den Generalstreik beschließen.“

Der Redner stellt einen dahin zielenden Antrag, der mit ironischen Zwischenrufen aufgenommen wird.

Bürger Liebknecht spricht kurz gegen den Antrag. Redner führt aus, daß der Generalstreik ein Ding der Unmöglichkeit sei, da er eine so starke und einheitliche Organisation der Arbeiter voraussetze, wie sie zur Zeit noch nicht existire und in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt nicht existiren könne. Die englischen Arbeiter waren Ende der Dreißiger und Anfangs der Vierziger Jahre trefflich organisirt, weit besser, als es die Franzosen jetzt sind, und doch scheiterten ihre großen Streiks, sowie andere Versuche einer allgemeinen Arbeitseinstellung. Haben die Arbeiter aber erst einmal eine so starke Organisation, um einen Generalstreik durchsetzen zu können, so werden sie sich hoffentlich nicht mit einem solchen begnügen, sondern einen besseren Gebrauch von ihrer Organisation machen. Dann sind sie die Herren der Welt. Und die Arbeit dann einzustellen, wäre erst recht eine grenzenlose Thorheit.

Bürger Tressaud bemerkt, daß seine Resolution nur auf die Länder Geltung haben sollte, wo es möglich wäre, Etwas durch einen Generalsstreik zu erreichen.

Zwei Delegirte unterstützen seinen Antrag.

Es läuft ein Antrag auf Schluß der Debatte ein; derselbe wird von mehreren Delegirten bekämpft, unter anderen von Dormoy (französische Provinz), welcher findet, daß die Vertreter aus der Provinz bis jetzt nur wenig das Wort gehabt, und daß es wichtig sei, wenn sie so wichtigen Fragen gegenüber zeigen könnten, daß sie nicht auf einem anarchistischen oder unklaren, sondern auf dem korrekt socialistischen Standpunkt stehen.

Der Schluß der Debatte über den Generalstreik wird beschlossen, und Tressaud’s Antrag mit sehr großer Majorität verworfen.

Es kommen hierauf zwei Anträge über eine allgemeine Amnestie aller wegen politischer Vergehen und im Zusammenhang mit der Arbeiter: bewegung verurtheilten Personen zur Abstimmung.

Bürger Liebknecht erklärt, daß angesichts des Kampfes, in welchem die deutsche Sozialdemokratie mit der Regierung steht, es ihrerseits eine Feigheit wäre, für einen Gnadenakt zu stimmen.

Der Antrag auf Amnestie bezw. auf Agitation für Amnestie wird angenommen. Die deutschen Delegirten enthalten sich der Abstimmung.

Bürger Faure ist von 7 englischen und 1 italienischen Delegirten beauftragt gegen den Anschluß Merlino’s und seiner Freunde zu protestiren.

Ein französischer Delegirter erklärt den Protest für begründet; er fordert den Congreß auf, dies durch ein Votum anzuerkennen und dann zur Tagesordnung überzugehen.

Bürger Palmgreen will nicht protestiren, er konstatirt nur, daß Unregelmäßigkeiten vorgefallen, allein diese waren natürlich und unvermeidlich; sie zeigen nur, daß der Congreß socialistisch und nicht parlamentarisch war. Der Ausschuß hat seine Pflicht durchaus gethan, er war mit Arbeit überlastet und konnte unmöglich mehr Ordnung halten, als er gethan. Er konnte doch nicht Gendarmen ausstellen, welche auf peinliche Beobachtung aller Beschlüsse und Maßregeln hielten.

127 Der Redner ist zufrieden, daß der Congreß nicht zu parlamentarisch verlaufen ist. Der Congreß hat seinen Zweck erfüllt, wir haben unter einander Fühlung gewonnen und gesehen, daß die Arbeiter überall das gleiche Ziel anstreben.

Bürger Besset erklärt, daß er Mandat hatte, für die Manifestation und den Generalstreik einzutreten. Da der Congreß den letzteren verworfen zieht er sich zurück.

Bürger Vollmar theilt mit, daß die Niederlegung der Kränze auf den Gräbern der Communarden, sowie Börne’s und Heine’s Sonntag früh 10 Uhr stattfinden.

Bürger Lenz stellt fest, daß alle Delegirten einig gewesen seien über das zu erreichende Ziel: die Emanzipation der Menschheit. Es frage sich aber nun, wie man dieselbe verwirkliche? Er seinerseits ist überzeugt, nur durch eine sociale Revolution.

Es macht sich allgemein der Wunsch auf Schluß des Congresses bemerkbar.

Bürger Cipriani erklärt im Namen seiner italienischen Mitdelegirten, daß dieselben nicht vom Congresse abwesend waren, ihm aber nur als Zuschauer beiwohnten, da ihr Mandat, eine Vereinigung beider Congresse herbeizuführen, nicht zu erfüllen gewesen sei.

Der Vorsitzende Deville zeigt an, daß von den Deutschen, Amerikanern und Engländern ein Antrag auf Schluß des Congress es eingelaufen sei, da dieser seine Tagesordnung erledigt habe.

Der Antrag wird mit großer Majorität angenommen.

Der Vorsitzende Deville „Ich erkläre den Congreß, der seine Tagesordnung nun erledigt hat, für geschlossen. Der Congreß ist gefchlossen! Vive la Révolution sociale!“

Von deutscher Seite ertönt der Ruf: Hoch die Socialdemokratie! Hoch die Internationale Socialdemokratie! Und minutenlang mischen sich brausend in französischer und deutscher Sprache die Rufe: vive la République sociale! Vive la Révolution sociale! Die deutschen Delegirten stimmen die Arbeitermarseillaise an, und die Franzosen singen mit. Man drückt sich begeistert die Hände.

Auf Wiedersehen!“ „Au revoir!“

Der Schluß der letzten Sitzung erfolgt 8½ Uhr Abends.

 

 


Zuletzt aktualisiert am 26. Dezember 2022