Michail Bakunin

 

Gott und der Staat

III

Jedoch darf man sich nicht zu sehr darauf verlassen, und wenn es beinahe sicher ist, daß kein Gelehrter heute wagen wird, einen Menschen wie ein Kaninchen zu behandeln, muß man doch stets fürchten, daß die Gelehrten als Körperschaft lebende Menschen wissenschaftlichen Versuchen unterwerfen, die für die Opfer gewiß weniger grausam, aber nicht weniger schädlich sein würden. Wenn die Gelehrten an den Körpern einzelner Menschen nicht experimentieren können, werden sie verlangen, am sozialen Körper Versuche zu machen, was man unbedingt verhindern muß.

In ihrer gegenwärtigen Organisation, als Monopolisten der Wissenschaft, die als solche außerhalb des sozialen Lebens bleiben, bilden die Gelehrten eine abgeschlossene Kaste, die viele Ähnlichkeiten mit der Priesterkaste hat. Die wissenschaftliche Abstraktion ist ihr Gott, die lebenden und wirklichen Individuen sind die Opfer; sie sind die geweihten und patentierten Opferpriester.

Die Wissenschaft kann die Sphäre der Abstraktionen nicht verlassen. In dieser Beziehung steht sie unendlich tief unter der Kunst, die zwar auch nur mit allgemeinen Typen und Situationen zu tun hat, dieselben aber durch einen ihr eigenen Kunstgriff in Formen zu verkörpern weiß, die zwar nicht im Sinn des wirklichen Lebens lebendig sind, aber trotzdem in unserer Einbildung das Gefühl oder die Erinnerung dieses Lebens hervorrufen; die Kunst individualisiert gewissermaßen die von ihr erfaßten Typen und Situationen und erinnert uns durch diese Individualitäten ohne Fleisch und Knochen, deren Schaffung in ihrer Macht liegt, die deshalb bleibend und unsterblich sind, an die lebenden, wirklichen Individualitäten, die vor unseren Augen erscheinen und vergehen. Die Kunst ist also in gewissem Grade die Rückkehr von der Abstraktion zum Leben. Die Wissenschaft ist dagegen die beständige Opferung des flüchtigen, vorübergehenden, aber wirklichen Lebens auf dem Altar der ewigen Abstraktionen.

Die Wissenschaft kann ebensowenig die Individualität eines Menschen wie die eines Kaninchens erfassen. Das heißt, sie steht beiden gleich uninteressiert gegenüber. Nicht, daß ihr das Prinzip der Individualität unbekannt wäre. Sie erfaßt es vollständig als Prinzip, aber nicht als Tatsache. Sie weiß sehr gut, daß alle Tierarten, die Gattung Mensch inbegriffen, nur wirklich existieren als unbestimmte Zahl von Individuen, die geboren werden und sterben und neuen, ebenso vorübergehenden Individuen Platz machen. Sie weiß, daß mit dem Aufsteigen der Tierarten zu höheren Arten das Prinzip der Individualität mehr hervortritt und die Individuen vollständiger und freier werden. Sie weiß endlich, daß der Mensch, das letzte und vollendetste Tier auf der Erde, die vollständigste und beachtenswerteste Individualität zeigt wegen seiner Fähigkeit, das allgemeine Gesetz zu erfassen, zu verwirklichen und es gewissermaßen in sich selbst, in seiner sozialen und privaten Existenz, zu verkörpern. Wenn sie nicht durch theologischen der metaphysischen, politischen und juristischen Doktrinarismus oder durch eng wissenschaftlichen Hochmut verdorben und nicht für die natürlichen Instinkte und Strebungen des Lebens taub ist, weiß sie, und das ist ihr letztes Wort, daß die Achtung des Menschen das oberste Gesetz der Menschheit ist und daß das große, das wahre, das einzig rechtmäßige Ziel der Geschichte die Humanisierung und Befreiung, das heißt die wirkliche Freiheit, das wirkliche Wohl, das Glück jedes in der Gesellschaft lebenden Individuums ist. Denn schließlich, wenn man nicht in die freiheitstötende Fiktion, daß der Staat das Gemeinwohl vertrete, verfallen will, eine Fiktion, die stets auf die systematische Opferung der Volksmassen gegründet ist, muß man anerkennen, daß kollektive Freiheit und kollektives Wohlbefinden nur existieren, wenn sie die Summe der Freiheit und des Wohlbefindens der Individuen darstellen.

Die Wissenschaft weiß das alles, aber sie geht nicht weiter und kann nicht weiter gehen. Da die Abstraktion ihre wahre Natur bildet, kann sie wohl das Prinzip der wirklichen und lebenden Individualität erfassen, aber sie kann nichts mit den wirklichen und lebenden Individuen zu tun haben. Sie beschäftigt sich mit den Individuen im allgemeinen, aber nicht mit Peter und mit Jakob, nicht mit diesem oder jenem Individuum, die für sie nicht existieren, nicht existieren können. Ihre Individuen sind, nochmals bemerkt, nur Abstraktionen. Nicht diese abstrakten Individualitäten aber, sondern die wirklichen, lebendigen, vorübergehenden Individuen machen die Geschichte. Abstraktionen haben keine Füße, sie gehen nur, wenn sie von wirklichen Menschen getragen werden. Für diese wirklichen Wesen, die nicht nur in der Idee, sondern in Wirklichkeit aus Fleisch und Blut bestehen, hat die Wissenschaft kein Interesse. Sie betrachtet sie höchstens als Material zu geistiger und sozialer Entwicklung. Was liegt ihr an den besonderen Verhältnissen und dem zufälligen Schicksal von Peter und Jakob? Sie würde sich lächerlich machen, abdanken und sich selbst aufheben, wollte sie sich damit anders befassen als mit einem Beispiel zur Stütze ihrer ewigen Theorien. Und es wäre lächerlich, ihr deshalb böse zu sein; denn dies ist nicht ihre Aufgabe. Sie kann das Wirkliche nicht erfassen, sie kann sich nur in Abstraktionen bewegen. Ihre Aufgabe ist die Beschäftigung mit der Lage und den allgemeinen Daseins- und Entwicklungsbedingungen der Menschheit im allgemeinen oder einer bestimmten Rasse, eines Volkes, einer Klasse von Individuen, mit den allgemeinen Ursachen ihrer Wohlfahrt oder ihres Verfalls und den allgemeinen Mitteln, auf jede Weise den Fortschritt zu fördern. Wenn sie nur diese Aufgabe in weitem, vernünftigem Sinn erfüllt, hat sie ihre ganze Pflicht getan, und es wäre wahrhaft lächerlich und ungerecht, mehr von ihr zu verlangen.

Aber es wäre ebenso lächerlich und unheilvoll, ihr eine Aufgabe anzuvertrauen, die sie unfähig ist durchzuführen. Da ihre eigene Natur sie zwingt, das Dasein und das Schicksal von Peter und Jakob zu übergehen, darf man nie erlauben, daß sie selbst oder jemand in ihrem Namen Peter und Jakob beherrscht. Denn sie wäre wohl imstande, sie beinahe so zu behandeln, wie sie die Kaninchen behandelt. Oder vielmehr, sie würde fortfahren, sie außer acht zu lassen, ihre patentierten Vertreter aber, die durchaus nicht abstrakte, sondern sehr lebendige Männer mit sehr wirklichen Interessen sind, würden dem verderblichen Einfluß nachgeben, den jedes Vorrecht unvermeidich auf die Menschen ausübt, und würden die Menschen im Namen der Wissenschaft schinden, wie die Priester, die Politiker aller Farben und die Advokaten im Namen Gottes, des Staates und des juristischen Rechts sie bis jetzt geschunden haben.

Was ich predige, ist also, bis zu einem gewissen Grade, die Empörung des Lebens gegen die Wissenschaft oder vielmehr gegen die Herrschaft der Wissenschaft, nicht um die Wissenschaft zu zerstören – dies wäre ein Verbrechen an der Menschheit –, sondern um sie an ihren Platz zu weisen, den sie nie wieder verlassen sollte. Bis jetzt war die ganze Geschichte der Menschheit nur ein beständiges und blutiges Opfern von Millionen armer menschlicher Wesen für irgendeine unerbittliche Abstraktion: Götter, Vaterland, Staatsmacht, nationale Ehre, geschichtliche Rechte juristische Rechte, politische Freiheit, öffentliches Wohl. Solcher Art war bis jetzt die natürliche, freiwillige, unvermeidliche Bewegung der menschlichen Gesellschaften. Wir können nichts daran ändern; wir müssen es, was die Vergangenheit betrifft, annehmen, wie wir alles natürliche Unheil annehmen. Man muß glauben, daß dies der einzig mögliche Weg zur Erziehung des Menschengeschlechts war. Denn man darf sich nicht täuschen: Selbst wenn man den machiavellistischen Künsten der herrschenden Klassen den größten Anteil zuschreibt, müssen wir anerkennen, daß keine Minderheiten mächtig genug gewesen wären, all diese schrecklichen Opfer den Massen aufzulegen, wenn es nicht in diesen Massen selbst eine freiwillige, schwindelartige Bewegung gegeben hätte, die sie dazu trieb, sich immer von neuem einer dieser verzehrenden Abstraktionen zu opfern, die, wie die Vampire der Geschichte, sich immer von menschlichem Blut nährten.

Daß die Theologen, Politiker und Juristen dies sehr schön finden, ist klar. Als Priester dieser Abstraktionen leben sie nur von dieser beständigen Opferung der Volksmassen. Ebensowenig darf erstaunen, wenn auch die Metaphysik ihre Zustimmung dazu gibt. Ihre einzige Aufgabe ist ja, das Unbillige und Unsinnige zu rechtfertigen und möglichst vernünftig erscheinen zu lassen. Daß aber selbst die positive Wissenschaft bis jetzt das gleiche Bestreben zeigte, müssen wir feststellen und beklagen. Sie konnte es nur aus zwei Ursachen tun: einmal, weil sie, außerhalb des Volkslebens stehend, von einer bevorrechteten Körperschaft vertreten wird, und dann, weil sie sich selbst bis jetzt als absolutes und letztes Ziel aller menschlichen Entwicklung aufgestellt hat, während sie aufgrund bedachter Kritik, die sie anzuwenden fähig ist und die sie sich letzten Endes gegen sich selbst anzuwenden gezwungen sehen wird, hätte verstehen müssen, daß sie nur ein notwendiges Mittel zur Verwirklichung eines viel höheren Zweckes ist: das der vollständigen Humanisierung der wirklichen Lage aller wirklichen Individuen, die auf der Erde geboren werden, leben und sterben.

Der ungeheure Vorzug der positiven Wissenschaft vor der Theologie, Metaphysik, Politik und dem juristischen Recht besteht darin, daß sie statt der von diesen Lehren verkündeten lügenhaften und unheilvollen Abstraktionen wahre Abstraktionen aufstellt, welche die allgemeine Natur oder die Logik der Tatsachen selbst, ihre allgemeinen Beziehungen und die allgemeinen Gesetze ihrer Entwicklung ausdrücken. Dies trennt sie scharf von allen vorhergehenden Lehren und wird ihr immer eine große Stellung in der menschlichen Gesellschaft sichern. Sie wird gewissermaßen deren kollektives Bewußtsein bilden. Andererseits aber schließt sie sich all diesen Lehren vollständig an: dadurch, daß sie als Gegenstand nur Abstraktionen hat und haben kann und durch ihr Wesen gezwungen ist, die wirklichen Individuen außer acht zu lassen, außerhalb welcher selbst die richtigsten Abstraktionen keine wirkliche Existenz haben. Um diesen wesentlichen Fehler zu beheben, müßte sich das praktische Vorgehen der vorgenannten Lehren und das der positiven Wissenschaft in folgendem unterscheiden. Erstere benutzten die Unwissenheit der Massen, um sie mit Wollust ihren Abstraktionen zu opfern, die übrigens für ihre Vertreter stets sehr einträglich sind. Letztere muß in Erkenntnis ihrer absoluten Unfähigkeit, die wirklichen Individuen zu erfassen und sich für ihr Schicksal zu interessieren, endgültig und unbedingt auf die Regierung der Gesellschaft verzichten; denn wenn sie sich um dieselbe kümmern sollte, könnte sie nichts anderes tun, als stets die lebenden Menschen, die die Welt kennt, ihren Abstraktionen zu opfern, die den einzigen sie wirklich beschäftigenden Gegenstand bilden.

Die wahre Geschichtswissenschaft zum Beispiel ist noch nicht, und man beginnt heutzutage kaum, sich von ihren unendlich verwickelten Bedingungen eine Vorstellung zu machen. Aber nehmen wir an, diese Wissenschaft bestehe: Was wird sie uns geben können? Sie wird das treue, wohldurchdachte Bild der natürlichen Entwicklung der allgemeinen, materiellen und ideellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen, religiösen, philosophischen, ästhetischen und wissenschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaften geben, welche eine Geschichte gehabt haben. Aber dieses allgemeine Bild der menschlichen Kultur, wie sehr es auch in die Einzelheiten gehen mag, wird stets nur allgemeine und folglich abstrakte Würdigungen enthalten können in dem Sinn, daß die Milliarden menschlicher Individuen, welche den lebenden und leidenden Stoff dieser Geschichte bilden, die zugleich triumphierend und trostlos ist – triumphierend im Hinblick auf ihre allgemeinen Ergebnisse, trostlos mit Hinsicht auf die ungeheure, „unter ihrem Wagen erdrückte“ Hekatombe442 menschlicher Opfer -; daß diese Milliarden schattenhafter Individuen, ohne welche aber keines dieser großen abstrakten Resultate der Geschichte erreicht worden wäre und die, wohlgemerkt, nie den Vorteil von einem dieser Ergebnisse hatten; daß diese Individuen also nicht einmal den geringsten Platz in der Geschichte finden würden. Sie lebten und wurden zum Wohl der abstrakten Humanität geopfert und vernichtet.

Sollen wir daraus der Geschichtswissenschaft einen Vorwurf machen? Dies wäre lächerlich und ungerecht. Individuen sind unfaßbar für das Denken, die Überlegung, selbst für das menschliche Wort, das nur Abstraktionen auszudrücken fähig ist, unfaßbar in der Gegenwart wie in der Vergangenheit. Auch die Sozialwissenschaft, die Wissenschaft der Zukunft, wird also notgedrungen fortfahren, sie nicht in den Kreis ihrer Betrachtungen zu ziehen. Wir haben nur das Recht, von ihr zu verlangen, daß sie uns mit fester und treuer Hand die allgemeinen Ursachen der persönlichen Leiden anzeigt, und unter diesen Ursachen wird sie gewiß die leider nur zu häufige Opferung und Unterordnung von lebenden Individuen zugunsten abstrakter Allgemeinheiten nicht vergessen, und sie möge uns gleichzeitig die allgemeinen Bedingungen der wirklichen Befreiung der lebenden Individuen in der Gesellschaft zeigen. Dies ist ihre Aufgabe, dies sind auch ihre Grenzen, außerhalb welcher die Tätigkeit der Sozialwissenschaft nur ohnmächtig und verhängnisvoll sein könnte. Denn jenseits dieser Grenzen beginnen die doktrinären und Regierungsansprüche ihrer patentierten Vertreter, ihrer Priester. Und es ist an der Zeit, mit allen Päpsten und Priestern ein Ende zu machen: Wir wollen keine mehr, selbst wenn sie sich sozialistische Demokraten nennen würden.

Noch einmal: Die einzige Aufgabe der Wissenschaft ist, den Weg zu erhellen. Aber nur das von allen Regierungs- und doktrinären Fesseln befreite, der Fülle seiner natürlichen Tätigkeit wiedergegebene Leben kann schöpferisch tätig sein. Wie ist dieser Widerspruch zu lösen? Die Wissenschaft ist einerseits zur vernünftigen Organisation der Gesellschaft unentbehrlich, andererseits darf sie, da sie unfähig ist, sich für das Wirkliche und Lebendige zu interessieren, sich nicht um die wirkliche oder praktische Organisation der Gesellschaft kümmern.

Dieser Widerspruch kann nur auf eine Art gelöst werden: durch die Auflösung der Wissenschaft als außerhalb des sozialen Lebens aller existierendes Wesen, das als solches von einer Körperschaft patentierter Gelehrter vertreten wird, und durch ihre Verbreitung in den Volksmassen. Die Wissenschaft, die berufen ist, hinfort das kollektive Bewußtsein der Gesellschaft zu vertreten, muß wirklich Eigentum aller werden. Ohne ihren universellen Charakter zu verlieren, den sie nie aufgeben kann, ohne aufzuhören, Wissenschaft zu sein, und fortfahrend sich mit den allgemeinen Verhältnissen und Beziehungen der Individuen und Dinge zu beschäftigen, wird sie tatsächlich mit dem unmittelbaren und wirklichen Leben aller Individuen verschmelzen. Diese Bewegung wird derjenigen ähnlich sein, welche die Protestanten zu Anfang der Reformation sagen ließ, daß man jetzt keine Priester mehr brauche, da jeder Mensch jetzt sein eigener Priester werde, da jeder Mensch allein dank der unsichtbaren Vermittlung unseres Herrn Jesu Christi, jetzt seinen Herrgott in sich habe. Aber hier handelt es sich nicht um den Herrn Jesus Christus, noch um den Herrgott, noch um politische Freiheit, juristisches Recht, was bekanntlich alles theologisch oder metaphysisch offenbarte und gleich unverdauliche Dinge sind. Die Welt der wissenschaftlichen Abstraktionen ist nicht offenbart, sie ist der wirklichen Welt eigen und ist deren Ausdruck und allgemeine oder abstrakte Darstellung. Solange diese ideale Welt eine getrennte Region bildet, die speziell von der Körperschaft der Gelehrten vertreten wird, droht sie der wirklichen Welt gegenüber den Platz Gottes einzunehmen und ihren patentierten Vertretern das Priesteramt vorzubehalten. Deshalb ist es notwendig, durch allgemeinen, für alle und alle Geschlechter gleichen Unterricht die abgeschlossene soziale Organisation der Wissenschaft aufzulösen, damit die Massen aufhören, von bevorrechteten Hirten geführte und geschorene Herden zu sein, und von jetzt ab ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können. [6]

Dürfen aber die Massen, bis sie diesen Bildungsgrad erreicht haben, von den Männern der Wissenschaft geleitet werden? Gott bewahre! Es wäre für sie besser, sich ohne Wissenschaft zu behelfen, als sich von den Gelehrten regieren zu lassen. Die erste Folge einer Gelehrtenregierung wäre, daß die Wissenschaft dem Volke unzugänglich würde, und eine solche Regierung würde notwendigerweise eine aristokratische sein, weil die Wissenschaft, wie sie gegenwärtig besteht, eine aristokratische Einrichtung ist. Aristokratie der Intelligenz – in praktischer Beziehung die unbarmherzigste, in sozialer Hinsicht die anmaßendste und herausforderndste –, dies wäre die im Namen der Wissenschaft errichtete Macht. Diese Regierung wäre imstande, Leben und Bewegung der Gesellschaft zu lahmen. Die Gelehrten, die immer anspruchsvoll und dünkelhaft, immer ohnmächtig sind, würden sich um alles kümmern wollen, und alle Quellen des Lebens würden unter ihrem abstrakten und gelehrten Hauch austrocknen. Noch einmal: Das Leben, nicht die Wissenschaft, schafft das Leben; nur die natürliche Tätigkeit des Volkes selbst kann die Volksfreiheit schaffen. Es wäre gewiß ein großes Glück, wenn die Wissenschaft schon heute den natürlichen Zug des Volkes seiner Befreiung entgegen erhellen könnte. Aber gar kein Licht ist noch besser als ein falsches, das spärlich von außen leuchtet mit dem klaren Zweck, das Volk irrezuführen. Übrigens wird das Licht dem Volk nicht ganz fehlen. Nicht vergeblich durchlief ein Volk eine lange geschichtliche Laufbahn und zahlte für seine Irrtümer mit Jahrhunderten schrecklicher Leiden. Die praktische Zusammenfassung dieser schmerzlichen Erfahrungen bildet eine Art überlieferter Wissenschaft, die in gewisser Hinsicht so viel wert ist wie die theoretische Wissenschaft. Endlich werden Teile der studierenden Jugend, diejenigen Bourgeois-Studenten, die hinreichend Haß gegen die Lüge, die Heuchelei, die Nichtswürdigkeit und Feigheit der Bourgeoisie empfinden, um in sich den Mut zu finden, ihr den Rücken zu kehren, und hinreichende Leidenschaft, um ohne Vorbehalt die gerechte und menschliche Sache des Proletariats zu der ihren zu machen, wie ich schon sagte, die brüderlichen Unterweiser des Volkes sein; wenn sie ihm die noch fehlenden Kenntnisse bringen, werden sie die Regierung der Gelehrten ganz unnötig machen.

Wenn das Volk sich vor der Regierung der Gelehrten hüten muß, so muß es noch mehr vor der der erleuchteten Idealisten auf der Hut sein. Je aufrichtiger diese Gläubigen und Dichter des Himmels sind, desto gefährlicher werden sie. Die wissenschaftliche Abstraktion, sagte ich, ist eine vernünftige, in ihrem Wesen wahre Abstraktion, die dem Leben notwendig ist, dessen theoretische Darstellung, dessen Bewußtsein sie ist. Sie kann und muß vom Leben aufgenommen und verarbeitet werden. Die idealistische Abstraktion, Gott, ist ein ätzendes Gift, welches das Leben zerstört und zersetzt, fälscht und tötet. Der Hochmut der Idealisten, der kein persönlicher, sondern ein göttlicher ist, ist unbesiegbar und unversöhnlich. Er kann und muß sterben, wird aber nie weichen, und noch mit dem letzten Atemzug wird er versuchen, die Welt unter den Fuß seines Gottes zu knechten, geradeso wie die preußischen Leutnants, diese praktischen Idealisten Deutschlands, sie unter dem gespornten Stiefel ihres Königs zertreten zu sehen wünschen. Der Glaube ist derselbe – seine Gegenstände sind nicht einmal sehr verschieden –, und der Glaube zeitigt dasselbe Ergebnis: Knechtschaft.

Dies ist gleichzeitig der Triumph des krassesten und brutalsten Materialismus: Für Deutschland bedarf dies keines Beweises, denn man müßte wirklich blind sein, um es im gegenwärtigen Augenblick nicht zu sehen. Aber ich halte es für nötig, dies auch in bezug auf den göttlichen Idealismus zu beweisen. Der Mensch ist, wie die ganze übrige Welt, ein vollständig materielles Wesen. Der Geist, die Fähigkeit zu denken, die verschiedenen äußeren und inneren Eindrücke zu empfangen und zurückzuwerfen, sich der vergangenen zu erinnern und sie durch das Gedächtnis wieder hervorzubringen, sie zu vergleichen und zu unterscheiden, gemeinsame Eigenschaften zu abstrahieren und so allgemeine oder abstrakte Begriffe zu schaffen, schließlich durch verschiedene Gruppierung und Zusammenfassung der Begriffe Ideen zu bilden, – die Intelligenz mit einem Wort, der einzige Schöpfer all unserer idealen Welt, gehört dem tierischen Körper an und insbesondere der ganz materiellen Organisation des Gehirns.

Wir wissen dies ganz bestimmt durch die allgemeine Erfahrung, die durch nichts je widerlegt wurde und die jeder Mensch in jedem Augenblick seines Lebens nachprüfen kann. In allen Tieren, die niedrigsten Arten nicht ausgenommen, finden wir einen gewissen Grad von Intelligenz, und wir sehen, daß in der Reihe der Arten die tierische Intelligenz sich um so mehr entwickelt, je mehr sich der Organismus einer Art dem des Menschen nähert, daß sie aber im Menschen allein zu jener Macht der Abstraktion gelangt, welche eigentlich das Denken ausmacht.

Die allgemeine Erfahrung [7], welche in ihrer Ganzheit der einzige Ursprung, die Quelle all unserer Kenntnisse ist, zeigt uns also erstens, daß jedes Tier Intelligenz besitzt, zweitens, daß die Intensität, die Kraft dieser tierischen Funktion, von der relativen Vollkommenheit des tierischen Organismus abhängt. [...] Andererseits ist es sicher, daß kein Mensch je den reinen, von jeder körperlichen Form losgelösten, von einem tierischen Körper getrennten Geist sah oder sehen konnte. Wenn ihn aber nie jemand sah, wie konnten die Menschen zu dem Glauben an seine Existenz gelangen? Denn dieser Glaube steht allgemein fest, und er ist, wenn auch nicht universell, wie die Idealisten behaupten, so doch wenigstens sehr allgemein und als solcher ganz unserer aufmerksamen Beachtung wert; denn ein allgemeiner Glaube, wie dumm er auch sein mag, übt immer einen allzu mächtigen Einfluß auf die Geschicke der Menschheit aus, als daß es erlaubt wäre, ihn außer acht zu lassen oder von ihm abzusehen.

Die Tatsache dieses Glaubens erklärt sich übrigens auf natürliche und vernünftige Weise. Das Beispiel von Kindern und Jünglingen, selbst von vielen Erwachsenen, zeigt uns, daß der Mensch seine geistigen Fähigkeiten schon lange gebrauchen kann, bevor er sich darüber Rechenschaft ablegt, wie er sie ausübt, bevor er zum klaren und genauen Bewußtsein dieser Ausübung kommt. In dieser Zeit, in welcher der Geist seiner selbst unbewußt in Tätigkeit tritt, in der die Intelligenz naiv oder gläubig tätig ist, schafft der von der äußeren Welt bedrückte Mensch, von dem inneren Stachel, dem Leben und den vielartigen Bedürfnissen des Lebens getrieben, eine Menge Einbildungen, Begriffe und Ideen, die notwendigerweise zuerst sehr unvollkommen sind und der Wirklichkeit der Dinge und Tatsachen, die sie sich auszudrücken bemühen, sehr wenig entsprechen. Und da er sich seiner eigenen Verstandestätigkeit nicht bewußt ist, da er noch nicht weiß, daß er selbst diese Einbildungen, Begriffe und Ideen hervorbringt und hervorzubringen fortfährt, da er selbst ihren ganz subjektiven, das heißt menschlichen Ursprung nicht kennt, betrachtet er sie natürlich mit Notwendigkeit als objektive Wesen, als wirkliche Wesen, die von ihm selbst ganz unabhängig durch sich selbst und in sich selbst sind.

Auf diese Weise schufen die Naturvölker, die langsam ihre tierische Unschuld verließen, ihre Götter. Nachdem sie sie geschaffen, fiel ihnen nicht ein, daß sie selbst ihre einzigen Schöpfer waren, und sie beteten sie an, betrachteten sie als wirkliche, ihnen selbst unendlich überlegene Wesen, legten ihnen Allmacht bei und erklärten sich als ihre Geschöpfe, ihre Sklaven. Mit der Weiterentwicklung der menschlichen Ideen idealisierten sich auch die Götter, die, wie ich bemerkte, stets nur der phantastische, ideale, poetische Widerschein oder das verkehrte Bild dieser Ideen waren. Aus groben Fetischen wurden sie allmählich zu reinen Geistern, die außerhalb der sichtbaren Welt existieren, und zum Schluß, als Folge einer langen geschichtlichen Entwicklung, verschmolzen sie in ein einziges göttliches Wesen, den reinen, ewigen, absoluten Geist, den Schöpfer und Herrn der Welten.

In jeder richtigen oder falschen, wirklichen oder eingebildeten Entwicklung kostet immer der erste Schritt am meisten, ist die erste Handlung die schwierigste. Wenn der erste Schritt getan, die erste Handlung vollzogen, folgt das übrige in natürlicher Weise als notwendige Folge. Das Schwierige in der geschichtlichen Entwicklung dieses schrecklichen religiösen Wahnsinns, der uns noch immer besessen hält und erdrückt, war also die Aufstellung einer göttlichen Welt als solcher, außerhalb der wirklichen Welt. Dieser erste Akt der Verrücktheit, so natürlich er vom psychologischen Gesichtspunkt und so notwendig er demzufolge in der Geschichte der Menschheit sein mag, vollzog sich nicht auf einen Schlag. Es brauchte ich weiß nicht wie viele Jahrhunderte, um diesen Glauben zu entwickeln und in die geistigen Gewohnheiten der Menschen eindringen zu lassen. Nachdem er sich aber einmal festgesetzt hatte, wurde er allmächtig, wie dies notwendigerweise jede Verrücktheit wird, die sich des menschlichen Gehirns bemächtigt. Man nehme einen Narren: Welches immer der besondere Gegenstand seiner Narrheit sein mag, man wird finden, daß die dunkle und fixe Idee, die von ihm Besitz ergriffen, ihm die natürlichste Sache von der Welt scheint, während dagegen die dieser Idee widersprechenden natürlichen und wirklichen Tatsachen ihm lächerlicher und verhaßter Wahnsinn zu sein scheinen. Nun, die Religion ist ein gemeinsamer Wahnsinn, der um so mächtiger ist, weil es ein überlieferter Wahnsinn ist, dessen Ursprung sich in das entfernteste Altertum verliert. Als allgemeiner Wahnsinn drang sie in alle öffentlichen und privaten Einzelheiten des sozialen Daseins eines Volkes ein, verkörperte sich in der Gesellschaft, wurde sozusagen deren Seele und gemeinsamer Gedanke. Jeder Mensch ist von seiner Geburt an von ihr umringt, nimmt sie mit der Muttermilch in sich auf, nimmt sie auf mit allem, was er hört und sieht. Er wurde damit so sehr genährt, vergiftet und in seinem ganzen Wesen durchdrungen, daß er später, wie mächtig auch sein natürlicher Verstand sein mag, unerhörte Anstrengungen machen muß, sich von ihr zu befreien, und nie gelingt ihm dies vollständig. Unsere modernen Idealisten sind ein Beweis hierfür; ein weiterer Beweis sind unsere doktrinären Materialisten, die deutschen Kommunisten: Sie konnten sich von der Religion des Staates nicht losmachen.

Sobald einmal die übernatürliche, die göttliche Welt sich in der überlieferten Einbildung der Völker festgesetzt hatte, ging die Entwicklung der verschiedenen religiösen Systeme ihren natürlichen und logischen Lauf, immer übrigens der gleichzeitigen tatsächlichen Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen entsprechend, deren treue Wiedergabe und göttliche Weihe in der Welt der religiösen Phantasie sie stets war. So entwickelte sich der gemeinsame geschichtliche Wahnsinn, den man Religion nennt, vom Fetischismus, durch alle Grade des Polytheismus bis zum christlichen Monotheismus.

Der zweite Schritt in der Entwicklung des religiösen Glaubens, nach der Errichtung einer getrennten göttlichen Welt gewiß der schwerste, war gerade dieser Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus, vom religiösen Materialismus der Heiden zum vergeistigten Glauben der Christen. Die heidnischen Götter, dies war ihr wesentlicher Charakterzug, waren vor allem ausschließlich nationale Götter. Da sie ferner zahlreich waren, bewahrten sie notwendigerweise mehr oder weniger einen körperlichen Charakter, oder vielmehr, weil sie körperlich waren, waren sie so zahlreich, da Verschiedenheit eine der Haupteigenschaften der wirklichen Welt ist. Die heidnischen Götter waren noch nicht im eigentlichen Sinn die Verneinung der wirklichen Dinge, sie waren nur ihre phantastische Übertreibung.

Um auf den Trümmern ihrer so zahlreichen Altäre den Altar eines einzigen und obersten Gottes, des Herrn der Welt, zu errichten, mußte also zuerst das selbständige Dasein der verschiedenen Nationen der heidnischen oder antiken Welt zerstört werden. Dies taten die Römer auf sehr brutale Weise; sie schufen durch Eroberung des größten Teils der den Alten bekannten Welt gewissermaßen den ersten, gewiß noch ganz negativen und groben Entwurf der Idee der Menschheit. [...] Die große Ehre des Christentums, sein unbestreitbares Verdienst und das ganze Geheimnis seines unerhörten und übrigens ganz berechtigten Triumphs war, daß es sich an das ungeheure leidende Volk wandte, dem die antike Welt, die eine enge und grausame geistige und politische Aristokratie bildete, auch die letzten Eigenschaften und einfachsten Rechte der Menschheit verweigerte. Sonst hätte es sich nie verbreiten können. Die von den Aposteln Christi gepredigte Lehre, so trostreich sie den Unglücklichen erscheinen mochte, war vom Gesichtspunkt der menschlichen Vernunft aus zu empörend, zu unsinnig, als daß aufgeklärte Männer sie hätten annehmen können. Wie triumphierend spricht nicht auch der heilige Apostel Paulus von dem Ärgernis des Glaubens und dem Triumph dieser göttlichen Narrheit, welche die Mächtigen und Weisen der Zeit zurückwiesen, welche aber um so leidenschaftlicher von den Einfachen, den Unwissenden und den Armen im Geiste angenommen wurde!

Es muß wirklich sehr tiefe Unzufriedenheit mit dem Leben, sehr großer Durst des Herzens und beinahe vollständige Geistesarmut vorhanden sein, um die christliche Sinnlosigkeit anzunehmen, die kühnste und ungeheuerlichste aller religiösen Sinnlosigkeiten. Sie war nicht nur die Verneinung aller politischen, sozialen und religiösen Einrichtungen des Altertums, sondern der unbedingte Umsturz des gesunden Menschenverstandes, aller menschlichen Vernunft. Das wirklich existierende Wesen, die wirkliche Welt, wurden von jetzt ab als das Nichts betrachtet; das Produkt der menschlichen Abstraktionsfähigkeit, die letzte und höchste Abstraktion, in welcher diese Fähigkeit nach Überschreitung aller existierenden Dinge, der allgemeinsten Bestimmungen des lebenden Wesens wie der Ideen von Zeit und Raum sogar, nach denen nichts zu überschreiten übrig bleibt, in der Betrachtung ihrer Lehre und absoluten Unbeweglichkeit ruht, – diese Abstraktion also, dieser tote Rückstand, jeden Inhalts leer, das wahre Nichts,Gott, wird zum einzigen wirklichen, ewigen, allmächtigen Wesen proklamiert. Das wirkliche All wird als Nichts erklärt und das absolute Nichts als All. Der Schatten wird Körper und der Körper verschwindet wie ein Schatten. [8]

Es war eine unerhörte Kühnheit und Sinnlosigkeit, das wahre Ärgernis des Glaubens, der Sieg der gläubigen Dummheit über den Geist, für die Massen und für einige wenige der triumphierende Spott eines ermüdeten, verdorbenen, enttäuschten Geistes, den das ehrliche und ernste Suchen der Wahrheit anekelte, das Bedürfnis, sich zu betäuben und zu verdummen, wie es sich oft bei abgestumpften Geistern findet:

Credo quia absurdum
(„Ich glaube nicht nur an das Unsinnige; ich glaube daran gerade und hauptsächlich, weil es das Unsinnige ist.“)

So glauben viele ausgezeichnete und aufgeklärte Geister in unseren Tagen an den tierischen Magnetismus, den Spiritismus, das Tischerücken, – aber warum so weit gehen? – sie glauben noch an das Christentum, an den Idealismus, an Gott.

Der Glaube des antiken Proletariats, ebenso wie der der modernen Massen nach ihm, war derber und einfacher. Die christliche Lehre hatte sich an sein Herz gewendet, nicht an seinen Geist, an sein ewiges Trachten, seine Bedürfnisse, seine Leiden, seine Sklaverei, nicht an seine noch schlummernde Vernunft, für welche die logischen Widersprüche, die augenscheinliche Sinnlosigkeit also, nicht existieren konnten. Die einzige Frage, welche das antike Proletariat interessierte, war die, wann die Stunde der versprochenen Erlösung schlagen, wann das Reich Gottes kommen würde. Um die theologischen Dogmen kümmerte es sich nicht, weil es nichts davon verstand. Das zum Christentum bekehrte Proletariat bildete seine aufsteigende materielle Macht, nicht sein theoretisches Denken. Die christlichen Dogmen wurden bekanntlich in einer Reihe literarischer theologischer Arbeiten und auf den Kirchenversammlungen hauptsächlich von den bekehrten Neuplatonikern des Orients ausgearbeitet. Der griechische Geist war so tief gesunken, daß wir schon im vierten christlichen Jahrhundert, der Zeit der ersten Kirchenversammlung, die Idee eines persönlichen Gottes, des reinen, ewigen, absoluten Geistes, des Schöpfers und obersten Herrn der Welt, der außerhalb der Welt existiert, von allen Kirchenvätern einstimmig angenommen finden, und als logische Konsequenz dieser absoluten Sinnlosigkeit den jetzt natürlichen und notwendigen Glauben an die Geistigkeit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele, die in einem sterblichen, aber nur zum Teil sterblichen Körper wohnt und eingesperrt ist; – nur zum Teil sterblich, weil ein Teil dieses Körpers, obgleich körperlich, unsterblich wie die Seele ist und wie die Seele wieder auferstehen wird. So schwer wurde es selbst Kirchenvätern, sich den reinen Geist außerhalb jeder Körperform vorzustellen!

Im allgemeinen liegt es in der Art aller theologischen und auch metaphysischen Gedankengänge zu versuchen, eine Sinnlosigkeit durch eine andere zu erklären.

Es war ein großes Glück für das Christentum, daß es die Welt der Sklaven fand. Ein anderes Glück widerfuhr ihm: der Einfalt der Barbaren. Die Barbaren waren tapfere Leute, voll natürlicher Kraft, und vor allem belebt und getrieben von großem Lebensbedürfnis und großer Lebensfähigkeit; erprobte Räuber, fähig, alles zu verwüsten und zu verschlingen, wie ihre Nachfolger, die heutigen Deutschen; viel weniger systematisch und pedantisch in ihrem Räubertum als letztere, weniger moralisch, weniger gelehrt, aber dagegen viel unabhängiger und stolzer, fähig der Wissenschaft und der Freiheit nicht unfähig wie die Bourgeois des modernen Deutschland. Aber trotz all dieser großen Eigenschaften waren sie nichts als Barbaren, das heißt, allen Fragen der Theologie und Metaphysik gegenüber ebenso gleichgültig wie die antiken Sklaven, von denen übrigens viele ihrer Rasse angehörten. Sobald also einmal ihr praktischer Widerwille gebrochen war, war es nicht schwer, sie theoretisch zum Christentum zu bekehren.

Zehn Jahrhunderte nacheinander konnte das mit der Allmacht der Kirche und des Staates bewaffnete Christentum ohne Beeinträchtigung von irgendwelcher Seite den Geist Europas verderben, verschlechtern und fälschen. Es hatte keine Rivalen, weil es außerhalb der Kirche keine Denker, nicht einmal Gebildete gab. Die Kirche allein dachte, sprach, schrieb und lehrte. Ketzereien, die in ihrem Schoß entstanden, griffen stets nur die theologischen oder praktischen Entwicklungen des Grunddogmas an, nicht dieses Dogma selbst. Der Glaube an Gott, den reinen Geist und Schöpfer der Welt, und der Glaube an die Geistigkeit der Seele blieben unberührt. Dieser Doppelglaube wurde die ideale Grundlage der ganzen westlichen und östlichen Kultur Europas und drang in alle Einrichtungen ein, verwirklichte sich in allen Einzelheiten des öffentlichen und privaten Lebens aller Klassen ebenso wie der Massen. Kann man sich dann wundern, daß dieser Glaube sich bis zum heutigen Tag erhalten hat und fortfährt, seinen verhängnisvollen Einfluß selbst auf so hohe Geister wie Mazzini, Quinet, Michelet und so viele andere auszuüben? Wir sahen, daß ihm der erste Kampf von der Renaissance des freien Geistes im 15. Jahrhundert geliefert wurde, der Renaissance, welche Helden und Märtyrer hervorbrachte wie Vanini, wie Giordano Bruno und Galilei; obgleich bald erstickt von dem Lärm, Tumult und den Leidenschaften der Reformation, setzte sie geräuschlos ihre unsichtbare Arbeit fort und hinterließ den edelsten Geistern jeder Generation das Werk menschlicher Befreiung durch die Zerstörung des Unsinnigen, bis sie endlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder im vollen Tageslicht erschien und kühn die Fahne des Atheismus und Materialismus entrollte.

Man hätte damals glauben können, daß der menschliche Geist sich ein für allemal von jedem göttlichen Druck befreien würde. Dies war ein Irrtum. Die Gotteslüge, mit der sich die Menschheit – um nur von der christlichen Welt zu sprechen – 18 Jahrhunderte lang genährt hatte, sollte sich noch einmal mächtiger als die menschliche Wahrheit zeigen. Da sie sich nicht mehr der Schwarzröcke, der geweihten Raben der Kirche, der katholischen oder protestantischen Priester, die jedes Vertrauen verloren hatten, bedienen konnte, so bediente sie sich der Laienpriester, der Lügner und Sophisten im kurzen Rock, und die Hauptrolle fiel zwei verhängnisvollen Männern unter ihnen zu: dem falschen Geist und dem doktrinär despotischsten Willen des vergangenen Jahrhunderts, J.J. Rousseau und Robespierre.

Der erstere ist der wahre Typus der Lüge und argwöhnischen Kleinlichkeit, der Überhebung der eigenen Person, der kalten Begeisterung und sentimentaler und gleichzeitig unbarmherziger Heuchelei, der notwendigen Lüge des modernen Idealismus. Man kann ihn als den wahren Schöpfer der modernen Reaktion betrachten. Während er dem Anschein nach der demokratischste Schriftsteller des 18. Jahrhunderts ist, brütet in ihm der erbarmungslose Despotismus des Staatsmanns. Er war der Prophet des doktrinären Staats, dessen Hohepriester Robespierre, sein würdiger und treuer Schüler, zu werden versuchte. Rousseau hörte Voltaire sagen, daß, wenn es keinen Gott gäbe, er erfunden werden müsse, und er erfand das höchste Wesen, den abstrakten und leeren Gott der Deisten. Und im Namen des höchsten Wesens und der von ihm befohlenen heuchlerischen Tugend guillotinierte Robespierre zuerst die Hebertisten, dann den Genius der Revolution, Danton, in dessen Person er die Republik ermordete, um so den von da ab notwendig gewordenen Triumph der Diktatur Bonapartes vorzubereiten. Nach diesem großen Sieg suchte und fand die idealistische Reaktion weniger fanatische, weniger schreckliche Diener, wenn man sie an dem bedeutend geringeren Maßstab der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts mißt. In Frankreich waren es Chateaubriand, Lamartine und – soll ich es sagen? Warum nicht? Man muß die ganze Wahrheit sagen – Victor Hugo, der Demokrat, der Republikaner, der Schein-Sozialist von heute, und nach ihnen die ganze melancholische und sentimentale Kohorte magerer und blasser Geister, die unter der Führung jener Meister die Schule des modernen Romantismus bildeten. In Deutschland waren es die Schlegel, die Tieck, die Novalis, die Werner, waren es Schelling und so viele andere, deren Namen nicht einmal genannt zu werden verdienen.

Die von dieser Schule geschaffene Literatur war das wahre Reich der Geister und Gespenster. Sie vertrug das Tageslicht nicht und konnte nur im Halbdunkel leben. Ebensowenig vertrug sie die brutale Berührung der Massen; es war die Literatur der zarten, feinen, ausgezeichneten Seelen, die dem Himmel, ihrer Heimat, zustrebten und wie gegen ihren Willen auf der Erde lebten. Sie verachtete und verabscheute die Politik, die Tagesfragen; wenn sie aber zufällig von ihnen sprach, zeigte sie sich offen reaktionär und nahm die Partei der Kirche gegen die Unverschämtheit der Freidenker, die Partei der Könige gegen die Völker und die Partei aller Aristokratien gegen das elende Straßengesindel. Übrigens herrschte in dieser Schule, wie ich soeben sagte, beinahe vollständige Gleichgültigkeit gegenüber politischen Fragen vor. In den Wolken, in denen sie lebte, konnte man nur zwei wirkliche Punkte unterscheiden: die rasche Entwicklung des Bourgeois-Materialismus und die zügellose Entfesselung persönlicher Eitelkeit.

Um diese Literatur zu verstehen, muß man ihre Entstehungsursache in der Umwandlung suchen, die sich in der Bourgeois-Klasse seit der Revolution von 1793 vollzog. Von der Renaissance und der Reformation bis zu dieser Revolution war die Bourgeoisie, wenn nicht in Deutschland, so doch wenigstens in Italien, Frankreich, der Schweiz, England und Holland der Held und Vertreter des revolutionären Geistes der Geschichte. Aus ihr gingen der größte Teil der Freidenker des 15. Jahrhunderts, die großen religiösen Reformatoren der beiden folgenden Jahrhunderte und die Apostel der menschlichen Befreiung des 18. Jahrhunderts hervor, diesmal die Deutschlands Inbegriffen. Sie allein, natürlich auf die Sympathien und den mächtigen Arm des Volkes, das an sie glaubte, gestützt, machte die Revolution von 1789 und 1793. Sie verkündete den Fall des Königtums und der Kirche, die Verbrüderung der Völker, die Menschen- und Bürgerrechte. Dies sind ihre unsterblichen Ruhmestitel.

Seit jener Zeit spaltete sie sich. Eine beträchtliche Partei reich gewordener Käufer von Nationalgütern, die sich diesmal nicht auf das städtische Proletariat, sondern auf die Mehrheit der gleichfalls Grundbesitzer gewordenen Bauern Frankreichs stützte, strebte den Frieden, die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, die Gründung einer regelmäßigen und mächtigen Regierung an. Voll Glück jauchzte sie also der Diktatur des ersten Bonaparte zu und sah, obgleich stets voltairiansch gesinnt, dessen Abkommen mildem Papst und die Wiederherstellung der offiziellen Kirche in Frankreich nicht mit bösem Auge an: „Die Religion ist dem Volke so notwendig!“ – was heißen will, daß dieser nun selbst gesättigte Teil der Bourgeoisie von jetzt ab zu verstehen begann, daß es im Interesse der Erhaltung seiner Lage und seiner neu erworbenen Güter dringend notwendig sei, den ungesättigten Hunger des Volkes durch Versprechungen himmlischen Mannas zu täuschen. Damals begann Chateaubriand zu predigen. [9]

Napoleon fiel. Die Restauration führte mit der rechtmäßigen Monarchie die Macht der Kirche und die Aristokratie nach Frankreich zurück, welche, wenn nicht ihre ganze, so doch einen beträchtlichen Teil ihrer früheren Macht wiederergriffen hat. Diese Reaktion warf die Bourgeoisie in die Revolution zurück, und mit dem revolutionären Geist erwachte auch der Freigeist wieder. Sie legte Chateaubriand beiseite und begann wieder Voltaire zu lesen. Sie ging nicht bis Diderot: Ihre geschwächten Nerven vertrugen keine so starke Kost mehr. Voltaire, der gleichzeitig Freigeist und Deist war, paßte ihr dagegen sehr. Böranger und Paul-Louis Courier drückten ganz und gar diese neue Richtung aus. Der „Gott der braven Leute“ und das Ideal des Bürgerkönigs, der zugleich liberal und demokratisch ist und sich vom majestätischen und jetzt weniger offensiven Hintergrund der gigantischen Siege des Kaiserreiches abhebt, – dies war in jener Zeit die tägliche geistige Nahrung der französischen Bourgeoisie. Lamartine, von dem eitel lächerlichen Neid angestachelt, sich zur poetischen Höhe des großen englischen Dichters Byron zu erheben, hatte seine kalt delirierenden Hymnen zu Ehren des Gottes der Adligen und der rechtmäßigen Monarchie begonnen. Aber seine Gesänge hallten nur in den aristokratischen Salons wider. Die Bourgeoisie hörte sie nicht. Beranger war ihr Dichter und Paul-Louis Courier ihr politischer Schriftsteller.

Die Juli-Revolution hatte die Veredlung ihres Geschmacks zur Folge. Man weiß, daß jeder Bourgeois in Frankreich den unverwüstlichen Typus des „bourgeois gentilhomme“ (Der Bürger als Edelmann) in sich trägt, der stets hervortritt, sobald er ein bißchen Reichtum und Macht erwirbt. 1830 hatte die reiche Bourgeoisie endgültig den alten Adel im Besitz der Macht verdrängt. Sie strebte natürlich die Gründung einer neuen Aristokratie an: einer Aristokratie des Geldes vor allem, aber auch einer Aristokratie des Geistes, des guten Benehmens und der feinen Gefühle. Die Bourgeoisie begann sich religiös zu fühlen.

Das war von ihrer Seite nicht nur eine bloße Nachäffung der aristokratischen Sitten, sondern auch eine notwendige Folge ihrer Lage. Das Proletariat hatte ihr einen letzten Dienst erwiesen, indem es ihr half, den Adel nochmals zu stürzen. Jetzt brauchte die Bourgeoisie diese Hilfe nicht mehr, denn sie fühlte, daß sie im Schatten des Julithrons sicher war, und die von jetzt ab unnütze Verbindung mit dem Volk begann ihr unbequem zu werden. Das Volk mußte auf seinen Platz verwiesen werden, was natürlich nicht möglich war, ohne große Entrüstung in den Massen hervorzurufen. Es wurde notwendig, dieselben zurückzuhalten. Aber in wessen Namen? Etwa im Namen des ohne Umschweife zugegebenen Bourgeois-Interesses? Dies wäre zu schamlos gewesen. Je ungerechter, unmenschlicher ein Interesse ist, desto mehr bedarf es einer Weihe, und wo eine solche hernehmen, wenn man sie nicht in der Religion findet, dieser guten Beschützerin aller Satten und der so nützlichen Trösterin aller Hungrigen? Und mehr als je fühlte die triumphierende Bourgeoisie, daß die Religion dem Volke unbedingt notwendig sei.

Nachdem sie all ihre unvergänglichen Ruhmestitel in religiöser, philosophischer und politischer Opposition, im Protest und in der Revolution gewonnen hatte, war die Bourgeoisie endlich die herrschende Klasse geworden und hierdurch von selbst Verteidigerin und Erhalterin des Staates, der seinerseits die regelrechte Einsetzung der ausschließlichen Macht dieser Klasse ist. Der Staat ist die Gewalt und hat vor allem das Recht der Gewalt für sich, die triumphierende Beweisführung mit dem Zündnadelgewehr und dem Chassepot. Aber der Mensch ist so sonderbar beschaffen, daß ihm diese Art der Beweisführung, so beredt sie scheint, auf die Dauer nicht genügt. Um ihm Achtung einzuflößen, ist irgendeine moralische Weihe absolut notwendig. Diese Weihe muß ferner so augenscheinlich und einfach sein, daß sie die Massen überzeugen kann, die, von der Gewalt des Staates niedergerungen, hierauf zur moralischen Anerkennung seines Rechts gebracht werden müssen.

Es gibt nur zwei Mittel, die Massen von der Güte irgendeiner sozialen Einrichtung zu überzeugen. Das erste, das einzige wirkliche, aber auch das schwerste, weil es die Abschaffung des Staates mit sich bringt – das heißt die Abschaffung der politisch organisierten Ausbeutung der Mehrheit durch irgendeine Minderheit –, dieses Mittel wäre die direkte und vollständige Befriedigung aller Bedürfnisse, aller menschlichen Strebungen der Massen; dies käme der vollständigen Auflösung der politischen und wirtschaftlichen Existenz der Bourgeois-Klasse gleich und, wie ich soeben sagte, auch der Abschaffung des Staates. Dieses Mittel wäre zweifellos heilbringend für die Massen, aber verhängnisvoll für die Bourgeois-Interessen. Es kommt also nicht in Betracht.

Sprechen wir von dem anderen Mittel, das nur für das Volk verhängnisvoll, dagegen für das Wohl der Bourgeois-Vorrechte wertvoll ist. Dieses andere Mittel kann nur die Religion sein. Es ist jene ewige Luftspiegelung, welche die Massen auf die Suche nach den göttlichen Schätzen hinreißt, während die herrschende Klasse viel bescheidener sich damit begnügt, die elenden Güter der Erde und das menschliche Hab und Gut des Volkes, seine politische und soziale Freiheit inbegriffen, unter ihre eigenen Mitglieder zu verteilen, auf sehr ungleiche Art übrigens und so, daß der, der mehr besitzt, immer noch mehr erhält.

Es gibt, es kann keinen Staat ohne Religion geben. Man nehme die freiesten Staaten der Erde, die Vereinigten Staaten von Nordamerika oder die Schweiz, und sehe, welch wichtige Rolle die göttliche Vorsehung, diese oberste Weihe aller Staaten, in allen offiziellen Reden spielt. Jedesmal aber, wenn ein Staatsoberhaupt von Gott spricht, sei es Wilhelm I., der knutogermanische Kaiser, oder Grant, der Präsident der großen Republik, kann man sicher sein, daß er sich vorbereitet, seine Volksherde von neuem zu scheren.

Die französische Bourgeoisie, liberal, voltairianisch und von ihrem Temperament zu einem eigentümlich engen und brutalen Positivismus, um nicht zu sagen Materialismus getrieben, mußte sich also, nachdem sie durch ihren Triumph von 1830 die Staatsklasse geworden, notwendigerweise eine offizielle Religion geben. Die Sache war nicht leicht. Sie konnte sich nicht unvermittelt unter das Joch des römischen Katholizismus begeben. Zwischen ihr und der Kirche von Rom lag ein Abgrund von Blut und Haß, und wie praktisch und klug man auch geworden sein mag, man unterdrückt doch nie in sich eine geschichtlich gewordenen Leidenschaft. Der französische Bourgeois hätte sich übrigens mit Lächerlichkeit bedeckt, wenn er zur Kirche zurückgekehrt wäre, um an den frommen Zeremonien des Gotteskults teilzunehmen, der Hauptbedingung einer verdienstlichen und aufrichtigen Bekehrung. Mehrere versuchten es wohl, aber das Ergebnis ihres Heroismus war nur unfruchtbarer Skandal. Die Rückkehr zum Katholizismus war endlich wegen des unlösbaren Widerspruches zwischen der unveränderlichen Politik Roms und der Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Interessen des Mittelstandes unmöglich. In dieser Hinsicht ist der Protestantismus viel bequemer. Er ist die Bourgeois-Religion par excellence.

 

 

Anmerkungen

6. Die Wissenschaft, die das Erbgut aller wird, wird sich gewissermaßen dem unmittelbaren und wirklichen Leben jedes einzelnen vermählen. Sie wird an Nützlichkeit und Grazie gewinnen, was sie an Stolz, Ehrgeiz und doktrinärem Pedantismus verlieren wird. Dies wird gewiß nicht verhindern, daß Männer von Genie, die besser als die Mehrzahl ihrer Zeitgenossen für wissenschaftliche Spekulationen befähigt sind, sich ausschließlicher als andere der Pflege der Wissenschaften widmen und der Menschheit große Dienste leisten werden, ohne anderen sozialen Einfluß, den eine überlegene Intelligenz immer auf ihre Umgebung ausübt, und ohne eine andere Belohnung zu suchen als den hohen Genuß, den jeder hohe Geist in der Befriedigung einer edlen Leidenschaft findet.

7. Man muß die allgemeine Erfahrung, auf die sich die ganze Wissenschaft gründet, wohl unterscheiden von dem allgemeinen Glauben, auf den die Idealisten ihren Glauben stützen wollen; erstere ist die wirkliche Feststellung wirklicher Tatsachen, letztere nur eine Vermutung von Tatsachen, die niemand gesehen hat und die folglich mit der Erfahrung aller in Widerspruch stehen.

8. Ich weiß sehr wohl, daß man in den orientalischen theologischen und metaphysischen Systemen und besonders in denen Indiens, den Buddhismus einbegriffen, schon das Prinzip der Vernichtung der wirklichen Welt zum Nutzen des Ideals oder der absoluten Abstraktion findet. Aber es trägt hier noch nicht den Charakter freiwilliger und absichtlicher Verneinung, der dem Christentum eigen ist, weil zur Zeit der Entstehung jener Systeme die eigentlich menschliche Welt, die Welt des menschlichen Geistes und Willens, menschlicher Wissenschaft und Freiheit, sich noch nicht so entwickelt hatten, wie dies später in der griechisch-römischen Kultur der Fall war.

9. Ich halte es für nützlich, an eine übrigens wohlbekannte und durchaus glaubwürdige Anekdote zu erinnern, die ein sehr wertvolles Licht auf den persönlichen Charakter dieses Wiederaufwärmers der katholischen Glaubenslehre und auf die religiöse Aufrichtigkeit jener Zeit wirft. Chateaubriand brachte seinem Verleger ein gegen den Glauben gerichtetes Werk. Der Buchhändler bemerkte, der Atheismus sei nicht mehr Mode, das lesende Publikum wolle nichts mehr davon wissen und verlange im Gegenteil religiöse Werke. Chateaubriand entfernte sich, brachte ihm aber einige Monate später sein Werk: Der Geist des Christentums.

 


Zuletzt aktualisiert am 12.9.2004