Eduard Bernstein

 

Zur Frage des ehernen Lohngesetzes

II. Das eherne Lohngesetz


Diese Version: Eduard Bernstein: Zur Theorie und Geschichte des Socialismus: Gesammelte Abhandlungen, Bd.1, Berlin 1904, S.5-7.
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Im Offenen Antwortschreiben, der Eröffnungsschrift seiner socialistischen Agitation, entwickelt Ferdinand Lassalle das eherne Lohngesetz, wie folgt:

Das eherne ökonomische Gesetz, welches unter den heutigen Verhältnissen, unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage nach Arbeit, den Arbeitslohn bestimmt, ist dieses: dass der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduciert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmässig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist. Dies ist der Punct, um welchen der wirkliche Tageslohn in Pendelschwingungen jederzeit herum gravitiert, ohne sich jemals lange weder über denselben erheben, noch unter denselben hinunterfallen zu können. Er kann sich nicht dauernd über diesen Durchschnitt erheben – denn sonst erstünde durch die leichtere, bessere Lage der Arbeiter eine Vermehrung der Arbeiterehen und der Arbeiterfortpflanzung, eine Vermehrung der Arbeiterbevölkerung und somit des Angebots von Händen, welche den Arbeitslohn wieder auf und unter seinen früheren Stand herabdrücken würde.

Der Arbeitslohn kann auch nicht dauernd tief unter diesen notwendigen Lebensunterhalt fallen, denn dann entstehen – Auswanderungen, Ehelosigkeit, Enthaltung von der Kinderzeugung und endlich eine durch Elend erzeugte Verminderung der Arbeiterzahl, welche somit das Angebot von Arbeiterhänden noch verringert und den Arbeitslohn daher wieder auf den früheren Stand zurückbringt.

Der wirkliche durchschnittliche Arbeitslohn besteht somit in der Bewegung, beständig um jenen seinen Schwerpunct, in den er fortdauernd zurücksinken muss, herumzukreisen, bald etwas über demselben (Periode der Prosperität in allen oder einzelnen Arbeitszweigen), bald etwas tinter ihm zu stehen (Periode des mehr oder weniger allgemeinen Notstandes und der Krisen).“ [1]

Lassalle hat in den auf das Antwortschreiben folgenden polemischen Schriften diese Definition nicht überall streng innegehalten. Hier und da finden sich bei ihm, in Anlehnung an die Schriftsteller auf die er sich beruft, leichte Modificationen derselben. Aber grundsätzlich kommt er immer wieder auf sie zurück, insofern er

  1. die Bewegungen des Arbeitslohns bestimmen lässt durch Abfluss und Zufluss der. Bevölkerung,
  2. den normalen Arbeitslohn, d.h. den natürlichen Preis der Ware Arbeitskraft, zusammenfallen lässt mit dem Minimum des notwendigen Lebensunterhalts.

„Die Beschränkung des durchschnittlichen Arbeitslohns auf die in einem Volke gewohnheitsmässig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderliche Lebensnotdurft – das ist also, ich wiederhole es Ihnen, das eherne und grausame Gesetz, welches den Arbeitslohn unter den heutigen Verhältnissen beherrscht.“ [2]

Nur zwei Stellen aus späteren Schriften Lassalles gehören noch hierher, weil sie für die Voraussetzungen, von denen er bei der Betrachtung des Lohngesetzes ausgeht, bezeichnend sind. Sie lauten:

„Wie wäre dieser Sieg (der Arbeiter über die Unteraehrmer im Kampfe um Abwälzung einer indirecten Steuer) aber auch nur möglich, da, wie alle Ökonomen einstimmig anerkennen, die Höhe des Arbeitslohnes abhängt von dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage nach Arbeit, d.h. von der Menge der Arbeitsuchenden und der Menge des nationalen Capitals, das auf Arbeit ausgethan werden soll? Das in der Nation vorhandene Capital, der Arbeitsfonds, wird durch die indirecten Steuern nicht vermehrt, sondern gerade nach der Annahme von Smith und Ricardo nur sehr erheblich verringert. So lange nun die Zahl der Arbeiter nicht verringert ist, kann, da der Arbeitsfonds, das auf Arbeit auszuthuende Capital, und also die Nachfrage nach Arbeitshänden nicht vermehrt ist, der Arbeitslohn unmöglich steigen. Ja, gerade aus der Theorie von Smith und Ricardo würde folgen, dass der Arbeiter jetzt doppelt gedrückt, zwischen zwei Feuer genommen ist; denn von der einen Seite dringt die gesteigerte Teuerung des Getreides auf ihn ein, und in den Rücken fällt ihm das verringerte Unternehmercapital, und somit die verringerte Nachfrage nach Arbeit.“ [3]

„Industrieblüte und Nationalcapital stellen nämlich nur die Nachfrage nach Arbeit dar. Das andere Glied des Verhältnisses, das Angebot von Arbeit, wird durch die Bevölkerungsmenge dargestellt. Gerade die Herrschaft von Angebot und Nachfrage hat das Gesetz des Arbeitslohns zur Folge, das ich entwickelt und aus ihm, dem Verhältnis von Aufgebot und Nachfrage, entwickelt habe.“ [4]

Mit anderen Worten : der Arbeitslohn ist abhängig von der Zahl der Arbeiter und „der Menge des nationalen Capitals, das auf Arbeit ausgethan werden soll“, und diese Menge wird als in einem gegebenen Moment fixe Grösse vorausgesetzt. Das ist die Theorie des sogenannten Arbeitsfonds oder Lohnfonds, wie sie durch die classische Ökonomie des Bürgertums spukt und von der nachclassischen Ökonomie behufs Verteidigung der Capitalansprüche bezw. Bekämpfung der Arbeiteransprüche mit Vorliebe ausgespielt worden ist. Arbeitsfondstheorie und Bevölkerungstheorie sind die beiden Grundgesetze, aus denen Ferdinand Lassalle sein ehernes ökonomisches Lohngesetz ableitet.


Fussnoten

1. Gesamtausgabe, Bd.II, pag.421.422.

2. a.a.O., pag.422.

3. Die indirecte Steuer und die Lage der arbeitenden Classen, Gesamtausgabe, Bd.II, pag.288.

4. Arbeiterlesebuch, Gesamtausgabe, Bd.II, pag.512, Note.


Zuletzt aktualisiert am 15.1.2009