Eduard Bernstein

 

Zur Frage des ehernen Lohngesetzes

III. Das Bevölkerungsgesetz


Ursprünglich: Neue Zeit, IX. Jg. 1. Bd, Nr.11, 1890-91, S.337-343.
Diese Version: Eduard Bernstein: Zur Theorie und Geschichte des Socialismus: Gesammelte Abhandlungen, Bd.1, Berlin 1904, S.8-17.
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Als Begründer des Bevölkerungsgesetzes, wie es dem ehernen Lohngesetz zu Grunde liegt, d.h. dass die Bevölkerung die „natürliche“ Tendenz habe, sich schneller zu vermehren, als die zu ihrem Unterhalt erforderlichen Lebensmittel, wird gewöhnlich Malthus genannt. Es ist aber bekannt, dass Malthus in seinem 1798 erschienenen Essay on Population im Grude nur wiederholt hat, was vor ihm bereits eine ganze Reihe anderer Ökonomen ausgeführt hatten. Eigentümlich ist ihm nur die Nutzanwendung, die er aus jenem volkswirtschaftlichen „Naturgesetz“ zog. Als Vorgänger von Malthus werden von ihm selbst u.a. citiert: Townsend (A dissertation on the poor laws, 1786), James Steuart (Principles of political economy, 1767), Benjamin Franklin (Observations conceming the increase of mankind etc., 1751), Arthur Young (Political arithmetics, 1774). Acht Jahre vor Malthus hatte der Venetianer Ortes in seinen Riflessioni sulla popolazione etc. (1790) bereits von einer geometrischen Progression der Volksvermehrung gesprochen, die zur Übervölkerung und Elend führe, wenn nicht vorbeugende Massregeln (Cölibat etc.) ergriffen würden. Malthus’ „Entdeckung“ beschränkt sich denmach auf den Nachweis, dass in denselben Zeiträumen, wo sich die Bevölkerung, wenn sie lediglich ihren Trieben folgt, in geometrischer Reihe (1, 2, 4, 8, 16 etc.) vermehren würde, die Unterhaltsmittel nur in arithmetischer Progression (1, 2, 3, 4, 5) zunehmen. Die meisten Nachfolger des Malthus haben diesen Satz in seiner abstracten Formulierung fallen gelassen und nur an der Behauptung festgehalten, dass die Bevölkerung die Tendenz habe, sich schneller zu vermehren, als ihre Unterhaltsmittel; in diesem Sinne ist das Malthussche Gesetz auch von Ricardo angenommen worden. Ricardo hat bei verschiedenen Gelegenheiten seine grundsätzliche U eher eins timmung mit Malthus ausdrücklich hervorgehoben.

„Ich bin glücklich“, schreibt er in seinem Hauptwerk, „eine Gelegenheit zu haben, um meine Bewunderung über Malthus’ Versuch über die Bevölkerung auszudrücken. Die Angriffe der Gegner dieses grossen Werkes haben nur dazu gedient, seine Tüchtigkeit zu beweisen.“ [1]

Ebenso haben zwei weitere Autoritäten, auf die sich Lassalle beruft, in den von ihm dtierten Schriften sich energisch auf die Seite von Malthus gestellt: John Stuart Mill in seinen Grundsätzen der politischen Ökonomie, Capitel über den Arbeitslohn, und W. Röscher, der in den Grundlagen der Nationalökonomie (§§ 242, 243 Malthussches Gesetz) die „Grundansichten von Malthus“ als „festes Eigentum der Wissenschaft“ feiert.

Vorläufig gehen uns indes die Ökonomen, die nach Malthus und Ricardo geschrieben haben, noch nichts an. Bleiben wir vielmehr bei seinen Vorläufern. Diese gehen, wie wir gesehen haben, bis auf das Jahr 1751 zurück. Ja, Röscher macht sich sogar das Vergnügen, darauf hinzuweisen, dass schon 1592 ein Italiener, Giov. Botero, den Unterschied zwischen der Vermehrunsgfähigkeit der Menschen und der Ernährungsfähigkeit der „città“ betont und ausgeführt habe, dass jene ins Unendliche fortwachsen würde, wenn ihr diese nicht Grenzen steckte. Eine Wahrheit, die so alt ist, an der muss doch zweifelsohne etwas sein.

Sehen wir uns jedoch den letztgenannten Gewährsmann etwas näher an. Seine Schrift datiert aus dem Jahre 1592. Nun ist es bekannt, dass mit dem XVI. Jahrhundert der Glanz der italienischen Handelsrepubliken in Verfall geriet. Die Entdeckung des Seeweges nach Ostindien, sowie die Entdeckung Americas machten ihrer Herrschaft über den Weltmarkt ein Ende. Die nordischen Handelsnationen, zunächst Holland, traten an ihre Stelle. Venetianisches Capital, das daheim keine gewinnbringende Verwendung findet, wandert nach Holland, ebenso wie hundert Jahre später holländisches Capital nach England, in diesem Jahrhundert englisches Capital in die Vereinigten Staaten, Südamerica, Australien etc. wandert, in neuerer Zeit begleitet von, oder im edlen Wettstreit mit dem Yankee-Capital. Wenn also gerade um die Zeit, wo diese Rückentwicklung im vollsten Gange ist – Mitte des XVII. Jahrhunderts war Holland bereits „im fast ausschliesslichen Besitz des ostindischen Handels und des Verkehrs zwischen dem europäischen Südwesten und Nordosten“ [2] –, die Entdeckung gemacht wird, dass die Menschen das Bestreben haben, sich zu schnell zu vermehren, dass die Erde, die hier mit der civitas, der „cittä“, dem städtischen Gemeinwesen identificiert wird, nicht genug für sie hervorbringt, so ist das zum mindesten ein sehr verdächtiger Umstand. Er fordert geradezu dazu heraus, die wirtschaftlichen Verhältnisse jener Zeit genauer zu betrachten, in der dieselbe Entdeckung von neuem gemacht und der Wissenschaft einverleibt wurde.

Es kann natürlich nicht davon die Rede sein, zu behaupten, dass England in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhimderts sich in derselben bezw. einer analogen Lage befunden habe, wie die italienischen Seestädte Ende des XVI. Jahrhunderts. Es hatte vielmehr Holland, nicht mir was den Handel, sondern auch was die Industrie betrifft, bei weitem überflügelt. Aber England war mehr als eine cittä mit einigen unterworfenen Landdistricten als Domäne. Es war ein grosses Land, dessen Kraft bis dahin gerade auf seiner Bauernschaft, der Yeomanry, beruht hatte. [3] Diese Bauernschaft war jedoch seit der Reformation durch eine Reihe schamloser Usurpationen und Gewaltmassregeln u.a. von ihren Sitzen vertrieben worden, sie und die überzählig gemachten Landarbeiter füllten die Landstrassen und drängten sich in die Städte. Die Restauration, sowie die „glorreiche Revolution“ Ende des XVII. Jahrhunderts hatten diesen Process durch Gesetze über den Unterstützungswohnsitz, Förderung der Einhegungen von offenem Land und der „Lichtung“ der grossen Güter noch, beschleunigt. Für die aufkommende Manufactur war das ein sehr angenehmer Process. Er lieferte ihr die nötigen Arbeitskräfte – ein durch keinerlei Zunftsatzungen geschütztes Proletariat. Aber sie entwickelte sich nicht so schnell, um das ganze Heer der „freigesetzten“ ländlichen Arbeiter aufzusaugen. So hatte England in derselben Periode, in der Handel und Gewerbe, Kunst und Wissenschaften blühten, ein ungeheures Heer von „Armen“, die den Gemeinden zur Last fielen. [4] Die politische Ökonomie jener Tage, obwohl über die Ursachen jener „überschüssigen Bevölkerung“ durchaus nicht im Unklaren, da der Process, der sie geschaffen, noch immer vor ihren Augen vor sich geht und von vielen ihrer Vertreter gebrandmarkt wird, folgert jedoch, dass sie einer zu starken Vermehrung der Menschen zuzuschreiben sei, ihrem höchst verwerflichen Trieb, sich ins Ungemessene fortzupflanzen.

Was war aber die Ursache, weshalb die Industrie jene grosse Reservearmee von Proletariern nicht bewältigen konnte, obwohl sie gleichzeitig fortgesetzt über Mangel an Arbeitskräften klagt? Sie ist in ihrer iipieren Beschaffenheit, in dem damaligen Stand der Productionsweise zu suchen. Man lese noch einmal die Jahreszahlen der Werke nach, auf die Malthus sich beruft: 1751, 1767, 1774, 1786, und vergleiche mit ihnen die grossen Daten aus der Geschichte der Productionstechnik. 1764 erfindet James Hargreaves die SpinnJenny und James Watt seine Dampfmaschine, 1767 verfertigt R. Arkwright die Spinn-Drossel, 1779 wird der Spinnstuhl, die sog. Mule, erfunden, und 1785 gelangt die Dampfmaschine zum ersten Mal zur Verwendung als Motor für den Spinncreibetrieb. Bis alle diese Erfindungen sich allgemein eingebürgert, verging natürlich jedesmal eine mehr oder minder beträchtliche Zahl von Jahren; zunächst bilden sie noch die Ausnahme von der Regel. Die Regel aber ist zur Zeit, wo die Franklin, die Steuart, die Young, die Townsend und, fügen wir gleich hinzu, die Ferguson, die Adam Smith, die J.B. Say schrieben, die manufacturmässige Production, wie sie bereits bestand, als William Petty, der „Vater der englischen Nationalökonomie“, Ende des XVII. Jahrhunderts seinen Essay on the multiplication of mankind schrieb.

Was ist das charakteristische Merkmal der Manufacturproduction? Dass sie bereits capitalistisch betrieben wird, jedoch noch mit einem Fuss im Handwerk steckt. Sie beruht auf der Teilung der Arbeit im Einzelbetrieb, während das Handwerk ursprünglich nur die Teilung der Arbeit in der Gesellschaft darstellt. Der Einzel- oder Teilarbeiter in der Manufactur bleibt jedoch im wesentlichen Handwerker, dessen persönliche Geschicklichkeit, die handwerksmässige Virtuosität in seiner Specialverrichtung, so einfach diese auch sein mag, die Grundlage des ganzen Mechanismus bleibt. Ist er vom Unternehmer abhängig, direct aus ökonomischen Ursachen, nicht, wie der Arbeiter im Zunfthandwerk, infolge von Innungs vor Schriften, so ist auf der anderen Seite der Betrieb des Unternehmers von ihm abhängig. Der ganze Mechanismus des manufacturmässigen Betriebes gerät ins Stocken, wenn der angelernte Teilarbeiter seine specielle Function einstellt. Seine Individualität ist bereits verkümmert, aber sie existiert noch, wenn auch in verkrüppelter Form. Allerdings beginnt in der Manufactur, wo sie zur Fabrikindustrie wird, immer mehr neben dem gelernten Arbeiter der ungelernte sich einzubürgern, aber der erstere spielt noch die Hauptrolle, wie das noch heute in denjenigen Industrieen der Fall, die im wesentlichen manufacturmässig betrieben werden (Bauhandwerk, Schriftsetzerei etc.). In diesen Industrieen sind auch alle Kategorieen noch in Kraft, mit denen die classische Ökonomie operiert.

Karl Marx hat im Capital in wahrhaft classischer Darstellung die charakteristischen Merkmale der manufacturmässigen Production sowohl nach der technischen als auch der ökonomischen und socialen Seite veranschaulicht, und wenn es den Rahmen dieses Aufsatzes nicht zu weit überschreiten würde, so würde ich am liebsten den ganzen Abschnitt hier zum Abdruck bringen. Indes muss ich mich darauf beschränken, den Leser auf das betreffende Capitel im Original zu verweisen und lasse hier nur einige, für den Gegenstand dieser Arbeit besonders charakteristische Stellen aus dem 4. Abschnitt: Der capitalistische Charakter der Manufactur, folgen:

„Eine grössere Arbeiterzahl unter dem Commando desselben Capitals bildet den naturwüchsigen Ausgangspunct, wie der Cooperation überhaupt, so der Manufactur. Umgekehrt entwickelt die manufacturmassige Teilung der Arbeit das Wachstum der angewandten Arbeiterzahl zur technischen Notwendigkeit. Das Arbeiterminimum, das ein einzelner Capitalist anwenden muss, ist ihm jetzt durch die vorhandene Teilung der Arbeit vorgeschrieben. Andererseits sind die Vorteile weiterer Teilung bedingt durch weitere Vermehrung der Arbeiteranzahl, die nur noch in Vielfachen ausführbar. Mit dem variablen muss aber auch der constante Bestandteil des Capitals wachsen, neben dem Umfang der gemeinsamen Productionsbedingungen, wie Baulichkeiten, Öfen u.s.w., namentlich auch, und viel rascher als die Arbeiteranzahl, das Rohmaterial. Seine Masse, verzehrt in gegebener Zeit durch gegebenes Arbeitsquantum, nimmt in demselben Verhältnis XU, wie die Productivkraft der Arbeit infolge ihrer Teilung. Wachsender Minimalumfang von Capital in der Hand der einzelnen Capitalisten, oder wachsende Verwandlung der gesellschaftlichen Lebensmittel und Productionsmittel in Capital ist also ein aus dem technischen Charakter der Manufactur entspringendes Gesetz.

... Die manufacturmässige Teilung der Arbeit schafh durch Analyse der handwerksmässigen Thätigkeit, Specificierung der Arbeitsinstrumente, Bildung der Teilarbeiten, ihre Gruppierung und Combination in einem Gesamtmechanismus, die qualitative Gliederung und quantitative Proportionalität gesellschaftlicher Productionsprocesse, also eine bestimmte Organisation gesellschaftlicher Arbeit, und entwickelt damit zugleich neue, gesellschaftliche Productivkraft der Arbeit. Als speciüsch capitalistische Form des gesellschaftlichen Productionsprocesses – und auf den vorgefundenen Grundlagen konnte sie sich nicht anders, als in der capitalistischen Form, entwickeln – ist sie nur eine besondere Methode, relativen Mehrwert zu erzeugen oder die Selbstverwertung des Capitals – was man gesellschaftlichen Reichtum, Wealth of Nations u.s.w. nennt – auf Kosten der Arbeiter zu erhöhen. Sie entwickelt die gesellschaftliche Productivkraft der Arbeit nicht nur für den Capitalisten, statt für den Arbeiter, sondern durch die Verkrüpplung des individuellen Arbeiters. Sie produciert neue Bedingungen der Herrschaft des Capitals über die Arbeit. Wenn sie daher einerseits als historischer Fortschritt und notwendiges Entwicklungsmoment im ökonomischen Bildungsprocess der Gesellschaft erscheint, so andererseits als ein Mittel civilisierter und raffinierter Exploitation.

... Während der eigentlichen Manufacturperiode, d.h. der Periode, worin die Manufactur die herrschende Form der capitalistischen Productionsweise, stösst die volle Ausführung ihrer eigenen Tendenzen auf vielseitige Hindemisse. Obgleich sie, wie wir sahen, neben der hierarchischen Gliederung der Arbeiter eine einfache Scheidung zwischen geschickten und ungeschickten Arbeitern schafft, bleibt die Zahl der letzteren durch den überwiegenden Einfluss der ersteren sehr beschränkt. Obgleich sie die Sonderoperationen dem verschiedenen Grad von Reife, Kraft und Entwicklung ihrer lebendigen Arbeitsorgane anpasst und daher zu productiver Ausbeutung von Weibern und Kindern drängt, scheitert diese Tendenz im grossen und ganzen an den Gewohnheiten und dem Widerstand der männlichen Arbeiter. Obgleich die Zersetzung der handwerksmässigen Thätigkeit die Bildungskosten und daher den Wert der Arbeiter senkt, bleibt für schwierige Detailarbeit eine längere Erlernungszeit nötig und wird auch da, wo sie vom Überfluss, eifersüchtig von den Arbeitern aufrecht erhalten Wir finden z.B. in England die laws of apprenticeship mit ihrer siebenjährigen Lernzeit bis zum Ende der Manufacturperiode in Vollkraft und erst von der grossen Industrie über den Haufen geworfen. [5] Da das Handwerksgeschick die Grundlage der Manufactur bleibt, und der in ihr functionierende Gesamtmechanismus kein von den Arbeitern selbst unabhängiges objectives Skelett besitzt, ringt das Capital beständig mit der Insubordination der Arbeiter. ‚Die Schwäche der menschlichen Natur‘, ruft Freund Ure aus. ‚ist so gross, dass der Arbeiter, je geschickter, desto eigenwilliger und schwieriger zu behandeln wird, und folglich dem Gesamtmechanismus durch seine rappelköpfigen Launen schweren Schaden zufügt.‘ Durch die ganze Manufacturperiode läuft daher die Klage über den Disciplinmangel der Arbeiter. Und hätten wir nicht die Zeugnisse gleichzeitiger Schriftsteller, die einfachen Thatsachen, dass es vom XVI. Jahrhundert bis zur Epoche der grossen Industrie dem Capital misslingt, sich der ganzen disponiblen Arbeitszeit der Manufacturarbeiter zu bemächtigen, dass die Manufacturen kurzlebig sind, und mit der Ein- und Auswanderung der Arbeiter ihren Sitz in dem einen Land verlassen und in dem anderen aufschlagen, würden Bibliotheken sprechen. ‚Ordnung muss auf die eine oder die andere Weise gestiftet werden‘, ruft 1770 der wiederholt citierte Verfasser des Essay on Trade and Commerce. ‚Ordnung‘, hallt es 66 Jahre später zurück aus dem Mund des Dr. Andew Ure, ‚Ordnung‘ fehlte in der auf ‚dem scholastischen Dogma der Teilung der Arbeit‘ beruhenden Manufactur, und ‚Arkwright schuf die Ordnung‘.

Zugleich konnte die Manufactur die gesellschaftliche Production weder in ihrem ganzen Umfange ergreifen, noch in ihrer Tiefe umwälzen. Sie gipfelte als ökonomisches Kunstwerk auf der breiten Grundlage des städtischen Handwerks und der ländlich häuslichen Industrie. Ihre eigene enge technische Basis trat auf einem gewissen Entwicklungsgrad mit den von ihr selbst geschaffenen Produktionsbedürfnissen in Widerspruch.“ [6]

So sieht die Produktionsweise aus, auf deren Ergebnisse hin die classische Ökonomie ihre Dogmen aufgebaut hat. Und dem Geist dieser Productionsweise entspricht sowohl das Malthussche Bevölkerungsgesetz, als auch das von demselben abgeleitete Lohngesetz.

Es ist in der That unschwer einzusehen, dass in einer Productionsepoche, in der schon starke Capitalsconcentration besteht und der Arbeiter bereits als Zubehör des capitalistischen Productionsmechanismus fungiert, dieser selbst aber wiederum von der Geschicklichkeit des Arbeiters abhängt und auch sonst sich nur schwerfällig bewegt, alle jene Auffassungen in Bezug auf die Beziehungen von Capital und Arbeit, auf die Wirkungen von Angebot und Nachfrage auf den Arbeitslohn und die Umstände, die Angebot und Nachfrage von Arbeitern bestimmen, entstehen mussten, die wir bei den Ökonomen des vorigen Jahrhunderts finden. Wenn aber die Maschine als Ersetzerin menschlicher Arbeit zu Adam Smith’ Zeiten erst in den Anfangskeimen vorhanden war, so war sie, als Malthus sein Buch über die Bevölkerung schrieb, schon in eine ganze Reihe von Industrieen eingedrungen und hatte dort die Verhältnisse revolutioniert. Die Betrachtung der ökonomischen Fragen unter dem Gesichtswinkel der Manufactur war daher hier schon weniger selbstverständlich. Indes, die politische Ökonomie, die als eigene Wissenschaft überhaupt erst in der Manufacturperiode aufgekommen war, fusste noch lange hinaus auf den von dieser abgeleiteten „Gesetzen“. Selbst da, wo der spätere bürgerliche Ökonom ihre ersten Vertreter kritisiert, geschieht dies unter allen möglichen Hinweisen und Motivierungen, nur nicht als die Interpreten der Resultate einer überflügelten Productionsweise. Die technischen Veränderungen, die die Maschine inzwischen zur Folge gehabt, wurden prahlerisch hervorgehoben, die ökonomischen Umwälzungen, die sie bewirkt, wurden, soweit sie an der Oberfläche lagen und daher nicht ignoriert werden konnten, mit einigen mehr oder minder apologetischen Redensarten abgethan. Dass aber die maschinelle Grossindustrie nicht nur eine Steigerung des Abhängigkeitsverhältnisses der Arbeit vom Capital, sondern eine ganz wesentliche Verschiebung aller Beziehungen der beiden zu einander zur Folge gehabt hat, das findet man erst bei Owen und seiner Schule schärfer hervorgehoben, von verschiedenen Nachfolgern Saint-Simons und Fouriers betont und zum ersten Mal erschöpfend dargelegt bei Karl Marx.

Ricardo, dessen Principles 1817 erschienen, also zu einer Zeit, wo sich die revolutionierende Wirkung der Maschine bereits auf der ganzen Linie geltend machte, steckt noch tief in den aus der Manufacturperiode überkommenen Anschauungen. Er sieht wohl die quantitativen Änderungen, die die Maschine in den Productionsverhältnissen bewirkt, aber nicht die qualitativen. Selbst in dem Capitel über Maschinerie, das er der dritten Auflage seiner Principles, die 1821 erschien, anfügte, und in dem er mit anerkennenswertem Freimut erklärte, von der Compensationstheorie bezüglich der durch die Maschinerie verdrängten Arbeiter [7] zurückgekommen zu sein, fällt er schliesslich immer wieder in die der Manufactur entsprechende Auffassung zurück.

So heisst es gleich im ersten Capitel:

„Wir können ruhig annehmen, dass, wie ungleich sie (die verschiedenen Arten menschlicher Arbeit) auch ursprünglich gewesen, wie verschieden auch der Aufwand von Talent, Geschicklichkeit oder Zeit, der zur Erlangung einer bestimmten Art von Fertigkeit im Unterschied von anderen erforderlich war, dieselbe doch von einer Generation zur anderen so ziemlich gleich bleibt.“ [8]

Im Capitel Von den Arbeitslöhnen:

„In dem anderen Falle (nämlich in längst bevölkerten und bebauten Ländern) vermehrt sich die Bevölkerung schneller, als die zu ihrem Unterhalte erforderlichen Fonds. Jede Steigerung der industriellen Thätigkeit wird, wenn sie nicht von einer Abnahme des Bevölkerungszuwachses begleitet ist, das Übel noch vermehren, denn die Production [von Nahrung] kann mit ihr nicht gleichen Schritt halten.“ [9]

Im Capitel von den Profiten: Es ist somit die natürliche Tendenz der Profite, zu fallen, denn mit dem Fortschreiten der Gesellshaft und des Wohlstandes derselben erfordert der Mehrbedarf an Nahrungsmitteln einen immer grösseren Aufwand von Arbeit. [10] „So habe ich denn versucht, nachzuweisen, erstens, dass ein Steigen der Löhne den Preis der Waren nicht erhöhen aber ausnahmslos die Profite vermindern würde.“ [11]

Im Capitel: Wirkungen der Capitalvermehrungen auf Profite und Zinsen:

„Wenn man die Production der Bedürfnisgegenstände der Arbeiter stets mit derselben Leichtigkeit vermehren könnte, so wäre, bis zu welchem Betrage auch immer die Capitalsvermehrung zunehmen würde, eine dauernde Veränderung im Verhältnis der Lohn- und Profitrate nicht möglich ... Und er (Adam Smith) scheint nicht zu sehen, dass zu derselben Zeit, wo das Capital anwächst, auch die von demselben zu verrichtende Arbeit im gleichen Verhältnis zunimmt.“ [12]

Ich könnte noch Dutzende von Beispielen anführen, wo, wie in den hier gegebenen, Arbeit und Capital immer als nach Art und Productivkraft gegebene Factoren von fast unveränderlicher Beziehung zu einander erscheinen. Zu jener Zeit aber spielte in England bereits die Frauenund Kinderarbeit eine grosse Rolle in der Industrie; fast jeder Tag erhöhte die Productivkraft der Arbeit, und die Praxis lieferte massenhaft Beweise dafür, dass die Profite keineswegs notwendigerweise fallen müssen, wenn die Löhne steigen. Indes, selbst in dem schon erwähnten Capitel über Maschinenwesen hält Ricardc in der Hauptsache an den in den obigen Sätzen zu Tage tretenden Ansichten fest. Er giebt zwar zu, dass die Maschine gelegentlich Arbeiter verdrängen könne, aber dass sie die ganze Stellung des Arbeiters grundsätzlich verändert, dass sie für das Verhältnis von Angebot und Nachfrage der Ware Arbeitskraft ganz neue Gesetze schafft, davon findet man auch in jenem Zusatzcapitel, obgleich es eine gesteigerte Einsicht in die ökonomischen Wirkungen des Maschinenwesens verrät, nicht einmal eine Andeutung. Das Malthussche Bevölkerungsgesetz wird für Ricardo durch das Umsichgreifen der Maschine in der Production nicht im mindesten beeinträchtigt. Es functioniert, höchstens etwas verschärft, in der alten Weise fort.


Fussnoten

1. David Ricardos Grundgesetze der Volkswirtschaft. Aus dem Englischen von Dr. Ed. Baumstark. 2. Aufl., pag.368.

2. Gustav von Jülich: Geschichte des Handels. Citiert im Capital, I. Bd., 2. Aufl., pag.785.

3. Noch Ende des XVII. Jahrhunderts war nach Macaulay die Be völkerung Englands zu vier Fünftel agricol.

4. Nach Eden: Geschichte der Armen, wirkten die Usurpation des Gemeindelandes und die sie begleitende Revolution der Apricultur so acut auf die Ackerbauarbeitcr, dass, nach Eden selbst, zwischen 1765 und 1780 ihr Lohn anfing, unter das Minimum zu fallen, um durch officielle Armenunterstützung ergänzt zu werden. (Das Capital, I. Bd., pag.757.)

5. Selbst dieser ist das geschilderte Werk nur erst teilweise gelungen, wie sie überhaupt sich nur stufenmässig von der Manufactur unterscheidet, aber keinen radicalen Gegensatz gegen sie bildet. [Zusatznote zur Buchausgabe]

6. Das Capital, I. Bd., 4. Aufl., pag.324, 325, 329, 332.

7. Der Theorie nämlich, dass alle Maschinerie, die Arbeiter verdrängt, stets gleichzeitig und notwendig ein entsprechendes Capital zur Beschäftigung eben derselben Arbeiter freisetzt.

„Mein Irrtum“, schreibt Ricardo, „entstand aus der Voraussetzung, dass immer, wenn das reine Einkommen der Gesellschaft zunehme, auch das rohe Einkommen derselben steige. Jetzt aber habe ich Grund zu der Überzeugung, dass der eine Fonds, aus welchem die Grundherren und Capitalisten ihr Einkommen beziehen, zunehmen kann, während der andere, derjenige, von welchem die Arbeiterclasse vornehmlich abhängt, abnehmen kann, und hieraus folgt, wenn meine Annahme richtig ist, dass dieselbe Ursache, welche das reine Einkommen des Landes erhöhen mag, gleichzeitig Bevölkerung überflüssig machen und die Lage des Arbeiters verschlechtern kann.“ (Seite 236 der McCullochschen Gesamtausgabe der Ricardoschen Schriften.)

In der ersten 1836 erschienenen deutschen Ausgabe fehlt dieses wichtige Capitel ganz – wie Baumstark, der Übersetzer, erklärt, „weil die dritte Auflage trotz aller Bemühungen weder in England noch in Deutschland zu haben war und, wie man mir aus glaubhafter englischer Quelle versicherte, von der zweiten nicht verschieden sein soll.“ Erst der 1877 erschienenen zweiten Auflage des deutschen Textes hat Baumstark die dritte englische Auflage zu Grunde gelegt. Ich erwähne diesen Umstand, weil es möglich ist, dass Lassalle infolge desselben Ricardos Capitel über Maschinenwesen gar nicht gekannt hat.

8. a.a.O., pag.16.

9. a.a.O., pag.64.

10. a.a.O., pag.66.

11. a.a.O., pag.71.

12. a.a.O., pag.174.


Zuletzt aktualisiert am 15.1.2009