Eduard Bernstein

 

Die Beurtheilung des widernormalen Geschlechtsverkehrs

London, 6. Mai 1895


Aus: Die Neue Zeit, 1894/95, 13. Jahrg., Band 2, S. 228–233
Der Text ist der Internetseite der Gruppe „Neue Einheit“ entnommen.
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Der „Fall Wilde“ hat sein gerichtliches Ende noch nicht erreicht, sondern ist, da die Geschworenen sich über einen wesentlichen Punkt der ihnen vorgelegten Fragen nicht einigen konnten, einer anderen Jury überwiesen worden, vor der er schon in den nächsten Tagen verhandelt werden soll. Die Uneinigkeit der Geschworenen spiegelt sehr gut die Stimmung wieder, die sich inzwischen des Publikums bemächtigt hat. Nachdem dasselbe im ersten Moment nicht laut genug „Kreuzige“ hatten schreien können, mehrte sich die Zahl derjenigen, die angesichts der Qualität der Belastungszeugen Wildes Freisprechung wünschen, auch, falls er wirklich die ihm vorgeworfenen Handlungen begangen hätte. Und ein Geistlicher – allerdings ein christlich-sozialer, der Reverend Selvyn Image – hat sogar den Muth gefunden, das ganze Gesetz, auf Grund dessen Wilde angeklagt ist, in einem Brief an den „Church Reformer“ für verderblich zu erklären und seine Aufhebung zu verlangen.

Zu den wenigen Ländern, wo das Wilde zur Last gelegte Vergehen vom Strafgesetz geahndet wird, gehört auch Deutschland, das überhaupt im Bezug auf Moralheuchelei heute England kaum viel nachgeben dürfte. Aber um bei diesem speziellen Fall zu bleiben, so herrscht gerade in Bezug auf die Frage, wie sich die Gesellschaft zu denjenigen Geschlechtshandlungen stellen soll, die außerhalb des in dieser Hinsicht für normal Geltenden fallen, auch innerhalb der Sozialdemokratie Deutschlands noch sehr weitgehende Meinungsverschiedenheit. So sehr die Partei sonst sich bestrebt zeigt, den Fragen des öffentlichen Lebens mit der Vorurtheilslosigkeit des wissenschaftlichen Beurtheilers gegenüberzutreten, ist, wo Fragen des Geschlechtslebens in Betracht kommen, wenig von dem Bestreben zu spüren, einen auf die moderne Erkenntnis gegründeten festen Standpunkt zu gewinnen und konsequent inne zu halten. Es wird mehr verurtheilt als beurtheilt, und ein dem philosophischen Radikalismus entlehnter extremer Freiheitsbegriff wechselt mit einem fast pharisäerhaften ultrapuritanischen Moralismus. Von so untergeordneter Bedeutung für den ökonomischen und politischen Kampf der Sozialdemokratie das Thema des Geschlechtslebens nun auch gehalten werden mag, so ist es darum doch nicht überflüssig, auch in Bezug auf diese Seite des sozialen Lebens einen Maßstab der Beurtheilung zu finden, der, statt auf mehr oder weniger willkürlichen Moralbegriffen, auf wissenschaftlicher Erkenntnis und Betrachtungsweise beruht. Die Partei ist heute stark genug, auf die Gestaltung des geschriebenen Rechts einzuwirken, sie hat durch ihre Redner und ihre Presse Einfluß auf die öffentliche Meinung auch über die Kreise ihrer Anhänger hinaus und damit eine gewisse Verantwortung für das, was heute schon geschieht. So soll denn in Nachstehendem ein Versuch gemacht werden, einer solchen wissenschaftlichen Betrachtungsweise des Problems den Weg zu ebnen.

Zunächst eine Bemerkung über den von uns gewählten Ausdruck: „widernormaler Geschlechtsverkehr“. Der landläufige Ausdruck ist hier bekanntlich: „widernatürlich“. Aber derselbe allein ist schon irreführend. Denn was ist nicht alles widernatürlich? Unser ganzes Kulturleben, unsere Lebensführung vom Morgen bis Abend ist ein beständiger Verstoß gegen die Natur, gegen die ursprünglichen Voraussetzungen unseres Daseins. Käme es nur auf das Natürliche als den Maßstab an, so würde der ärgste geschlechtliche Exzeß nicht verwerflicher sein, als etwa das Schreiben eines Briefes, denn das Verkehren mit Anderen durch das geschriebene Wort ist eine weit größere Entfernung von der Natur, als irgend eine bis jetzt bekannte Form der Befriedigung des Geschlechtstriebs. Hat man doch bei Thieren – allerdings meist bei Hausthieren oder bei Thieren in Gefangenschaft, die aber immerhin der Natur bedeutend näher stehen als der Mensch – sowie bei sogenannten Naturvölkern Praktiken der Befriedigung des Geschlechtstriebs beobachtet, die durchaus unter die Rubrik dessen fallen, was in der Umgangssprache gemeinhin als widernatürlich bezeichnet wird. Die konventionelle Ausdrucksweise ist hier so unlogisch wie das konventionelle Urtheil selbst, sie kritisieren, heißt bereits ein Stück dieses kritisieren.

Viel angemessener als die Bezeichnung widernatürlich erscheint uns daher das Wort widernormal. Der Begriff des Normalen schließt mit Bezug auf das vorstehende Thema soviel vom Begriff des Natürlichen oder Naturgemäßen ein, als die sachgemäße Betrachtung desselben erfordert, aber er ist biegsamer als jener, und sein Gebrauch entspricht mehr der Thatsache, daß die moralischen Anschauungen geschichtliche Erscheinungen sind, die nicht darnach sich richten, was etwa im Naturzustand war, sondern was auf einer gegebenen Entwicklungsstufe der Gesellschaft ist, für die das dieser Entsprechende das Normale ist.

Damit steht durchaus nicht im Widerspruch, daß zu allen Zeiten diejenige Form der Bethätigung des Geschlechtslebens, die der Aufgabe der Fortpflanzung der Gattung entspricht, von den Menschen als die normale betrachtet wurde. Somit sind eben hierin die Menschen an das von Natur aus Gesetzte gebunden. Aber es hat Zeiten, Kulturzustände gegeben, wo jene Aufgabe für große Klassen der Bevölkerung nicht viel mehr war, als ein wesenloser Begriff, wo das von der Natur Gesetzte aufhörte, für sie die Norm zu sein, und soviel kann von der heutigen Kulturwelt gesagt werden, daß bei den meisten zu ihr gehörigen Nationen der sogenannte Begattungsakt in einer wachsenden Zahl von Fällen nicht nur nicht der Fortpflanzung der Rasse gilt, sondern vielmehr diese mit ihm verbundene Wirkung als eine sehr unerwünschte betrachtet und nach Möglichkeit verhindert wird. Formell wird die ursprüngliche Begattungsart als Norm festgehalten, thatsächlich ist der Geschlechtsverkehr reiner Genußakt, und weil von der Zeugung emanzipirt, in hohem Grade unnatürlich und selbst widernatürlich; aber Sitte und Recht fragen nicht darnach, sondern verfehmen bezw. bestrafen nur gewisse Arten des Geschlechtsverkehrs, bei denen auch der Schein der Verbindung behufs Fortpflanzung wegfällt – die eben nicht bloß widernatürlich, sondern auch widernormal, gegen die noch immer in der Fiktion festgehaltene Norm sind. Ist das aber ein aufrechtzuerhaltender Standpunkt?

Unsere Kenntniß von dem Zusammenhang zwischen dem Gesellschaftszustand im Allgemeinen und der Gestaltung des Geschlechtslebens im Besonderen ist im Ganzen noch wenig entwickelt. Was Morgan mit Bezug auf die Aufhellung des Verhältnisses zwischen Produktionsentwicklung und Familienform geleistet, hat unseres Wissens, soviel auch über das Thema der Formen des Geschlechtslebens schon geschrieben worden ist, noch Niemand mit Bezug auf dieses Thema versucht. Anthropologen und Ethnographen berichten von wilden und halbwilden Völkerschaften, bei denen geschlechtliche Ausschweifungen aller Art straflos und ungescheut ausgeübt werden, und von anderen, wo sie mit Strafen gesühnt werden, die bis zur Todesstrafe gehen. Es liegt fast auf der Hand, daß so verschiedenartige Auffassungen vom Erlaubten und Unerlaubten im Geschlechtsverkehr jedesmal in verschiedenartigen Bedingungen des geschlechtlichen Lebens wurzeln müssen, aber man hat sich in der Regel begnügt, die Thatsache zu konstatiren, ohne weiter nach ihrem Grund zu forschen. Natürlich solche Erscheinungen, wie daß Sodomie vorzugsweise oder fast ausschließlich bei Hirtenvölkern und Bauern vorkommt, konnten der Beobachtung nicht entgehen, und ebenso ist es ein Gemeinplatz, daß mit steigendem Reichthum und Luxus auch die geschlechtlichen Ausschweifungen zunehmen. Aber schon dieser letztere Satz bedarf wieder großer Vorbehalte. Reichthum wird unter sehr verschiedenen Verhältnissen und unter sehr verschiedenen Gesellschaftszuständen gebildet, durch Handel und Seeraub, durch Industrie, mit Hilfe von Sklavenwirthschaft und unter Ausbeutung freier Arbeiter. Je nachdem sind dadurch schon verschiedene Bedingungen für die Ausbildung und Befriedigung widernormaler Geschlechtsgenüsse gegeben. Die Alten, deren Reichthum auf Sklavenwirthschaft und Handel beruhte, haben auf dem genannten Gebiet, wie es scheint, alles versucht, was die Phantasie nur ersinnen kann, so daß ein moderner Anwalt der Geschlechtsfreiheit, unter Berufung auf den Hermaphrodit des Antonius Panormita – eine im fünfzehnten Jahrhundert verfaßte Zusammenstellung von pornographischen Stellen in den Werken der Alten – sich zu dem Ausspruch veranlaßt sieht, sie hätten der späteren Zeit „nur wenig hinzuzufügen überlassen“. [1] In der That sind Experimente an Sklaven und Sklavenkindern, wie sie sich die Römer der Kaiserzeit erlaubten, heute einfach undenkbar. Sie setzen eine Nichtachtung des Menschenlebens voraus, die nur noch bei Halbblödsinnigen anzufinden ist. Dies, ohne der Opfer zu vergessen, die noch heute auf dem Altar Mammons dargebracht werden, und die auf einem anderen Kapitel stehen. Im Übrigen vergleiche man die Sittenzustände in einer modernen Handelsstadt mit denen unserer Industriestädte. Nicht daß etwa in den letzteren nothwendigerweise weniger geschlechtliche Exzesse vorkommen als in jenen, aber wie anderer Art sind sie und ist der ganze Zuschnitt des Geschlechtsverkehrs.

Im Ganzen freilich findet in den Ländern moderner Kultur eine immer stärkere Ausgleichung der sozialen Physiognomien statt. Die ungeheuren Verkehrserleichterungen, die auf die Spitze getriebene Konkurrenz bewirken eine Verwischung selbst der tiefstgewurzelten Unterschiede.

Zum Thema zurückzukehren, so sind den Römern die Griechen, den Griechen die Ägypter und verschiedene asiatische Völker in der Kultivirung widernormaler Geschlechtsgenüsse vorausgegangen. Wie diese zuerst aufgekommen, darüber sind wir auf Vermuthungen angewiesen. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß zuerst Mangel an Möglichkeiten ausreichender Befriedigung des Geschlechtstriebes auf normalem Wege zu widernormalen Akten des Geschlechtsgenusses getrieben hat, und solcher Mangel kann durch allerhand Umstände bewirkt worden sein. Indeß können wir diese Frage hier nicht weiter verfolgen, sondern müssen uns mit der Feststellung begnügen, daß der widernormale Geschlechtsverkehr so alt und so verbreitet, auf so verschiedenartigen Kulturstufen anzufinden ist, daß sich von keiner Kulturstufe der Menschheit mit Sicherheit sagen läßt, sie sei von dieser Erscheinung frei gewesen. Ebenso hält die vielverbreitete Auffassung nicht Stand, die stärkeres Vorkommen widernormalen Geschlechtsverkehrs ausschließlich sogenannten Verfallzeiten zuschreibt. Freilich, wenn der vorher zitirte Hellmann als Gegenbeweis das perikleische Zeitalter Griechenlands anführt, so ist dieses Beispiel sehr verfehlt, denn unzweifelhaft leitet gerade das Zeitalter des Perikles den Verfall Athens ein; die hohe Blüthe der Kunst, die Athen damals darstellte, darf darüber nicht täuschen, die Kunst ist überhaupt ein sehr verrätherischer Gradmesser für die Spannkraft eines Volkes. Aber die Athener haben schon lange vor Perikles Knabenliebe ausgeübt, sie hat ihren nationalen Aufschwung nicht verhindert, und ebenso standen diese und ähnliche Gewohnheiten bei anderen Völkern in Epochen wirklichen Aufschwunges in Gebrauch.

Mehr wie über das Aufkommen widernormaler Geschlechtsgenüsse weiß man über deren Bekämpfung, wenigstens bei den Kulturvölkern. Und da ist eine Erscheinung sehr charakteristisch.

Wir erwähnten schon, daß als der normale Geschlechtsverkehr jederzeit der durch die Zwecke der Befruchtung erheischte gegolten hat, d.h. die geschlechtliche Verbindung zweier geschlechtsreifer Individuen verschiedenen Geschlechts. Aber von sehr frühen Zeiten finden wir, abgesehen von der Selbstbefriedigung, andere Organe als die physioligisch zum Geschlechtsakt bestimmten dem Geschlechtsgenuß dienstbar gemacht, sei es am Körper eines Individuums des anderen Geschlechts, sei es an dem eines Mitgliedes des eigenen Geschlechts. Um die unter die erstere Rubrik fallenden Arten widernormalen Geschlechtsverkehrs hat sich die Gesetzgebung bisher so gut wie gar nicht bekümmert und bekümmert sie sich auch heute noch nicht. Da es sich dabei fast ausschließlich um die Benutzung des weiblichen Körpers von Seiten des Mannes handelt, so ist es nicht zu viel gesagt, daß der weibliche Körper vom Gesetz als etwas betrachtet wird, was – Nothzucht und Körperverletzung ausgeschlossen – geschlechtlich gar nicht mißbraucht werden kann. Auch die Ausübung der weiblichen Eigengeschlechtsliebe ward fast immer und wird fast überall vom Gesetz ignorirt. Anders der eigengeschlechtliche Verkehr unter Angehörigen des männlichen Geschlechts. Dieses wird bei verschiedenen Negervölkern streng bestraft, Moses verbot ihn den Juden (Drittes Buch Mos., Kap, 18, 20), Solon den Sklaven, im Römischen Reich beginnt unter Justinian seine Bestrafung, und die lex Carolina setzt schließlich auf die Ausübung der paedicatio (Mißbrauch des Afters) an Männern, bzw. Knaben die Todesstrafe, welche Vorschrift vom Mittelalter bis in die neueste Zeit hinein gegolten hat.

In einer vor uns liegenden Schrift des Wiener Professors v. Krafft-Ebing: „Der Konträrsexuale vor dem Strafrichter“ [2], der wir die zuletzt angeführten Thatsachen entnehmen, äußert sich der Verfasser so, als ob sie eine Bevorzugung des weiblichen Geschlechts einschlössen, wenigstens spricht er immer nur von der Unbilligkeit, die angesichts der Straflosigkeit der Frauen die Bestrafung eigengeschlechtlicher Handlungen des Mannes darstellte. Wir sehen die Sache anders an. Uns dünkt es, als ob vielmehr in der Freigabe des weiblichen Körpers sich die Nichtachtung der Frau kennzeichnet, die mit dem Aufkommen der vaterrechtlichen Familie platztgreift. Sehr begreiflich, daß eine spätere, rationalisirende Zeit sich diese Unterscheidung so zurechtlegte, wie sie Krafft-Ebing im Lichte der modernen Strafgesetzbücher erscheint, aber diese rationalistische Auslegung verhindert nicht, daß die vorhandenen Bestimmungen selbst Reste einer Geringschätzung der Frau sind, nach der deren Körper Sache des Mannes war. Und sind wir heute in der Praxis wirklich weit darüber hinweg? Herr v. Krafft-Ebing sagt an anderer Stelle sehr richtig, daß z.B. die preußische Rechtspraxis sich selbst ins Gesicht schlägt, wenn sie sich, wo widernormale Geschlechtsakte vom Manne am Manne in Betracht kommen, auf den Sittlichkeitsstandpunkt stellt „das sittliche Wesen des Menschen gegen seine eigene Unsittlichkeit schützen will“, und dann die paedicatio an Frauen unbeanstandet zuläßt. Ästhetisch und moralisch steht sicher die letztere nicht höher, als die sogenannte Päderastie, sondern im Gegentheil in der Mehrheit der Fälle sehr viel tiefer. Einmal die Mannesliebe gegeben, ist die Päderastie ihr eine quasi nothwendige Ergänzung. Niemand wird dies aber von der Liebe des Mannes zur Frau und der paedicatio an der Frau behaupten wollen.

Warum schreitet die Gesellschaft gegen diese und andere Exzesse am weiblichen Leibe nicht ein? Nicht daß sie nichts von ihnen wüßte. Wir wollen gar nicht von dem sprechen, was in solchen Ehen geschieht, wo das Zweikindersystem beobachtet wird, sondern nur die weibliche Prostitution als Exempel heranziehen. Am Körper der Prostituirten ist alles gestattet, was nicht eine grobe Körperverletzung darstellt. Die Rücksichten, die ein Eindringen in die Mysterien des Ehelebens verbieten, walten hier nicht ob, der Staat überwacht das öffentliche Leben der Prostituirten und sorgt für ihren Gesundheitszustand – nein, für den Gesundheitszustand ihrer Geschlechtsorgane. Was der Mann, der sie kauft, mit ihr treibt, kümmert den Staat nicht, nur falls der Mann sie mit einer Geschlechtskrankheit infizirt, steckt er – die Prostituirte ein.

Wenn aber die Kontraktfreiheit zwischen Mann und Weib so hoch steht, daß jeder Geschlechtsgenuß, zu dem das Weib seinen Körper verkauft, legitimirt ist, so ist ein vernünftiger Grund nicht abzusehen, warum ein ähnlicher Kontrakt zwischen Mann und Mann strafrechtlich geahndet werden soll. Alle medizinischen Autoritäten erklären die paedicatio, zu der aber in den wenigsten Fällen von Mannesliebe geschritten wird, für physisch unbedenklich, es würde also nur die Rückwirkung auf die Moral der sich Darbietenden in Betracht kommen. Nun sind aber alle Strafrechtslehrer darin einig, daß der Staat und das Strafrecht nicht die Hüter der Moral sind und sein können. Man braucht sich nur auszumalen, wohin ein darauf gerichteter Versuch führen müßte, um sich von der Unmöglichkeit desselben zu überzeugen. Wenn das Gesetz, wie in Frankreich, die heranwachsende männliche Jugend schützt, so genügt es seiner Aufgabe. Mit keinem Argument läßt sich eine kriminelle Bestrafung der Mannesliebe rechtfertigen, so lange der weibliche Körper für vogelfrei erklärt wird. Der soll noch kommen, der das, was in Bordellen und den Höhlen der Prostitution alltäglich und unter den Augen der Polizei geschieht, für weniger verderblich für die Sittenzustände erklärt, als etwa die Bethätigung der Mannesliebe. Übrigens stehen fast in allen Ländern die Paragraphen, die sie bedrohen, mit Bezug auf neunundneunzig von hundert Fällen auf dem Papier, und im hundersten Falle sind sie eine Prämie auf das höchst moralische Geschäft des Erpressens. Speziell Berlin kann davon erzählen, und eine Erbschaft von Preußen ist der betreffende Paragraph der Reichsstrafgesetzbuches. In den Ländern, wo die betreffenden strafgesetzlichen Bestimmungen abgeschafft sind, besteht aber keinerlei Sehnsucht nach ihrer Wiedereinführung.

So viel über die strafrechtliche Seite der Frage. Es bleibt nur noch zu erörtern übrig, wie sich die öffentliche Meinung zu Fällen von Mannesliebe stellen, wie man sie moralisch beurtheilen soll. Herr v.Krafft-Ebing, dessen Buch ein Playdoyer für die Abschaffung der gegen sie im bisherigen österreichischen Strafgesetzbuch gerichteten Paragraphen ist, will sie vorwiegend als pathologisch betrachtet wissen, und das ist auch der Standpunkt fast aller Psychiatriker. Jedenfalls ist soviel richtig, daß sie keineswegs immer Zeichen verderbter Gesinnung, Abgelebtheit, viehischer Genußsucht und dergleichen ist. Wer jedesmal gleich mit solchen Epithetas bei der Hand ist, stellt sich auf den Standpunkt der reaktionärsten Strafgesetze, die selbst von ihren Verfassern nur mit dem Hinweis auf das nun einmal bestehende Volksvorurtheil, dem man Rechnung tragen müsse, entschuldigt werden. Es ist vielmehr in jedem einzelnen Fall zu unterscheiden, ob wüste Ausschweifung oder eine unüberwindliche Liebe zum eigenen Geschlecht vorliegt, die nicht sittenrichterlich, sondern pathologisch zu beurtheilen ist.

Andererseits ist indeß vor der Übertreibung der pathologischen Erklärungen zu warnen. Schließlich läßt sich alles als psychischer Zwang hinstellen, und gerade das Geschlechtsleben bietet dazu den besten Anlaß. Sehen wir doch in der Thierwelt, daß die Fortpflanzungsperioden thatsächlich Zeiten eines anormalen, pathologischen, resp. psychosen Zustandes des Thieres sind. Aber wenn auch das Geschlechtsleben des Menschen Analogien dazu darbietet, so wird des Menschen Handeln noch durch andere Faktoren beeinflußt, als durch Brunsttriebe und sonstige momentane Eindrücke: die öffentliche Meinung, das von der Sitte Eingesetzte und vom Individuum für recht Erkannte wirken auf den Willen und die Handlungen ein, und mindestens die Nächststehenden haben so die Möglichkeit, solchen Praktiken des Geschlechtsgenusses entgegenzuwirken, die zur Entnervung des Betreffenden führen. Das ist so ziemlich alles, was sich heute thun läßt. So lange gesellschaftliche Zustände herrschen, die den natürlichen Geschlechtsgenuß quasi mit Strafe bedrohen, so lange unsere ganze Lebensführung eine beständige Verletzung der Anforderungen der Hygiene des Körpers und des Geistes ist, wird auch der widernormale Geschlechtsverkehr nicht aufhören, er wird im Gegentheil die Tendenz zeigen, das Normale zu werden.


Fussnoten

[1] Hellmann, Geschlechtsfreiheit, S. 197

[2] Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1894, 38 S.: gr. 8,0


Zuletzt aktualisiert am 29.3.2009