Eduard Bernstein

 

Das realistische und das ideologische Moment im Socialismus

(1898)


Ursprünglich: Probleme des Sozialismus, 2. Serie II, Neue Zeit, XVI. Jg. 2. Bd., 1897-1898, Nr.34, S.225-232 u. Nr.39, S.388-395.
Diese Version: Eduard Bernstein: Zur Theorie und Geschichte des Socialismus: Gesammelte Abhandlungen, Bd.2, Berlin 1904, S.123-147.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.



Vorbemerkung zur ersten Veröffentlichung

Das Thema, dem der nachstehende Aufsatz gewidmet ist, ist von anderen Gesichtspuncten aus in neuerer Zeit wiederholt von Freund imd Feind erörtert worden. Ich mache in dieser Verbindung insbesondere noch auf die sehr durchdachten und gehaltreichen Aufsätze Antonio Labriolas aufmerksam, die unter dem Titel: Essais sur la conception matérialiste de l’histoire in Paris bei V. Giard imd E. Brière erschienen sind, ferner auf einige im Devenir Social abgredruckte Aufsätze G. Sorels, B. Croces und anderer, und schliesslich auf den vor einigen Jahren in Pernerstorfers Deutschen Worten [1] erschienenen Aufsatz: Zur Geschichte und Kritik des Marxismus von Dr. Ch. Schitlowsky.

Im letztgenannten Aufsatz schreibt der Verfasser unter anderem, er halte die Zeit „reif für eine Anwendung der Erkenntnistheorie auf die Geschichtsphilosophie“, zur „Aufwerfung der Frage nach den Grenzen unserer geschichtsphilosophischen Erkenntnis“. Ob der Aufsatz Herrn Bax vorlag, als derselbe den bekannten Artikel in der Wiener Zeit schrieb, der zur Controverse mit Kautsky Anlass gab, weiss ich nicht, jedenfalls kann die Bax-Kautskysche Polemik und insbesondere Kautskys Aufsatz: Was kann und soll die materialistische Geschichtsauffassung leisten? als Beitrag zu dieser speciellen Untersuchung betrachtet werden. Der hier folgende Artikel war dagegen nicht als solcher beabsichtigt. Er sollte nur die Frage, die der Titel anzeigt, nämlich inwieweit der moderne Socialismus realistisch ist und inwieweit Ideologie, behandeln, und wurde in mir angeregt durch die Kritiken, die meine Bemerkungen über das „Endziel des Socialismus“ in einigen Parteiblättern hervorgerufen hatten. Dass er nun doch das erkenntnistheoretische Gebiet streift, geschah aus dem rein praktischen Bedürfnis, den Begriff der „Ideologie“ festzustellen, aber weder als Versuch einer Beantwortung, noch auch nur mit Kenntnis der von Schitlowsky aufgeworfenen Frage. Dessen sehr anregender Aufsatz fiel mir vielmehr erst in die Hände, der Artikel nahezu fertiggestellt war. Auf dem Gebiet der Erkennenntnistheorie Laie, beanspruche ich nicht, mehr wie die Gedanken eines Laien zur Frage beisteuern zu können. Dagegen schulde ich einem Artikel Conrad Schmidts in der wissenschaftlichen Beilage des Vorwärts über Kant unmittelbare Anregung. Bis zu einem gewis Grade gilt das: Zurück auf Kant! meines Erachtens auch für die Theorie des Socialismus.

Wenn mein Aufsatz verschiedentlich ins Breite, ja Gemeinplätzliche geht, so nötigt mich dazu der Wunsch, möglichst alle Missverständnisse von vornherein auszuschliessen. Im übrigen nehme ich die Behandlung der Probleme des Socialismus in dem Bewusstsein wieder auf, dass Professor Masaryk recht hat, wenn er in dem Artikel: Die wissenschaftliche und philosophische Krise innerhalb des gegenwärtigen Marxismus in der Wiener Zeit sagt:

„Diese Krisis kann für den Socialismus eine grosse Kraft werden. Wie alle socialen Reformparteien hat auch der Socialismus seine lebendige Quelle in den offenkundigen Unvollkommenheiten der jetzigen Gesellschaftsordnung. So lange diese Quelle fliesst, hat die kämpfende Partei des Socialismus, die Socialdemokratie, von der Selbstkritik ihrer Theorie nichts zu fürchten.“



I.

Werdet, der Verleger Balzacs, erzählt von diesem, er habe eines Tages dem Schriftsteller Jules Sandeau, der sich mit ihm über eine seiner Schwestern unterhielt, schliesslich mit den Worten unterbrochen: „Ganz recht, mein Freund, aber wollen wir doch lieber in die Wirklichkeit zurückkehren; sprechen wir von Eugénie Grandet“ (die Heldin eines Balzacschen Romans). Dem Verfasser der Comédie Humaine, dem Realisten unter den Realisten, dem Vater des modernen Naturalismus und Verismus, waren seine Romanfiguren lebendige Menschen. Er sprach bei allen möglichen Gelegenheiten von ihnen als solchen, die Geschöpfe seiner Phantasie waren ihm „Wirklichkeit“.

Wir begegnen solch paradoxaler Behandlung der Dinge sehr häufig, wenn auch der Widerspruch nicht überall so krass ist. Es gehört auch keine tiefe Psychologie dazu, sie zu erklären; die Philosophen und Psychologen haben die Gemütsregungen, die ihnen zu Grunde liegen, nach allen möglichen Gesichtspuncten analysiert. Womit der Mensch sich geistig intensiv beschäftigt, erhält für ihn, selbst wenn es nur Gedachtes ist, und er sich dessen auch bewusst ist, immer mehr die Eigenschaften der Realität, bis sich ihm schliesslich das Gefühl für den Unterschied zwischen diesem, bloss in der Vorstellung Realen und dem ausser ihm Wirklichen verwischt oder gar das letztere teilweise für ihn „Begriff“ wird, das erstere aber für sein Fühlen und Denken alle Attribute der Wirklichkeit erhält. Es ist ein Seelenzustand, wie ihn Goethe mit den Worten geschildert hat: „Was ich besitze, seh’ ich wie im Weiten, und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.“ Es sind jedoch bei weitem nicht nur Dichter, Romanschriftsteller, Künstler, kurz Leute mit reichem Phantasieleben, bei denen wir der Neigung begegnen. Gedachtes als real zu behandeln. Niemand ist ganz von ihr frei, und derjenige oft am wenigsten, der sich am meisten über sie erhaben dünkt. Wie starke Realisten oder Materialisten wir auch zu sein glauben, so werden wir uns bei strenger Selbstprüfung doch immer wieder darauf ertappen, gleich dem ersten besten „Idealisten“ zu argumentieren, sobald wir uns von der platten Alltäglichkeit ab- und den tieferen Problemen des Lebens zuwenden. Wir stossen dann immer auf Puncte, wo wir nicht mehr mit sinnlich wahrnehmbaren, demonstrationsfähigen Thatsachen, sondern nur mit Folgerungen unseres Verstandes zu thun haben, mit „Ideen“, hinter denen wir eine Realität wohl mit mehr oder weniger grosser Wahrscheinlichkeit vermuten, aber nicht beweisen können. Aller Materialismus ist zuletzt so nur bedingt, und nicht derjenige steht der spiritualistischen Denkweise näher, der dies anerkennt, sondern derjenige, der es leugnet. Denn gerade damit beweist der letztere, dass ihm Folgerungen, Vorstellungen, Gedankenbilder objective Thatsachen sind. Kant, der transcendentale Idealist, war factisch ein sehr viel strengerer Realist, wie sehr viele Bekenner des sogenannten naturwissenschaftlichen Materialismus. Er verlangte für die Welt der sinnlichen Erfahrung ihr volles Recht und hat den Begriff des jenseits unseres Erkenntnisvermögens liegenden „Dinges an sich“ nicht aufgebracht – das war mit anderen Worten lange vor ihm geschehen –, sondern ihn vielmehr begrenzt, und die von ihm gezogene Grenzlinie ist auch heute noch im Princip unangegriffen. Denn alle bisher gegen sie gerichteten Kritiken treffen nur Nebenpuncte oder missverständliche Auslegungen der Theorie. Auch haben die grossen Fortschritte, welche Chemie und Physik seit Kants Zeiten gemacht haben, das Problem der Materie nur verschoben, aber seine Lösung selbst jenseits des Gebiets der praktischen Erfahrung gelassen. Die Physiker und Chemiker wissen heute mehr vom „Atom“, aber sie behaupten nicht, dass das, was sie zur Zeit Atom nennen, auch wirklich ἂτομον = unteilbar sei. Man nimmt seine Unteilbarkeit ebenso wie seine Körperlichkeit an, weil sie die befriedigendste Erklärung der bekannten physicalischen und chemischen Vorgänge liefert, aber dass auch eine andere Erklärung möglich ist, beweist die von namhaften Naturforschem vertretene dynamische Theorie, welche in den Atomen bloss Kraftcentren räumlich geschiedener Beziehungspuncte für Gruppen aufeinander wirkender Kräfte erblickt. Auch verbietet nichts, die Auflösung der Atome der Masse der Grundstoffe in die einiger weniger oder nur des leichtesten von ihnen, des Wasserstoffs, und schliesslich in Atome des sogenannten Weltäthers als möglich zu setzen. Über den letzteren weiss man positiv herzlich wenig, sein Dasein ist eine Vermutung, zu der die Physiker sich durch das Gesetz der Ursächlichkeit veranlasst sehen, ein Gesetz der Logik, dessen objective Giltigkeit, ebenso wie die objective Giltigkeit von Raum und Zeit, unbeweisbar ist, aber ebensowenig bestritten werden kann und für die wissenschaftliche Betrachtung der Dinge unerlässliche Voraussetzung, sozusagen ein Gebot der praktischen Vernunft ist.

Kurz, der reine oder absolute Materialismus ist gerade so spiritualistisch, wie der reine oder absolute Idealismus. Beide setzen Denken und Sein schlechthin als identisch, wenn auch von verschiedenen Seiten her. Sie differieren in letzter Instanz nur in der Ausdrucksweise. Neuere Materialisten stellen sich dagegen principiell ebenso entschieden auf den Boden Kants, wie dies die meisten der grösseren modernen Naturforscher gethan haben. [2] Dass die letzteren es zumeist vermeiden, sich Materialisten zu nennen, mag bei den einen bloss Zugeständnis an das landläufige Vorurteil sein, anderen wird man glauben müssen, dass es wirklich wissenschaftliche Bedenken sind oder waren, die sie davon abhielten, einen Namen anzunehmen, mit dem nun einmal, gleichviel ob mit Recht oder Unrecht, die Vorstellung eines bedingungslosen Cultus der Materie verbunden ist. Kein gleiches Vorurteil knüpft sich an den Begriff Kraft. Und doch haben moderne Physiker ihn als unzulänglich verworfen und durch den der Energie ersetzt. Mit der genaueren Abgrenzimg der Begriffe werden neue Benennungen unvermeidlich; nichts misslicher und mehr geeignet, Missverständnisse hervorzurufen, als das Bestreben, alte Bezeichnungen dadurch zu verewigen, dass man ihnen einen neuen Sinn beilegt. Schliesslich ist es ja auch nur der Wunsch, den Gegensatz gegen die Offenbarungsreligionen möglichst scharf zum Ausdruck zu bringen, der so viele an dem Worte Materialismus festhalten lässt. Auf der anderen Seite bezeichnet der seit Huxley in England übliche Ausdruck Agnosticismus (von ἂγνοστος = unbekannt) mehr eine allgemeine Denkweise, wie eine bestimmte theoretische Überzeugung. Jeder wissenschaftlicher Forscher ist als solcher Agnostiker, d.h. nimmt die letzten Gründe der Dinge als unerkannt an. Der, wenn wir nicht irren, in der Neuzeit zuerst von Häckel gebrauchte Ausdruck Monismus ist sowohl von dieser Unbestimmtheit wie den missverständlichen Auslegungen frei, die dem Worte Materialismus anhaften, und insofern beiden überlegen, zumal alles folgerichtige Denken dazu zwingt, und kein erfahrungsmässig gewonnenes Erkennen dagegen spricht, der letzten Substanz der Welt, ob wir sie nun Materie oder sonstwie nennen, Einheit in Bezug auf Ausdehnung und Leben („Seele“) zuzusprechen. [3] Ohne diese Annahme wäre die Entstehung des Bewusstseins kaum anders durch supranaturalistischen Eingriff denkbar.

Kommen wir aber zum Socialismus. Dass der Socialismus als Lehre ursprünglich reine Ideologie war, bestreitet niemand. Das heisst, welche äusseren Antriebe auch die einzelnen zur Aufstellung socialistischer Gemälde oder Theorien und die Massen zur Erstrebung socialistischer Neugestaltungen bewogen, so war die Begründung doch immer rein ideologisch; es waren das Christentum, die Gerechtigkeit, die Gleichheit oder irgend eine andere „Idee“, die zu Gunsten jener Änderungen angerufen wurden.

Was hat nun das Lehrgebäude des modernen Socialismus, worunter hier die von Marx und Engels aufgestellte, auf den historischen Materialismus begründete Lehre zu verstehen ist, daran geändert? Hat diese Lehre der Ideologie im Socialismus ein Ende gemacht? Viele werden geneigt sein, die Frage zu bejahen, und sie werden um Beweisstellen dafür nicht verlegen sein.

„Hiermit“, schreibt Friedrich Engels in der Einleitung zum Anti-Dühring – d.h. mit der Entdeckung, „dass alle bisherige Geschichte die Geschichte von Classenkämpfen war“, dass diese Classenkämpfe in den ökonomischen Verhältnissen der betreffenden Epochen wurzeln, und dass „die jedesmalige ökonomische Structur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen, sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweise in letzter Instanz zu erklären sind – mit dieser Entdeckung „war der Idealismus aus seinem letzten Zufluchtsort, aus der Geschichtsauffassung, vertrieben, eine materialistische Geschichtsauffassung gegeben und der Weg gefunden, um das Bewusstsein der Menschen aus ihrem Sein, statt ihr Sein aus ihrem Bewusstsein zu erklären“. [4] Kann man diesen Satz noch so deuten, als beziehe er sich lediglich auf die Erklärung geschichtlicher etc. Vorgänge, so fehlt es weder bei Engels noch bei Marx an Sätzen, die gegen jede Art von vorherentwickelten Ideen über den Aufbau der socialistischen Gesellschaft, jede Ableitung der socialistischen Forderungen aus Rechts- oder Moralanschauungen und jede Anerkennung dauernder Grundprincipien der Moral gerichtet sind. Insbesondere ist da, neben verschiedenen Sätzen des Communistischen Manifests, u.a. der folgende Satz aus dem Marxschen Briefe über den Entwurf zum Gothaer Programm zu nennen:

„Ich bin weitläufiger auf den ‚unverkürzten Arbeitsertrag‘ einerseits, ‚das gleiche Recht‘ und die ‚gerechte Verteilung‘ andererseits eingegangen, um zu zeigen, wie sehr man frevelt, wenn man ... die realistische Auffassung, die der Partei so mühevoll beigebracht worden, die aber jetzt Wurzel in ihr geschlagen, wieder durch ideologische Rechts- und andere, den Demokraten und französischen Socialisten so geläufige Flausen verdreht.“

Schroffer kann man die Ideologie anscheinend nicht zurückweisen. Es fragt sich nur, ob der Marxismus das, was scheinbar hier postuliert wird, auch thatsächlich geleistet hat und leisten konnte.

Zunächst ist es klar, und niemand wusste dies besser als Marx, dass, von rein instinctiver Reflexthätigkeit abgesehen, die Menschen nichts thun, was sie nicht vorher in ihrem Kopfe gedacht haben. Das unterscheide den schlechtesten Baumeister von der besten Biene, schreibt er im Capital, dass der erstere das Haus vorher im Kopfe fertig habe, ehe er mit dem Bau beginne. Was hier vom Baumeister gesagt wird (das mit der Biene könnte bestritten werden), hat unbedingte Giltigkeit für alle auf eine nähere oder fernere Zukunft berechneten menschlichen Handlungen. Sie sind je nachdem die Ausführung von Plänen, Absichten, Ideen. Selbstverständlich können Ideen auf sehr verschiedenem Fundament beruhen, in sehr niedrigen Antrieben oder sehr hohen, dem Eigeninteresse fernliegenden Beweggründen wurzeln, eingebildete oder wirkliche Beziehungen zur Grundlage haben – was vom Kopf aus unser Verhalten bestimmt, ist immer eine Idee oder eine Ideenreihe. „Nicht darin liegt die Inconsequenz (des alten Materialismus), dass ideelle Triebkräfte anerkannt werden, sondern darin, dass von diesen nicht weiter zurückgegangen wird auf ihre bewegenden Ursachen.“ So Friedrich Engels in seiner Arbeit über Ludwig Feuerbach. An einer anderen Stelle desselben Aufsatzes geht Engels noch weiter:

„Die Einwirkungen der Aussenwelt auf den Menschen“, schreibt er, „drücken sich in seinem Kopfe aus, spiegeln sich darin ab als Gefühle, Gedanken, Triebe, Willensmeinungen, kurz, als ‚ideale Strömungen‘, und werden in dieser Gestalt zu ‚idealen Mächten‘. Wenn nun der Umstand, dass dieser Mensch überhaupt ‚idealen Strömungen folgt‘ und ‚idealen Mächten‘ einen Einfluss auf sich zugesteht – wenn dies ihn zum Idealisten macht, so ist jeder einigermassen normal entwickelte Mensch Idealist, und wie kann es da überhaupt noch Materialisten geben?“ [5]

Es ist hier nicht der Ort, auf die Schlussfrage näher einzugehen. Halten wir uns vielmehr lediglich an die Thatsache, dass es dort als etwas durchaus Normales bezeichnet wird, „idealen Mächten“ einen Einfluss auf sein Handeln zuzugestehen. Das Kriterium, worauf es für die Unterscheidung des zulässigen vom unzulässigen Einfluss der idealen Strömungen ankommt, liegt weiter zurück, bei diesen idealen Strömungen selbst.

Welches sind die „idealen Mächte“, die der historische Materialismus als berechtigte Triebkräfte der socialistischen Bewegung anerkennt?

Zunächst offenbar das Interesse. Auf den ersten Blick zwar möchte es als eine Spielerei mit Begriffen erscheinen, wenn das Interesse als idealer Factor hingestellt wird. Aber erstens muss das Interesse, um als Antrieb zur Teilnahme an einer Bewegung zu wirken, ein erkanntes sein, das Individuum muss eine „Idee“ von seinem Interesse haben, um sich zu einer ihm entsprechenden Handlung zu entschliessen, und zweitens handelt es sich auch schon um ein vermitteltes, nicht schlechtweg an das Ich der Person geknüpftes Interesse. Es ist ein Interesse, das sogar über das der Berufsgruppe hinausgeht, es ist ein Interesse der Classe, und seine Wahrung erfordert in verschiedener Hinsicht ein mindestens zeitweiliges Opfern persönlichen Vorteils. [6] So ist das Interesse, dass der marxistische Socialismus voraussetzt, schon von vornherein mit einem socialen oder ethischen Element vergehen und insoweit nicht nur ein intelligentes, sondern auch ein moralisches Interesse, so dass ihm auch Idealität im moralischen Sinne innewohnt.

Die zweite „ideale Macht“, auf die der Socialismus angewiesen ist, ist im Vorhergehenden schon berührt; es ist die Erkenntnis. Dass und wie diese „idealer“ Natur, liegt auf der Hand, aber es handelt sich wieder nicht nur um das blosse allgemeine Erkenntnis vermögen, sondern um eine ganz bestimmte Erkenntnis, die Aufnahme bestimmter „Ideen“ über Staat, Gesellschaft, Ökonomie, Geschichte. Wir sprechen in diesem Sinne von „proletarischen“ Ideen, und hier und da wird in unserer Litteratur die Sache so hingestellt, als seien diese Ideen nicht blos von einem grossen Teil der Arbeiterschaft der Culturländer acceptiert, sondern als seien sie überhaupt das ureigene Product der Intelligenz der modernen Arbeiterschaft. Das ist aber bestenfalls eine Metapher, eine ideologische Umstellung des thatsächlichen Vorgangs. Von Babeuf bis auf Marx und Lassalle zeigt die Geschichte der Theorie des Socialismus nur zwei Männer von grösserer schöpferischer Begabung, die der Arbeiterclasse angehören: Proudhon und Weitling. Der erstere ist im Communistischen Manifest den „Bourgeoissocialisten“ eingereiht, der zweite heute nur noch eine historische Curiosität. Saint-Simon, Fourier, Owen, die Engels als die socialistischen Vorgänger der von ihm und Marx ausgearbeiteten Theorie nennt, waren so wenig aus der Arbeiterclasse hervorgegangen, wie Marx und Engels selbst. So nebensächlich dies an sich ist, so muss es doch schon deshalb betont werden, weil die obige metaphorische Bezeichnung meist zusammenfällt mit einer sehr zum Missverständnis herausfordernden Anwendung des Wortes Wissenschaft in Verbindung mit dem modernen Socialismus. Es wird von „wissenschaftlichem Socialismus“ in einer Weise gesprochen, als sei die hierbei m Frage kommende Wissenschaft etwas schon völlig Abgeschlossenes, Fertiges. Thatsächlich aber enthält der Ausdruck neben oder mit der Qualificierung ein Postulat. Jede Wissenschaft ist als solche notwendig „agnostisch“ soweit sie es nicht, wie etwa bestimmte Unterabteilungen der Philologie, mit einem bestimmt abgegrenzten Stoffe zu thun hat, kann sie ihre Resultate nie als endgiltig betrachten. So stellt denn auch Engels in seiner Schrift: Die Entwicklung des Socialismus etc. am Schlüsse des zweiten Abschnitts den Socialismus hin als „eine Wissenschaft, die es sich nun zunächst darum handelt, in allen ihren Einzelheiten und Zusammenhängen weiter auszuarbeiten“.

Es wird das oft übersehen. Und dann wird weiter übersehen, dass jede Wissenschaft als solche einen hohen Grad von geistiger Unbefangenheit erfordert. Ich sage ausdrücklich einen hohen Grad, weil völlige Unbefangenheit ein Ding der Unmöglichkeit ist und die Socialwissenschaften am allerwenigsten mit Verzicht auf jede Gesinnung betrieben werden können. Aber sie erfordern die von vorgefasstem Urteil freie Prüfung der Thatsachen, wie dies Marx im Vorwort seiner Kritik der politischen Ökonomie mit der Bemerkung hervorhebt, bei dem Eingang in die Wissenschaft müsse die Forderung gestellt werden:

„Qui si convien lasciar ogni sospetto
Ogni viltá convien che qui sia morta.“ [7]

Sind aber nun wenigstens die „proletarischen Ideen“ selbst, d.h. die socialistische Auffassung von Staat, Gesellschaft, Ökonomie, Geschichte von Ideologie frei? Durchaus nicht. In ihrer Richtung realistisch, d.h. in erster Linie den materiellen Factoren der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften zugewandt, sind sie doch dabei Gedankenreflexe, auf gedankliche Zusammenfassungen ermittelter Thatsachen aufgebaute Folgerungen und damit notgedrungen ideologisch gefärbt. Wenn die Debatten über den historischen Materialismus eines klargestellt haben, so die Thatsache, dass, wie Kautsky dies in seinen Artikeln: Was will und kann die materialistische Geschichtsauffassung leisten? festgestellt hat, die Compliciertheit der Erscheinungen, die es zu erklären gilt, es dem einzelnen geradezu unmöglich macht, alle ihre Seiten zu erkennen. Kein Mensch ist imstande, ein vollständig genaues Bild der Aussenwelt zu concipieren. So kann auch keine Gesellschaftstheorie allen Einzelheiten des socialen Lebens Rechnung tragen; bei allen Zusammenfassungen bleibt notwendigerweise ein Rest unberücksichtigt. Man untersucht, welche Factoren in letzter Instanz das Gesellschaftsleben bestimmen, ohne sich zu verheimlichen, dass in den Falten dieses „in letzter Instanz“ noch sehr viele Modificationen stecken können. Allerdings wird es mit dem „in letzter Instanz“ manchmal gar zu leicht genommen.

Gehen wir indes weiter. Die Marxsche Theorie erblickt m Arbeiter der modernen Industrie den eigentlichen, den poentiellen Träger des Socialismus. Seine wirtschaftliche Lage, eine Stellung in der Fabrik, wo die Maschine die Unterschiede des alten Handwerks aufhebt und die Arbeiten mehr und mehr nivelliere, erzeuge sozusagen mit Notwendigkeit in ihm diejenige Besinnung und Bestrebungen, deren Zusammenfassung der Socialismus ist. Im weiten, allgemeingeschichtlichen Sinne ist das auch unbestritten richtig. Zeichen dafür, Tendenzen in diesem Sinne lassen sich überall verfolgen. Und doch, wie sehr differiert die Wirklichkeit von dem Bilde, das sie nach dieser Folgerung zeigen sollte. In fast allen Ländern sind es nicht die Arbeiter der vorgeschrittensten, sondern die der relativ zurückgebliebenen oder Neben- und Zwischenindustrieen, die lange Zeit den festen Stamm, das active Element der socialistischen Bewegung bilden. Cigarrenarbeiter, Tischler, Schuhmacher, Schneider, Kleinmeister und Hausarbeiter der Textilindustrie, Buchbinder etc. bildeten Jahrzehnte hindurch in Deutschland den Grundstock der socialdemokratischen Bewegung. Man machte abwechselnd den geistigen Tiefstand und die gedrückte Lage der Fabrikarbeiter dafür verantwortlich. Aber im heutigen England ist der Fabrikarbeiter politisch in keiner Weise abhängig und materiell durchaus nicht schlechter gestellt wie die Arbeiter der kleinen und mittleren Industrieen, und doch sind es auch hier diese, die fast durchgängig die Kerntruppe des Socialismus stellen. Es wirken eben noch andere Umstände, die sich nicht auf den ersten Blick zeigen, „unwägbare Einflüsse“, wie man es nennt, auf die geistigen Dispositionen der Arbeiter ein. So ist die „Nivellierung“ keineswegs in dem Maasse in der modernen Fabrik eingetreten, wie ursprünglich vorausgesehen wurde. Im Gegenteil, gerade in den vorgeschrittensten Fabrikindustrieen findet man häufig eine ganze Hierarchie differenzierter Arbeiter und demgemäss auch ein nur massiges Solidaritätsgefühl zwischen den verschiedenen Gruppen derselben.
 

II.

Das Dasein des Arbeiters spielt sich jedoch nicht bloss in der Fabrik oder dem Werkplatz ab, und je weniger dies der Fall, um so grösser der Einfluss seiner Lebensverhältnisse ausserhalb der Fabrik auf seine Denkweise. In diesem Sinne ist es nicht zu viel gesagt und auch durchaus im Einklang mit dem Grundgedanken des historischen Materialismus, dass der kürzere Arbeitstag Englands in Verbindung mit der Vervollkommnung des in diesem Lande so verbreiteten Systems der Cottagewohnungen dem collectivistischen Empfinden stark entgegenwirken. Unterhaltungen mit englischen Arbeitern haben mir viele Beispiele dafür geliefert. Einer der vielen „unwägbaren“, aber darum nicht unwirksamen Umstände, die auf das Parteiwesen und die sociale Denkweise der britischen Arbeiter zurückwirken, ist die ausserordentliche Verbreitung und Demokratisierung des Sports in England. Anderwärts sind es im wesentlichen abgegrenzte Bevölkerungsclassen, die am Rennsport Anteil nehmen, in England hat er in allen Classen der Bevölkerung ein grosses Publicum. Indes, das Halten von Rennpferden ist ein Privilegium des Besitzes, und abgesehen von den Elementen, die kraft ihres Berufs oder sonst geschäftlich am Rennsport interessiert sind, ist es in der Mehrheit der Fälle die Lust am Wetten, d.h. am Glücksspiel, welche das Interesse für den Rennsport wach erhält, und so möchte es als ein Missbrauch erscheinen, das Wort Demokratie mit ihm in Verbindung zu bringen. Aber auf den Cricket und in noch höherem Grade auf den Fussballsport kann es ohne Bedenken angewendet werden. Diese tragen einen durchaus nationalen und demokratischen Charakter und lassen in ihren Äusserungen Partei- und Classengegensätze vielfach in den Hintergrund treten. Zu den grossen jährlichen Wettspielen, die mit ihnen verbunden sind, finden sich ganze Völkerwanderungen von Angehörigen aller Classen zusammen, und nirgends ist die Beteiligung vielleicht eine allgemeinere, als gerade in den industriellen Mittelgrafschaften Englands, deren Wettspiele, eben in Hinblick auf die Allgemeinbeteiligung, schon wiederholt mit den olympischen Spielen verglichen wurden. [8] Selbst der noch stark aristokratische Charakter der alten Landesuniversitäten Oxford und Cambridge hindert in keiner Weise, dass alljährlich im Frühling halb England den Berichten über die täglichen Übungen der für das Bootrennen der beiden Univeisitäten ausgewählten Studenten mit Interesse folgt und seht begierig ist zu erfahren, ob Hellblau oder Dunkelblau gesiegt hat. Wie viel deutsche Arbeiter würden ch für ein Wettrudern, sage zwischen elf Leipziger und elf Berliner Studenten, interessieren? Ausser am Orte selbst höchtens nur diejenigen, die selbst dem Rudersport obliegen. In England fällt diese Einschränkung hinweg. Und dieses gemeinsame Interesse am Sport, von dem eine weit ausgebreitete Sportpresse Zeugnis ablegt, nimmt den Gegensätzen auf anderen Gebieten vielfach ihre Schärfe.

Wie der ausgebildete Sinn des Engländers für den Sport eine geschichtlich von Generation auf Generation übertragene Eigenschaft ist, so giebt es noch eine ganze Reihe geschichtlicher Einflüsse, die den Einfluss der Productionsverhältnisse auf das Denken und Handeln des Arbeiters abtönen oder, wenn man will, „fälschen“. Hierher gehören u.a. die Geschichte der politischen Entwicklung des betreffenden Landes, die Natur und Geschichte seiner Parteien und in hohem Grade auch die Natur und Geschichte seiner Religionsgemeinschaften.

Der wirkliche Arbeiter braucht daher stets eine gewisse Zeit und Abstractionskraft, bis er sich völlig in die Denkweise desjenigen Proletariers hineinlebt, den die Theorie unterstellt, da bei dieser von all jenen localen oder nationalen Besonderheiten und historischen Einflüssen abstrahiert wird, deren Rückwirkung er ausgesetzt ist. Er nimmt sie leichter an wie die Angehörigen anderer Gesellschaftsclassen, weil sie eben seiner Classenlage entspricht, aber sie ist nicht schlechtweg das Product seiner Lebensumstände, sondern sie ist aus der Zusammenfassung derjenigen ihrer Eigentümlichkeiten, und nur derjenigen Eigentümlichkeiten, abgeleitet, die den Arbeitern der verschiedenen modernen Culturländer gemeinsam sind. Die unter ihrer Zugrundelegung gefolgerten Ideen von Staat, Gesellschaft, den Parteien etc. sind daher notwendig noch vielfach von den Ideen unterschieden, die sich der von der Theorie unbeeinflusste Arbeiter von diesen Dingen macht. Was wir „proletarische Auffassung“ nennen, ist so für den Proletarier selbst zunächst – Ideologie.

Um ein concretes Beispiel zu wählen. Dass der um Lohn arbeitende Arbeiter vom Unternehmer ausgebeutet wird, erscheint uns heute als die natürliche proletarische Auffassung. Es bedurfte aber thatsächlich einer ziemlich langen Entwicklung, bis den Arbeitern selbst die Sache in diesem Lichte erschien. Ursprünglich kommt sich der Industriearbeiter nur dann ausgebeutet vor, wenn für den gewöhnlichen Lohn eine aussergewöhnliche Leistung von ihm verlangt oder ihm die durchschnittliche Arbeitsleistung aussergewöhnlich schlecht bezahlt wird. Wenn er genügend Lohn erhält, um den überlieferten Lebensansprüchen seiner Classe gemäss anständig leben zu können, lässt es ihn ziemlich indifferent, in welchem Verhältnis dieser Lohn zum Preise des Products seiner Arbeit steht, ist ihm der wachsende Reichtum seines Arbeitsherrn ganz legitim. [9] Sein Rechtsgefühl findet nichts daran auszusetzen, selbst wenn ihm die ungleiche Verteilung der Güter als unbillig erscheint. Der allgemeine Gegensatz zwischen Reich und Arm wirkt stärker auf sein Empfinden, wie der specielle zwischen Lohnherr und Lohnarbeiter.

Und dies führt uns auf den dritten ideologischen Factor, der für den Socialismus in Betracht kommt, nämlich das moralische Bewusstsein oder die Rechtsauffassung. Damit sind wir am eigentlichen Streitpunct angelangt, denn die Bedeutung des Interesses als treibender Kraft und der Erkenntnis als führender Macht werden principiell von niemand geleugnet, während über die Bedeutung des moralischen Bewusstseins im Kampfe der Socialdemokratie die Litteratur des modernen Socialismus sehr widersprechende Sätze aufweist.

So verhalten sich das Communistische Manifest und die in die Zeit seiner Abfassung fallenden Schriften von Marx und Engels zu dieser Frage anscheinend durchaus negativ, man könnte fast sagen, negativ wie Stirner, nur dass an die Stelle von dessen „Ich“ die „Classe oder Partei der Proletarier“ tritt. Ohne der Logik besondere Gewalt anzuthun, könnte man aus verschiedenen Stellen des Manifests, des Elends der Philosophie etc. ähnliche praktische Folgerungen ableiten, wie Bakunin später gezogen hat. Aber auch in den späteren Schriften von Marx und Engels wird jede directe Anrufung moralischer Motive geradezu vermieden. Professor Werner Sombart hat daraufhin als das unterscheidende Merkmal des marxistischen Socialismus dessen „antiethische Tendenz“ bezeichnet – ein unseres Erachtens nicht sehr glücklich gewählter Ausdruck (denn das Wort antiethisch erweckt zunächst die Vorstellung, als solle mit aller Ethik aufgeräumt werden), der aber in der Bedeutung, wie Sombart ihn gebraucht, d.h. als Bezeichung für den Gegensatz gegen die Ableitung des Socialismus aus ethischen Principien, sachlich durchaus zutrifft. In der Marxschen Theorie wird nirgends auf die Ethik (als grundlegende Kraft) zurückgegriffen.

Im Gegenteil. Wiederholt wird die Ethik geflissentlich nur zu dem Zwecke herangezogen, um ihre Unzulänglichkeit nachzuweisen. Im Capital wird der Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft, wo der Arbeiter „seine Haut zu Markte trägt“, als ein Act bezeichnet, bei dem „Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham [10] herrschen“, und vom Umstand, dass dabei die Arbeitskraft mehr producieren kann, als ihre Erhaltung (den Käufer) kostet, gesagt, dies sei „ein besonderem Glück für den Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer“. [11] Im Briefe über den Gothaer Programmentwurf erklärt Marx, gegenüber der Forderung „gerechte Verteilung des Arbeitsertrages“, von der heutigen Verteilung des Arbeitsertrags: „Ist sie nicht die einzige ‚gerechte‘ Verteilung auf Grundlage der heutigen Productionsweise?“ Und Engels erklärt im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Elends der Philosophie die Ableitung der communistischen Forderungen aus der Thatsache, dass der Arbeiter im Lohne nicht den Gegenwert der von ihm geleisteten Arbeit erhalte, für ökonomisch formell falsch, weil sie „einfach eine Anwendung der Moral auf die Ökonomie“ sei. Ähnliche und noch schärfere Stellen sind im Anti-Dühring und in den Abhandlungen über die Wohnungsfrage zu finden.

Mit dieser abweisenden Haltung der Theorie steht nun die Praxis des Marxismus in anscheinlich unversöhnlichem Widerspruch. Niemand wird bestreiten können, dass das Capital überreich an Wendungen ist, denen ein moralisches Urteil zu Grunde liegt. Schon die Bezeichnung des Lohnverhältnisses als eines Ausbeutungsverhältnisses unterstellt ein solches, da der Begriff der Ausbeutung, wo es sich um Charakterisierung der Beziehungen von Mensch zu Mensch handelt, stets den Makel unberechtigter Aneignung, der Übervorteilung, einschliesst. In anerkannten Popularisierungen aber wird der Mehrwert kurzerhand als Prellerei, Diebstahl oder auch Raub gebrandmarkt. Der capitalistische Unternehmer erscheint, selbst wenn er ein anständiger („fair“) Arbeitsherr ist, als der Anneigner von Mehrvert, der ihm nicht gebührt, der Arbeiter, auch wenn er zu den bestbezahlten Schichten seiner Classe gehört, als um einen Teil des ihm zukommenden gekürzt. Gelegentlich wird dann wohl hinzugefügt, dass der erstere nicht persönlich für diese Aneigung zu tadeln sei, sondern nur thue, wozu er nach Lage der Verhältnisse, die er nicht geschaffen, berechtigt sei, aber gerade in dieser Entschuldigung liegt der Gedanke eingeschlossen, dass die Aneignung von Mehrwert im Grunde ein Unrecht sei. Die ökonomische Objectivität der Mehrwertslehre besteht denn auch nur für die abstracte Untersuchung. Sobald es zu ihrer Anwendung kommt, stellt sie sich vielmehr sofort als ein ethisches Problem dar, wie denn die Masse sie auch immer wieder moralisch auffasst. [12] Im Hinblick auf diesen Punct bemerkt nun Engels im Anschluss an den vorher citierten Satz aus dem Vorwort zum Elend der Philosophie:

„Erklärt das sittliche Bewusstsein der Masse eine ökonomische Thatsache, wie seinerzeit die Sclaverei oder die Frohnarbeit, für Unrecht, so ist das ein Beweis, dass die Thatsache selbst sich schon überlebt hat, dass andere ökonomische Tatsachen eingetreten sind, kraft deren jene unhaltbar und unerträglich geworden sind“. [13]

Der Satz gesteht dem moralischen Urteil der Masse, eine Beweiskraft hinsichtlich der geschichtlichen Berechtigung ökonomischer Thatsachen zu, mit der sich viele Vertreter idealistischer Theorien schon zufrieden erklären dürften, indess wird ihm doch nur erst die Function eines Gradmessers ohne eigene Triebkraft zugesprochen. [14]

Sehen wir aber näher zu und legen wir uns die Frage vor, warum heute eine so grosse Anzahl von Menschen die ökonomische Thatsache der Aneignung des Mehrwerts durch den Capitalisten für unrecht erklären, so stossen wir auf weiteres Zugeständnis an den Idealismus oder die Ideologie.

Von vornherein kommt den Massen die Thatsache des Mehrwerts nicht zum Bewusstsein, sie wird ihnen vielmehr durch den Mechanismus der capitalistischen Wirtschaft verschleiert. Wenn socialistische Schriftsteller der Manufacturperiode oder noch früherer Epochen Sätze aufstellen konnten, die zur Mehrwertslehre hinleiten, so wegen der Einfachheit und Durchsichtigkeit des Wirtschaftsgetriebes ihrer Zeit. In der Neuzeit sind es zunächst die Theoretiker der bürgerlichen Ökonomie, die mit den Untersuchungen über die Bestimmung des Wertes der Waren auch zum Werte der „Ware“ Arbeit kommen und damit der Auffassung Bahn brechen, dass der Lohn des Arbeiters etwas vom Werte der Arbeitsleistung verschiedenes, stets geringer als dieser ist. Die Thatsache der Mehrarbeit war dagegen dem Arbeiter immer bekannt gewesen. Hatte er sich nicht principiell gegen sie aufgelehnt, so doch oft genug practisch und bedingt, d.h. er rebellierte nicht gegen die Thatsache, sondern nur gegen den Grad der Mehrarbeit. In der Thatsache der Mehrarbeit liegt an sich noch kein Anreiz, eine Änderung der Productionsweise zu erstreben. Anders mit dem Mehrwert. Erfährt der Arbeiter, dass er im Lohne unter keinen Umständen den Wert seiner Arbeitsleistung erhält, so wird damit direct sein natürliches Gerechtigkeitsgefühl herausgefordert, denn im Wertbegriff liegt ein moralisches Element eingeschlossen, eine Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellung. Hier liegt die nächste Erklärung für die Auflehnung der Gemüter gegen die Mehrwertsaneignung. Diese Auflehnung kann sicherlich zugleich der Ausdruck oder das Product der Überlebtheit des Systems der Lohnarbeit sein, aber sie braucht es nicht zu sein. Dass das System überlebt sei, war vor sechzig Jahren eine blosse Annahme oder, wenn man will, Vorwegnahme, und doch war unter den englischen Arbeitern das Verlangen nach seiner Beseitigung sehr stark. Im sittlichen Bewusstsein der Massen liegt je nachdem mehr und weniger wie ein Symptom wirtschaftlicher Entwicklung. Die sittlichen Begriffe sind dauernder als diese Entwicklung und bis zu einem gewissen Grade – eben weil sie conservativer sind – auch unabhängig von ihr. Stärker als Marx und Engels dies zugeben, gilt dies u.A. vom Begriff des Gerechten. [15]

Die Gerechtigkeit ist denn auch heute noch ein sehr starkes Motiv in der socialistischen Bewegung, wie ja überhaupt keine andauernde Massenaction ohne moralischen Antrieb stattfindet. Es ist eine oft festgestellte Thatsache, dass die thätigsten Elemente in der socialistischen Bewegung sich überall aus denjenigen Schichten der Arbeitschaft und anderer Bevölkerungsclassen recrutieren, die um eine landläufige Wendung zu gebrauchen, „am wenigsten nötig haben,“ Leute, die nach der bekannten Rechnung bei einer gleichmässigen Verteilung des gegebenen gesellschaftlichen Einkommens zunächst noch verlieren würden. Was sie zum Socialismus zieht, ist das Streben nach einer zweckmässigeren und gerechteren Gesellschaftsordnung, und wenn man genauer untersucht, wird man in neun von zehn Fällen finden, dass die gerechtere Gesellschaftsordnung da in erster Linie steht. Man braucht diesen Antrieb gar nicht zu idealisieren, auch der Neid ist oft eine Quelle des Verlangens nach Gerechtigkeit, aber ob er in hohen oder niedrigen Beweggründen wurzelt, bleibt er doch immer ein ideologischer Factor.

Hält man sich freilich an das nackte Programm: Eroberung der politischen Gewalt durch das als Classe organisierte Proletariat, Enteignung der Capitalisten, Vergesellschaftung der Productionsmittel und der Production, so könnte man meinen, dass damit jede Ideologie verabschiedet sei. Das sind ja alles sehr concrete, reale Dinge. Aber die Praxis zeigt, dass, wie realistisch man sich die Sache auch denkt, sie doch darum nicht ohne ihre gute Dosis Ideologie ist.

Schon wenn wir das „als Classe organisierte Proletariat“ nehmen – wie viel Ideologie ist erfordert, bis die Arbeiter sich als Proletariat fühlen! Wie viele Arbeiter sind heute noch, und zwar nicht aus Unwissenheit, weit davon entfernt, dies zu thun. Gerade in den vorgeschrittensten Ländern ist ihre Zahl ausserordentlich gross. Es ist überhaupt nicht so einfach, den Begriff Proletariat genau zu begrenzen. Die Kategorie der um Lohn Arbeitenden weist ausserordentliche Verschiedenheiten in Bezug auf Einkommens- und Lebensverhältnisse auf. Wohl kann man für die Arbeiter aller Grade gewisse gemeinsame Forderungen und Interessen ableiten, aber damit erreicht man noch nicht, dass sich der Drang nach ihrer Vertretung in gleicher Intensität und Wucht äussert. Das Proletariat als die Gesamtheit der Lohnarbeiter ist eine Realität, das Proletariat als in gemeinsamer Auffassung agierende Classe ist selbst in Deutschland noch in hohem Grade ein Gedankenbild.

Von diesem Proletariat nun vorzugsweise soll die Vergesellschaftung der Productionsmittel durchgeführt werden. Wer sich die Sache nicht so naiv vorstellt, wie das französische Lied sie ausdrückt:

„Arbeiter, nimm die Maschine,
Nimm den Boden, Ackersmann –“

der wird sich wohl selbst sagen, dass diese Vergesellschaftung notwendigerweise ein längerer Process sein muss, weil die in Frage kommenden Industrien in sehr verschiedenem Grade zur Vergesellschaftung reif und geeignet sind. Unterstellt man, dass sozusagen mit einem Schlage alle Capitalisten expropiiert werden, so unterstellt man damit, dass im gleichen Moment alle Arbeiter aufhören, Proletarier im Sinne der Theorie zu sein, und der Gefahr ausgesetzt sind, jene moralischen Antriebe einzubüssen, die der specifische Gegensatz gegen den Capitalismus in ihnen zeitigt. Das würde das Problem der Vergesellschaftung der Production, statt es zu vereinfachen, unendlich erschweren. Aber die Praxis wird es einfach nicht dahin kommen lassen. Dafür sorgt u.a. der Kampf, wie ihn die Socialdemokratie heute führt.

Die Geschichte der Menschheit spielt sich längst nicht mehr in der einfachen Weise ab, dass alle Tendenzen der Entwicklung praktisch bis auf die äusserste Spitze getrieben werden. Es sei dies an einem Beispiel illustriert: die Frage der gewerblichen Kinderarbeit.

Vor zwei Generationen gab es so gut wie gar keine Einschränkung der Kinderarbeit. Die Zahl der in Fabriken beschäftigten Kinder wuchs reissend schnell: es schien, da die gewerbliche Arbeit der Frauen nicht minder schnell zunahm, als solle überall in der Arbeiterwelt die ganze Familie für die Fabrikarbeit reclamiert werden. Schritt diese Entwicklung im wesentlichen ungehindert fort, so musste die notwendige Folge die volle Auflösung der alten, und die Ausbildung einer neuen Form der Familie, bezw. des Zusammenlebens der Geschlechter sein. So folgerte Marx nach dem Beispiel von Robert Owen. Noch im Briefe über den Gothaer Programmentwurf erklärte sich Marx gegen die Forderung des allgemeinen Verbots der gewerblichen Kinderarbeit unter Hinweis auf die revolutionäre Bedeutung der frühzeitigen Heranziehung der Kinder zur Production. In Übereinstimmung mit bürgerlichen Philanthropen, Erziehungsfreunden etc. haben indes die socialistischen Parteien ihrerseits unablässig die Heraufsetzung der Altersgrenze für die gewerbliche Beschäftigung der Kinder betrieben und in den meisten Ländern es auch durchgesetzt, dass für Kinder unter dreizehn bis vierzehn Jahren die Fabrik geschlossen ist, und das Bestreben geht heute dahin, die Grenze bis auf das vollendete fünfzehnte oder sechzehnte Jahr heraufzusetzen. Es ist nun klar, dass damit das Kind von neuem für die Familie im alten Sinne und damit bis auf weiteres auch diese selbst gerettet wird. [16] Die Verkürzung der Arbeitszeit, für die die Arbeiter allerorts innerhalb und ausserhalb der Parlamente thätig sind, wirkt zunächst auch in dieser Richtung. Kurz, während die „natürliche“ Tendenz des Capitalismus auf die Revolutionierung der Familie hinausläuft, kämpfen selbst die revolutionären Arbeiterparteien, durch die Bedürfnisse des Tages getrieben, für Massnahmen, die jener Revolution entgegenwirken. Welches daher auch die zukünftige Gestaltung der Dinge in dieser Hinsicht sein mag – und andere Factoren wirken ja trotzdem auf Schwächung des alten Familienlebens hin – jedenfalls findet nicht diejenige Zuspitzung der Verhältnisse statt, welche die Theorie seinerzeit vorausgesehen hatte und voraussetzen durfte.

Es ist das nur ein Beispiel, aber man braucht bloss den Thatsachen des socialen Lebens mit offenem Auge ins Gesicht zu sehen, um noch auf viele Erscheinungen zu stossen, die in ähnlicher Weise den Voraussetzungen der Theorie entgegenarbeiten, ohne dass deshalb die Grundgedanken der Theorie sich als falsch erwiesen. Die Theorie kann nicht alles voraussehen, sie kann nur Tendenzen feststellen. Die Praxis aber erlaubt nie, dass sich Tendenzen in ihrer vollen Reinheit bis zum letzten i-Punct durchsetzen. Sie wird es daher auch schwerlich auf die allgemeine Expropriation ankommen lassen. Gerade in der modernen Gesellschaft, mit ihrem äusserst entwickelten demokratischen und demokratisierenden Verkehrsleben ist eine solche Entwicklung der Dinge unwahrscheinlich. Entweder treiben es die Herrschenden durch hartnäckigen Widerstand gegen zeitgemässe Forderungen selbst zu Catastrophen, und dann treten diese zu früh ein, um sehr viel mehr als politische Änderungen zu bewirken, oder sie verstehen es, jedesmal zur rechten Zeit nachzugeben, und dann sorgt die Entwicklung der Dinge selbst gegen plötzliche allgemeine Umwälzungen.

Alle Theorie zukünftiger Entwicklung, und sei sie noch so materalistisch, ist nach alledem notwendiger Weise ideologisch gefärbt. Ja, gerade wenn sie sich ausschliesslich an greifbar ökonomische Erscheinungen hält, ist sie es, denn die geistigen Strömungen, moralische Anschauungen u.s.w. sind durchaus reale Dinge, wenn sie auch nur in den Köpfen der Menschen existieren. Der marxistische Socialismus unterscheidet sich nicht dadurch von anderen socialistischen Theorien, dass er völlig frei von jeder Ideologie wäre. Das ist keiner auf die Zukunft gerichteten Lehre gegeben. Ohne Ideologie hört überhaupt jede weitblickende Reformthätigkeit auf. Der Marxismus hat das Fundament der socialistischen Theorie der Ableitung aus vorgefassten Ideen und damit der willkürlichen Construction entzogen und es auf den soliden Boden einer realistischen Geschichtsbetrachtung gestellt, die in ihren Hauptzügen unwiderlegt geblieben ist. Dass ihre Begründer in allen Einzelheiten die einzig zulässigen Consequenzen aus ihr gezogen, dass die von ihnen gezogenen Folgerungen für alle Zeit unbeschränkte Geltung haben würden, haben sie nie behauptet. Es war nur natürlich, dass sie u.a. in ihrem Kampfe gegen die damals landläufige masslose Überschätzung der moralischen Anschauungen zur Unterschätzung derselben gedrängt wurden. Thatsächlich ist die Moral eine zwar nicht unter allen Umständen, aber doch häufig, zwar nicht unbegrenzt, aber doch in weiter Sphäre schöpferischer Wirkung fähige Potenz, und es lässt sich an unzähligen Beispielen beweisen, dass schon die Moral der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft durchaus nicht identisch ist mit der Moral des Bourgeois, wie er „im Buche steht“. Wer nicht von einem jähen Sprunge in die vollendete communistische Gesellschaft träumt, wird daher, wie die Durchsetzung wirtschaftlicher Reformen, so auch die Weiterbildung der Moral- und Rechtsanschauungen nicht als eine Sache betrachten, die lediglich der Zukunft anheimfällt.
 



Nachbemerkung

Der vorstehende Aufsatz gab dem russischen Socialisten G. Plechanow Anlass, mir in einem Artikel: Bernstein und der Materialismus [17] grobe Unkenntnis der Philosophie im allgemeinen und der Engelsschen Philosophie im besonderen vorzuwerfen. Alles mit Behauptungen, deren Belanglosigkeit für meine These nur von der bodenlosen Anmasslichkeit übertroffen wird, mit der ihr Urheber sie gegen mich und Conrad Schmidt ausspielte. Auf den eigentlichen Gegenstand meiner Untersuchung ging der erboste Kritiker nicht ein, sein Sturmlauf galt den paar Hinweisen auf die Philosophie, die ich eingeflochten hatte, insbesondere der Bemerkung, dass die Parole: Zurück auf Kant! bis zu einem gewissen Grade auch für die socialistische Theorie ihre Berechtigung habe. Aus Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen würde, überliess ich die Antwort auf die Plechanowschen Ergüsse Conrad Schmidt, der sie denn auch in ebenso würdiger wie schlagender Weise besorgt hat. Meinerseits kann ich nur sagen, dass, wenn es noch eines Beweisobjects bedurft hätte, mich in der vorentwickelten Ansicht zu bestärken, Plechanow es in dem berührten Aufsatz und seinen Fortsetzungen geliefert hat.



Fussnoten

1. 1895, Heft 4 und 7-8.

2. Vergl. mit Bezug auf die ersteren u.a. W. Strecker: Welt und Weisheit, pag.14 und 15, wo zwar anscheinend gegen Kant polemisiert, thatsächlich aber völlig im Sinne Kants geschlossen und bekannt wird: „Wir glauben an das Atom“. Von Naturforschern sei Benj. Vetter, der Zoologe und bekannte langjährige Redacteur des Kosmos genannt. Auf den Seiten 32 und 146 seiner Schrift: Die moderne Weltanschauung und der Mensch giebt er sich rückhaltlos als Kantianer.

„Kraft, Substanz, Raum und Zeit, unendliche Teilbarkeit, Übertragung der Bewegung von einem Körper auf den anderen etc. etc., all das sind ... gewissermassen willkürliche oder durch die Eigenart unseres Empfindens und Denkens uns aufgenötigte Zeichen und Ausdrücke, mit denen wir rechnen und vermittels deren wir uns auch mit Unseresgleichen wenigstens ausgezeichnet zu verstandigen vermögen, ohne jedoch den eigentlichen Ursinn der Zeichen und Ausdrücke erfasst zu haben, ohne ihn jemals erfassen zu können“ (pag.32).

3. Vergl. den Aufsatz von Stern: Der ökonomische und der naturphilosophische Materialismus, Die Neue Zeit, 1896-97, Bd.II, pag.301ff.

4. Anti-Dühring, 3. Aufl., pag.12.

5. Die Neue Zeit, 1886, pag.156.

6. „Bis es dahin kommt, dass die Ackerknechte als Classe mit eigenen Forderungen auftreten und kräftig genug sind, sie durchzusetzen, müssen sie in ihrer übergrossen Mehrheit aufgehört haben, sich als ‚einzelne‘ oder gar ‚Einzige‘, als das ‚alleinige Ich‘ zu fühlen. – Der Ritter von der Einzigkeit oder Eigenheit ... präsentiert sich im gegebenen Moment als ‚der politische oder ökonomische Blackleg‘.“ (Die sociale Doctrin des Anarchismus, Artikel: Stirner, Die Neue Zeit, 1891-92, Bd.I., pag.427–28).

7. Deutsch:

„Jedweder Argwohn sei hier aufgegeben
Und jede Niedrigkeit sei hier begraben.“

Der Socialismus als Wissenschaft hat andere Aufgaben, als die Socialdemokratie als Kampfpartei. Diese, als Wahrerin bestimmter Interessen, darf innerhalb gewisser Grenzen dogmatisch und selbst intolerant sein. Ihre auf die Action bezüglichen Beschlüsse gelten, bis sie selbst sie umstösst oder abändert, als bindend. Ebenso diejenigen Sätze ihres Programms, die den Charakter und die Bestrebungen der Partei feststellen. Aber für ihre wissenschaftlichen Voraussetzungen kann sie selbstverständlich immer nur bedingte Anerkennung beanspruchen, denn die wissenschaftliche Forschung soll darnach trachten, der Partei als Pfadfinder voranzugehen, nicht in ihrem Nachtrab hinterher marschieren. Dies selbstverständlich, ohne für die Personen, die sich speciell mit der Forschung befassen, eine Ausnahmestellung zu beanspruchen. Forscher in dem hier entwickelten Sinne ist jeder, der sich mit der Untersuchung der theoretischen Grundlagen der Bewegung beschäftigt.

8. Neuerdings ist zu dem Cricket- und Fussballsport bekanntlich noch der Fahrradsport getreten und wirkt in ähnlicher Weise wie jene. Über dem Fahrrad, das sich internationale Geltung erobert hat, scheint noch eine besondere socialpolitische Rückwirkung vorbehalten. In welchem Grade es Land und Stadt zusammenbringt, wissen u.a. die socialistischen Agitationsgreischärler zu erzählen. In England, wo die Entvölkerung des flachen Landes sich bisher unaufhaltsam vollzog, fangen jetzt weit und breit auf dem Lande Gastwirtschaften und andere, auf Radfahrer berechnete Geschäfte an, aufzublühen und sich zu vermehren, so dass sich allerhand neue Erwerbsmittel auf dem Lande selbst darbieten. Die voraussichtliche Verallgemeinerung und Verbilligung der selbstfahrenden Fuhrwerke dürfte diese Entwicklung noch fördern.

9. In England, dessen Arbeiterschaft wenig zu abstractem Denken neigt und bei der denn auch die Parole a fair day’s wage for a fair day’s work sehr viel tiefer eingewurzelt ist, wie der Gedanke an das „Recht auf vollen Arbeitsertrag“, ist in den Industriebezirken ein capitalistischer Unternehmer, der als „fair employer“ bekannt ist, noch immer ein bei den Arbeitern zugkräftiger Parlamentscandidat – wie jüngst die Wahl in Barnsley (Yorkshire) gezeigt hat – selbst wenn ihm ein Gewerkschaftsvertreter gegenübersteht.

10. Bentham bedeutet hier die von dem englischen Rechtsphilosophen Bentham verfochtene Auffassung, dass das verständig ausgeübte Selbstinteresse der wirksamste Hebel der allgemeinen Wohlfahrt, des Allgemeininteresses sei. Es ist charakteristisch, dass Bentham mit seiner Philosophie des Egoismus, wie Stuart Mill erzählt, eine aussergewöhnlich starke moralische Feinfühligkeit und das Gemüt eines Kindes verband. Damit stimmt überein, was Robert Owen über seine Zusammenkunft mit Bentham erzählt.

11. Das Capital, I. Bd., 2. Aufl., pag.162 und 182.

12. Letzteres gilt übrigens von der ganzen Arbeitswerttheorie. So wird die an ihr von den Bekennern der Nützlichkeits-(Grenznutzen-)Wertleorie geübte Kritik von vielen ihrer socialistischen Verteidiger völlig moralisch behandelt, d.h. mit einem sonst unmotivierten Aufwand von sittlicher Entrüstung zurückgewiesen. Sie sehen in ihr nur den Versuch, die moralische Fragwürdigkeit des Mehrwerts zu verdunkeln. Umgekehrt wird die Arbeitswerttheorie von vielen Verteidigern der bestehenden Gesellschaftsordnung lediglich wegen der Compromittierung des Mehrwerts bekämpft. Es zeigt sich dies u.a. daraus, dass dieselben meist an der wirklich verwundbaren Stelle der Theorie achtlos vorübergehen, um sich in Betrachtungen über die Functionen von Arbeiter und Capitalist und deren Nützlichkeit zu verlieren.

13. Erste Ausgabe, pag.XI.

14. Sehr wichtig für die Beurteilung der hier behandelten Frage, und zugleich von grösster Bedeutung für die Beurteilung der Marxschen Wertlehre ist der folgende Satz im I. Bande Capital:

Das Geheimnis des Wertausdrucks, die Gleichheit und gleiche Gültigkeit aller Arbeiten, weil und insofern sie menschliche Arbeit überhaupt sind, kann nur entziffert werden, sobald der Begriff der menschlichen Gleichheit bereits die Festigkeit eines Volksvorurteils besitzt (a.a.O., 4. Aufl.; pag. 26.)

[Zusatz] Dies sei aber, führt Marx an der angegebenen Stelle weiter aus, nur erst in einer Gesellschaft möglich, wo die Warenform die allgemeine Form des Arbeitsproducts sei, die Menschen sich als Warenbesitzer gegenüberstehen. Daher denn anch Aristoteles in der auf Sklavenarbeit beruhenden Gesellschaft zwar mit seinem Genie entdecken konnte, dass im Wertverhältniss der Waren ein Gleichheitsverständnis steckt, aber nicht, worin dies Gleichheitsverhältnis bestehe (a.a.O., pag.27). Gegen diese Behauptung spricht u.a. folgender Satz des Aristoteles, den Marx übersieht:

„Sovielmal die Arbeit und Kunst des Baumeisters die Arbeit und Kunst des Schusters übertrifft, so viel Paar Schuhe müssen gegen ein Haus bezahlt werden. Wo dies nicht stattfände, da würde auch kein Tausch und also auch keine gesellschaftliche Verbindung möglich sein.“ (Nikomachische Ethik citiert bei A. von Wenckstern; Marx, pag.148.)

Wir haben hier ein Beispiel dafür, wie leicht es ist, die Abhängigkeit der Ideologie von der jeweiligen Wirtschaftsform zu übertreiben.

15. Gegen den Satz von Marx, dass die heutige Verteilung der Producte die „einzig ‚gerechte‘ Verteilung auf Grundlage der heutigen Productionsweise“ sei, bemerkt Ph. Lotmar in seiner höchst lehrreichen Abhandlung über die Gerechtigkeit, dass Marx da mit „gerecht“ nur „rechtmässig“ oder „rechtlich entsprechend“, nicht vom Standpunct der aristotelischen Auffassung der Gerechtigkeit als verhältnismässiger Gleichheit, den Lotmar acceptiert, könne die Verteilung trotzdem ungerecht sein. Benedetto Croce erklärt in seinem Aufsatz: Auslegung und Kritik einiger Begriffe des Marxismus (Devenir Social, Februar und März 1898), dass, so richtig die vom Marxismus gegebene allgemeine Erklärung der Bedingungen der Entwicklung der Moral sei, die speciellen Ausführungen über die moralischen Probleme in mancher Hinsicht anfechtbar seien. Marx und Engels seien eben, schreibt er, „keine Moralphilosophen gewesen und haben nicht viel von ihrem mächtigen Verstand auf diese Fragen verausgabt ... In der That, so sehr es möglich ist, eine Erkenntnistheorie nach Marx zu schreiben, so sehr würde es nach meinem Dafürhalten ein absolut verzweifeltes Unternehmen sein, über die Principien der Ethik nach Marx zu schreiben“ (Devenir Social, pag.216-47). Man kann dem wohl zustimmen. Marx und Engels haben das moralische Problem immer nur polemisch behandelt, in der Kritik gegnerischer Standpuncte, und so überwiegen bei ihnen hinsichtlich der Moral die negativen Sätze – Auseinandersetzungen dessen, was die Moral nicht ist. Bei dieser rein polemischen Behandlung des Gegenstandes war es unvermeidlich, dass zuweilen über das Ziel hinausgeschossen wurde. Schliesslich hat bei alledem Engels im Anti-Dühring anerkannt, dass uns die bisherige gesellschaftliche Entwicklung einen Fortschritt der Moral gebracht habe – in welchem Satze das Zugeständnis eingeschlossen liegt, dass es für unsere Betrachtung einen von den geschichtlichen Umständen unabhängigen Massstab der Moral giebt – und Marx hat in das Statut der Internationale den Satz aufgenommen, dass die Mitglieder der Internationale gegeneinander und gegenüber ihren Mitmenschen „Wahrheit, Recht und Sitte“ beobachten.

Da ich den Croceschen Aufsatz berührt habe, kann ich nicht umhin, hier noch der trefflichen Ausführungen zu gedenken, in denen Croce, in Übereinstimmung mit Antonio Labriola, gegen den Unfug zu Felde zieht, der mit dem Begriff Wissenschaft in Verbindung mit dem Socialismus getrieben wird. Labriola schlägt, um diesem Unfug zu steuern, vor, statt „wissenschaftlicher Socialismus“ „kritischer Communismus“ zu sagen. Meine Ausführungen über diesen Punct im ersten Teile des vorliegenden Artikels waren schon gedruckt, ehe ich den Schluss des Croceschen Autsatzes erhielt. Sonst würde ich mich auf Wiedergabe seiner betreffenden Ausführungen beschränkt haben.

16. In England bleibt heute in wichtigen Industrien – z.B. der Baumwollindustrie – auch die Frauenarbeit im Verhältnis zur Männerarbeit zurück, d.h. sie vermehrt sich langsamer, als diese, wenn sie sie auch noch absolut übertrifft.

17. Die Neue Zeit, 1897-98, Bd.II., pag.545.


Zuletzt aktualisiert am 29.1.2009