Eduard Bernstein

Die Voraussetzungen des Sozialismus


Vorwort zum zehnten Tausend


Von der vorliegenden Schrift, die zuerst in einer Auflage von fünftausend gedruckt wurde, sind im Laufe der Zeit noch mehrere Neuabzüge nothwendig geworden. Mit dem gegenwärtigen Abzug erreicht die Auflage das zehnte Tausend.

Bei den bisherigen Neudrucken wurde von jeder Textänderung abgesehen, und in der Hauptsache ist der gleiche Grundsatz auch diesmal innegehalten worden. Nur einige wenige Stellen machen die Ausnahme. So hat der Einleitungssatz im Abschnitt b des ersten Kapitels – Seite 4 – eine Fassung erhalten, welche den Unterschied der materialistischen von anderen Welterklärungen genauerbestimmt, als dies in der ursprünglichen Lesart geschah, gegen die begründete Einwände geltend gemacht werden konnten. Auf Seite 62 ist die Tabelle über die Entwicklung der Bodenbetriebe in Holland, die eine falsche Zahl enthielt, und eine auf sie bezügliche Bemerkung richtig gestellt, und auf Seite 185 hat ein, wie seiner Zeit sofort zugegeben, zu schroff gefaßter Satz über die Verkürzung des Arbeitstags eine sachgemäßere Form erhalten. Daneben sind noch an zwei oder drei stellen Veränderungen erfolgt, die blos den dort entwickelten Gedanken eine korrektere Form geben. Von diesen, die grundlegenden Gedanken des Buches unberührt lassenden Aenderungen abgesehen, erhielt es der Leser genau in der gleichen Gestalt, die es von Anfang an getragen.

Wie ich schon anderwärts ausgeführt habe, folge ich mit dem Verzicht auf eine durchgreifendere Revision des Textes einer mir von verschiedenen Seiten gewordenen Anregung. Durch die Debatten, die sich in Zeitschriften, Büchern und Versammlungen an dieses Buch geknüpft haben, habe es einen dokumentarischen Charakter erhalten, den eine Umarbeitung beeinträchtigen würde. Wer dies Buch anschaffe, wünsche das Objekt jener Debatten zu besitzen, und darum sei es angezeigt, es möglichst unverändert zu lassen. So äußerten sich Freunde und Gegner der Schrift, denen ich vom Plan einer Umarbeitung Mittheilung gemacht hatte, und nach einiger Ueberlegung habe ich ihren Vorstellungen Folge gegeben.

Ich konnte dies um so eher, als die geplanten Aenderungen sich nicht auf die in diesem Buch entwickelten Thesen beziehen, an denen ich vielmehr in allen wesentlichen Punkten unverändert festhalte. Aber die Technik und, wenn der Ausdruck erlaubt ist, Architektur des Buches könnten manche Verbesserung vertragen, und während einige Wiederholungen enthaltende Stellen erhebliche Kürzungen zulassen, würde ich dafür gern noch einige Lücken in der Beweisführung ausgefüllt, das Beweismaterial ergänzt und jenen sozialistischen Kritiken des Buches Rechnung getragen haben, denen es in Bezug auf den Sozialismus nicht positiv genug erscheint. Zwar kann ich nicht zugeben, daß es der Schrift an Ausführungen fehlt, die dem Sozialismus positiv das Wort reden, aber es sei meinen Kritikern immerhin soviel eingeräumt, daß sie gegenüber dem kritischen Theil des Buches vielfach zu aphoristisch gehalten sind. Es ist dies eine Folge des Umstandes, daß, als ich das Buch schrieb, es mir lediglich auf eine Auseinandersetzung mit, oder wenn man will, unter Sozialisten ankam, wobei man Dinge, über die man einig ist, theils gar nicht erst heranzieht, theils nur flüchtig streift. Anders natürlich mit einer Schrift, die auf ein weiteres Publikum berechnet ist. Aber als eine solche war das Buch nicht von mir geplant.

In dem Umstand, daß der vom Verfasser selbst bezeichnete Zweck des Buches später außer Augen gelassen wurde, liegt für mich die Erklärung einer ganzen Reihe von irrthümlichen Auslegungen seiner Sätze. So nur ist es zum Beispiel begreiflich, daß, um Eines herauszugreifen, die Nachweise über die Zunahme der Klasse der Besitzenden, beziehungsweise der Kapitalisten, als eine Art Rechtfertigung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung von den Einen begrüßt und von den Andern bekämpft werden konnten. Thatsächlich hat die Frage mit der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit dieser Ordnung gar nichts zu thun. Diejenigen, welche in sozialpolitischen Debatten speziell als die Besitzenden bezeichnet werden, machen einen so geringen Prozentsatz der Gesammtbevölkerung aus, daß die Vermehrung, welche wir vor uns sehen, keiner Weise zu Gunsten der gegenwärtigen Eigenthumsvertheilung spricht. Ich habe darüber in meiner Schrift nicht den mindesten Zweifel gelassen. „Ob das gesellschaftliche Mehrprodukt von zehntausend Personen monopolistisch aufgehäuft oder zwischen einer halben Million Menschen in abgestuften Mengen vertheilt wird, ist für die neun oder zehn Millionen Familienhäupter, die bei diesem Handel zu kurz kommen, prinzipiell gleichgiltig“, heißt es auf Seite 51 ausdrücklich. Und daran anschließend : „Es möchte weniger Mehrarbeit kosten, einige tausend Privilegirte in Ueppigkeit zu erhalten, wie eine halbe Million und mehr in unbilligem Wohlstand.“ Deutlicher kann man es wohl nicht zum Ausdruck bringen, welche geringe Bedeutung dieser Thatsache von mir für die Begründuug des Sozialismus beigelegt wird.

In der That ist der Sozialisnms erst in zweiter Linie ein Vertheilungsproblem. In erster Reihe ist er vielmehr ein Problem der Produktionsordnung und Produktionsentfaltung. Das intime Gegenseitigkeitsverhältniß, das zwischen beiden Problemen besteht, so das eine widersinnige Vertheilung gegebenenfalls ein Hemmniß, eine Umwälzung auf dem Vertheilungsgebiet ein mächtiger Faktor der Produktionsentfaltung werden kann, wird keinen ökonomisch Denkenden über die Thatsache hinwegtäuschen, daß das Problem der höchsten Produktivität, der höchsten Ergiebigkeit der gesellschaftlichen Gesammtarbeit das entscheidende Moment für die sozialistische Fortentwicklung der Gesellschaft bildet. Denn von ilm hängt zuletzt die Erzielung des höchstmöglichen Grades von allgemeinem Wohlstand ab, dieses vernunftgemäße Endziel jeder Gesellschaftsreform, zu dem die jeweiligen Orgauisations- und Vertheilungsordnungeu in untergeordneten Verhältniß stehen. Es ist aber der Beweis unschwer zu erbringen, daß beim heutigen Stand der Produktionsbedingungen eine nennenswerthe Vermehrung der Zahl der Besitzenden eine größere Lahmlegung von Produktivkräften, eine größere Beeinträchtigung des allgemeinen Reichthums und der allgemeinen Wohlfahrt bedeuten kann, als ihre relative Abnahme.

Indeß ist die Thatsache, daß die Zahl der Kapitalisten sich vermehrt, inzwischen auch voll denen zugegeben worden, die sie mir ursprünglich bestritten. Und wie sollte es möglich sein, sie sich zu verhehlen, sobald man nur das betreffende Material näher untersucht. Konnte doch erst jüngst wieder der sozialistische Abgeordnete Hoch im Deutschen Reichstag feststellen (Sitzung vom 20. Januar 1902), daß zwischen 1896 und 1900 sich die Zahl der Personen, die ein Einkommen von über 100,000 Mark jährlich versteuern, in Preußen und Sachsen wie folgt vermehrt hat:

 

 

1896

 

1900

Preußen

2830

3277

Sachsen

  394

  583

Eine Zunahme, die, wie Hoch hinzusetzte, weit über die gleichzeitige Zunahme der Bevölkerung hinausgegangen ist. Zugleich ist das Durchschnittseinkommen dieser Personen in Preußen von 257.000 auf 306.000, in Sachsen von 218.400 auf 236.000 Mark jährlich gestiegen. In entsprechendem Maße haben aber auch die übrigen Klassen oder Schichten der höheren Einkommensgruppen zugenommen. Um an eine in der vorliegenden Schrift gegebene Zahl anzuknüpfen, ‚hat sich in der kurzen Spanne Zeit von 1897-98 bis 1901 die Zahl der Personen im Preußen, die ein Einkommen von über 3.000 Mark versteuerten, von 347.328 auf 436.696 vermehrt, eine Zunahme, die auch dann noch als erheblich zu bezeichnen ist, wenn man die im gleichen Zeitraum eingetretene Erhöhung der Lebensmittelpreise ihr gegenüberstellt.

Aehnlich wie mit den Aufstellungen der Schrift über die Einkommensbewegung verhält es sich mit ihren Darlegungen über die Entwicklung der Größenklassen der Gewerbebetriebe. Irgend etwas zurückzunehmen oder einzuschränken giebt es da ebenfalls nicht. Die Oekonomie der Schrift und die zu ihrer Abfassung gesetzte Zeit verhinderten eine tiefere Durcharbeitung des vorhandenen Materials, so daß der ganze Abschnitt die betreffenden Verhältnisse nur in sehr groben Umrissen zur Anschauung bringt und nur sehr bedingte Folgerungen zuläßt. Mehr beansprucht er aber auch nicht zu geben, und so enthält er einen Satz, der nicht vor der genaueren Prüfung standhielte.

Soweit der Abschnitt die Ergebnisse der deutschen Berufs- und Gewerbezählungen behandelt, ist es interessant, seine Aufstellungen mit den Folgerungen zu vergleichen, zu denen ein Statistiker von Fach, der Prager Professor Heinrich Rauchberg, in seinem jüngst erschienenen Werke Die Berufs- und Gewerbezählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895 [1] gelangt. Rauchberg hat die Ergebnisse seiner sehr sorgfältigen Analyse der deutschen Gewerbezählungen am Schlusse seines Buches in einem besonderen Kapitel Entwicklungstendenzen der deutschen Volkswirthschaft zusammengefaßt, und ihm seien einige Sätze entnommen, die sich auf die gleichen Punkte beziehen, von denen im betreffenden Abschnitt des vorliegenden Buches gehandelt wird. Ueber den Fortbestand von Klein- und Mittelbetrieben neben den an Zahl und Umfang zunehmenden Großbetrieben heißt es:

„Wenn von einer Konzentrationstendenz in der modernen Industrie gesprochen wird, so bedeutet das also nicht etwa Aufsaugung des Kleinbetriebs durch den Großbetrieb. Der Kleinbetrieb hat sich vielmehr als solcher ungeschmälert erhalten; ja er hat sogar einen, wenn auch nur mäßigen Fortschritt erzielt. Aber es bedeutet eine rasche Fortentwicklung in der Richtung zum Großbetrieb durch Erweiterung ehemals kleinerer Betriebe oder durch große Neugründungen: Dadurch werden das Schwergewicht der Produktion und die Mehrzahl der Gewerbethätigen in Betriebe von immer größerem Umfang herübergezogen. Daneben besteht jene Konzentration aber auch in einer engeren Verbindung von formell selbständigen kleinen Betrieben mit den großen, sei es in der Form der Produktionstheilung oder der Absatzorganisation.“ (S.393)

„... Alles in Allem genommen, hat die fortschreitende Entwicklung zum Großbetrieb weder dem handwerksmäßigen Kleinbetrieb noch der Hausindustrie die Daseinsbedingungen verkümmert. Mag auch der fabriksmäßige Großbetrieb technisch höher stehen, in sozialer Hinsicht die besseren Aussichten bieten, er ist doch weit entfernt davon, sich zur Alleinherrschaft aufzuschwingen. Denn die deutsche Volkswirthschaft ist nicht in allen ihren Theilen gleich weit vorgeschritten. Die einzelnen Gebietsabschnitte, Ost und West, Stadt und Land, ja selbst die einzelnen Gewerbezweige gehören oft sehr verschiedenen Entwicklungsstufen an; alle Zwischenglieder der gewerblichen Entfaltung vom primitiven Handwerk. an bis zum modernen Riesenbetrieb finden sich auch heute noch nebeneinander vor. Während der moderne technische und soziale Fortschritt sowohl in der Produktion als auch in der Absatzorganisation die Entstehung und Fortbildung von Großbetrieben begünstigt, sehen wir von der andern Seite her noch immer neue Menschenmassen aus der bisher mehr oder weniger geschlossenen Hauswirthschaft heraus in das Getriebe der Volkswirthschaft übertreten ... Immer von Neuem werden die Voraussetzungen geschaffen für das Entstehen handwerksmäßiger und hausindustrieller Betriebe, die anderwärts, voll einer späteren Entwicklungsstufe aus bereits wieder zu höheren Betriebs-und Organisationsformen sich umzubilden im Begriffe stehen.“ (S.395)

Man vergleiche hiermit die Ausführungen Auf S.59/60 dieser Schrift, und man wird finden, daß die Folgerungen Rauchbergs durchaus mit dem dort Entwickelten übereinstimmen.

Ueber die Ergebnisse der belgischen Gewerbezählung vom Oktober 1896 schreibt der Direktor des „Institut de Sociologie“, Professor E. Waxweiler, in Nr.11 des 19. Jahrgangs der Sozialen Praxis (12. Dezember 1901), nachdem er festgestellt hat, daß Belgien „ein Land der Großindustrie“ ist und es „bei Strafe des Falles“ bleiben muß, es sei „bemerkenswerth, wie die Zahlen der belgischen Statistik die wesentlichen Daten der ... Kritik Bernsteins gegen das Gesetz der marxistischen Konzentration [muß heißen: gegen übertriebene Folgerungen aus dem Gesetz der Konzentration – Ed.B.] bestätigen ... Im Allgemeinen entwickelt sich die Großindustrie neben der kleinen und mittleren; ferner sind in den letzten 50 Jahren zahlreiche neue Industriezweige (nehr als 300) hervorgetreten, von denen eine Zahl der Kleinindustrie verblieben ist.“ Die Widerstandsfähigkeit der Kleinindustrie gehe ‚,auch aus der Thatsache hervor, daß trotz der Entwicklung des Maschinenwesens die Herstellung mit der Hand sich in zahlreichen Industrien aufrecht erhält, wo der mechanische Prozeß für selbstverständlich gehalten wird.“ Ueber einen hiermit verwandten Gegenstand, der auch an der angegebenen Stelle dieser Schrift (S.60) berücksichtigt wird, heißt es bei Rauchberg: „Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß gerade die mächtigsten Maschinen häufig Produktionszwecken dienen, welche ohne diese Maschinen überhaupt nicht verwirklicht werden könnten. In diesem Falle ruft die Maschine erst die Produktion hervor. Sie konkurrirt dann überhaupt nicht mit menschlichen Arbeitskräften.“ (S.400/401, Note)

Bei Untersuchung der Frage nach den Rechtsformen der Unternehmungen betont Rauchberg die starke Zunahme der Kollektivunternehmungen und gemeinwirthschaftlichen Betriebe, welche Ersteren immer mehr voll wirthschaftlichen Gesellschaften und Genossenschaften geeignet werden. „Der Konzentration des Betriebs,“ schreibt er, „steht hier die Theilnahme weiterer Kreise an Besitz und Ertrag gegenüber.“ (S.395) Desgleichen hebt Waxweiler die steigende Verbreitung der Aktengesellschaften hervor. In 70 Industriezweigen Belgiens beschäftigen nach ihm die Aktiengesellschaften mehr als drei Viertel der Arbeiter. Das ist, wie Waxweiler auch betont, ebenso wie das Vorhergehende ein weiterer Beleg zu dem auf S.47 dieser Schrift Dargelegten. Nun ist der Hinweis auf die Dezentralisation des Besitzes durch die Aktiengesellschaften ziemlich alt - er treibt sich seit Dezennien in der Literatur der Vertheidiger der bestehenden Gesellschaftsordnung herum. Sein Alter beweist aber nicht, daß er falsch ist, es können überhaupt nur von ihm abgeleitete Folgerungen in Frage gestellt werden, die Thatsache selbst wird Niemand bestreiten wollen, der als Oekonom ernsthaft genommen sein will. Es sind nun zunächst die Zahlen angezweifelt worden, die ich auf S.48 über die große Zahl der Aktionäre einiger englischen Großunternehmungen gegeben habe, zumal dort die Quellen, aus denen diese Zahlen stammen, nicht genau sind. Um letzterem Mangel abzuhelfen, sei daher bemerkt, daß die Zahlen über die Vertheilung des Aktienkapitals der Firma Spiers & Pond mir von der Firma selbst bereitwillig auf einem Fragebogen, den ich ihr und Anderen zugeschickt, mitgetheilt wurden, und daß die Angaben über die Zahl der Aktionäre des Nähgarntrusts und der Spinnereigesellschaft Coats dem Handelstheil englischer Tageszeitungen entnommen wurden, wo sie seiner Zeit ohne jede Bezugnahme auf sozialpolitische Folgerungen und Tendenzen als Kuriosa mitgetheilt worden waren. Die Art der Notifizirung schloß jeden Verdacht aus, das es sich dabei etwa um Bearbeitung der öffentlichen Meinung handle. Uebrigens sind in der Zwischenzeit noch einige Statistiken dieser Art zu meiner Kenntniß gelangt, die eine ganz ähnliche Vertheilung der Aktien gewerblicher Unternehmungen aufweisen. Eine davon steht in den klassischen Werk von Rowntree und Sherwell, Temperance Problem and Social Reform, London. Als eines der großen Hindernisse, die einer durchgreifenden Gesetzgebung gegen den Alkoholismus im Wege stehen, be zeichnen die Verfasser dort (S.31 der billigen Ausgabe) die weite Verbreitung des ungeheuren Aktienkapitals der großen Brauereien und Brennereien, und sie veranschaulichen diese Verbreitung durch folgende Liste über die Inhaber der Antheile von fünf sehr bekannten englischen Brauereien:

Brauereien

 

Zahl der Aktionäre

Stammaktien

 

Prioritätsaktien

Arthur Guinneß, Son & Co.

5450

3768

Baß, Ratclif & Gretton

    17

1368

Threlfall’s

  577

  872

Combe & Co.

    10

1040

Samuel Alsopp & Co.

 1313 

 2189 

 

7367

9237

Insgesammt 16.604 Aktionäre für ein Stamm- und Prioritäten-Kapital von zusammen 194 Millionen Mark (£ 9.710.000). Daneben hatten die fünf Gesellschaften aber noch ein Obligationenkapital von 122 Millionen Mark (£ 6.110.000, über welches keine Inhaberliste vorliegt. Nimmt man, wofür viele Gründe sprechen, eine Verbreitung im gleichen Verhältniß an, wie die der Stamm- und Prioritätenaktien, so vertheilt sich das Eigenthum der bezeichneten fünf Brauereien auf 27.052 Personen! An der Londoner Börse wurden aber im Jahre 1898 die Aktien &c. von nicht weniger als 119 Brauereien und Brennereien notirt, deren aufgelegtes Kapital allein sich auf über 1.400 Millionen Mark belief, während außerdem das Stammkapital von 67 dieser Gesellschaften in „Privathänden“ (meist die ursprünglichen Besitzer und deren Familienmitglieder) war. Das diese Brauereien und Brennereien nur zum Theil das Eigenthum von Millionären sind, zum Theil aber jede einige Bataillone oder selbst Regimenter von Aktionären hinter sich haben, macht sich den englischen Mäßigkeitsreformern insbesondere bei den Wahlen sehr unangenehm fühlbar.

Wie in diesem Falle, so hat auch in andern diese Dezentralisation des Eigenthums an den Betriebsunternehmungen gerade vom Standpunkt des Reformers aus ihre großen Schattenseiten, ja in den Augen des Sozialisten gehört sie überhaupt zu den Schattenseiten der modernen Entwicklung. Indeß nicht um diese Frage hat es sich in der vorliegenden Untersuchung gehandelt. Worum diese sich dreht, ist das rein wirthschaftliche Problem: Hat die zunehmende Konzentration der Betriebsunternehmungen eine Abnahme oder Zunahme der Kapitalistenklasse im Gefolge. Nur dadurch, daß man dies übersah und, wie schon oben bemerkt, der Beantwortung in dem einen oder anderen Sinn eine Bedeutung für den Sozialismus beimaß, die sie gar nicht hat, konnte die Debatte über diesen Punkt einen so unerquicklichen Charakter annehmen – unerquicklich vor Allem dadurch, das um Kleinigkeiten gestritten und das wirkliche Problem, das die gestellte Frage einschließt, vollständig vernachlässigt, wenn nicht überhaupt ignorirt wurde. Ich habe dies Problem, nämlich die Frage, wo bei stetig zunehmender Produktivität der Arbeit das gesellschaftliche Mehrprodukt bleibt, wenn die Klasse der Kapitalisten ab- und nicht zunimmt, auf Seite 51 bis 54 möglichst deutlich auseinandergesetzt und kann nur bedauern, daß die Diskussion nicht in dem Geist weitergeführt worden ist, dem die Frage dort von mir aufgeworfen wurde.

Meinerseits habe ich sie noch einmal in einem Nachtragskapitel zu einer Artikelserie über das Lohngesetzproblem berührt, die ursprünglich in der Neuen Zeit erschienen war und von mir neuerdings in einer Sammlung älterer und neuerer Aufsätze (Zur Geschichte und Theorie des Sozialismus, Berlin und Bern, 1901) wieder veröffentlicht wurde. Auch dort wird (S.107) als bezeichnend für die Gegenwart „die Vermehrung der Zahl der Reichen und ihres Reichthums“ hingestellt. Das war noch in England geschrieben, wo mir für Deutschland nur einige trockene Zahlen zur Verfügung stauden. Die Rückkehr nach Deutschland hat mir Gelegenheit gegeben, mich davon zu überzeugen, wie sinnenfällig sich die Thatsache hier auch in den Dingen selbst kundgiebt. Mit geradezu aufreizender Aufdringlichkeit macht sich die Vermehrung und der zunehmende Reichthum der Besitzenden in den sich immer weiter ausdehnenden vornehmen Quartieren der Großstädte breit. Insbesondere spricht die Entwicklung von Berlin West in dieser Hinsicht Bände.

In enger Verbindung mit der Frage des Verbleibs des Mehrprodukts steht die Frage der Krisen. Im Augenblick, wo ich dies schreibe, leiden große Industriezweige in Deutschland und auch anderwärts unter theilweise sehr starkem Geschäftsdruck. Es ist dies verschiedentlich als eine schlagende Widerlegung der in diesem Buch niedergelegten Ausführungen über die Krisenfrage hingestellt worden. Wer aber den betreffenden Abschnitt (Kap.3d) nachliest, wird sich überzeugen, daß der bisherige Verlauf der erwähnten Krise, weit entfernt, das dort Entwickelte zu widerlegen, es vielmehr durchaus bestätigt. Zu einem Theil ist die Krisis in Deutschland eine Geldkrisis, die, abgesehen von Vorgängen auf dem internationalen Geldmarkt (Krieg in China und in| Transvaal, Schließung der Goldminen des Transvaal, Mißernten in Indien) durch maßlose Schwindeleien von Hypothekeninstituten herbeigeführt wurde, zum Theil in der That eine Krisis aus Ueberproduktion, und zwar namentlich aus Ueberproduktion in Maschinenanlagen und dergleichen. In der Prosperitätsperiode der letzten Jahre ist in Deutschland ein ungeheures Kapital in Form von Betriebseinrichtungen festgelegt worden, die dem Bedarf weit vorauseilten. Nicht genug, daß die Fabrikanten sich darin überboten, ihre Werke nach neuestem Stil neu einzurichten, wurden die Neueinrichtungen auch meist auf erweiterter Basis durchgeführt. Die deutsche Industrie hat so, wie die Engländer es ausdrücken, ein größeres Stück in den Mund genommen, als sie zu kauen vermag. Sie leidet nun an Schlingbeschwerden – wie gewöhnlich, zum größten Theil auf Kosten der Arbeiter – während die englische Industrie, die es mit den Erneuerungen nicht gar so hastig hatte und dafür schon todt gesagt wurde, den Geschäftsdruck erheblich weüiger verspürt als die deutsche. Ein englischer Fabrikant deutscher Abstammung, der beide Länder sehr gut kent, Herr Alexander Siemens in London, hat diesen Punkt vor einiger Zeit in einem Fachblatt sehr energisch hervorgehoben. Jedenfalls ist die Geschäftsstockung vorläufig noch auf einzelne Länder und Industrien beschränkt und hat auch dort noch keineswegs jenen Umfang und Höhegrad angenommen wie die letzte große Krise der Industriewelt: die der siebziger Jahre. Es ist also zu Mindesten verfrüht, aus den vorliegenden Krisenerscheinungen beweiskräftige Folgerungen für die Frage ableiten wollen, um welche sich das Krisenkapitel der vorliegenden Schrift dreht. Die Krisenerscheinungen, die wir thatsächlich vor uns sehen, fallen sämmtlich in das Gebiet dessen, was hier auf Seite 73/74 und Seite 79 ff. ausdrücklich als das naturgemäße Produkt der heutigen Wirthschaftsorganisation hingestellt wird.

Ganz und gar verfrüht ist es vor Allem im gegenwärtigen Moment ein abschließendes Urtheil über die Wirkungen und Fähigkeiten der Unternehmersyndikate mit Bezug auf das Krisemproblem abgeben zu wollen. Die betreffenden Verbände oder Körperschaften befinden sich zum großen Theil noch in ihren Anfängen, und Mißerfolge in diesem Stadium beweisen noch ganz und gar nichts für die Endergebnisse. Die Gewerkschaftsbeweguung der Arbeiter war Jahrzehnte lang eine Bewegung von Mißerfolgen, bis ihre Leistungsfähigkeit so unzweifelhaft erwiesen war, daß einer nach dem andern ihrer Verächter überzeugt klein beigeben mußte.

Man wird also auch bezüglich der Unternehmersyndikate noch etwas zu warten haben, bevor man zu einem leidlich schlußfähigen Urtheil über ihr Können und Nichtkönnen befähigt sein wird. Inzwischen thut man gut, sich zu vergegenwärtigen, daß es sich da weniger um Beseitigung der Ueberproduktion handelt, die vielmehr, wie auf Seite 74 dieser Schrift bemerkt wird, eine unvermeidliche Erscheinung des modernen Wirthschaftslebens ist, sondern um die Abmilderlung und Verkürzung, beziehungsweise Ueberbrückung der aus sie folgenden Stockungsperioden. Sehnlich, wie oft bei den Gewerkschaften, liegt daher hier der Probebeweis auf der negativen Seite, das heißt dreht er sich darum, was jeweilig an Schlimmerem verhütet wurde. Es ist nun bezeichnend, daß die gegenwärtige Geschäftskrise, die nach einigen übereifrigen Kritikern dieser Schrift den Bankerott des Syndikatswesens hätte bringen müssen, eine wesentliche Stärkung derselben sich vollziehen sieht. Im Handelstheil des Vorwärts vom 26. Januar d.J. werden eine ganze Reihe von Thatsachen aus der Bergwerks-, Hütten- und Metallverarbeitungsindustrie vorgeführt, welche für eine Entwicklung in diesem Sinne Zeugniß ablegen. Unter Anderem wird da festgestellt, das der Halbzeugverband „nach wie vor fast ausschließlich die Produktion der Stahlwerke beherrscht, ohne daß bei den schwierigen Verhältnissen der Eisenindustrie trotz des Drängens der Verbraucher so erhebliche Preisnachlässe zu verzeichnen wären, wie sie bei der freien Entfaltung der Konkurrenz hätten eintreten müssen.“ Es liegt auf der Hand, und in dem betreffenden Artikel des Vorwärts wird dies auch hervorgehoben, daß die damit angezeigte Wirkungskraft des Syndikatswesens ihre große Kehrseite hat, aber gerade diese Kehrseite ist denn auch, wie man sich überzeugen wird, im vorliegenden Buch aufs Schärfste hervorgehoben worden. „Virtuell trägt das kapitalistische Abwehrmittel gegen die Krisen,“ heißt es dort, „die Keime zu einer verstärkten Hörigkeit der Arbeiterklasse in sich, sowie zu Produktionsprivilegien, die eine verschärfte Form der alten Zunftprivilegien darstellen. Viel wichtiger als die ‚Impotenz‘ der Kartelle und Trusts zu prophezeien, erscheint es mir vom Standpunkt der Arbeiter aus, ihre Möglichkeiten sich gegenwärtig zu halten.“ (S.81) In Hinblick auf hier nicht näher zu qualifizirende Kritiken, die gerade dem Kapitel zu Theil geworden sind, worin dies steht, darf ich es mit einer gewissen Genugthuung begrüßen, daß die Zahl derer sich mehrt, welche die Frage der kapitalistischen Syndikate im gleichen Sinne behandeln, wie es dort geschehen.

Kämpfende Parteien sind immer wieder der Gefahr ausgesetzt, daß unter dem Einfluß von Tagesvorkommnissen sich die Schwerpunkte sie angehender Fragen in ihren Augen zeitweise verschieben oder thatsächliche Verschiebungen ihnen eine .Zeitlang verborgen bleiben. Solche optische Inversion wird alsdann leicht zur Ursache unnöthiger Verbitterungen in der Debatte. Worin der Eine die nothwendige Abwendung von einem gegenstandslos gewordenen Kampfobjekt erblickt, das erscheint dem Andern als verrätherische Preisgabe einer Position von entscheidender Bedeutung. Es dauert dann immer eine gewisse Zeit, bis es Allen gleichmäßig zum Bewußtsein kommt, welches der wahre Charakter der fraglich gewordenen – praktischen oder theoretischen – Streitobjekte ist, welche wirkliche Bedeutung ihnen nunmehr innewohnt. Von einem Theil der in diesem Buch behandelten Fragen kann gesagt werden, daß die Debatte über sie sich schon erheblich geklärt und soviel hat erkennen lassen, daß die Ausführungen des Verfassers, was immer sich sonst etwa gegen sie einwenden läßt, nichts in Frage stellen, was für den Befreiungskampf der Arbeiterklasse von wirklicher Bedeutung, eine wirkliche Lebensfrage der Sozialdemokratie ist. Es ist meine feste Ueberzeugung, daß mit der Zeit dies auch in Bezug auf die anderen der hier erörterten Fragen der Fall sein wird. In diesem Bewußtsein übergebe ich diesen Neuabdruck der Oeffentlichkeit.

* * *

Die Voraussetzungen des Sozialismus sind außer in deutscher noch in französischer und russischer Sprache erschienen – letzteres in drei Ausgaben, und zwar eine in London, eine in Moskau und eine in St. Petersburg. Uebersetzungen ins Czechische und Spanische sind, wie mir mitgetheilt wird, im Werke. Die französische Ausgabe ist mit meiner Zustimmung veranstaltet und von mir mit einem besonderen Vorwort versehen worden, dagegen sind sämmtliche russische Ausgaben ohne mein Wissen veranstaltet worden. Bei der Moskauer und der Petersburger Ausgabe ist dies erklärlich genug, ebenso gewisse „wissenschaftliche“ Umschreibungen des Textes in der Uebersetzung. Weniger selbstverständlich dünkt es mich, daß die Veranstalter der dritten, in London im Verlag des Russian Free Press Fund erschienenen Ausgabe es nicht fertig brachten, vor Anfertigung der Uebersetzung den in der gleichen Stadt wohnenden Verfasser aufzufinden und ihn in den Stand zu setzen, irgend welche ihm etwa nothwendig erscheinenden Korrekturen, Streichungen oder Zusätze vorzunehmen, sowie seine Erlaubniß zu denjenigen Streichungen einzuholen, die sie selbst vorzunehmen für gut fanden. Da es nicht geschah, sehe ich mich zu der Erklärung genöthigt, daß ich für die Londoner russische Ausgabe ebensowenig irgend welche Verantwortung übernehmen kann, wie für die zwei andern.

Berlin, Ende Januar 1902.

Ed. Bernstein


Fußnote

1. Berlin 1901, Karl Heymanns Verlag.


Zuletzt aktualisiert am 10 February 2010