Eduard Bernstein

 

Naturprincipien und Wirtschaftsfragen

Ein methodologischer Excurs [1]

(Juni 1900)


Quelle: Sozialistische Monatshefte, Jg. 1900, Nr.6, Juni 1900, S.318-329.
Wiederveröffentlicht: Eduard Bernstein: Zur Theorie und Geschichte des Socialismus: Gesammelte Abhandlungen, Bd.1, Berlin 1904, S.123-139.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


I.

Gesellschaftskunde als Naturwissenschaft – das ist der Titel eines Buchs, dessen Verfasser, der K.K. Director Ed. Sacher, eine naturwissenschaftliche Gesellschaftslehre darbieten oder wenigstens in ihren Grundzügen entwickeln will. [2] Schreiber dieses hat schon wiederholt Gelegenheit genommen, solche Versuche zu besprechen, und ist da regelmässig zu einem ungünstigen Gesamturteil gelangt. Wenn er hier noch einmal auf das Thema zurückkommt, so deshalb weil die Sachersche Arbeit es unter ändern Gesichtspuncten behandelt, wie die grosse Masse der „naturwissenschaftlichen“ Gesellschaftslehren, und auch sonst Anspruch auf Beachtung hat. Sie ist das Werk eines belesenen und selbständig denkenden Schriftstellers, mit Ausnahme einiger etwas orakelhafter Sätze iares Schlusscapitels, frisch und anschaulich geschrieben, und ihre Tendenz eine unzweifelhaft socialistische.

Herr Sacher bezeichnet im Vorwort sein Buch als einen

„Versuch auf naturwissenschaftlicher Grundlage, d.h. mit naturwissenschaftlicher Auffassung der Gesellschaft und ihrer Einrichtungen und mit naturwissenschaftlicher Methode, die beobachteten Gesellschaftseinrichtungen in Zusammenhang zu bringen, die Ursachen der geschichtlichen und der heutigen Vorgänge, soweit sie auf die Volkswirtschaft Bezug haben, zu untersuchen, und von dem eingenommenen Standpunct aus die heute Einfluss nehmenden Resultate gesellschaftwissenschaft-licher Denkarbeit auf ihre Grundlagen zu prüfen“. [3]

Was heisst „naturwissenschaftliche Methode“ und was „naturwissenschaftliche Auffassung der Gesellschaft“? Sacher spricht sich darüber nicht näher aus, machen wir uns daher zunächst diesen Gegenstand, die Bedeutung des Begriffs Natur in diesem Zusammenhange klar.

Das Wort Natur wird in verschiedenem Sinne gebraucht. Es bezeichnet das eine Mal den Inbegriff der Welt, unterschieden von einem ihr als Schöpfer oder Lenker gegenüberstehenden höheren Wesen, das andere Mal Jie aussermenschliche Welt, und schliesslich dient es auch zur Kennzeichnung der Personen oder Dingen kraft ihrer Zusammensetzung bezw. ihres Aufbaus innewohnenden Eigenschaften, ihres eigentümlichen Wesens. Gemeinsam ist hierbei, dass jedesmal der Begriff Natur etwas von dem Gegenstand, auf den er angewendet wird, Ungewolltes anzeigt. Natur ist stets das Gegebene, das dem Segenstand ohne seinen Willen Innewohnende, das Nichtselbstgewollte. Wo der aussermenschlichen Natur ein Wille unterstellt wird, liegt entweder nur eine poetische Ausdrucksweise vor oder eine Uebertragung der von der Religion der Gottheit zugeschriebenen Attribute auf die Natur, – ein modifizierter Theismus.

Die Naturwissenschaft schliesst dergleichen poetische oder opportunistische Verquickungen aus ihren Untersuchungen aus. Sie hat es nicht mit den beabsichtigten, sondern mit den unbeabsichtigten Erscheinungen zu thun, nicht mit den gewollten, sondern mit den notwendigen Beziehungen, Das vornehmste, wenn auch selbstverständlich nicht ausschliessliche, Princip ihrer Methode ist die Empirie: Beobachtung und Experiment. Ihre grundlegenden Zweige wissen nichts von angeordneten Zwecken, sondern nur von Wirkungen, die eintreten, sobald gewisse Dinge in Verbindung gebracht werden oder in ihren Beziehungen gewisse Veränderungen stattfinden. Wo aber die Naturforschung, wie in der Botanik, Zoologie oder generell in der Physiologie, mit Organismen zu thun hat, deren Bestand und Entwickelung von der regelmässigen und bestimmten Thätigkeit von Teilorganen und dem Vorhandensein der für diese Thätigkeit erforderten äusseren Bedingungen abhängt, erkennt sie zwar diesen Teilorganen und Bedingungen einen Zweck für jene Organismen zu, nicht aber den letzteren einen Zweck für die Organe. So haben die Verdauungsorgane wohl einen Zweck für das Tier, aber damit ist die Sache zu Ende. Das Tier selbst hat in den Augen des Naturforschers keinen Zweck, es sei denn der, einem ändern Tier als Nahrung oder etwa – wie gewisse Insecten – einer Pflanze als Befruchtungsvermittler zu dienen, was aber für seine Betrachtung kein gewolltes, sondern ein gewordenes Verhältnis ist. Das Raubtier thut nichts, den Pflanzenfresser oder das kleinere Raubtier zu züchten, von denen es sich ernährt, noch sorgt der Pflanzenfresser für seine Nährpflanzen oder die Pflanze für die Zusammensetzung ihres Nährbodens. Im Gegenteil, ihnen allen wohnt die Tendenz inne, diese Bedingungen der. eigenen Existenz zu zerstören: Das Et propter vitam vivendi perdere causas ist in der Tier- und Pflanzenwelt vorwiegende Erscheinung und wird – sofern da überhaupt von Willen die Rede sein kann – nur durch ausserhalb des Willens der Beteiligten liegende Umstände an allgemeiner Durchführung bis zum vernängnisvollen Ende verhindert. Es wird keinem Naturforscher einfallen, vom Schaf zu sagen, sein Zweck sei, von diesem und jenem Raubtier gefressen zu werden, oder von der Banane, vom Affen etc. verspeist zu werden, sondern er wird nur sagen:diese oder jene Stoffe, diese oder jene Pflanzen, diese oder jene Tiere bilden die Lebensbedingung für diese oder jene anderen Tiere oder Pflanzen etc. Noch weniger wird er sich beikommen lassen, dem Tier oder der Pflanze einen Zweck für irgend eines ihrer Organe nachzusagen, obgleich mit ihnen auch das betreffende Organ stirbt.

Die Naturwissenschaft kennt nur in der höheren Tierwelt Zweckthätigkeit, z.B. bei d.er Arbeit der Spinne, der Biene, der Ameise, beim Nestbau des Vogels, des Dachses, des Fuchses u.s.w. Es bleibe dahingestellt, inwieweit diese Thätigkeit als zweckbewusst oder vorbedacht bezeichnet werden kann. Einen gewissen Grad von Zweckbewusstsein wird man den meisten der hier in Betracht kommenden Tiere ebensowenig absprechen können, wie dem seiner Beute nachstellenden Raubtier. Die Biene hat, um an ein bekanntes Beispiel von Marx anzuknüpfen, wahrscheinlich schon irgendeine Vorstellung von der Zelle im Kopf fertig, wenn sie, an deren Bau geht, und unterscheidet sich von dem menschlichen Baumeister in dieser Hinsicht dadurch, dass sie sich nur diese eine Zelle vorstellen kann, diese aber auch zugleich sich vorstellen muss, bezw. dass sie zwar die Zelle im Kopf hat, aber nicht als das Product irgendwelchen Nachdenkens, sondern als fertig ererbte Vorstellung. Jedenfalls befinden wir uns hier an der. Grenze zwischen den Reichen von Natur und Kunst, denn Kunst im weiteren Sinne ist alles Können, dem ein Plan, eine Absicht, eine Willensact zu Grunde liegt. Das stümperhafteste Product menschlicher Arbeit ist ein Kunstwerk verglichen mit irgend einem Naturproduct, das uns durch die Feinheit seiner St.uctur, die Symmetrie seiner Formen, die Pracht seiner Farben entzückt. Dem ersteren liegt, eine Absicht, dem letzteren, nichts, als un-bewusste Notwendigkeit zu Grunde. In dem Mass, als die Spinne ihr Netz planmässig webt, ist sie Künstlerin; die Thatsache, dass sie nur dies eine Netz zu weben versteht, bestimmt die, Grenze ihrer Künstlerschaft, hebt aber diese nicht auf. Dass die Spinne beim Weben eine Planvorsteilung hat, scheint unbestreitbar. [4]

Das der Natur gegenüberstehende Princip ist die Kunst, jede andere Gegenüberstellung ist widersinnig und bricht von einem gewissen Punct ab hoffnungslos zusammen. In der Auffassung der Bibelgläubigen ist die Welt ein grossartiges Kunstwerk, geschaffen von einem ausserhalb ihrer oder über ihr stehenden, unvergleichlichen Künstler – Gott. Dieser Auffassung widersprechen e:ne Reihe von Thatsachen, welche das eingehende Studium der Naturerscheinurgen den Menschen aufgeschlossen haben, und auf Grund ihrer hat sich jene andere Auffassung entwickelt, welche die Welt nicht als das Product eines schaffenden Künstlers, sondern als das Ergebnis einer Reihe von Processen betrachtet herbeigeführt durch gesetzmässig, d.h. notwendig wirkende Kräfte oder Kraftformen des den Weltraum erfüllenden Stoffes und seiner Spannungsverhältnisse Diese Auffassung, die entweder von jeder Gottvorstellung absieht oder den Gott-Künstler durch ein vergöttlichtes Naturprincip zu ersetzen sucht, das als höchstes Gesetz die ganze Welt durchdringt, wird als die naturwissenschaftliche. Weltauffassung bezeichnet. Ihr Ausgangspunct ist die gesetzmässige Notwendigkeit. Nur wo sie diese findet, wo sie zur Erklärung von Erscheinungen oder Vorgängen nicht auf die Annahme ausser- oder überweltlicher Willkür angewiesen ist, sondern eine Kette gesetzmässig wirkender Ursachen feststellen kann, beruhigt sie sich. Die naturwissenschaftliche Auffassung der Welt schliesst jeden in das Weltgetriebe willkürlich eingreifenden höheren Willen aus.

Fragen wir uns nun, was eine naturwissenschaftliche Auffassung der Gesellschaft bedeuten kann, so führt uns die Analogie der naturwissenschaftlichen Weltauffassung zunächst auf den Ausschluss eines über oder ausserhalb der Gesellschaft stehenden, ihre Natur und Entwickelung bestimmenden höheren Willens. Soll der Name nicht mehr sagen, so bezeichnet er insofern eine rationelle Sache, als damit die Vorstellung einer von Gott angeordneten Gesellschaftsordnung, diese Zuflucht aller fortschrittsfeindlichen, das Bestehende und insbesondere bestehende Privilegien vertretenden Elemente, grundsätzlich verworfen wird. Aber das allein begründet jenen Titel noch nicht. Mit dem Verzicht auf den Gott, der eine bestimmte Gesellschaftsordnung vertritt oder nach Gutdünken in den Verlauf der Dinge eingreift, sind sehr verschiedene Gesellschaftsauffassungen vereinbar; dass man andererseits auch als Bekenner eines lebendigen Gottes sehr revolutionäre Auffassungen von der Gesellschaft haben kann, sei nur beiläufig bemerkt. Die blosse Abstrahierung von einem göttlichen Lenker hilft uns hier nicht weit.

Wenn der Naturforscher bei seinen Untersuchungen die Gottidee beiseite lüsst, so hat er dabei mehr im Auge, als die Vorstellung von der von aussen eingreifenden Macht los zu werden. Er will zugleich auch die ihm in der Erkenntnis der Gesetzmässigkeit der Erscheinungen hinderliche Idee der eingesetzten Zwecke los werden. Die Naturwissenschaft kennt keinen subjectiven Weltzweck, noch eingesetzte Zweckbeziehungen. Sie geht als Wissenschaft von keiner ästhetischen oder moralischen Rangordnung der Zwecke aus. Sie postuliert keine allgemeine Harmonie der Zwecke, ihr genügt die Feststellung gewordener particulärer Zweckbeziehungen. Sie erforscht deren Geschichte und Bedingungen, aber sie sucht die Einheit nicht im Zweck, sondern in der Gesetzmässigkeit der Erscheinungen. Sie erforscht die Notwendigkeit von Wirkungen aus gegebenen Thatsachen. Kurz gefasst, die Besonderheit der Naturwissenschaft ist die Erforschung der objectiven Causalitäten, und die naturwissenschaftliche Weltanschauung ist die Auffassung der Welt als Wirkung, und nicht als Zweck. Wenn somit das Wort naturwissenschaftliche Gesellschaftsauffassung mehr anzeigen soll, als die Abstrahierung von einem höheren Willen, so müssen wir seine Rechtfertigung in der Rangordnung erblicken, die bei ihr Ursache und Zweck gegeneinander erhalten, d.h. in der Auffassung der Gesellschaft als Wirkung, und nicht als Zweck.

Eine solche Auffassung ist sicher denkbar und als Leitfaden für eine geschichtliche Betrachtung hat sie sogar ihre grosse Berechtigung. Für die geschichtliche Betrachtung, die Sociogenie, um mich so auszudrücken, müssen die Zwecke gegen die Wirkungen zurücktreten. Mit Bezug auf die geschichtliche Entwickelung stellt die wissenschaftliche Forschung als entscheidend die Fragen: Warum? und Wie?, aber nicht: Wozu? Sie kann die letztere Frage schon deshalb nicht voranstellen, weil im geschichtlichen Verlauf die Zwecke die variablen und speciellen, die Wirkungen die fortlaufenden und generellen Factoren sind, die Zwecke nur Glieder bilden in der Kette der Ursachen bestimmter Erscheinungen oder Vorgänge. Die Gesellschaftsgeschichte ist durchaus objectiv. Anders, wo es sich um die pragmatische Gesellschaftsbetrachtung, die Sociologie im engeren Sinne, handelt. Hier stehen die Zwecke oder, zusammengefasst, der Zweck der Gesellschaft im Vordergrund. Von ihm aus, in ihrer Beziehung auf ihn werden die Ursachen und Wirkungen gewertet. Sie fragt in erster Reihe: Wozu?, ist wesentlich subjectiv.

Das ist der principielle Unterschied zwischen Gesellschaftslehre und Naturlehre. Dass er nur ein relativer ist, versteht sich von selbst. Es sei hierbei ganz davon abgesehen, dass Natur- und Gesellschaftsiehre schliesslich nur Glieder sind der allgemeinen Weltlehre oder Weltauffassung, und es z.B. völlig auf diese ankommt, ob nicht der Naturentwickelung ebenfalls ein Zweck unterstellt wird, der keineswegs notwendig anthropocentrisch sein muss, nichts mit den Glaubenssätzen der Offenbarungsreligionen zu thun zu haben braucht. Aber wie in der aussermenschlichen Natur Zweckbeziehungen specieller Natur zwischen Tier und Pflanze z.B. und ihren Lebensgrundlagen eine grosse Rolle spielen und das Walten ihres mechanischen Princips verändern, so ist in den menschlichen Gesellschaften das subjective Princip des Zwecks der Einschränkung und Durchkreuzung durch objective Kräfte unterworfen. Es handelt sich hier um eine stufenartige Abgrenzung. Und zwar bildet die Gesellschaft als Ganzes jedesmal das Subject, dem seine Teilelemente (Individuen oder Gruppen) und ihr Eigenleben ähnlich als objective Kräfte gegenüberstehen, wie die es umgebende Naturwelt. Je unvermittelter Leben und Charakter der Gesellschaft durch dies Eigenleben ihrer Elemente bestimmt werden, umsomehr ist das Verhältnis dem Naturverhältnis ähnlich. Je stärker das Gesellschaftsleben sich differenziert und je reicher der Gesellschaftskörper sich gliedert, umsomehr subjectivieren sich auch die Gesellschaften in ihren Zweckbestimmungen, ähnlich wie die pflanzlichen und tierischen Organismen. Da aber ihre Elemente bei alledem Subjectivitäten bleiben, d.h. Eigenleben haben, kann das Verhältnis des Gesellschaftskörpers zu seinen einzelnen Organen, so viel Analogie es auch mit dem des pflanzlichen oder tierischen Organismus zu seinen Teilen darbietet, doch nur gewisse formale Gesetze mit ihm gemein haben.

Wir haben oben hervorgehoben, dass mit dem Tier auch das Organ stirbt, d.h. seine Zellen sich zersetzen. Bei den menschlichen Gesellschaften aber heisst der Tod oder die Auflösung einer Gesellschaft noch keineswegs notwendig der Tod oder das Zugrundegehen ihrer Elemente. Hält man sich diesen Unterschied vor Augen, so begreift man sofort, warum eine naturwissenschaftliche Gesellschaftsauffassung nur innerhalb bestimmter Grenzen zulässig ist, jenseits deren sie zum logischen Unding wird.
 

II.

Wie kommt es aber, dass trotzdem geist- und kenntnisreiche Leute immer wieder darauf verfallen, eine naturwissenschaftliche Auffassung der Gesellschaft allseitig durchführen zu wollen?

Zwei Gründe oder Gedankenreihen scheinen mir hierfür massgebend.

Erstens ist es das Streben aller wissenschaftlichen Forschung, die objectiven Gesetze oder Principien zu ermitteln, nach denen sich das Leben oder die Entwickelung des Gegenstandes ihrer Betrachtung regelt. Solche objectiven Gesetze aber bezeichnen wir als Naturgesetze. Wie oben schon erwähnt wurds, unterstehen auch die menschlichen Gesellschaften, mögen ihre Einrichtungen noch so sehr vom subjectiven Gesellschaftszweck dictiert sein, dem Einfluss objectiver Kräfte; giebt es für die Wirkung letzterer Regeln, unter deren Einfluss sie den oder die jeweiligen vorgesteckten Zwecke der gesellschaftlichen Einrichtungen je nachdem durchkreuzen oder ganz vereiteln. Man kann insofern mit Fug und Recht von Naturgesetzen des gesellschaftlichen Lebens sprechen. Von da aus erscheint es von selbst gegeben, durch systematische Analyse und Synthese dieser Naturgesetze zu einer naturwissenschaftlichen Auffassung der Gesellschaft zu gelangen.

Der Fehler ist gewöhnlich nur, dass man, durch die Zweideutigkeit des Worts Natur verleitet, unversehens den einen Begriff desselben für den andern nimmt und so für naturwissenschaftlich hält; was nur in ganz specieilem Sinne naturgemäss ist, nämlich der Natur bestimmter Dinge oder Beziehungen entspricht. Wenn man von der primitiven menschlichen Horde absieht, die uns als Thatsache ohnehin unbekannt ist und nur in der Theorie als Ausgangspunct der Entwickelung menschlicher Gesellschaften genommen wird, sind diese Gesellschaften eben in dem Masse, wie sie sich complicierter gestalten, nicht Natur-, sondern Kunstproducte, und was ihrer Natur entspricht, ist darum noch keineswegs „natürlich“ im Sinne der Natur, mit der es die Naturwisserschaft zu thun hat. Naturgesetz und Naturgesetz ist hier zweierlei, mag die formale Analogie noch so gross sein. Die Synthese der Naturgesetze und der Erscheinungsformen eines Gegenstandes ist die Wissenschaft dieses Gegenstandes, und wenn dieser Gegenstand dem Reich der Natur angehört, so bildet die Wissenschaft von ihm einen Teil der Naturwissenschaft. Ist er aber ein Product menschlicher Thätigkeit, so gehört er insoweit nicht zur Natur, und seine Wissenschaft ist nicht mehr Naturwissenschaft. So ist die Botanik Naturwissenschaft, die Agronomie aber nicht, so die Physiologie, aber nicht die Medicin, so endlich die Biologie, aber nicht die Sociologie, obgleich jedesmal die Entwickelungslinie von der erstgenannten Wissenschaft in grader Linie zur andern führt. Die Biologie ist Naturwissenschaft; sage ich „Biologie als Naturwissenschaft“, so spreche ich eine Tautologie aus. Sage ich aber „Gesellschaftskunde als Naturwissenschaft“, so spreche ich „entweder einen Widersinn aus, oder ich meine einfach die Wissenschaft von der Natur der Gesellschaft, und das ist schlechtweg Gesellschaftskunde; In diesem letzteren Falle ist der Zusatz ebenfalls tautologisch. Die Wissenschaft von der Natur der Gesellschaft ist Gesellschaftswissenschaft und weiter nichts.

Ein zweiter Grund für das Streben nach einer naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre liegt auf dem Gebiet der Tendenz. Die menschlichen Gesellschaften sind stets zu einem grossen Teil Kunstproducte, wenn auch ihre Ausbildung in langsamer geschichtlicher Entwickelung vor sich geht und bei ihrer Ausgestaltung und Weiterbildung der menschlichen Kunst – dem Willen – stets nur ein begrenzter Spielraum gelassen ist. Diese Kunst, deren Naturstoff jedesmal die vorgefundene Gesellschaft mit all ihren Ueberlieferungen bildet, ist zudem fehlbar und vom Interesse beeinflusst. Das Interesse der einen, das nicht notwendig grob-egoistischer Natur zu sein braucht, sondern auch sittlicher, doctrinärer oder religiöser Natur sein kann, billigt oder verlangt bestimmte Einrichtungen, denen das Interesse anderer sich widersetzt. Soweit man sich nun dabei nicht kurzweg auf den Willen oder das Interesse beruft, greifen die Beteiligten gern auf das Wesen der Gesellschaft selbst zurück und bekämpfen oder verteidigen die Neuerung unter Berufung auf dieses. Das führt dann weiter zur Untersuchung dieses Wesens selbst, das heisst der Natur der Gesellschaft, ihres Zwecks und ihrer Entwickelungs- oder Naturgesetze. Man will die Notwendigkeit der Erhaltung oder Aenderung von Einrichtungen aus solchen Naturgesetzen ableiten. Und da drängt sich der Analogieschluss auf die organische oder unorganische Natur, eben weil er so plausibel ist, geradezu von selbst auf.

Der Schluss auf die organische Welt, die Betrachtung der Gesellschaft nach Analogie der biologischen Organismen, wird gewöhnlich im Interesse der Erhaltung des. Bestehenden oder der Bekämpfung zu radical befundener Aenderungen oder Aenderungsmethoden gemacht. Menenius Agrippa kann als typischer Repräsentant der einen, die positivistische Sociologie als der der andern Tendenz dienen. Gelegentlich berufen sich aber auch sehr radicale Reformer auf das organische Princip, das ja heute den Evolutionsgedanken einschliesst und damit auch seine revolutionäre Seite hat.

Geht man einen Schritt weiter und zieht neben der organischen auch die unorganische Welt heran, so erhält man als allgemein, regulierende Principien die Gesetze der Mechanik. Auch diese lassen sich auf das Leben der Gesellschaft anwenden, und, da.sie allgemeiner, sind, obendrein mit grösserer Ungezwungenheit, als die der Biologie. Es ist dabei weniger Zuflucht zu Analogiekünsteleien geboten, zumeist genügt blosse Redactiön. Aber mit reducierten Elementen sind grössere Freiheiten möglich, und so kann man unter Zugrundelegung der Mechanik erst recht einander widersprechende Gesellschaftstheorieen aufstellen.

Die Arbeit Ed. Sachers geht, soweit sie ihrem Titel gerecht zu werden sucht, von der Physiologie aus, um sich dann wesentlich auf die Mechanik zu stützen. Wir müssen nun zunächst bemerken, dass Sacher im ganzen von der naturwissenschaftlichen Beweisführung einen weit massigeren Gebrauch macht, als der Titel seines Buches, das Citat aus der Vorrede und andere Stellen seiner Schrift vermuten lassen. Ebenso besteht zwischen Inhalt und Titel auch darin ein Missverhältnis, als die Gesellschaft ausschliesslich unter dem Gesichtswinkel ihrer Wirtschaft behandelt wird, wis Sacher denn auch ihren Begriff rein ökonomisch definiert, als „Gruppe von Menschen, die durch Arbeitsteilung mit einander verbunden sind“. Es liegt auf der Hand, dass sich gegen diese Definition, sehr viel einwenden lässt. Aber da Sacher für sie nicht Allgemeingiltigkeit beansprucht, sondern mit ihr nur feststellen will, wie er in der vorliegenden Schrift das Wort verstanden zu wissen wünscht, so ist jeder Begriffsstreit überflüssig und genügt es, von der damit gegebenen Beschränkung des Begriffs – wir wählen absichtlich diesen Ausdruck – für die Kennzeichnung seines Standpuncts Notiz zu nehmen. [5] Von ihm aus wird die Anrufung des mechanischen Princips begreiflich, denn die Grundlage der Wirtschaft ist die Arbeit, und Arbeit ist stets Ausgabe von Energie, mechanischer Process. Halt man sich daran, oder beschränkt man sich darauf – denn auch hier liegt Beschränkung vor, da die menschliche Arbeit nicht lediglich mechanischer Process ist [6] – so lässt sich das ganze Wirtschaftsgetriebe als ein vielfach verzweigtes, gewaltiges mechanisches Triebwerk auffassen, und seine Teile und ihre Functionen und Krattäussefungen können auf ihre Leistungen oder Bedeutung für die Dynamik des Ganzen berechnet bezw. gewertet werden. Für die Masseinheit wird alsdann ein mechanisches Verhältnis genommen.

Das ist denn auch bei Sacher der Fall. Er ist, wie sich des bei der Beschränkung seiner Reductionen auf Physiologie und Mechanik von selbst, ergiebt, strenger Vertreter der Arbeitswerttheorie. In Bezug auf das Wertproblem ist. das naturwissenschaftliche Princip bei ihm am consequentesten durchgeführt. Um für den Arbeitswert eine absolut giltige, logisch und mathematisch unanfechtbare Formel zu finden, geht er auf die einfachste Form von Energieabgabe zurück, wie sie in der modernen Mechanik als Grössenmass fungiert (d.h. der Energieaufwand, der erforderlich ist, um ein Kilogramm einen Meter weit aus seiner Lage fortzubewegen), und von der 424 auf ein Werk (Clausius) gehen, das des bequemeren Gebrauchs halber – zur Vermeidung zu. grosser Zahlen – als Nenneinheit fungirt. Auf Grund des mechanischen. Wärmegesetzes – Gesetz von der Verwandlung der Energie – kann man bekanntlich die in Nahrungsmitteln dem Körper zugeführte Energie ebenfalls in solchen Einheiten ausdrücken, und so lässt sich ein Massstab dafür finden, wieviel Energie ein normaler Mensch täglich verausgaben, kann und wieviel er an Energie in Form von Nahrungsmitteln dafür einnehmen muss, soll er sich gesund und leistungsfähig erhalten. Auch das Kleidungs- und Wohnbedürfnis – Schutz gegen zu grosse Wärmeabgabe – lässt sich auf diese Weise als mathematische Grosse berechnen, d.h. in Wärme- oder Arbeitseinheiten ausdrücken. Ebenso das Nahrungs- etc. Bedürfnis der Familienmitglieder des erwachsen Wirtschaftsmenschen, sowie die Kosten“ seiner Versicherung gegen Krankheit, Alter etc. Aus dem Verhältnis des normalen Einnahmebedürfnisses und der normalen Energieausgabe, das Sacher auf 17 : 1 berechnet, ergiebt sich für ihn ein Massstab für die Wirtschaftlichkeit menschlicher Arbeit. Arbeit, die nicht auf jedes bei ihr verausgabte Werk Energie mindestens 17 Werk in irgend einer Form gewinnt, bewahrt oder erspart, ist demnach als nicht wirtschaftlich zu betrachten.

Dies und eine Reihe von Entwickelungen, die der Verfasser daran knüpft, ist an sich sinnreich genug ausgearbeitet. Leider reisst jedoch der Faden folgerichtiger Entwickelung unerwartet schnell ab. Noch bei der Wertlehre in ihren einfachsten Anwendungen strauchelt der Verfasser in bedenklicher Weise.

In Anknüpfung daran nämlich, dass er auf Seite 14-15 dargelegt hat, dass der Durchschnittswirtschafter – der „wirtschaftliche Mensch“, was auch den Arbeiter einschliesst – täglich 450 Werk auf wirtschaftliche Arbeit ausgeben kann, erklärt er auf Seite 28, der Tauschwert der Tagesarbeit eines wesentlich nur Muskelarbeit ausgebenden Wirtschafters sei durchschnittlich 450 Werk. Formal, rein mechanisch, wäre das allerdings das Aequivalent jener Arbeit. Nun wissen wir aber von ihm, dass der besagte Wirtschafter, um normal existieren zu können, für seine Arbeit 17 mal mehr Energieeinheiten erhalten muss, als er auf sie ausgegeben. Danach stellte sich ihr Tauschwert nicht auf 450, sondern ganz offenbar auf 450 mal mindestens 17 = 7.650 Werk. Die Energiemengen, die erforderlich sind, um den Wirtschafter zur Ausgabe jener Menge wirtschaftlicher Arbeit zu befähigen, gehen in den Tauschweit seines Products bestimmend ein. Andernfalls kämen wir dahin, dass der Wert oder Preis der aufgewendeten Arbeitskraft ein Vielfaches des Werts der Arbeitsleistung bezw. des Products darstellte; was ganz ersichtlich ein Widersinn wäre.

An diesem einen Beispiel zeigt sich somit schon die Schwierigkeit, das mechanische oder kinetische Verhältnis auf Kategorieen des gesellschaftlichen Lebens zu übertragen. Und doch stehen wir erst am Anfange, vor der elementarsten Formel, dem elementarsten Beispiel. Sacher stellt auf Seite 28 selbst fest, dass, so fundamentale Wichtigkeit sein Denkergebnis – die Auffindung des wirtschaftlichen Tauschwertmasses in der Energieeinheit – für die wirtschaftliche Theorie habe, es für die Praxis doch vorderhand nur von geringem Belang, das Wertmass nur auf jene Arten von Arbeiten anwendbar sei, bei denen vorzugsweise Muskelkraft und wenig Nervenarbeit in Betracht kommt, das ist landwirtschaftliche und einfachere Handwerks- und Fabriksarbeit.“ Soweit wären wir wenigstens bei derjenigen Arbeit, die Marx als einfache oder abstract-menschliche Arbeit bezeichnet. Indes ist es auch für sie nicht einmal richtig, dass die in der Arbeit verausgabte Energie ihren Tauschwert bestimmt, so dass dieser an der Energieeinheit sein Wertmass findet. Die Energieeinheit ist das Mass für die quantitative Muskel- oder Nervenleistung. Das ist alles. Das mechanische Aequivalent und das wirtschaftliche Aequivalent sind zwei ganz verschiedene Dingo.

Sacher sucht, wie schon bemerkt, die Arbeitswerttheorie bis zur äussersten Consequenz durchzuführen. Er geht darin so weit, dass er sogar die Einführung des Zeitmoments, wie Rodbertus sie mit der Bildung des Begriffs Zei Arbeitstag vollzogen, im Princip als unwissenschaftlich und ungenau verwirft und nur für die Praxis so lange gelten lassen will, bis die Physiologen die bei den verschiedenen Arbeiten durchschnittlich ausgegebene Energieeinheiten bestimnt haben, was wohl nach einigen Jahrzehnten der Fall sein werde. Aber angenommen, das Ziel sei erreicht, wird man dann, die Tauschwirtschaft vorausgesetzt, für die Wertbestimmung damit weiter sein, wie jetzt? Keineswegs. Mit der Ermittelung der verausgabten Mengen von Energieeinheiten ist nur die physiologische, aber nicht die ökonomische Gleichung vereinfacht. Beim Tausch oder Kauf und Verkauf wird nach ganz anderen Grundsätzen gewerthet, wie nach Mengen aufgewendeter Energie. Die Qualifizierung von Arbeiten kann bei quantitativ gleichem Muskel- und Nervenaufwand grundverschieden sein, weil moralische, ästhet sehe und weitere socialpolitische Factoren mit hineinspielen. Nicht Ausgabe vor. Energie schlechtwegconstituiertwirtschaftliche und je nachdemwertschaftende Arbeit sondern Energieausgabe in bestimmter Form und Anordnung: Energieausgabe in zweckmässiger Form und zweckmässiger Bestimmung.

Sacher ist sich denn auch dessen bewusst, dass nicht nur sein „naturwissenschaftlicher Wertbegriff“, von dem er ausgeht [7], sondern auch sein specieller Tauschwert eine Abstraction von der heutigen Wirklichkeit ist.

Dieser naturwissenschaftliche Tauschwert wird heute nicht realisiert, und zwar nach Sacher vornehmlich, wenn auch nicht ausschliesslich, unter dor Rückwirkung der Verallgemeinerung des Zinses, bezw. des Wucherrechts. Mit der Erlaubnis des Zinsnehmens haben die Gesetzgeber den verhängnisvollsten Schritt wider die „tauschwertgemässe Bezahlung der Arbeit“ gethan. Wohl habe die Erlaubnis des Zinses für gewisse Wirtschaftsverhältnisse ihre Berechtigung gehabt und vorteilhaft gewirkt, und noch heute sei in bestimmten Fallen der Zins wirtschaftlich fördernd. Aber im allgemeinen überwiegen die schädlichen Rückwirkungen des Zinses, der einen ungeheuren, sich ständig mehrenden Tribut auf die Wirtschaftstätigkeit bilde, diese in falsche Bahnen lenke – zur Ueberproduction in kurzfristig lohnenden, zur Ablenkung von den erst in längerer Zeit sich bezahlenden Arbeiten – dadurch Krisen hervorrufe oder verschärfe, zur Herabdrückung des Arbeitslohns, Ausdehnung der Arbeitszeit führe, überhaupt die Volksmasse verelende.

Das Sachersche Buch ist in der Hauptsache eine Streitschrift gegen den Zins, mit vielen Uebertreibungen [8], aber auch vielen von den Verteidigern des Zinses gern übersehenen Wahrheiten über die Kehrseite der Zinswirtschaft. Man darf sich, jedenfalls nicht leichthin damit über den Zins hinwegsetzen, da.ss man ihn schlechtweg für ein Stück des Mehrwerts erklärt, das in Wegfall komme, wenn deri Mehrwert aufhöre, bis dahin aber ein Object des Streits zwischen Unternehmer und Geldcapitalist sei, an dessen Regelung die Arbeiterclasse kein Interesse habe. Es handelt sich dabei doch um etwas mehr. Zins wird auch in enormen Mengen erhoben oder gezahlt, wo es sich direct um Belastung der Allgemeinheit zu gunsten von Capitaleignern handelt, die, bei weniger gleichmütiger Beurteilung der Sache, vermieden werden könnte. Zins heckt Zins, resp. neue Zinsansprüche und wirkt so verzögernd auf die sociale Entwickelung, ist überhaupt in vielfacher Hinsicht ein Conservierer von Ausbeutungsverhältnissen und des auf ihnen beruhenden Wirtschaftssystems.

So viel wird man Sacher principiell zugeben müssen, auch wenn man, wie der Schreiber dieses, seiner Beweisführung in vielen Einzelheiten, widersprechen muss. Sie ist da durchaus tendenziös, schiebt kurzerhand dem Zins zur Last, was auf viele Ursachen sich verteilt, und widerspricht sich nicht selten. Wir können aber auf diese Puncte hier ebenso wenig eingehen, wie wir die verschiedenen treffenden Bemerkungen Saehers über den Gegenstand verzeichnen können. Darum nur noch die Bemerkung, dass der Verfasser an zwei, sehr leicht verständlichen Figuren den Güterumlauf veranschaulicht, wie er sich nach ihm

  1. im Wirtschaftsorganismus, der Zins erlaubt, vollzieht, und
  2. im Wirtschaftsorganismus, der keinen Zins gestattet, vollziehen würde.

Fragen wir, wie sich Sacher die Erreichung des ihm vorschwebenden Ziels, der zinsfreien Wirtschaft, vorstellt, so stossen wir auf eine seltsame Mischung radical staatssocialistischer und specifisch proudhonistischer Vorschläge. Der Handel soll verstaatlicht, der Bodenverkehr staatlich überwacht werden (amtliche bezw. gerichtliche Festsetzung der Bodenpreise und Pachtsätze; sowie Enteignung und gegebenenfalls Verstaatlichung unbebaut gelassenen Bodens). Das Recht des Arbeiters auf den Gegenwert seiner Arbeitsleistung soll durch Feststellung des wirtschaftlich genauen Tauschwerts der gebräuchlichsten Lohnarbeiten und Festsetzung darauf begründeter Mindestlöhne gesichert werden. Ausserdem soll der Staat durch Uebernahme von Betrieben, Gewährung von Staatscredit an einzelne Wirtschafter oder Genossenschaften, starken Rechtschutz der Käufer und allmähliche gesetzliche Einschränkung des Zinsfusses, den Rechts.gedänken des gesamtwirtschaftlichen Princips, gegenüber dem jedes Einzelinteresse zurückweichen muss, zur Durchführung bringen. Aus der Gesetzgebung aber muss, damit die Ausdehnung der Staatsgewalt nicht als Gefahr für die Freiheit des Wirtschafters, erscheint jedes einzelne Interesse entfernt werden. Die gesetzgebende Gewalt darf „nicht vom einzelwirtschaftlichen Princip“ geleitet werden.

Es ist wenig unter diesen Vorschlägen, wogegen man vom socialistischen Standpunct aus grundsätzlich Widerspruch erheben könnte; was fraglich ist, ist nicht der ihnen zu Grunde liegende Rechtsgedanke, sondern die Zweckmassigkeit des Weges zu seiner Verwirklichung. Wohin alle diese Massregeln streben, ist auf den ersten Blick ersichtlich, ob sie aber in Wirklichkeit in dem vermuteten Sinne wirken würden, ist weniger zweifellos. Der Verfasser will das gesamtwirtschaftliche Princip, wie er es nennt und das er zu betonen nicht müde wird, zum Siege führen, durch seine Verwirklichung die höchste Productivität für die Gesamtwirtschaft erzielen. Wären aber z.B. staatlich fixierte Bodenpreise das rechte Mittel dafür? Die Erfahrungen, die wir von solchen haben, sind dürftig-und geben, so weit sie vorliegen (Irland), noch keine völlig befriedigende Antwort. Was es mit dem naturwissenschaftlichen Arbeitswert auf sich hat, haben wir oben gesehen. Er ist eine Abstraction, bei der viele Elemente beiseite gelassen werden, die heut schon als Culturbedürfnisse in die Bestimmung des Arbeitslohns eingehen, und der keineswegs einen soliden Massstab abgiebt für das, was der Verfasser mit der Forderung meint, die den Abschluss seines Buches bildet: „Regelung der Verteilung der Arbeitsproducte nach der geleisteten Arbeitsgrösse.“

Bei aller Anerkennung vieler trefflicher Einzelheiten seiner Schrift und der ihr zu Grunde liegenden socialen Denkweise, können wir sie sonst doch nicht als Ganzes unterschreiben. Als Theorie entbehrt sie zudem des einheitlichen Gedankenganges. Entwickelungen auf Grund des eingangs auseinandergesetzten mechanischen Princips wechseln mit gewöhnlichen Wirtschaftsbetrachtungen utilitaristischer Natur. Und so edel das Rechtsprincip ist, das der Verfasser am Schluss entwickelt, so passt es doch zu einer naturwissenschaftlichen Gesellschaftsauffassung, wie die Faust aufs Auge, hat mit ihr keinen innerlichen Zusammenhang. Die consequente Anwendung des naturwissenschaftlicher Princips auf die Gesellschaft führt notgedrungen zum extremen Manchestertum; das „freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte“ ist die der Mechanik der Natur nächstverwandte Mechanik der Gesellschaft. Selbstverständlich kann man auch eine andere Mechanik der Gesellschaft aufstellen, abzielend auf eine zweckbewusste Organisation und Verwertung ihrer Kräfte, und wird dabei von einem Teil der Sacherschen Entwickelungen guten Gebrauch machen können. Aber die hat dann mit der Mechanik oder Wirtschaft der Natur nichts gemein, als das technologische Rohmaterial.

Fußnoten

1. Die vorstehende Abhandlung ward schon vor einiger Zeit von mir verfasst, gelangte aber unter Rückwirkung der bekannten Controversen bisher nicht zur Veröffentlichung. Ich bemerke dies deshalb, damit man in ihr nicht den Reflex einiger neuerdings mir zu teil gewordenen Kritiken erblicke.

Ich habe die Absicht, ihr einen Aufsatz über die Grenzen des Monismus folgen zu lassen, der im Entwurf ebenfalls nicht erst neuesten Datums ist in Verbindung mit ihm werde ich auch Dr. Franz Oppenheimer auf die mir in seinem Aufsatz: Socialliberalismus oder Collectivismus? (Socialistische Monatshefte, 1900, No.5, pag.274 ff.) gestellten Fragen antworten. Ich bin gern bereit, den Waffengang mit ihm anzutreten, und bemerke daher hier noch auf seine Beschwerde, ich hätte ihn in meinem ähnlich betitelten Aufsatz nicht als grundlegenden Theoretiker, worauf er Anspruch zu haben glaube, sondern auf Einzelheiten von secundärer Bedeutung hin, nicht mit Bezug auf die von ihm gefundenen Gesetze, sondern bloss an der Hand von ihm ausgearbeiteter, aber keineswegs überschätzter Vorschläge beurteilt, dass mir dies – die Einschätzung Oppenheimers als Politiker – durch die Fragestellung vorgeschrieben war, die meinen Aufsatz provocierte. Dass ich diesen Aufsatz keineswegs als erschöpfend betrachte, wird ihm mittlererweile das Vorwort zu dem Sonderabruck desselben gezeigt haben, sowie die dort hinzugefügte Schlussbemerkung. Bei alledem glaube ich aber doch deutlich genug angezeigt zu haben, worin mir Oppenheimers Theorie fehlzugehen scheint. Ob meine Einwände auf einem „denkträgen“ Eklekticismus beruhen, oder ob Oppehheimers Beweiskette durchgängig jenen monistischen Charakter trägt, in dem sie ihm erscheint, wird der Fortgang der Debatte zeigen.

2. Ed. Sacher: Gesellschaftskunde als Naturwissenschaft, Dresden, E. Pierson.

3. a.a.O., pag.4.

4. Dem Schreiber dieses passierte es einmal, dass er an zwei Tagen hintereinander unversehens den Verbindungsfaden zerriss, der ein Spinnweb, das an einem Strauch hing, an einem ändern befestigte, bezw. für die Spinne einen Weg zu diesem bildete. Am dritten Tage fand er den Faden nicht nur, wie am zweiten, wieder hergestellt, sondern auch mit einigen Querfäden mehr an dem Strauch befestigt wie zuvor. Hier lag unverkennbar Planmässigkeit. eine gewisse echte Künstlerschaft vor.

5. Besser wäre vielleicht Ausgangspunct. Denn wie aus verschiedenen Stellen seines Vorworts ersichtlich, will Sacher keineswegs als Vertreter eines engen Oekonomismus gelten Aber das Vorwort enthält auch Ausführungen, die einer naturwissenschaftlichen Auffassung der Gesellschaft direct widerstreiten, und doch will Sacher eine solche entwickeln. Es liegt eben hier der principielle Fehler seiner Schrift, das Substituieren von Teildefinitionen für das Ganze, vor.

6. Kein Zweifel, dass jeder geistige Vorgang mit Energieausgabe verbunden ist. Aber die Energieausgabe, die in einem Kunstwerk culminiert, kann geringer sein, als die in eine Stümperei hineingesteckte Energie.

7. Er definiert ihn so: „Der absolute Wert eines Dinges besteht in der gesamten ihm innewohnenden Energie.“ (pag. 25.) Eine Abstraction nicht nur von allem Tausch, sondern auch von aller Wirtschaft.

8. Auf Seite 277-78 erzählt Sacher, dass England derzeit auf 38 Millionen Einwohner 2 Millionen Almosenempfänger zähle, davon eine Million Arbeitsfähiger. Thatsächlich war der Durchschnitt der Almosenempfänger des ganzen Vereinigten Königreichs, die am 1. Januar jedes Jahres gezählt wurden, in den letzten zehn Jahren rund eine Million, davon 180.000 Arbeitsfähige. Die Sommeraufnahmen (1. Juli) ergaben 5 % Durchscnnittsverringerung gegen die Winterzahlen.


Zuletzt aktualisiert am 17.1.2009