Eduard Bernstein

Der Sozialismus einst und jetzt




Viertes Kapitel
Das Wesen der Gesellschaft des vorgeschrittenen Kapitalismus

Der Sinn des Begriffs Kapitalismus – Sein vielfältiger Inhalt und seine einfältige Ausdeutung – Der Kapitalismus als Träger des Fortschritts in der Produktion – Die Konzentration der Unternehmungen und der Betriebe – Die Raumverteilung der Betriebsklassen – Die Konzentration verhindert nicht die Vielheit der Unternehmungen – Die Zähigkeit der bäuerlichen Unternehmung – Die Klassenbildung und Klassengliederung – Die rasche Zunahme der Abhängigen und die langsame Verminderung der Selbständigen – Die Verstadtlichung des sozialen Lebens – Die gelernten und die ungelernten Arbeiter – Die Einkommens- und Vermögensklassen – Der nichtverengerte Flaschenhals – Die Beweglichkeit des Kapitals als Konservierer der Mittelklassen – Die Theorie der Wirtschaftskrisen und die Umkehr der Spirale – Die Rückwirkungen des Krieges auf die Wirtschaftsentwicklung und ihre Probleme

Um ein Bild vom Wesen der Gesellschaft des vorgeschrittenen Kapitalismus zu geben, was natürlich nur in großen Umrissen geschehen kann, muß ich die Materialien unserer deutschen Statistik entnehmen. Ich könnte sie freilich auch aus verschiedenen anderen Ländern haben, Marx nahm sie aus England, das ja seinerzeit das vorgeschrittenste Land der kapitalistischen Produktion und Wirtschaft war. Inzwischen ist aber Deutschland England sehr nahegekommen und hat vor dem Kriege eine sehr entwickelte Berufs- und Gewerbestatistik gehabt. Auch bietet es der Untersuchung gewissermaßen ein reineres Bild dar, weil die englische Volkswirtschaft durch das ungeheure Kolonialreich stark beeinflußt war, während Deutschlands Kolonialbesitz in den Jahren, um die es sich hier handelt, erst in seinen Anfängen war und auf die Gestaltung seiner Volkswirtschaft einen sehr geringen Einfluß geübt hat. Aber wenn wir von kapitalistischer Wirtschaft sprechen, dann müssen wir uns – was leider heute nicht so geschieht, wie es sein sollte – darüber klar werden, daß in dem Begriff „Kapitalismus“, sehr verschiedenartige Inhalte eingeschlossen sind, daß das Wort „Kapitalismus“, das heute so leicht hingeworfen wird, als ob es eine ganz einfache Sache ausdrücke, die eines Tages beseitigt werden könne, sehr viele Dinge zusammenfaßt. Um die Hauptsache zu erwähnen, so bezeichnet der Begriff kapitalistisch zunächst die Tatsache einer bestimmten Höhe der Produktion, die Zusammenfassung der Arbeit in großen Betrieben, die Anwendung von Maschinerien usw., die nur durch große Kapitalaufwendung möglich ist. So ist einmal der Begriff kapitalistisch Ausdruck für eine bestimmte Produktionsform. Der Kapitalismus ist aber noch etwas anderes; er ist auch ein Verteilungssystem, ein Verteilungssystem eben der Ergebnisse der Produktion unter der Herrschaft des Kapitals, das ein ganz anderes Verteilungssystem ist, als wir es auf früheren Stufen der Produktion, im Feudalismus, im Handwerk usw. vorfinden. Der Begriff umfaßt aber nicht nur ein Verteilungssystem und eine bestimmte Produktionsform, sondern drittens auch ein bestimmtes Wirtschaftsrecht. Das Rechtsverhältnis von Unternehmer und Arbeiter ist unter dem Kapital ein ganz anderes, als früher im Feudalismus und im Handwerk.

Man vergißt selbst in sozialistischen Kreisen häufig diese zusammengesetzte Natur des Kapitalismus. Wohin das führt, dafür möchte ich aus neuester Zeit ein Beispiel anführen. In diesen Tagen hat irgendwo in einem angesehenen Blatte ein Artikel gestanden, worin der Verfasser sagte: „Es ist die Tragik der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, daß sie, die grundsätzlich den Kapitalismus bekämpft und ihn beseitigen wollte, durch ihre Stellung in der Regierung genötigt ist, die kapitalistische Produktion erst wieder herzustellen.“ Ich bin nun in einer großen Versammlung gefragt worden, was ich zu dieser Tragik zu sagen habe. Ich bin nicht dazu gekommen, dort diese Frage zu beantworten, weil die Versammlung infolge von lärmenden Störungen abgebrochen werden mußte. Hätte ich die Zeit zur Antwort gehabt, so hätte ich gesagt, und privatim habe ich das auch nachher dem Fragesteller geantwortet: Ich sehe in der angegebenen Tatsache gar keine Tragik, sondern höchstens in der geistigen Vorbildung des Artikelschreibers. Gewiß ist es unleugbar die Aufgabe der Regierung, welche es auch sei, in modernen Ländern, vor allem in Deutschland in seiner eigenartigen Weltlage, wo es gezwungen ist zu bestimmten gewaltigen Leistungen, sofern man nicht gleich mit einem Schlage, wie es in Rußland versucht wurde, aber nicht geglückt ist, die Gesellschaft vollständig zu ändern und alle Lasten abzuwerfen – gewiß ist es Aufgabe der jetzigen Regierung in Deutschland, ob sie konservativ, liberal, demokratisch oder sozialdemokratisch sei, zunächst einmal die Wirtschaft wieder in Gang und Ordnung zu bringen und dadurch allerdings auch die kapitalistische Produktion zu erhalten oder ihre Lebensbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten zu sichern. Aber damit ist nicht gesagt, daß diese nun in allen Punkten bleiben muß, was sie vorher war. Man kann die Form der Produktion erhalten, aber das Rechtsverhältnis ändern. Ebenso kann man auch den Modus der Verteilung ändern. Zum Teil ist das erstere in Deutschland auch geschehen. Eine große Änderung ist eingetreten durch das Gesetz über die Betriebsräte, das zwar erst in seinen Anfängen steht, aber außerordentlich bedeutungsvoll und von großer Tragweite ist und mindestens grundsätzlich eine große Wandlung im Rechtsverhältnis von Unternehmer und Arbeiter einleitet. Es kann also die Betriebs- oder Wirtschaftsform erhalten bleiben und doch kann in ihrer Verfassung und Leitung eine große, sogar eine revolutionäre Änderung vor sich gehen. Im Kapitalismus haben wir aber als bleibende Tendenz die Vergrößerung der Betriebe. Nach der Marxschen Theorie führt die Entwicklung mit Notwendigkeit, unter dem Druck der freien Konkurrenz, zu immer größerer Konzentration der Unternehmungen, zur Akkumulation der Vermögen in Privathänden, bei Proletarisierung der großen Mehrheit der Bevölkerung, und damit zu einer ganz anderen Klassenschichtung und Verschärfung der Klassenkämpfe. Das haben wir zunächst zu betrachten.

Nach der Gründung des Deutschen Reiches, nachdem mit der Sonderhoheit der Einzelstaaten alle Hemmnisse des inneren Marktes gefallen waren und Deutschland zu einer Handelspolitik überging, die nach kurzer Zwischenzeit das System der Meistbegünstigungsverträge festlegte, mit Hilfe dessen Deutschlands äußerer Markt sich immer mehr erweiterte, hat Deutschlands Industrie in verhältnismäßig kurzer Zeit einen ganz gewaltigen Aufschwung genommen, so daß wir in einzelnen Teilen Deutschlands Entwicklungen gehabt haben, die an amerikanische Verhältnisse erinnern. Ich brauche nur das große rheinisch-westfälische Industriegebiet zu nennen, das in der Tat einen Vergleich mit den großen amerikanischen Industriezentren aufnehmen kann. Das Deutsche Reich hat bis zum Kriege dreimal allgemeine Berufs- und Gewerbezählungen gehabt. Zwischen der ersten und der letzten davon liegen 25 Jahre. Die erste Zählung fand statt im Jahre 1882, die zweite 1895 und die dritte 1907. Die Zählung von 1907 gibt uns also die letzten Vergleichszahlen. Was nun die Entwicklung der Betriebe in Industrie und Bergbau anbetrifft, so hat die deutsche Gewerbezählung die Betriebe eingeteilt in Klein-, Mittel- und Großbetriebe. Bis kurz vor dem Kriege wurden als Kleinbetriebe gerechnet solche von 1 bis 5 Personen, als Mittelbetriebe solche von 6 bis 50 Personen und alles darüber galt in der Statistik und Wissenschaft als Großbetrieb. In der Arbeiterschaft herrschte allerdings eine ganz andere Auffassung. Die Berliner Metallarbeiter haben im Jahre 1902 eine Zählung ihrer Berufsangehörigen vorgenommen, und da rechneten sie zu den Kleinbetrieben noch alles, was unter 500 Arbeiter hatte, zu den Mittelbetrieben rechneten sie solche von 500 bis 2.000 Arbeitern und erst darüber hinaus fing nach ihrer Auffassung der Großbetrieb an. Das ist für ihre soziale Einschätzungsweise überaus charakteristisch. Ich habe einmal in einer Versammlung der Dreher, nachdem ich dort einen Vortrag gehalten hatte, noch eine gute Weile zugehört, wie sie ihre eigenen Angelegenheiten behandelten, was immer sehr lehrreich ist. Da gab der Vorsitzende Bericht über die Untersuchung der Zustände in einem Unternehmen und bemerkte dabei im Ton ziemlicher Geringschätzung: „Ihr könnt Euch denken, was das für eine Krämerbude war, es waren da nur etwa 1.000 Arbeiter beschäftigt!“ Ein Unternehmer, der gegen tausend Arbeiter beschäftigt, ist meist schon ein Millionär; aber in der Auffassung der Metallarbeiter Berlins war sein Unternehmen im Grunde nur ein Kleinbetrieb.

Halten wir uns indes hier an die Angaben der Reichsstatistik. Sie zeigt in der ersten Periode von 1882 bis 1895, die 13 Jahre umfaßte, einen geringeren Aufstieg als in der nur 12 Jahre umfassenden Periode von 1895 bis 1907. Das ist begreiflich und beleuchtet die ganze Tendenz der Entwicklung. Um aber nicht durch zu viele Zahlen zu ermüden, lasse ich hier nur die runden Anfangs- und Endzahlen der ganzen Periode folgen. Danach entwickelten sich in diesen fünfundzwanzig Jahren in Industrie und Bergbau die Kleinbetriebe (1–5 Personen) der Zahl nach von 2.175.000 im Jahre 1882 auf 1.870.000 im Jahre 1907, die Mittelbetriebe der Zahl nach von 85.000 im Jahre 1882 auf 157.000 im Jahre 1907 und die Großbetriebe von 9000 im Jahre 1882 auf 29.000 im Jahre 1907. Nehmen wir nicht die Zahlen der Betriebe, sondern die der in den Betrieben beschäftigten Personen, dann waren in den Kleinbetrieben beschäftigt 1882 rund 3.270.000 und 1907 3.202.000, in den Mittelbetrieben 1882 1.109.000, 1907 2.715.000, in den Großbetrieben 1882 1.554.000 und 1907 4.940.000 Personen. Hier sieht man, wie der größere Betrieb in der Industrie gegenüber den kleineren einen immer größeren Raum einnimmt. Die Kleinbetriebe nehmen ab, aber verhältnismäßig wenig. Die Mittelbetriebe nehmen aber noch ganz bedeutend zu. Sie sind gestiegen von 85.000 auf 187.000 und nach der Zahl der beschäftigten Personen von 1.109.000 auf 2.715.000.

Wenn unzweifelhaft eine bedeutungsvolle Konzentration der Betriebe stattgefunden hat, so ist das doch nicht in dem Maße geschehen, wie man es annahm und wie es im Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie stand, daß nämlich die Mittelbetriebe verschwinden. Sie verschwinden eben auch in der Industrie nicht. Allerdings darf man nicht vergessen, daß Betrieb nicht dasselbe ist wie die Unternehmung. Eine Unternehmung umfaßt oft verschiedene Betriebe, die großen Unternehmen ganze Reihen von Betrieben, während die Statistik die Betriebe einzeln aufzählt. Hätten wir eine Statistik der Unternehmungen, dann würden wir eine wesentlich stärkere Konzentration festzustellen haben, als sie in den obigen Zahlen erscheint. In bezug auf die Industrie war ganz unleugbar die Theorie insofern richtig, daß eine zunehmende Konzentration der Unternehmungen stattfindet. Aber sie fand nicht in der Weise statt, daß die mittleren Betriebe und Unternehmungen verschwanden. Nur die ganz kleinen, die Zwergbetriebe, haben etwas abgenommen, im übrigen aber hat durchgängig ein Aufstieg stattgefunden von den kleineren in die mittleren und von den mittleren in die größeren Betriebe. Wir würden das noch deutlicher sehen, wenn wir die Unterabteilungen der drei hier verglichenen großen Gruppen heranzögen. Keine einzige dieser Abteilungen war aus der Reihe verschwunden. Es hatte lediglich eine Verschiebung nach oben sich vollzogen. Bestimmte Neubildungen haben sich jedoch gewissermaßen neben der allgemeinen Entwicklung ausgestaltet, indem nämlich ganz neue Industrien entstanden sind, die von vornherein als Riesenunternehmungen ins Leben traten. Man denke da an die großen modernen Lokomotivfabriken und Werften für Dampferbauten, an die Entwicklung der großen Elektrizitätswerke usw., wo ganze Industriezweige gleich als Riesenbetriebe ins Leben traten und nicht erst die Entwicklung vom Kleinbetrieb über den Mittelbetrieb zum Großbetrieb durchzumachen hatten.

Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Handel und Verkehr. Da haben wir sogar eine noch stärkere Vermehrung. Die Kleinbetriebe nahmen im Handel bedeutend zu. Der Handel ist ja oft die Zuflucht für viele aus der Industrie Verdrängte, die Etablierung des Kleinkrämers ist viel leichter als die des kleinen Fabrikanten. Im Handel und Verkehr war die Entwicklung von 1882 bis 1907 eine solche, daß sich vermehrten: die Kleinbetriebe von 676.000 auf 1.204.000, die Mittelbetriebe von 26.000 auf 76.000, die Großbetriebe von 463 auf 2.800. Im Handel waren die Großbetriebe, d. h. die Betriebe mit über 50 Personen, nicht so zahlreich wie in der Industrie. Wir haben zwar eine sehr bedeutende Zunahme der modernen Kaufhäuser, doch ist deren Zahl im ganzen nicht so übermäßig groß. Auch steckt im Handel hinter einer verhältnismäßig geringen Zahl von Angestellten oft schon ein sehr erheblicher Kapitalaufwand. Nach der Zahl der Beschäftigten berechnet, war hier die Entwicklung von 1882 bis 1907 bei den Kleinbetrieben von rund einer Million auf zwei Millionen, bei den Mittelbetrieben von 270.000 auf 878.000, bei den Großbetrieben von 54.000 auf 395.000. Hier tritt die Bedeutung der Zunahme der Großbetriebe stärker hervor. Aber während in Industrie und Bergbau die 5 Millionen Beschäftigten der großen Betriebe ebensoviel ausmachen wie die Beschäftigten der Mittel- und Kleinbetriebe zusammen genommen, ist das Verhältnis im Handel doch ein anderes, hier bilden sie erst den sechsten Teil.

Eine Erklärung für die große Vermehrung der Betriebe darf man allerdings nicht vergessen: das ist die ungeheure Steigerung der Produktion selber, die gewaltige Zunahme der Masse der Produkte. Sie erklärt es auch, warum sich neben den großen Unternehmungen im Handel so viele der kleinen halten können. Die moderne kapitalistische Produktionsweise erhöht ungemein die Produktivität der Arbeit. Der Warenmarkt wächst, und deshalb finden die kleinen Unternehmungen neben den großen immer noch einen Rahmen, dem sie sich anpassen können.

Ein ganz anderes Bild, als lange Zeit angenommen, zeigt die Entwicklung der Betriebe in der Landwirtschaft. Sie hat der ursprünglichen Auffassung eine große Enttäuschung bereitet, sie geradezu widerlegt. Weil in England in der Landwirtschaft der Großbesitz überwog, hatte man lange Zeit gefolgert, daß dies im Wesen der modernen Wirtschaft liege, und daß, wie in der Industrie, so auch in der Landwirtschaft die kleinen Unternehmungen immer mehr verdrängt würden von den Großunternehmungen. Das ist aber nicht eingetreten, sondern das Gegenteil ist geschehen. In der Landwirtschaft haben in den 25 Jahren die Großbetriebe an Zahl abgenommen, vermehrt haben sich nur die eigentlich bäuerlichen Betriebe und die ganz kleinen Zwergbetriebe. Die kleinen Landparzellen, die wahrscheinlich mit den Laubengärten zusammengerechnet werden, sind von 2 Millionen auf über 3 Millionen gestiegen. Bei Betrieben von 2 bis 5 Hektar beläuft sich die Steigerung in runden Zahlen von 980.000 auf 1.006.000. In diese Betriebe sind auch die Qualitätslandwirtschaftsbetriebe, die mehr gartenmäßig bewirtschafteten Betriebe eingeschlossen. Die mittleren Betriebe von 6 bis 20 Hektar sind gestiegen von 926.000 auf 1.065.000, und dann beginnt gerade bei den Großbetrieben von 20 bis 100 Hektar ein Abstieg. Ihre Zahl fällt von 282.000 auf 262.000 und die der Betriebe von über 100 Hektar von 25.000 auf 23.000. Hier zeigt sich also ein ganz anderes Bild der Entwicklung als angenommen. Die bäuerlichen Betriebe halten sich. Es ist das teilweise eine Folge von Eingriffen der Gesetzgebung. Sie hat allerhand Gesetze geschaffen, die dahin gewirkt haben, den bäuerlichen Betrieb konkurrenzfähig zu erhalten. Eine weitere Erklärung liefert die starke Entwicklung des Genossenschaftswesens in der Landwirtschaft sowie der Umstand, daß die landwirtschaftliche Produktion zum Unterschied von der Industrieproduktion wesentlich organische, von Naturvorgängen abhängige Produktion ist. Sie ist daher für die Hebung der Produktivität nicht so auf die Konzentration angewiesen wie die industrielle Produktion. Bemerkenswert ist nun, daß bei alledem, bei dieser Zunahme der Betriebe in der Landwirtschaft selber, die Zahl der in ihr Beschäftigten in den 25 Jahren erheblich zurückgegangen ist. In Deutschland hat die Bevölkerung in dieser Zeit zugenommen um rund 36 Proz. Dagegen ist die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft samt Angehörigen zurückgegangen von über 19 Millionen auf nicht ganz 17.700.000, so daß man beinahe sagen könnte, der ganze Zuwachs der Bevölkerung in dieser Zeit, der ungefähr 25 Millionen Menschen umfaßte, ist über die Landwirtschaft hinweggerauscht zur Industrie und hat, statt der Landwirtschaft etwas abzugeben, sogar noch 8 Proz. von ihr hinweggenommen. Statistisch betrachtet gilt das. In einzelnen Fällen mag es natürlich anders gewesen sein, im Gesamtbild hat aber die landwirtschaftliche Bevölkerung abgenommen und trotzdem hat die landwirtschaftliche Produktion zugenommen. Vor dem Krieg ging also Deutschlands Entwicklung immer stärker zum Industriestaat.

Nicht weniger wichtig als die Betriebsentwicklung sind die Veränderungen in der Stellung der Personen im Gewerbe. In der Industrie sind die Selbständigen weniger geworden, dagegen hat sich die Zahl der technischen und kaufmännischen Angestellten ganz bedeutend gehoben. Auch die Zahl der Arbeiter ist gewaltig gestiegen; ihre Vermehrung läßt in absoluter Zahl die aller anderen Berufsschichten hinter sich, im Verhältnis aber war doch die Zunahme der kaufmännischen und technischen Angestellten die größere. Ihre Zahl ist gestiegen in der Industrie von 99.000 im Jahre 1882 auf 686.000 im Jahre 1907, die Zahl der Arbeiter in der gleichen Zeit von 4 Millionen auf 8.600.000, während die Zahl der Selbständigen zurückgegangen ist von 1.861.000 auf 1.729.000. Die Angestellten sind also um 592 Proz., die Arbeiter um 110 Proz. mehr geworden. Im Handel und Gewerbe sehen wir ein ähnliches Bild. Dort haben jedoch auch die Selbständigen zugenommen, weil es ja leichter ist, sich im Kleinhandel zu etablieren als in der Industrie; ihre Zahl wuchs von 505.000 auf 843.000. Die im Handel Angestellten vermehrten sich aber von 141.000 auf 505.000 und die Arbeiter in Handel und Verkehr von 727.000 auf 1.959.000. Die Selbständigen haben danach zugenommen um 60 Proz., die Arbeiter um 169 Proz., die Angestellten aber um 257 Proz. In der Landwirtschaft finden wir auch in dieser Hinsicht wieder ein abweichendes Bild. Die Zahlen sind aber zum Vergleich weniger geeignet, weil 1907 eine andere Zählungsart beobachtet wurde als bei den beiden vorhergegangenen Zählungen. Es sind da nämlich die Personen, die dem Haushalt angehören und mitarbeiten, während sie in der früheren Statistik der Familie des Unternehmers, d. h. des Bauern, zugezählt wurden, in der neueren Statistik als Arbeiter gezählt worden.

Die ungeheure Zunahme der technischen und kaufmännischen Angestellten in Industrie und Handel ist die lebendige Illustration einer in der Marxschen Theorie zuerst mit der größten Schärfe hervorgehobenen Tatsache. Vor Marx unterschied die Nationalökonomie nur zwischen dem fixen Kapital, wie man das in Gebäuden, Maschinen usw. angelegte Kapital nannte, und dem beweglichen, dem zirkulierenden Kapital. Marx führte eine andere Unterscheidung ein: er unterscheidet zwischen konstantem und variablem Kapital. Konstant nennt er alles Kapital, das, wie der Verschleiß von Anlagen und Maschinen, der Aufwand von Rohstoffen und Hilfsstoffen usw., mit eingerechnet wird in die sachlichen Kosten der Produktion und deshalb im Preise des Produkts unverändert wieder erscheint, während die Ausgabe für die menschliche Arbeit – von Arbeitern und Angestellten – in erhöhter Form in dem Wert der ganzen Produktion zurückkommt. Sie nennt er variables Kapital. Der einzelne kann durch falsche Spekulation verlieren; im allgemeinen aber gilt als Grundsatz, daß der Unternehmer bei seiner Kalkulation zunächst das wiederhaben will, was er ausgelegt hat an Maschinen, Miete, Rohstoffen u. dgl. Daß dieses konstante Kapital in der Industrie im Verhältnis viel stärker zugenommen hat als das variable (Lohn usw.) Kapital, wird nun illustriert durch die im Verhältnis stärkere Zunahme des kaufmännischen und technischen Personals.

Kommen wir zurück auf die Verschiebungen der Berufsgruppierung in der kapitalistischen Gesellschaft. In der Land- und Forstwirtschaft haben wir die Berufszugehörigen in den 25 Jahren von 19 auf 17½ Millionen zurückgehen sehen. In Industrie und Bergbau wuchs dagegen die Zahl der Berufszugehörigen von 16 auf 26 Millionen, in Handel und Verkehr von 4 auf 8 Millionen. Dazu kommen aber hinzu die Angehörigen der freien und öffentlichen Berufe, die auch eine gewaltige Zunahme erfahren haben, nämlich von 1½ auf 2,6 Millionen. Alles das zeigt eine sehr bedeutsame Verschiebung an, eine ganze Veränderung des sozialen Charakters der Bevölkerung. Als das Deutsche Reich gegründet wurde, lebte noch weit über die Hälfte seiner Bevölkerung auf dem Lande und von der Landwirtschaft als Erwerbsquelle. Jetzt aber ernährte die Landwirtschaft als Berufszweig einen immer geringeren Teil der Bevölkerung; die Masse lebte von Industrie, Handel und Verkehr, von freien und öffentlichen Berufen. Im ganzen bedeutete das einen gewaltigen Kulturfortschritt, der allerdings auch seine Kehrseite hat: die Abkehr von der Natur und verschiedene andere Schäden. Unbestreitbar ist nur, daß im ganzen die Industrie die höhere Wirtschaftsform repräsentiert als die Landwirtschaft, trotz der Verbesserungen, die auch in dieser stattgefunden haben.

Eine weitere bedeutungsvolle Tatsache ist, daß, wie die Stadt auf Kosten des Landes wächst, das soziale Leben überhaupt sich immer mehr sozusagen verstadtlicht. Es ist das eine der charakteristischsten Erscheinungen der Epoche, die sich vor dem Kriege übrigens noch viel mehr als in Deutschland in England vollzog. Die Stadt spielt eine immer größere Rolle im ganzen sozialen Leben, und ein großer Teil dessen, was man lange Zeit die Agrarfrage genannt hat, besteht darin, daß, während in früheren Perioden der Bauer seine eigene Kultur hatte und auf sie stolz war, geradezu auf den Städter herabsah, er jetzt sein Leben selbst verstadtlicht, wie der Städter leben will, und wie er, so auch der Landarbeiter. Darin liegt ein großer Teil der Unzufriedenheit auf dem Lande; denn wenn der Bauer so leben wollte wie seine Väter, dann hätte es keine Agrarfrage gegeben. Der Preis der Bodenprodukte war gestiegen, das Geldeinkommen hatte in keiner Weise gelitten.

In der Arbeiterschaft der Industrie vollzieht sich gleichfalls eine Entwicklung, die unser Interesse beansprucht. Die Klasse ist, wie wir gesehen haben, gewaltig an Zahl gestiegen. Nun aber unterscheidet man in der Industrie zwei Gattungen von Arbeitern, die gelernten, d. h. in einer Lehrzeit ausgebildeten, und die sogenannten ungelernten Arbeiter. Früher sagte man qualifizierte und unqualifizierte Arbeiter, d. h. bezeichnete den gelernten Arbeiter als einen qualifizierten, den ungelernten als unqualifizierten Arbeiter. Es gibt aber, wie ein Unternehmer einmal sehr richtig gesagt hat, keine unqualifizierte Arbeit. Auch die ungelernte Arbeit muß gehörig geübt werden und erfordert oft in ihrer Weise erstens große Kraft und dann auch große Geschicklichkeit. Ich möchte keinem es zumuten, einmal mit einem Karrenschieber in dessen Arbeit es aufnehmen zu wollen. Wer das versuchte, würde bald bemerken, daß auch zu dieser Arbeit eine bestimmte Geschicklichkeit gehört und nicht nur Körperkraft. Immerhin steht der ungelernte Arbeiter sozial und ökonomisch unter dem gelernten Arbeiter, in Deutschland allerdings nicht ganz so stark wie in England. In England war die Trennung zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern bis zum Kriege viel stärker gewesen als in Deutschland. Daher die Erscheinung, die vielen, die nach England kamen, aufgefallen ist, daß sie dort eine ungeheure Zahl von tiefstehenden Arbeitern vorfanden, tiefstehend in der Art ihrer Lebensweise, tiefstehend in ihrer Wohnweise und tiefstehend auch in der Art der Kleidung. Sie schlossen daraus, daß überhaupt das Elend in England viel größer sei als auf dem Festlande. Aber es handelt sich da um eine Teilerscheinung, die sich erklärt aus der ganzen Geschichte der englischen Arbeiterschaft. Infolge besonderer Umstände bekam in England der Ungelernte, der Labourer, im Gegensatz zum Gelernten, zum Worker, einen sehr viel geringeren Lohn, nur etwa 60 oder gar bloß 50 Proz. vom Lohn des Gelernten, während in Deutschland der ungelernte Arbeiter bis 70 und 80 Proz. vom Lohn des Gelernten bekommt. Die Zahl der gelernten Arbeiter hat sich in Deutschland anders entwickelt als die der ungelernten. Seit 1895 ward bei der Berufszählung zwischen den beiden Kategorien unterschieden, so daß wir nun für die 12 Jahre von 1895 bis 1907 einen Vergleich der Entwicklung der beiden haben. Danach ist die Zahl der gelernten Arbeiter in der Industrie gestiegen von 4 auf 5,4 Millionen, aber die der ungelernten von 2,3 auf 3,9 Millionen, im Verhältnis also haben die letzteren eine sehr viel stärkere Vermehrung erfahren. Auf 100 gelernte kamen 1895 55 ungelernte Arbeiter, 1907 aber schon 73. Die vervollkommnete Maschine hat also hier vielfach statt gelernter ungelernte Arbeiter gebraucht. Trotzdem hat sich aber, und das ist das Wichtige, in dieser Periode, wo die Zahl der ungelernten Arbeiter so stark wuchs, die Zahl der gelernten Arbeiter in der Industrie immer noch stärker vermehrt als die Zahl der Gesamtbevölkerung. Die Gesamtbevölkerung ist in den 12 Jahren um 19 Proz. gestiegen, dagegen die Zahl der gelernten Arbeiter um gegen 29 Proz. Auch das ist charakteristisch für die ungeheure Entwicklung zum Industriestaat, die sich in Deutschland vollzogen hat.

Die Frage ist nun: Woher kam der Zuwachs der ungelernten Arbeiter? Sie führt auf eine sehr charakteristische Erscheinung. Zum Teil zogen deutsche Arbeiter vom Lande als Tagelöhner in die Stadt und wurden auf dem Lande durch Ausländer ersetzt, d. h. die landwirtschaftlichen deutschen Arbeiter gingen in die Industrie, und aus Polen und anderen Ländern wurde ein großer Teil Arbeiter, teils als Saisonarbeiter, teils aber auch als ständige Kräfte, für die deutsche Landwirtschaft gewonnen. Die deutsche Arbeiterschaft konnte sich auf diese Weise über die polnischen usw. Arbeiter hinweg auf eine höhere Stufe erheben. Indes war es auch für die Polen ein Aufstieg im Verhältnis zum Lebenszuschnitt in ihrer Heimat. Sie zogen nach Deutschland, weil sie da immerhin bessere Löhne erhielten als zu Hause. Bei alledem bleibt es ein bemerkenswerter Umstand, daß zum Teil nur auf dem Rücken jener ausländischen Arbeiter sich die deutsche Industrie und Industriearbeiterschaft in der geschilderten Zeit so entwickeln konnte. Ohne jene ausländischen Tagelöhner wäre ein Teil des großen Aufschwungs unmöglich gewesen, dessen Endresultat das war, daß jede Arbeiterschicht schließlich etwas höher stand als vorher, die Schicht der Gelernten im Verhältnis stärker zugenommen hatte als die Bevölkerung. In dieser Beziehung ist das Wort von Marx, das im Kapital steht und von vielen buchstäblich genommen wurde: „Die Maschine schlägt den Arbeiter tot“, nicht eingetroffen. Denn diese ungeheure Vermehrung der Arbeiter in der Industrie finden wir nicht nur in Deutschland, sondern gleichzeitig auch in England, in Frankreich, wie in allen Ländern moderner Entwicklung, und am stärksten davon in Amerika. Das erklärt sich aus einer Reihe von Gründen, die Marx nicht genügend berücksichtigen konnte.

Marx hatte seine Beispiele aus der Textilindustrie genommen, die zu seiner Zeit in England die maßgebende Industrie war. Aber die Faser setzte der Behandlung durch die Maschine viel geringeren Widerstand entgegen als Leder, Holz, Metalle usw. Während die Maschine in der Textilindustrie allerdings Teile der Arbeiterschaft beiseite geschoben hat, ist das in anderen Industrien nicht geschehen, sondern im Gegenteil, da hat die Arbeiterschaft sich gewaltig vermehrt, namentlich in den Industrien der Metalle, die ja allmählich in der Welt die Führung erhalten haben. Diese gesteigerte Entwicklung ist dadurch möglich geworden, daß es sich nicht nur handelte um Maschinen für die Herstellung von Gegenständen des persönlichen Verbrauchs, sondern um die große Erweiterung der Verkehrsmittel, der Eisenbahnen, Dampfschiffe usw. Die ungeheure Verdichtung des Eisenbahnnetzes, die in den verschiedenen Ländern, vor allem in den Vereinigten Staaten, aber nicht zum wenigsten auch in Deutschland vor sich gegangen ist, ist in der Hauptsache erst eingetreten, nachdem Marx sein Kapital geschrieben hatte. Man braucht nur eine Eisenbahnkarte aus den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, den Jahren, wo Marx sein Kapital schrieb, mit einer Karte von 1914 zu vergleichen, dann sieht man, welche kolossale Entwicklung das Eisenbahnwesen genommen hat. Die Verkehrsmaschinen selbst, die Lokomotiven, Dampfer usw., haben aber auch ihren Charakter geändert, sie sind riesenhaft gewachsen, und ihr Wachstum wie ihre Zunahme hat stark zurückgewirkt auf das Wachstum der Industrie und wesentlich beigetragen zur gewaltigen Industrialisierung nicht nur Deutschlands, sondern der ganzen Welt.

Dann haben wir aber auch ein weiteres zu verzeichnen. Die ungeheure Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums, die eine Folge gewesen ist der großen Vervollkommnung der Produktionsmittel, der ins Riesenhafte gesteigerten Gewinnung und Verarbeitung der Erze und Erdschätze, und fortgesetzten Steigerung der Produktivität der Menschen an den Maschinen hat als Zweites zur Wirkung gehabt eine große Förderung der Qualitätsarbeit in der Industrie. Die erste Wirkung der Maschinen war im Gegenteil die Herabdrückung der Qualität des Fabrikats gewesen, wie das Marx auch feststellt. Die billigen Fabrikate drängten die bessere, solide Arbeit zurück. Aber im weiteren Verlauf der Entwicklung steigt mit dem wachsenden Reichtum der Gesellschaft auch der Markt der Qualitätsindustrien, die wiederum eine zunehmende Beschäftigung von gelernten Qualitätsarbeitern herbeiführt. Diese Tatsachen, die große Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums mit ihren technischen Nachwirkungen, stellen uns nun vor die Frage: Wie wirkt das alles zurück auf die Klassengliederung in der Gesellschaft?

Die erste soziale Einwirkung der Maschinenindustrie war, daß sie mittlere Schichten der Bevölkerung zurückdrängte, das Proletariat vermehrte, und daß die Schicht der Reichen und ihr Reichtum wuchsen. So entstand in der sozialistischen Welt die Theorie, die lange Zeit agitatorisch in Aufklärungsvorträgen propagiert wurde – ich habe noch stark daran teilgenommen –, daß im weiteren Verlauf der kapitalistischen Entwicklung die Mittelschichten von der kleinen Schicht der Reichen vollständig verdrängt werden, während daneben das Proletariat und gleichzeitig auch seine Verblendung ungeheuer zunehmen. Der in seiner Art sehr bedeutende, wenn auch mehr konservativ gerichtete sozialistische Ökonom Karl Rodbertus stellte das im bildlichen Vergleich einmal so dar, daß die soziale Pyramide sich in der Weise eines immer mehr sich verengernden Flaschenhalses gestaltet. Ich habe das gelegentlich zeichnerisch so zu veranschaulichen versucht:

Pyramiden

Figur I zeigt die gesellschaftliche Pyramide in ihrem vermuteten Ursprung; unten die ärmeren Klassen, oben, in immer schmälerer Zuspitzung, die besitzenden Klassen. Mit dem Aufkommen der kapitalistischen Produktion bildet sich oben eine kleine Schicht von ganz Reichen, die Mittelschichten nehmen ab, die unteren Schichten aber zu. Die Pyramide gestaltet sich wie auf Figur II. Allmählich aber gewinnt sie die Gestalt des Flaschenhalses wie auf Figur III. Es schwillt an der Kopf der ganz Reichen, es verengert sich vollständig die mittlere Schicht und immer größer wird unten die Schicht des Proletariats. Es war Professor Julius Wolff, der die Theorie damit ironisierte, daß er sagte, nach ihr müßte es dahin kommen, daß eines Tages der Hals völlig verschwinde, nur noch ganz oben der Kopf sei und, jeder stützenden Zwischenschicht bar, unten in den breiten Boden der Flasche stürze. Die wirkliche Entwicklung hat aber diesen Weg nicht genommen. Wenn wir die Einkommensgliederung in den verschiedenen Ländern verfolgen, wie sie uns die Statistik zeigt, so erhalten wir ein ganz anderes Bild. Da für Deutschland als ein Ganzes erst jetzt eine Einkommensteuer eingeführt ist, müssen wir für Vergleichszahlen Preußen nehmen, das fünf Achtel des Deutschen Reichs umfaßt. Preußen hat seine Einkommensteuer im Jahre 1892 bei der bekannten Miquelschen Steuerreform grundlegend reformiert. Nehmen wir an, daß vor dem Kriege alle Zensiten mit unter 3.000 Goldmark Einkommen zum Proletariat gehörten und mit 3.000 Goldmark steuerdeklariertem Einkommen die Mittelschichten beginnen. Dann kommen oben zunächst die Schichten von 3.000–6.000 Mk. Einkommen, alsdann die mit 6.000–10.000 Mk. und hierauf die mit 10.000–30.500 Mk. Die letzteren sind schon gut bürgerliche Existenzen. Die Zensiten mit 30.500 bis 100.000 Mk. deklariertem Einkommen können wir als teils wohlhabend, teils reich rechnen und die mit über 100.000 Mk. Einkommen als die Schicht der ganz Reichen. Die letzten Zahlen über die Zensiten nach der alten Miquelschen Einkommensteuer liegen mir für 1916 vor. Von 1892 bis 1916, also in der Epoche des großen Aufschwungs der kapitalistischen Produktion, nun ist gestiegen die Schicht der ganz Reichen mit über 100.000 Mk. Einkommen von 1.780 auf 3.561, hat sich also mehr als verdoppelt; die Zahl der Wohlhabenden und Reichen ist in derselben Zeit gestiegen von 6.700 auf 22.000, hat sich also mehr als verdreifacht. Die Zahl der Wohlhabenden mit einem Einkommen von 6.000–30.500 Mark hat sich vermehrt von 104.000 auf 210.000, also gleichfalls mehr als verdoppelt. Auch diese Schicht hat weit über die Vermehrung der Bevölkerung hinaus zugenommen. Und schließlich hat die untere Mittelschicht, die man ganz ausgestochen wähnte, die Klasse der Zensiten mit Einkommen zwischen 3.000 und 6.000 Mk., sich gar vermehrt von 205.000 auf 578.000, also auf nahezu das Dreifache. Keine Schicht aus diesen Einkommensgruppen verschwindet also, im Gegenteil alle Zahlen nehmen zu. Wer sich die Entwicklung der Städte in den letzten Jahrzehnten vergegenwärtigt, wie der Zug zur Wohlhabenheit im Bau der Wohnungen und dergleichen sich immer stärker bemerkbar machte, der wird auch begreifen, daß dies gar nicht möglich gewesen wäre ohne die Zunahme der Mittelschichten im Einkommen.

Nicht ganz das gleiche Bild zeigt sich, wenn wir die Vermehrung der Vermögen an sich beobachten. Die Vermögenssteuer wurde in Preußen erst seit 1895 erhoben. Meine Zahlen reichen bis 1911. Sie umfassen also nur eine Periode von 16 Jahren, eine Zeitspanne, in der die Bevölkerung Preußens sich um etwa 25 Proz. vermehrte. Die Zahlen zeigen nur die versteuerten Vermögen, nicht die wirklichen, die ja höher sind, weil bei der Steuer alle möglichen Abzüge gemacht werden. Es haben sich nun in dieser Periode vermehrt die versteuerten Vermögen der Gruppe von 6.000 bis 32.000 Mk. Von 767.000 auf rund 1.200.000, die Gruppe 32.000 bis 100.000 Mk. Von 284.000 auf 419.000, die Gruppe 100.000 bis 500.000 Mk. Von 87.000 auf 136.099 und die Gruppe über 500.000 Mk – die Mark immer in Goldwert – von 15.600 auf rund 23.000. Überall findet man also eine Vermehrung. Die Pyramide hat sich nicht in der Richtung des Flaschenhalses entwickelt, sondern ziemlich gleichmäßig in allen Schichten. Das Proletariat ist sehr stark gewachsen, die Mittelschichten aber auch und ebenso die Oberschicht. Der Reichtum der Gesellschaft hat gewaltig zugenommen, aber an ihm haben nicht nur die ganz Reichen, sondern alle Schichten der Besitzenden teilgenommen.

Wenn die Entwicklung, wie man sie sich früher vorgestellt hatte, wie sie nicht nur Marx und Rodbertus, sondern auch Lassalle und alle anderen Sozialisten angenommen hatten, nicht eingetreten ist, so ist damit die sozialistische Bewegung noch nicht als überflüssig nachgewiesen. Was sich vollzogen hat, ist, daß die Spannung zwischen den großen Einkommen und dem Einkommen der Volksmasse bedeutend zugenommen hat, und darauf kommt es an. Die Pyramide der Einkommen und Vermögen entwickelt sich nicht im Sinne des Flaschenhalses, sondern etwa im Sinne einer umgekehrten Ziehharmonika. Man nehme an, eine Ziehharmonika werde auf die Seite gestellt und so beschwert, daß sie sich unten nur langsam heben kann, während eine andere Kraft sie nach oben zieht. Dann wird die Spannung zwischen der beschwerten Masse unten und den oberen Teilen immer größer werden, und das sehen wir tatsächlich in dem Verhältnis der zunehmenden Zahl der Reichen und ihrem wachsenden Luxus zu dem, der Masse nach am stärksten wachsenden Heer derjenigen, die sozial in ihren Diensten stehen. Die Vermehrung der Arbeiter und unteren Angestellten übertrifft der absoluten Zahl nach die aller anderen Klassen zusammen um ein Vielfaches. Wir sehen daran, daß die Entwicklung keineswegs als eine so gesunde bezeichnet werden kann, wie sie von Leuten hingestellt worden ist, die aus der Zunahme aller Schichten der Besitzenden nun eine vollständige Rechtfertigung der ganzen sozialen Entwicklung unter dem Kapitalismus herleiten. Nur eins ist unbestreitbar: der Kapitalismus hat den Reichtum der Gesellschaft ganz ungemein gesteigert; aber die Verteilung des Reichtums hat nicht in jeder Hinsicht die Entwicklung genommen, die die Sozialisten früher voraussetzten, sondern sie hat teilweise andere Bahnen eingeschlagen. Damit haben sich die Probleme, vor die der Sozialismus gestellt ist, allerdings verändert, und die Feststellung und Erkennung dieser Tatsache sowie die Frage, welche Folgerungen aus ihr zu ziehen waren, haben lange Zeit ein gewaltiges Streitobjekt theoretischer und praktischer Art unter Sozialisten gebildet.

Man könnte nun die Frage erheben: Wie läßt sich das Verbleiben der Mittelschichten vereinbaren mit der Konzentration der Betriebe unter dem Kapitalismus? Der Kapitalismus führt doch immer mehr zur Konzentrierung der Betriebe, immer mehr zur Großproduktion und Maschinenproduktion in der Gesellschaft. Wenn die kleinen und mittleren Betriebe zwar der Zahl nach fast unbeschränkt geblieben sind, so haben doch die Großbetriebe gewaltig zugenommen, nicht nur an Zahl, sondern namentlich auch in der Masse der von ihnen beschäftigten Personen. Und wie läßt sich jene Entwicklung der Reichtumsverteilung damit vereinbaren? Sie erhält zum Teil ihre Erklärung durch die Beweglichkeit des modernen Kapitals, die Beweglichkeit, die das Kapital erhalten hat vermittelst der großen Ausbreitung der verschiedenartigen Formen von Genossenschaften, zu denen ja grundsätzlich ebenfalls die Aktiengesellschaften gerechnet werden müssen, wie sehr sie auch rechtlich und in ihrer Struktur von anderen Genossenschaften abweichen. Die Form der Genossenschaft, des Kollektivkapitals, ermöglicht es einer ganzen Reihe von Schichten der Bevölkerung, sich am Bestand zu erhalten, die unrettbar hätten verschwinden müssen, wenn bei jeder Unternehmung immer nur eine Einzelperson oder eine ganz kleine Personengruppe Eigentümer hätte sein können. In Deutschland gab es im Jahre 1909 – das ist die letzte Zahl, die das Reichsstatistische Jahrbuch hierüber angibt – 5.222 Aktiengesellschaften mit einem Aktienkapital von rund 14 Milliarden Goldmark und 626 Millionen Mark Vorzugsaktien. Daneben gab es Genossenschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung in einer Zahl von 16.500 mit 3½ Milliarden Genossenschaftskapital. Des weiteren eine große Zahl eingetragener Genossenschaften, wozu dann noch kommt ein ganz gewaltiges Kapital von Obligationen der Aktiengesellschaften, das auch viele Milliarden ausmacht, und das ganz gewaltig zugenommen hat, nicht nur infolge der industriellen Entwicklung, sondern auch der militärischen Entwicklung, der steigenden Rüstungen usw., und nicht zuletzt die so stark angewachsenen Staatsanleihen. Durch alles das ist die Zahl der Inhaber von Anteilen an den Erträgen der Volkswirtschaft ungeheuer gestiegen. Wenn Lassalle von den Arbeiterbataillonen sprach, so kann man heute kaum noch bloß von Aktionärbataillonen sprechen, sondern muß schon von Armeekorps reden, unter die sich die Aktien der Industrie verteilt haben. Die Unternehmung selbst ist örtlich gebunden, aber die Aktie, das Kapital, wird immer beweglicher und kann von Hand zu Hand oder auch von Land zu Land gehen. Das zeigt sich sogar beim Grund und Boden, wo die Beweglichkeit des Eigentums ermöglicht wird in erster Reihe durch die Hypotheken, die unschwer ihre Besitzer ändern und geteilt werden können. Allein die Hypothek hat die volle Beweglichkeit nicht, diese hat jedoch der Pfandbrief gebracht. Es entstanden die Hypothekengesellschaften, die Hypotheken aufsammeln und für sie Pfandbriefe ausgeben, die nun, wie das Anleihepapier, jeden Tag den Inhaber wechseln können. Auf diese Weise konnte eine ungeheure Verteilung des Vermögens stattfinden, das in Grund und Boden angelegt war.

Die große Zunahme der Zahl der Aktionäre ist übrigens vom Standpunkte des Sozialisten aus eine keineswegs erfreuliche Erscheinung. Als erfreulich kann sie nur betrachtet werden von Anhängern des Kapitalismus, weil damit eine viel größere Zahl von Menschen an dessen Bestand interessiert werden, als es sonst der Fall wäre. Sie erklärt eine ganze Reihe sozialer und politischer Erscheinungen. In England sind die Brauereien außerordentlich konzentriert, aber das Brauereikapital ist Aktienkapital, und die Zahl der beteiligten Aktionäre geht in sehr viele Tausende. Das Braugewerbe ist nun in England in hohem Grade ein politisches Gewerbe. Bis in die Mitte etwa der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts waren die Brauer liberal, was in England auch demokratisch bedeutete. Sie waren freihändlerisch, weil sie interessiert waren an der freien Einfuhr der Gerste. Es gibt in England eine große Tageszeitung, die auf den Straßen nicht verkauft wird, die aber doch eine ansehnliche Verbreitung hat, den Morning Advertiser. Das ist das Blatt des Braugewerbes, das in allen Schankstellen ausliegt. Am Bier sind natürlich die Trinker auch interessiert. Die ganze politische Stellung des Braugewerbes hat sich nun dadurch geändert, daß die liberale Partei anfing, die Temperenz- und Mäßigkeitsbewegung nachhaltig zu unterstützen. Das brachte die Brauereien in Gegensatz zur liberalen Partei. Je mehr diese sich radikalisierte und für die Erleichterung von Verboten und Einschränkungen der Schankstätten eintrat, um so mehr hat sich der Gegensatz verschärft, und so ward in England das Braugewerbe mit seinem ganzen Anhang nicht nur von Trinkern, sondern auch Aktionären konservativ, und das erklärt wiederum die zeitweilig so bedeutende Stärkung der konservativen Partei in England. Damit in Verbindung steht das Interesse der Wettrennen, da die meisten Wetten in den Schankstätten abgeschlossen werden. Auch das hat eine ganz erhebliche soziale und politische Rückwirkung. Die ungeheure Verbreitung des Brauereikapitals und die Beteiligung des großen Publikums an sonstigen Interessen der Brauereien wirken hier politisch.

Die Beweglichkeit des modernen Kapitals ist also außerordentlich gestiegen. Beweglicheres als den Pfandbrief kann man sich kaum vorstellen. Man kann ihn um 1 Uhr an einer beliebigen Börse kaufen, und um ½ 2 Uhr kann er schon wieder verkauft sein. Ebenso jede Industrie- usw. Aktie. Diese ungeheure Beweglichkeit des Kapitals hat wieder dazu beigetragen, den Zug zur Stadt zu verstärken. Der nicht arbeitende Kapitalist, ob er nun sein Einkommen von der Landwirtschaft, vom Handel oder der Industrie zieht, kann jetzt in der Stadt wohnen. Wir haben das vor dem Kriege beobachten können, z. B. an den Steuerquoten. In den Orten der Berg- und Industriebezirke des Rheinlandes war der lokale Einkommensteuerzuschlag auf die Staatseinkommensteuer 200 bis über 300 Proz., aber hier in Berlin, wo ein großer Teil der Leute lebt, die ihr Einkommen aus jenen Produktionszweigen ziehen, ging man lange Zeit nicht über einen Zuschlag von 100 Proz. Wir haben z. B. in meiner Gemeinde Schöneberg lange darum kämpfen müssen, um endlich einmal die Mehrheit der Gemeindevertretung zu einer Erhöhung des Zuschlages um 10 Proz. auf 110 Proz. zu bewegen. In den Industriebezirken aber betrugen die Zuschläge 200 bis 300 Proz., weil die Aktionäre, an die der Reinertrag der Produktion ging, eben dort nicht wohnten. Die Industriebezirke hatten die Last für die große Arbeiterbevölkerung zu tragen, während das Kapital sich aus ihnen entfernte. Ähnliches konnte man übrigens auch in der sozialen Gliederung Groß-Berlins beobachten, wo die Inhaber und Aktionäre großer Industrieunternehmungen in den Villenvororten wohnten, während die Arbeiter dieser Unternehmungen in den Industriequartieren und deren Umgebung hausten.

Auf die verschiedenste Weise wuchsen so die Städte in Deutschland. Im Jahre 1867 wohnten in Deutschland noch ⅔ der Bevölkerung, 66,7 Proz., auf dem Lande, d. h. in den kleinen Gemeinden bis 2.000 Einwohner. An der Jahrhundertwende waren es nur noch 5/11, rund 45 Proz.; im Jahre 1910 war der Prozentsatz auf 40 gefallen, und es ist gar kein Zweifel, daß wir bis zum Vorabend des Krieges noch weiter heruntergegangen waren. Das Land entvölkerte sich immer mehr und die Städte wuchsen. Von 65 Millionen Einwohnern, die Deutschland 1910 hatte, wohnten nur noch 26 Millionen in den Gemeinden unter 2.000 Einwohnern. Dadurch wurde jene überwiegende Stadtkultur herbeigeführt, die, wie schon erwähnt, ein wichtiges Moment mit zur Verschärfung der sogenannten Agrarfrage gewesen ist. Mit dieser Entwicklung fast parallel ging die Steigerung des deutschen Außenhandels. Deutschland war Industriestaat geworden, und das Charakteristische des Industriestaates ist, daß er eine große Ausfuhr von Fertigfabrikaten hat bei einer ziemlich großen Einfuhr von Rohstoffen und Nahrungsmitteln. In Deutschland ist die Einfuhr von Nahrungsmitteln nicht so groß gewesen wie in England, wo die Produktion von Getreide im 19. Jahrhundert außerordentlich zurückgegangen ist, so daß es kaum den sechsten Teil seines Brotbedarfs selbst herstellte. Dies namentlich infolge seiner ungeheuren kolonialen Entwicklung, wobei man zu den englischen Kolonien im wirtschaftlichen Sinne der Bevölkerungsgliederung im Grunde auch die Vereinigten Staaten von Amerika rechnen muß, wenngleich diese politisch völlig unabhängig sind. Haben sie doch jahrzehntelang einen immer größeren Prozentsatz der englischen Bevölkerung aufgenommen. Von 1848 bis Mitte 1885 sind aus England über 6 Millionen Menschen ausgewandert, und der weitaus größere Teil davon zog in die Vereinigten Staaten.

Diese Riesenauswanderung erklärt manche Erscheinungen, die vielen Leuten lange Zeit unerklärlich dünkten. England hatte in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine gewaltige Arbeiterbewegung, die Chartistenbewegung, die einen geradezu revolutionären Charakter trug. Allmählich aber nimmt das ab, und als in Deutschland die sozialistische Bewegung schon ziemlich stark war, war in England von einer solchen fast gar nichts mehr vorhanden. Man hat dafür eine ganze Reihe Erklärungen angegeben. Ein Faktor liegt darin, daß die große Niederlage des Chartismus entmutigend gewirkt hatte, und ferner dämpfte den revolutionären Drang ein gewisses Entgegenkommen der bürgerlich-liberalen Parteien. Aber auch die Gewerkschaftsbewegung der Arbeiter nahm einen schläfrigen, fast völlig bureaukratischen Charakter an. Meines Erachtens hat dazu auch jene große Auswanderung beigetragen. Im allgemeinen wandern die geistig regsten Naturen aus, die darum noch nicht immer die besten Menschen sind. Wenn nun ein Land einen so großen Prozentsatz seiner regsten Elemente verliert, so kann das nur die Rückwirkung haben, daß bei den Zurückbleibenden die schläfrigen, indifferenten oder wenigstens nachgiebigen Elemente überwiegen, und so verursachte die große Auswanderung Englands auch jene Änderung im Charakter seiner Arbeiterbewegung.

Deutschland hatte bei einer viel zahlreicheren Bevölkerung eine erheblich geringere Auswanderung als England. Um so mehr entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten sein Außenhandel. Es belief sich im Jahre 1913, das letzte Jahr, für das wir eine vom Kriege unbeeinflußte Statistik haben, der Wert seiner Einfuhr an Rohstoffen auf 3½ Milliarden, seine Nettoeinfuhr an halbfertigen Fabrikaten auf 86 Millionen, an lebenden Tieren auf 280 Millionen, an Nahrungsmitteln auf nahezu 1,8 Milliarden, zusammen 5,6 Milliarden Mark Goldwährung. Dagegen betrug der Goldwert seiner Nettoausfuhr von fertigen Waren 4,8 Milliarden. Das ist das Bild des vorgeschrittenen Industriestaates, der Fertigfabrikate ausführt, in denen am meisten höhere menschliche Arbeit steckt, und dafür Rohstoffe, landwirtschaftliche Produkte und Halbfabrikate einführt, bei denen die menschliche Arbeit eine verhältnismäßig geringere Rolle spielt.

Was nun die auf dem Boden der kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft erwachsenden großen Geschäftskrisen anbetrifft, so zeigte sich die erste davon in England, dem Heimatland der modernen Großindustrie, im Jahre 1825, zehn Jahre nach Abschluß der napoleonischen Kriege. Die Wiederherstellung des allgemeinen Friedens in Europa hatte zunächst eine ungeheure Steigerung der Produktion und damit verbundene Prosperität zur Folge, die nahezu zehn Jahre anhielt, dann aber in eine große Krisis auslief, während der das Geschäft fast vollständig stagnierte. Solche allgemeinen Krisen wiederholten sich von da ab ziemlich alle zehn Jahre, und es erstanden verschiedene Theorien über ihre Natur, ihre Ursachen und ihre Zukunft, Theorien, die bald auch in der sozialistischen Welt zu lebhaften Diskussionen führten.

Hinsichtlich der Erklärung der Krisen stritten lange Zeit zwei Auffassungen: die eine leitete sie ab von der Überproduktion, die andere von der Unterkonsumtion, was durchaus nicht das gleiche ist. Die Unterkonsumtion wurde damit erklärt, daß man sagte, es ward viel mehr produziert als die Bevölkerung gemäß ihrer Zusammensetzung in der Lage war zu kaufen und daher auch nicht konsumierte. Man ging dabei von der Idee aus, erstens, daß die sozialen Mittelschichten verschwinden – die berühmte Flaschenhalstheorie –, und zweitens, daß die Lage der Unterschicht, der arbeitenden Klasse infolge ihrer wachsenden Zunahme sich beständig verschlechtere, ihre Vermehrung also zur Verelendung führe. So könne die Kaufkraft mit der Entwicklung der Produktion nicht Schritt halten und stellten sich von Zeit zu Zeit Krisen ein, die sich von Epoche zu Epoche immer mehr verstärkten. Die Theorie der Überproduktion hat zum Teil dasselbe Bild des Kreislaufs des allgemeinen Geschäftsganges zur Grundlage wie die Theorie der Unterkonsumtion, nämlich eine Periode mit gutem Geschäftsgang, die in eine solche mit fieberhaft erhöhter Produktion ausläuft, die Lager überfüllen sich, Geldknappheit tritt ein, und Zwangsverkäufe führen zu einem Geschäftskrach, an den eine Zeit der Stagnation, des allgemeinen Stillstands sich anschließt. Dann erholt sich das Geschäft allmählich, und der geschilderte Kreislauf wiederholt sich auf erweiterter Grundlage. Sie sagt aber auch, daß infolge der Anarchie der freien Konkurrenz auf dem Wirtschaftsmarkt tatsächlich überproduziert wird, nicht etwa bloß im Verhältnis zur Kaufkraft, sondern auf den verschiedensten Gebieten über den wirklichen Bedarf hinaus. Zum Beispiel mehr Rohstoffe und Halbfabrikate, als die vorhandenen Fabriken verarbeiten können. Solcher Anarchie gegenüber ist die Geschäftskrise ein Mittel zeitweiliger Heilung.

Eine andere Krisentheorie ist die des englischen Philosophen und Sozialökonomen Stanley Jevons. Sie bringt die Krisen in ursächlichen Zusammenhang mit dem Auftreten der Sonnenflecken, das sich alle zehn bis elf Jahre wiederholt und das auf die Gestaltung der Ernten ungünstig einwirkt, was bei der großen Bedeutung der Erträge der Landwirtschaft, d. h. der Preise ihrer Produkte für das Wirtschaftsleben, die Kaufkraft für Industrieprodukte verringert. Die Theorie hat das sozialistische Denken wenig beeinflußt, obwohl man zugeben muß, daß die Entwicklung der Landwirtschaft bei den Krisen ein großes Wort mitzusprechen hat. Bleiben wir daher bei den beiden vorerwähnten Theorien, von denen wir gesehen haben, daß ihr Streit die Tatsache und ihren ursächlichen Zusammenhang mit der kapitalistischen Produktions- und Wirtschaftsordnung unbezweifelt läßt. Auf Grund von bestimmten Sätzen in Karl Marx’ Kapital befestigte sich in sozialistischen Kreisen die Anschauung, daß eine gleichförmige Wiederholung der Krisen nach zehn Jahren der zunehmenden Produktionshöhe und Wirtschaftsanarchie widerspreche, sondern daß vielmehr der Zyklus allmählich immer kürzer werden würde. Dem Wesen der kapitalistischen Jagd um den Markt bei steigender Produktivität entspreche es, daß die Entwicklung sich vollziehe in Form einer Spirale, die immer enger wird, daß also die Krisen sich zeitlich häufen und immer größeren Umfang annehmen.

In der Zeit, wo die sozialistische Bewegung einen besonderen Aufschwung in Deutschland nahm, in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, schien diese Anschauung sich vollständig zu bestätigen. Nach dem Deutsch-Französischen Kriege trat in Deutschland zunächst eine ungeheure Prosperität ein, die aber ziemlich schnell ein jähes Ende nahm. Schon in den Jahren 1873/74 stellte sich ein großer Börsenkrach ein, und ihm folgte ein ungeheurer Stillstand der Geschäfte, der sich bis in die achtziger Jahre hinzog. In der Arbeiterwelt sah man eine große Verelendung vor sich und folgerte daraus auf den Bankrott der kapitalistischen Wirtschaft. Die marxistische Auffassungsweise drängte alle früheren sozialistischen Theorien zurück, und sehr stark wuchs die Meinung, daß man vor einem völligen Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft stehe. Dieser Zusammenbruch ist aber nicht eingetreten, sondern es stellte sich etwas anderes ein. Von Beginn der neunziger Jahre ab beginnt eine Prosperitätsperiode, die viel länger andauerte als die früheren Prosperitätsperioden, und der lange Zeit keine größere Stagnation folgte. Bürgerliche Ökonomen und auch Sozialisten sahen sich zu der Frage veranlaßt, wie diese Erscheinung zu erklären und was aus ihr zu folgern sei. Vielfach erkannte man, daß die Ursache in der ungeahnten Entwicklung des Transportwesens und der Weltwirtschaft liege, die eine gewaltige Erweiterung der Märkte bei großer Verbesserung des Nachrichtenwesens und der Handelsstatistik herbeigeführt habe. Die Geschäfte konnten besser übersehen werden. Ferner vollzog sich eine starke Organisation des Kapitals bzw. der Unternehmer in Kartellen und Syndikaten, die es ermöglichte, gewisse Wirkungen der Krisen abzuwehren, indem man die Produktion selbst teilweise einschränkte, um so dem ungeheuren Mißverhältnis zwischen Produktion und Absatz gewisse Grenzen zu ziehen. Ich selbst folgerte damals aus diesen und noch einigen anderen Erscheinungen, daß wir mit Krisen, wie sie sich vorher gezeigt hatten, wohl kaum in absehbarer Zeit zu rechnen haben würden, und habe das in einer Schrift, die ein gewisses Aufsehen machte, ausgesprochen. Es hat mir allerhand Entgegnungen eingetragen, darunter ganz besonders vom Ökonomieprofessor Ludwig Pohle. Meine Schrift war 1899 erschienen, und schon 1900 stellte sich eine neue Geschäftskrisis ein. Das hielt mir Pohle triumphierend entgegen. Aber Tatsache ist, daß jene Krise überraschend schnell ein Ende nahm und schon 1902 sich eine Erholung einstellte, die sehr lange andauerte, nämlich bis 1906/07, wo wieder ein Geschäftsdruck eintrat, der aber gleichfalls nur kurz war, und dem dann bis zum Weltkriege keine größere Depression gefolgt ist.

In der Tat ist also durch die Organisationen des Kapitals und eine ganze Reihe verwandter Ursachen der Umstand eingetreten, daß die Krisen der früheren Jahre sich nicht wiederholt haben. Krisenmomente und -faktoren sind ja immer da, aber auch Gegenkräfte, die zur Zeit, als Karl Marx schrieb, noch nicht zu übersehen waren. Übrigens hat bis zu einem gewissen Grade zur Milderung der Krisen auch beigetragen die gewaltige Steigerung der Rüstungen, die in steigendem Maße Arbeiter beschäftigten.

Der Hinweis auf die Tendenz der Abschwächung der Krisen ist aber durchaus nicht als Verteidigung der kapitalistischen Wirtschaft aufzufassen. Daß die Organisation des Kapitals bedeutende Nachteile hatte, habe ich wie andere nicht verfehlt hervorzuheben, und das muß auch hier geschehen. Die Krisen, wie sie vordem waren, hatten die eine gute Wirkung, daß das Bedürfnis der Entlastung des Marktes durch Verbilligung der Güter nicht aufgehoben, sondern gesteigert wurde, und damit auch die Rücksicht auf den Konsum der Massen zu ihrem Rechte kam. Die Krisen konnten – wie etwa das Fieber von den Ärzten – betrachtet werden als eine Art Reaktion des Wirtschaftskörpers zur Überwindung schädlicher Faktoren. Das war übertrieben optimistisch, aber ein Stück Wahrheit steckte doch darin. Wenn sich nun das Unternehmerkapital organisiert und die Krisen mindert, geschieht es zu dem Zwecke, durch Koalitionen die Preise hochzuhalten. Dadurch wird ein Hauptmoment der Verteidigung der kapitalistischen Wirtschaft, nämlich die ihr nachgerühmte ständige Verbilligung der Produkte und dadurch die Erweiterung des Konsums der großen Masse der Bevölkerung, beeinträchtigt oder aufgehoben. Man kann daher dieses kapitalistische Gegenmittel doch nur als von sehr bedingtem Nutzen betrachten und nicht als Mittel zu völliger Heilung von den Schäden, die die kapitalistische Wirtschaft im Gefolge hat. Es hebt die Steigerung des Wohlstandes der arbeitenden Klassen in außerordentlichem Maße wieder auf.

Nun haben wir allerdings Gegenaktionen der Arbeiter selbst in den Arbeiterorganisationen, Lohnkämpfen usw., die auch manches dazu beigetragen haben, die Rückwirkung des Druckes des Kapitals auf die Lage der Massen und die Herrschaft des Kapitals über die Produktion aufzuhalten. Zu erwähnen ist hierbei das Wachstum der Ansprüche der Arbeiter. Man kann es natürlich je nach den verschiedenen Standpunkten sehr verschieden auffassen. Der Sozialist wird diese Steigerung der Ansprüche für sehr wünschenswert halten. Er wird gegebenenfalls nur daran Anstoß nehmen, daß die erhöhten Einnahmen der Arbeiter falsch verwendet werden. Vergesse man aber folgendes nicht. Der Arbeiter, der lange Arbeitszeit hat, kann, wenn die Löhne steigen, nicht so schnell seine Lebensweise ändern, er wird daher den in guter Konjunktur erlangten Mehrverdienst in der Tat zum Teil vergeuden. Dazu, daß er ihn besser verwendet, gehört ein regelmäßiges Steigen, nicht ein Auf- und Absteigen und Sinken nach der Konjunktur. Abgesehen von der Berechtigung der Arbeiter, ihre Ansprüche zu erhöhen, darf auch ein Zweites nicht vergessen werden, nämlich, daß mit dem Steigen des Reichtums der bürgerlichen Gesellschaft allmählich auch dem Arbeiter die Lebensansprüche von selbst sich erhöhen. Er lebt doch in der Gesellschaft, sieht, was dort vorgeht, und muß sich der allgemeinen Entwicklung der Lebensgewohnheiten anpassen. Gewisse Wohnungen, mit denen er sich früher begnügte, werden nicht mehr hergestellt, weil die hygienischen Ansprüche gesteigert sind, und auch die Wohnungspolizei andere Grundsätze aufstellt. Die sozialen Ansprüche an den Arbeiter erhöhen sich, und er muß sie auch erhöhen. Das ist einer der Faktoren des ständigen Kampfes um die Löhne, und das führt uns hinüber zum Thema von den Klassenkämpfen in der modernen Gesellschaft.

Vorher möchte ich jedoch noch einiges sagen über die Rückwirkungen des Krieges und der Revolution auf die Wirtschaftsentwicklung. Im ganzen wäre es voreilig, hier prophezeien zu wollen, weil die Rückwirkung sich im ganzen noch gar nicht übersehen läßt angesichts der vollständigen Ungeordnetheit der Verhältnisse, die sich eingestellt haben. Wir übersehen noch nicht vollständig die wirtschaftlichen Rückwirkungen der großen Gegensätze zwischen den Nationen und die großen Verschiebungen innerhalb der Klassen. Wir haben noch keine Statistik darüber, ob die Entwicklung der Klassen, die oben vorgeführt wurde, in der Weise anhält, wie wir das im letzten Jahrzehnt vor dem Kriege gesehen haben. Wir können noch nicht übersehen, ob wir noch weiterhin etwa jene Zunahme der mittleren Einkommenschichten haben werden, die vor dem Kriege zu verzeichnen war. Es fehlt uns eine Statistik über die gegenwärtige Stärke der Klassen. Wie sie sich in Deutschland gestalten wird, ist ganz besonders deshalb schwer zu sagen, weil seine Industrie mit unberechenbaren Schwierigkeiten zu rechnen hat. Deutschlands Absatzmöglichkeiten in der Welt haben sehr abgenommen, Deutschlands sachliche Produktionskosten haben sich ungemein gesteigert. Es muß seine Rohstoffe, Erze usw. jetzt zum großen Teile aus Ländern mit hoher Valuta kaufen, und daher entsteht die große Frage, ob die Industrie noch weiter die Stellung in der Weltwirtschaft einnehmen kann, die sie vor dem Kriege eingenommen hat. Im allgemeinen wird wohl die Tendenz dahin gehen, daß wir eine Zunahme der Beschäftigung in der Landwirtschaft haben werden, das heißt eine relative Vermehrung der landwirtschaftlichen Bevölkerung, weil Deutschland nicht die Mittel hat, die Nahrungs- und Genußmittel in dem früheren großen Umfange aus dem Auslande zu kaufen. Ein großer Teil der deutschen Sozialpolitik wird jetzt darauf gerichtet sein, mehr Bevölkerung aufs Land zu bringen, als vom Lande in die Industrie und die Städte abfließt, eine Frage, an die sich eine ganze Reihe von Problemen des Sozialismus knüpfen. Das bloße Herausgehen der Arbeiter auf das Land würde unter den bisherigen Verhältnissen tatsächlich eine Herabsetzung ihres ökonomischen, sozialen und kulturellen Höhenstandes bedeuten. Es müssen daher Maßnahmen getroffen werden, diese Wirkung zu verhüten. Eine andere Erscheinung von Bedeutung ist die ungeheure Expropriation von Angehörigen der Mittelklassen durch den Sturz der Valuta. Hunderttausende von Kleinrentnern sind durch ihn vollständig proletarisiert worden. In welchem Umfange nun andere Klassen und Schichten durch ihn hochgekommen sind, das können wir gleichfalls noch nicht übersehen. Diese Dinge sind aber bedeutungsvoll für die Verschiebung der politischen Machtverhältnisse in der Gesellschaft, und auch das führt uns zurück auf die Frage der Klassenkämpfe in der modernen Gesellschaft. Sie sind der Gegenstand des folgenden Kapitels und leiten über zu der weiteren Frage der Theorien über den Staat in den Reihen der Sozialisten.


Zuletzt aktualisiert am 21. März 2020