Eduard Bernstein

Der Sozialismus einst und jetzt




Neuntes Kapitel
Die nächsten möglichen Verwirklichungen des Sozialismus

Die Welt, die Marx kannte, und die heutige Welt – Das Proletariat zur Zeit von Marx und die Arbeiterklasse am Vorabend des Weltkriegs – Durch Gesetz und Organisation erlangte Verbesserungen – Die Organisationen der Unternehmer – Die Volkswirtschaft im Kriege – Der sogenannte Kriegssozialismus – Die deutsche Revolution und die Zwangslage der deutschen Volkswirtschaft – Die neue Republik im Daseinskampf – Die Anstürme der Verführten des Bolschewismus lähmen die Schöpferkraft der Republik – Die Wahlergebnisse nötigen die Sozialisten zur Koalition mit bürgerlichen Parteien – Trotzdem sind sozialistische Verwirklichungen möglich – Die verschiedenen Wege der Sozialisierung durch die Finanznot erzwungen – Die Sozialisierung durch die Sozialpolitik – Kein großer Sprung, aber viele bedeutsame Übergänge – Ökonomie des Wollens verbürgt Erreichung des Gewollten

Dem Schreiber dieses wird der Ausspruch nachgesagt: „Das Endziel ist nichts, die Bewegung alles!“ Es ist mir jedoch nicht eingefallen, einen so begriffslosen Satz aufzustellen. In Wirklichkeit habe ich seinerzeit (im Frühjahr 1898) in einer Antwort auf den Vorwurf, daß in meinen Aufsätzen fast nie vom Endziel des Sozialismus die Rede sei, erwidert, ich habe für das, was man gemeinhin „Endziel des Sozialismus“ nenne, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, sei mir nichts, die Bewegung alles. Ich bekannte ein persönliches Uninteresse, war aber weit davon entfernt, einen Allgemeingültigkeit beanspruchenden objektiven Leitsatz aufzustellen.

Der Ausspruch wurde aber so aufgefaßt und gab Anlaß zu einem gewissen Lärm. Welche bestimmten Umstände dies bewirkt hatten, kann hier unerörtert bleiben. Soviel aber sei bemerkt, daß unter anderen Verhältnissen, als sie damals obwalteten, kaum jemand sich über ihn aufgehalten hätte. Denn in der Sache sagte er nichts wesentlich anderes, als was in den Sätzen ausgesprochen ist, die Marx im Jahre 1871 der von ihm verfaßten Ansprache des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation über den Bürgerkrieg in Frankreich einverleibte:

„Die Arbeiterklasse ... hat keine fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluß einzuführen. Sie weiß, daß, um ihre eigene Befreiung und mit ihr jene höhere Lebensform hervorzuarbeiten, der die gegenwärtige Gesellschaft durch ihre eigene ökonomische Entwicklung unwiderstehlich entgegenstrebt, daß sie, die Arbeiterklasse, lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen hat, durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden ... Sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoße der zusammenbrechenden Bourgeoisiegesellschaft entwickelt haben.“

Bei mir folgte dem zitierten Ausspruch der Zusatz:

„Und unter Bewegung verstehe ich sowohl die allgemeine Bewegung der Gesellschaft, das heißt den sozialen Fortschritt, wie die politische und wirtschaftliche Agitation und Organisation zur Bewirkung dieses Fortschritts.“

Es wäre nun abgeschmackt, den Eindruck erwecken zu wollen, daß zwischen dem Sinn des Marxschen Ausspruchs und meiner Bemerkung überhaupt kein Unterschied von Bedeutung sei. Ein solcher ist unbestreitbar vorhanden. Er besteht darin, daß Marx die angezeigte neue Gesellschaft schneller kommen, den Zusammenbruch der alten rascher sich vollziehen sah, als ich, und in dieser Annahme eine andere Sprache führte. Aber der Gedanke, daß die Bewegung und die sich aus ihr ergebenden Kämpfe das entscheidende seien und auf sie alles ankomme, ist auch bei ihm das Leitmotiv.

Seit Marx die vorgenannte Schrift verfaßt hat, ist ein gutes halbes Jahrhundert verflossen, und es kann die Frage aufgeworfen werden, ob er nicht doch geglaubt hat, daß es mit dem völligen Zusammenbruch der alten Gesellschaft nicht so lange dauern werde. Manches spricht dafür, und jedenfalls ist die Frage um der richtigen Beurteilung verschiedener Marxscher Aussprüche willen, die jener Periode seines Lebens angehören, der Untersuchung wert. Für unsere Betrachtung aber genügt die Feststellung der Tatsache, daß der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus hier unverblümt erklärt, die kommende neue Gesellschaft werde nur das Ergebnis „einer ganzen Reihe geschichtlicher Prozesse sein, durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden“.

Als Marx sein Hauptwerk, das Kapital, schrieb, befand sich die europäische Welt politisch wie wirtschaftlich im Fahrwasser des demokratisch gerichteten Liberalismus. Die Verfassungen wurden in seinem Sinne reformiert, die Einengungen der Presse und des Vereinsrechts gemildert oder aufgehoben, die Wahlrechte zu den Parlamenten erweitert. In England hatte der Freihandel gesiegt und schien von da aus seinen Siegeslauf durch die ganze kapitalistische Welt antreten zu wollen. Zollsätze wurden herabgesetzt und Handelsverträge mit der Klausel der Meistbegünstigung geschlossen, die eine Vorstufe zum vollen Freihandel darstellten. Die erwartete Ära des Weltfriedens wurde freilich durch die drei deutschen Kriege arg beeinträchtigt, aber die von ihnen bewirkte Schädigung des Wirtschaftslebens nicht allzu tief empfunden. Die kapitalistische Produktion machte Zeiten der Krise durch, blieb aber in aufsteigender Entwicklung; der Reichtum der kapitalistischen Länder wuchs, der Weltverkehr in Gütern nahm steigend zu, die Städte und Industriezentren dehnten sich aus, die Industrie- und Handelsunternehmungen vergrößerten sich, und in Zusammenhang damit nahm auch die industrielle Arbeiterschaft, das Proletariat, bedeutend an Zahl zu. Die liberale Epoche kam aber mit Ende der siebziger Jahre, um die Zeit, da Marx durch Krankheit gezwungen wurde, die Feder aus der Hand zu legen, zum Stocken. Eine Welle schutzzöllnerischer Reaktion flutete über die Welt und zog kolonialpolitische Strebungen imperialistischer Natur nach sich; die Beziehungen zwischen den Großmächten erfuhren eine Wendung zum schlechteren, die Bildung von Mächtekoalitionen begann und mit ihr eine Ära des Wettrüstens zu Wasser und zu Lande. Zu gleicher Zeit aber nahm die Arbeiterbewegung einen neuen Aufschwung, die sozialistische Internationale ward wieder ins Leben gerufen und übertraf in verhältnismäßig kurzer Zeit die alte Internationale in bezug auf Zahl der angeschlossenen Länder und innere Stärke ihrer Landessektionen.

Unter dem Einfluß all dieser Vorgänge erhielt die Welt der Länder moderner Entwicklung eine andere Physiognomie, als Marx sie gekannt hatte und voraussehen konnte. Eine geistige Reaktion in bezug auf die Beurteilung der Völkerbeziehungen und die Sicherheit im Innern bemächtigte sich der bürgerlichen Klassen. Sie wagten nicht den Krieg zu wollen und glaubten immer weniger an die dauernde Erhaltung des Friedens. Sie hatten nach dem Mißerfolg des Bismarckschen Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemokratie den Glauben an die Möglichkeit der Niederhaltung dieser durch Gewaltmittel eingebüßt und sahen sich doch der wachsenden Arbeiterbewegung gegenüber in die Verteidigungslinie gedrängt. In Deutschland war die Wirkung eine zunehmend schwächere Haltung des Bürgertums der Regierung gegenüber, und immer neue Versuche dieser, durch gesetzgeberische Zugeständnisse an die Arbeiter diese der Sozialdemokratie abtrünnig zu machen, was aber nicht gelang. Das Hauptstück der Zugeständnisse, die von Bismarck eingeleitete Arbeiterversicherung, hatte vielmehr die entgegengesetzte Wirkung. Sie gab den Arbeitern materiell zu wenig, um sie zu befriedigen, trieb aber in ihren sozialen Konsequenzen weit über das von Bismarck Gewollte hinaus. Sie schuf in den Organen der Versicherung (Krankenkassen, Beiräte der Unfallversicherung und der Invalidenversicherung) eine Beamtenschaft der Arbeiterklasse, die dieser im Laufe der Zeit für Organisations- und Vertretungszwecke anderer Natur eine große Fülle sachkundiger Persönlichkeiten zur Verfügung stellten. In der gleichen Richtung wirkten die Gewerbegerichte durch das Institut der Beisitzer aus der Arbeiterschaft. Unterstützt durch diese Einrichtungen breiteten sich in Deutschland die Gewerkschaften der Arbeiter im letzten Jahrzehnt des neunzehnten und weiter im zwanzigsten Jahrhundert in ungeahnter Weise aus, so daß sie schließlich die englischen Gewerkschaften an Zahl der Mitglieder nahezu erreichten, an innerer Durchbildung und wirkungsvoller Zusammenfassung der Kräfte aber noch übertrafen. Parallel damit wuchs die politische Organisation der Arbeiterklasse und ihre Presse, und mehrte sich die Zahl ihrer Vertreter in den staatlichen und örtlichen Parlamenten. Ein Netz von gesetzlichen und freien Vertretungen der Arbeiter überzog das Land, jede Stadt von irgendwelcher Bedeutung erhielt ein von der Arbeiterbewegung selbst geschaffenes und unterhaltenes Volks- oder Gewerkschaftshaus als Sammelpunkt und ein Arbeitersekretariat, wo der Arbeiter Auskunft über die ihn betreffenden Sozialgesetze erhielt, zugleich aber auch durch die Natur der Dinge auf die politischen und wirtschaftlichen Organisationen seiner Klasse aufmerksam gemacht wurde. Das neue Jahrhundert sah außerdem eine bedeutungsvolle Ausbreitung und Stärkung der Arbeiterkonsumgenossenschaften, deren Leiter und Angestellte das Heer der Beamten der Arbeiterschaft noch wesentlich vermehrten.

Auf der anderen Seite waren aber auch die Unternehmer nicht unorganisiert geblieben. Auf rein wirtschaftlichem Gebiete waren in allen Industrien Kartelle und Syndikate gegründet worden, um dem Druck der Konkurrenz auf die Preise Grenzen zu setzen, und in vielen Fällen auch dazu übergegangen, bei eingetretener oder drohender Überproduktion produktionsregulierend zu wirken, d. h. zeitweilig die Produktion systemgemäß einzuschränken. Ein noch engerer Zusammenschluß von kapitalistischen Unternehmungen fand in Gestalt von trustartigen Verbindungen und Fusionen oder Konzernen der großen Industrie statt. Zum Widerstand gegen die Gewerkschaften und sonstigen Koalitionen der Arbeiter wiederum waren Unternehmer- bzw. Arbeitgeberverbände geschaffen worden, deren Zahl schließlich so groß war, daß die von ihnen vertretenen Unternehmungen erheblich mehr Arbeiter beschäftigten, als gewerkschaftlich organisiert waren. Trotz ihrer Zahl und finanziellen Macht war ihre Widerstandskraft den Arbeitern gegenüber aber doch begrenzt. Es wuchs die Zahl der Fälle, wo sie es für klüger hielten, mit den organisierten Arbeitern Tarifverträge abzuschließen, statt ihnen einseitig die Löhne diktieren zu wollen, und in der Statistik der Gewerkschaften ist die Zahl der Fälle, wo Lohn- usw. Bewegungen ohne Zuhilfenahme von Streiks oder Aussperrungen zu Tarifabmachungen führen, erheblich größer als die Zahl der Fälle, wo es zum Messen der Kräfte im gewerblichen Kampf kommt.

So stellte sich in Deutschland am Vorabend des Krieges das soziale Bild der Industrie in verschiedenen Punkten wesentlich anders dar, als Marx es in Das Kapital vorausgezeichnet hatte. In dessen Kapitel Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation hatte es bei ihm geheißen:

„Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses [die Konzentration der Unternehmungen. Ed. B.] usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Druckes, der Degradation, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse.“

In Wirklichkeit war die Zahl der Kapitalmagnaten trotz der starken Konzentrationsbewegung der Wirtschaftsunternehmungen noch beständig gestiegen. So hatte in Preußen – eine Reichsstatistik gibt es bis jetzt darüber nicht – die Zahl der Zensiten mit über einer halben Million Vermögen in der Zeit von 1895, dem Jahr der ersten Aufstellung einer Vermögensstatistik, bis 1914 um mehr als 50 Proz. zugenommen, und noch stärker hatte sich die Schicht der obersten Einkommensklassen vermehrt. Aber auch die Schicht der mittleren Einkommensklassen war stärker angewachsen als die Gesamtbevölkerung, und wenn die erreichte Lage der Arbeiterklasse auch noch viel zu wünschen übrig ließ, so war sie doch wirtschaftlich und sozialrechtlich eine bessere, als etwa zur Zeit, wo Marx jene Zeilen geschrieben hatte. Große Kategorien von Arbeitern hatten den neunstündigen Arbeitstag errungen und wenige arbeiteten mehr als zehn Stunden. Das Lohneinkommen war dem Nennwert nach erheblich, der Kaufkraft nach weniger, aber immerhin nicht unwesentlich über die vormalige Höhe gestiegen. Gewerbeordnung, Gewerbegerichte, Tarifverträge bzw. Tarifämter, die Versicherungsgesetze, öffentliche und freigewerkschaftliche Arbeitsvermittelung und verwandte Einrichtungen hatten in Verbindung mit dem Koalitionsrecht dahin gewirkt, daß, statt Degradation, eine Hebung der rechtlichen Stellung des Arbeiters dem Unternehmer und dessen Beamten gegenüber eingetreten war. Elend war in bestimmten Schichten der Arbeiterwelt noch da, aber es hatte nicht zugenommen. Zeichen sind dafür unter anderem die Zunahme des Verbrauchs an Brotfrüchten und verschiedenen Genußmitteln sowie Textilwaren auf den Kopf der Bevölkerung; ferner der Rückgang der Sterbeziffern und die erhebliche Zunahme der Eheschließungen. Mit dieser letzteren ging freilich Hand in Hand eine kontinuierliche Abnahme der Geburten. Indes auch sie ist, wie jedem Sachkundigen der Bevölkerungswissenschaft bekannt, ein Zeichen abnehmender Massenarmut. Die Zunahme der Eheschließungen in der Epoche des vorgeschrittenen Kapitalismus widerlegte die gleichfalls von Sozialisten aus den Erscheinungen der Epoche der aufkommenden kapitalistischen Produktion abgeleitete Folgerung, daß der Kapitalismus zur völligen Auflösung der Familie im Proletariat führe.

Allerdings hatte der Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses diese Wirkungen nicht etwa selbsttätig herbeigeführt. Wohl war auch er nicht ganz unbeteiligt daran, in verschiedener Hinsicht hatte er ökonomische Vorbedingungen der sozialen Verbesserung geschaffen. Wie aber schon aus der obigen Aufzählung ersichtlich, war die Verbesserung selbst zum größten Teil Frucht sozialer Gegenaktion, einerseits der Gesetzgebung und Verwaltung, auf welche die Arbeiter in immer stärkerem Maße mittels politischen Drucks einwirkten, und andererseits der direkten Aktion der wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiter selbst. Welches immer aber auch die Kräfte waren, die das Bild anders gestaltet hatten, es war in bezug auf Klassengliederung und soziale Lage der Klassen nicht das, was Marx vorgezeichnet hatte. Und wenn, um Marx in kein falsches Licht zu stellen, bemerkt werden muß, daß dieser eben nur eine Tendenz gekennzeichnet hatte, was schon einschloß, daß die Wirklichkeit eine abweichende Entwicklung herbeiführen konnte, so war die Abweichung eben Tatsache und damit schon angezeigt, daß auch die weitere Entwicklung sich nicht nach jenem Schema gestalten werde.

Dazu kam noch, daß auf dem Lande die Entwicklung der Klassen sich überhaupt in anderer Richtung vollzogen hatte, als in Industrie, Handel und Verkehr. Hier war von einer Aufsaugung der mittleren und kleinen Unternehmungen durch die großen ganz und gar nichts zu verspüren. Sie legten im Gegenteil eine größere Zähigkeit als diese an den Tag. Auch dies wieder in hohem Grade durch Nutzbarmachung sozialer Gegenmittel, von denen in erster Reihe das sehr ausgebildete ländliche Genossenschaftswesen zu nennen ist, dessen volle Ausnutzung dem mittleren und kleinen Bauern fast alle technischen Vorteile zugängig macht, die dem mit beträchtlichem Kapital ausgerüsteten Großgrundbesitzer zur Verfügung stehen. Es sind aber noch andere, in der Produktion selber liegende Momente, welche für die Landwirtschaft eine andere Entwicklung der Betriebsgrößen zur Folge haben, als sie in der Industrie vor sich geht. Es sei davon nur der bedeutungsvolle Umstand erwähnt, daß die landwirtschaftliche Produktion wesentlich organische, auf die Zucht von Tier und Pflanze gerichtete, und nicht mechanische, totes Material bearbeitende Produktion ist.

Der Krieg hat an diesem sozialen Entwicklungsgang grundsätzlich nichts geändert. Er brachte zeitweilig ungeheure Verschiebungen in den Beschäftigungen der Klassen und Geschlechter mit sich. Für die Millionen männlicher Personen, die im Feld, in der Etappe und als Garnison in besetzten Gebieten gebraucht wurden, mußten weibliche Personen die in Industrie, Handel und Verkehr eingetretenen Lücken ausfüllen; die Berufstätigkeit der Frau erhielt eine bedeutende Erweiterung. Die Industrie wurde veranlaßt, ihre Produktion dem Kriegsbedürfnis anzupassen. Für die Fabrikation von Geschützen, Munition und Sprengstoffen wurden die bestehenden Werke vergrößert, neue hinzugebaut und viele Fabriken, die vordem Fabrikate ganz anderer Natur hergestellt hatten, auf die Produktion von solchem Kriegsmaterial umgestellt. Ferner wurde der Handel in Nahrungsmitteln und anderen wichtigen Bedarfsgütern aus Gründen der durch die Abschneidung der Zufuhren notwendig gewordenen Einschränkung des Verbrauchs unter öffentliche Kontrolle gestellt, zu welchem Zweck Zentralstellen für die verschiedenen Bedarfsartikel geschaffen wurden, die deren Abgabe an die Verbraucher regelten. Sie ward je nachdem von einem Nachweis der Benötigung abhängig gemacht, Artikel des täglichen Bedarfs (Brot, Fleisch, Milch usw.) wurden rationiert und durften von den Händlern nur gegen Marken abgegeben werden; auch wurden für sie Höchstpreise festgesetzt, über die hinaus dem Käufer keine Bezahlung abverlangt werden sollte. Für die Zentralisierung der Beschaffung bestimmter Fabrikate wurden unter Förderung durch die Behörden Kriegsgesellschaften gegründet, die auf die Produktion im Sinne der Ersparung falscher Kosten zurückwirken sollten.

Alles das zuletzt Geschilderte ist zu seiner Zeit von manchen als sozialistisch oder Verwirklichung sozialistischer Gedanken gepriesen worden und hat ja auch Berührungspunkte mit dem sozialistischen Grundsatz der Regelung von Produktion und Vertrieb unter dem Gesichtspunkt des Gemeinschaftsinteresses und der höchsten Wirtschaftlichkeit. Aber solche Art Zusammenfassung der Mittel und Unterordnung von Produktion und Handel unter das augenblickliche Interesse des großen Ganzen hat es schon oft in Kriegszeiten gegeben, und wenn man sie Sozialismus nennen will, dann wäre diese Art Sozialismus ziemlich so alt wie überhaupt der Krieg. Man hat sie Kriegssozialismus getauft, und in einer Hinsicht nicht ohne Berechtigung, indem sie nämlich den Krieg nicht überdauert hat. Das hat sie früher nicht getan, und ist in Deutschland auch diesmal nicht der Fall gewesen. Und zwar ist hier gerade das am schnellsten in Wegfall gekommen, was am meisten des Erhaltens wert war: der Schutz der Verbraucher gegen Überwucherung. Allerdings hatte er schon in den letzten Kriegsjahren an Wirksamkeit stark eingebüßt. Für viele Artikel war die Festsetzung von Höchstpreisen jedesmal das Signal gewesen, daß sie aus der öffentlichen Auslage der Händler verschwanden und nur noch hinten herum – im „Schleichhandel“ – zu Wucherpreisen zu erhalten waren. In der ersten Zeit sorgte der über die Gemüter gekommene patriotische Rausch dafür, daß die meisten sich den im Allgemeininteresse notwendig gewordenen Bestimmungen willig fügten. Als er aber nachließ, gewann Schritt für Schritt die Wucherei und ihre Unterstützung durch die Gedankenlosigkeit der einen und die Grundsatzlosigkeit der anderen so sehr die Oberhand, daß zuletzt es für Narretei galt, nicht Preise zu fordern, wie die zahlungsfähigen Käufer sie sich noch gefallen lassen würden, und nicht sich so zu ernähren, wie es einem die Mittel erlaubten. Die soziale Moral war schon stark erschüttert, als mit dem Zusammenbruch seiner Armee auch das Kaisertum selbst zusammenbrach.

Die Revolution konnte das weitere Umsichgreifen des eingerissenen Übels nur zeitweilig aufhalten. Noch hatten ihre natürlichen Widersacher, die Reaktionäre der verschiedenen Grade, sich von dem sie lähmenden Schrecken nicht erholt, da boten schon die von der bolschewistischen Regierung Rußlands in größtem Umfange mit Geld und anderen Propagandamitteln ausgestatteten Agitatoren für die Rätediktatur alle Kräfte auf, das Ansehen der jungen Republik im Volk zu untergraben. Von der großen Mehrheit derjenigen, welche die im Jahre 1919 an den verschiedenen Orten Deutschlands in Szene gesetzten Aufstände als Kämpfer mitmachten, darf man wohl sagen: sie wußten nicht, was sie taten. Daß die Unterwerfung Deutschlands unter die Gebote einer Rätediktatur eine platte Unmöglichkeit war, hätte sich jeder sagen können, der dessen ökonomische Lage und soziale Gliederung nur einigermaßen kannte. Woran das ganz überwiegend agrarische Rußland zugrunde gerichtet wurde, das hätte das so hoch entwickelte industrielle Deutschland noch weniger ausgehalten. Der höher ausgebildete Organismus ist gegenüber Eingriffen der Gewalt in sein funktionelles Leben viel empfindlicher als der tieferstehende. Immerhin wird man als Sozialist es bedauern müssen, daß die Periode der Regierung durch den Rat der Volksbeauftragten, die ja doch der Sache nach gleichfalls eine Regierung der Diktatur war, wenn auch, zu ihrer Ehre sei es gesagt, einer freiheitlichen, durchaus human und weitherzig gehandhabten Diktatur, in wirtschaftspolitischer Hinsicht nicht wirksamer ausgenutzt worden ist. Man hätte z. B. ohne nennenswerten Widerspruch aus den bürgerlichen Klassen, die froh genug waren, daß es ihnen von seiten der zur Herrschaft gelangten Arbeiterklasse nicht an den Kragen ging, und ohne Schaden für die Volkswirtschaft ein viel weitergehendes Anrecht des Staates am Boden und den Bodenschätzen durch Verfügung festlegen können, als es tatsächlich geschehen ist. Aber in die Notwendigkeit gedrängt, die Republik gegen die gewalttätigen Anstürme von links verteidigen zu müssen, mit den vielen, keinen Aufschub duldenden Aufgaben belastet, die ihr aus den Sorgen für die Unterbringung und Auflösung des zurückflutenden Millionenheeres, den unsicheren Zuständen im Osten und Nordosten, den Waffenstillstandsforderungen der Siegermächte und vielen inneren Verwaltungsangelegenheiten erwuchsen, kam sie innerhalb jener knapp drei Monate währenden Epoche um so weniger zur Beratung und Ausarbeitung der für eine solche, in Rechte verschiedenster Art eingreifenden Verordnung, als über die Abgrenzung der Rechte der Gesamtrepublik und der Republiken gewordenen Einzelstaaten noch weitgehende Meinungsverschiedenheiten herrschten und der Regelung durch die verfassunggebende Nationalversammlung harrten.

Außerdem war sie gerade in bezug auf die Fragen der Umwandlung von privatem in öffentliches Eigentum in ihren Entschlüssen nicht frei. Nach dem ganzen Gebahren der Siegermächte dem besiegten Deutschland gegenüber mußte mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß diese sich im Friedensvertrag für bestimmte Fälle ein Recht der Beschlagnahme öffentlichen Eigentums vorbehalten würden, und in der Tat ist das im Versailler Friedensdiktat geschehen. Gleich der erste Artikel des Abschnitts, der die Finanzfragen behandelt – Artikel 248 –, setzt fest, daß die aus dem Diktat den Alliierten zugesprochenen Ansprüche an Deutschland als „erste Last auf allen Vermögenswerten und Einnahmequellen Deutschlands und der deutschen Bundesstaaten“ haften.

Mit dem Zusammentritt der am 19. Januar 1919 gewählten Nationalversammlung nahm die Regierung des ausschließlich aus Sozialdemokraten bestehenden Rats der Volksbeauftragten ihr Ende. Nach Annahme eines Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt wählte die Nationalversammlung zwar am 10. Februar 1919 mit 277 von 379 Stimmen den Sozialdemokraten Fritz Ebert zum Präsidenten der deutschen Republik, das erste Kabinett aber war eine Koalitionsregierung aus 7 Sozialdemokraten, 3 Mitgliedern der Zentrumspartei, 3 Mitgliedern der Demokratischen Partei und einem der Demokratischen Partei nahestehenden parteilosen Minister. Von da ab hat Deutschland nur Koalitionsregierungen gehabt, die mit Ausnahme der Periode vom Juni 1920 bis Juni 1921, wo die Regierung ausschließlich aus Vertretern bürgerlicher Parteien bestand, aus sozialdemokratischen und bürgerlichen Ministern zusammengesetzt waren. Es ist nicht undenkbar, aber nicht sehr wahrscheinlich, daß die Wahlen der nächsten Jahre eine Mehrheit von Sozialdemokraten in den Reichstag bringen werden. Die Wahlen vom Juni 1920 zum ersten Reichstag der Deutschen Republik haben im Gegenteil eine relative Abnahme der sozialistischen im Verhältnis zu den bürgerlichen Stimmen ergeben. Während bei den Wahlen zur Nationalversammlung 13.827.000 sozialistische gegen 16.574.000 bürgerliche Stimmen abgegeben worden waren, war nun das Verhältnis 10.952.000 sozialistische gegen 15.065.000 bürgerliche Stimmen. Von nahezu 45,50 vom Hundert war der Anteil der sozialistischen Stimmen auf 42,1 vom Hundert zurückgegangen.

Da die stärkste der sozialistischen Parteien in Deutschland, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, kürzer Partei der Mehrheitssozialisten genannt, sich auf den Boden der Regierung durch die auf Grund allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts der erwachsenen Bevölkerung gewählte Volksvertretung gestellt hat, wird, solange jenes Stimmenverhältnis obwaltet, auf dem Wege der Gesetzgebung nur soviel Sozialismus zu verwirklichen sein, für wieviel es den Sozialisten gelingt, auf dem Wege der Verständigung oder der Demonstration die Zustimmung der vorgeschritteneren Elemente der bürgerlichen Parteien zu erlangen.

Das braucht nicht notwendigerweise wenig zu sein. Wie immer man sich den vollendeten sozialistischen Zustand denkt, so kann doch niemand darüber im Zweifel sein, daß er nicht mit einem großen Sprung erreicht werden, sondern nur das Ergebnis einer ganzen Kette von Maßnahmen sein kann, die in mehr oder weniger Zeit in Anspruch nehmenden Zwischenräumen zur Durchführung gebracht werden. Das haben die großen Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus bei verschiedenen Gelegenheiten anerkannt. Keine dieser Maßnahmen aber wird, keine darf unverträglich sein mit dem im betreffenden Zeitpunkt gegebenen Stand der wirtschaftlich-sozialen Entwicklung. Ist sie es, dann wird sie eben fehlschlagen und die Sozialisten, die sie forderten oder erzwangen, mehr schädigen als die bürgerlichen Parteien. Für diejenigen Maßnahmen aber, die mit dem erreichten Stand der wirtschaftlich-sozialen Entwicklung verträglich waren, haben sich, auch wenn sie noch so stark in die Rechte und in die Machtsphäre des Besitzes eingriffen, fast immer noch bestimmte Flügel der nichtsozialistischen Parteien gewinnen lassen.

Es ist also ein sehr genaues Eindringen in die voraussichtlichen Wirkungen wirtschaftlicher und sozialpolitischer Maßnahmen notwendig. Die Zusammenstellungen sozialistischer Maßnahmen, welche Marx und Engels bei verschiedenen Gelegenheiten – am Schluß des Kommunistischen Manifests, sowie als Programm der Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland nach Ausbruch der Revolution von 1848 – für den Fall der Besitzergreifung der politischen Macht durch die Arbeiter ausgearbeitet haben, können heute nur mit diesem Vorbehalt in Betracht gezogen werden. Teile von diesen Forderungen sind durch bürgerliche Bewegungen und Parlamente zur Verwirklichung gebracht worden; andere setzen den Zustand einer auf die Spitze getriebenen politischen Revolution und eine längst nicht mehr bestehende Einfachheit der Verhältnisse voraus und wieder andere bergen Probleme, deren ihre Verfasser sich nicht bewußt waren und bei jener Einfachheit der Verhältnisse auch nicht sein konnten. Dahin gehört zum Beispiel die Forderung des Kommunistischen Manifests: „Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol.“ Gegenüber dem hochentwickelten und weitverzweigten Kreditsystem unserer Zeit ist sie von einer geradezu kindlichen Simplizität. Ebenso die Forderung von 1848: „Die Hypotheken auf den Bauerngütern werden für Staatseigentum erklärt“, wo heute die Masse dieser Hypotheken in den Händen öffentlicher und halböffentlicher Institute (Sparkassen, Versicherungsgesellschaft usw.) sind. Die Forderung des Kommunistischen Manifests „Abschaffung des Erbrechts“ ist von dessen Verfassern im Programm aus der 1848er Revolution in „Beschränkung des Erbrechts“ abgetönt, und später nennt Marx sie in der Polemik gegen die Bakunisten eine Saint-Simonistische Marotte. Mit dem Fortschritt der Gesellschaft erhalten bestimmte Forderungen ein anderes Gesicht, muß der ihnen zugrunde liegende Gedanke in anderer Form praktische Anwendung finden. Es wird in der Arbeit für sozialistische Verwirklichungen eine sehr viel ausgearbeitetere Spezialisierung notwendig. Sie läßt die Fortschritte, die jeweilig gemacht werden können, kleiner erscheinen, als manche früher vollzogenen, sie werden aber dafür auf bedeutend größerem Umfange gemacht, als jene.

Nachdem durch die politischen Umwälzungen, die der Krieg im Gefolge gehabt hat, die staatspolitischen Rechtsforderungen der Sozialdemokratie in Deutschland und in den meisten anderen Ländern im wesentlichen zur Verwirklichung gelangt sind, handelt es sich darum, den sozialistischen Gedanken im Wirtschaftsleben zu immer stärkerer praktischer Anwendung zu bringen, Bestrebungen, für die heute der Sammelbegriff Sozialisierung gebraucht wird. Es liegt nahe, für ihn das deutsche Wort Vergesellschaftung zu setzen. Dieses sagt aber nicht ganz das Gleiche. Bei ihm denkt man fast nur an die Umwandlung von privaten Unternehmungen oder Gruppen von solchen in öffentliches und für die Allgemeinheit bewirtschaftetes Eigentum. Der Begriff Sozialisierung hat aber einen weiteren Rahmen. Er findet auch Anwendung auf die Umwandlung von Rechten auf die Unternehmung und über ihren Betrieb. Und das ist für das vorliegende Problem von nicht geringer Bedeutung.

Für die Umwandlung von Unternehmungen oder Industrien in gesellschaftliches Eigentum war, von örtlichen Unternehmungszweigen abgesehen, bisher die Verstaatlichung die gebräuchlichste Form, bei der es gleichgültig ist, ob der Staat Staat heißt oder Reich. Welche außerökonomischen Bedenken heute in Deutschland der Verstaatlichung entgegenstehen, ward oben dargelegt; es nehmen aber auch aus anderen Gründen nicht nur Bourgeoisökonomen, sondern auch Sozialisten Anstand, der Verstaatlichung als allgemein anwendbar das Wort zu reden. Man trägt Bedenken, die Industrie der Bureaukratisierung auszuliefern und möchte auch nicht das Staatsbeamtentum ins Unbegrenzte vermehren.

Ganz unbegründet sind diese Bedenken nicht. Was immer man der kapitalistischen Produktion vorwerfen kann, eines bleibt unbestreitbar und ist auch von Marx rückhaltlos anerkannt worden: sie war ein gewaltiger Faktor des technisch-ökonomischen Fortschritts, der Ökonomisierung von Material und Arbeit. Es wird nun bezweifelt, daß die bureaukratisierte Produktion das gleiche leisten würde – nicht nur, weil bei ihr der Antrieb zu durchgreifenden Verbesserungen der Technik nicht der gleiche ist, sondern auch weil der Wagemut des Unternehmers in Wegfall kommt. Es ist nicht, wie man in sozialistischen Kreisen angenommen hat, die Größe der Unternehmung, bzw. des Betriebes, die über deren Reife zur Sozialisierung entscheidet. Marx spricht im zitierten Kapitel seines Hauptwerks von dem „Punkt, wo die Konzentration der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle“. Aber dieser Punkt ist keineswegs in allen Produktionszweigen der gleiche. Es kommt daher heute, wo wir diesen Dingen näher stehen, durchaus darauf an, objektive Merkmale für die Eignung von Wirtschaftsunternehmungen zur Sozialisierung und für die besten Formen dieser zu suchen. Manches ist in dieser Hinsicht schon geschehen. Der aus der Praxis gekommene Stadtbaurat Alphons Horten, der sechs Jahre Direktor im Thyssen-Konzern und dann Leiter der großen de-Wendel-Werke war, gibt in seiner sehr lesenswerten Schrift „Sozialisierung und Wiederaufbau“ an der Hand praktischer Erfahrung eine Klassifizierung der Unternehmungen unter dem Gesichtspunkt der Eignung zur Sozialisierung und zeigt auf, was geschehen kann, bei dieser die Übel der Bureaukratisierung zu vermeiden. Maßgebend ist nach ihm die Frage, ob der in Frage kommende Produktionszweig schon in das Stadium angelangt ist, wo die Leitung im wesentlichen nur noch Routinewerk ist und bahnbrechende Neuerungen unwahrscheinlich geworden sind oder nicht. Ein anderes Merkmal ist nach der Ansicht des Schreibers dieses in der Natur des Erzeugnisses gegeben, ob es einem großen, in weiten Kreisen gleichmäßig vorhandenen Bedürfnis dient bzw. einen von Geschmack und Mode unabhängigen Absatz hat oder nicht. So daß also die Industrien der ersten Bearbeitung der Rohstoffe und die der Halbfabrikate zur Sozialisierung geeigneter erscheinen würden als die der Fertigfabrikate, wofür auch spricht, daß sie in viel höherem Grade der Konzentration in Großunternehmungen verfallen sind als die letzteren. Ein Beispiel dafür liefert die Textilindustrie, wo die Spinnerei ungleich stärker zentralisiert ist als die Weberei und Wirkerei.

Es ist also nicht unmöglich, die Vorbedingungen für eine wissenschaftlich-systematische Stufenfolge der Sozialisierungen zu ermitteln, die das Problem aus der Sphäre der kritiklosen Experimentiererei herausheben und Fehlgriffen vorbeugen würde. Das Gleiche gilt hinsichtlich der Stufen der Sozialisierung. Es kann auf vielen Gebieten sich als notwendig erweisen und ist auch sehr wohl möglich, diese letztere gradweise in die Wirklichkeit umzusetzen. Worum handelt es sich überhaupt bei ihr? Ihr Zweck läßt sich zusammenfassend kennzeichnen als die Erzielung spezifisch wirtschaftlicher und allgemein sozialer Wirkungen sowie die Änderung des Rechtsverhältnisses der in der Wirtschaft tätigen Menschen. In erster Hinsicht zielt sie ab auf die größte Produktion von materiellen Gütern unter der größtmöglichen Ökonomie an Sachwerten und menschlicher Arbeit; in zweiter auf die möglichst umfassende Durchführung des Grundsatzes der Genossenschaftlichkeit im Arbeitsprozeß und bei der Regelung des Entgelts der Arbeit sowie um die Hebung der Rechtsstellung der als Angestellte und Arbeiter in der Wirtschaft tätigen Personen. Alle tiefgreifenden Maßnahmen der Gesetzgebung und Verwaltung, die auf die Verwirklichung dieser Ziele gerichtet sind, gehören zum Bereich der Sozialisierung. Die Sachkundigen stimmen nun darin überein, und die vom sozialistischen Rat der Volksbeauftragten zusammengesetzte Sozialisierungskommission erklärte in ihrem ersten Bericht ausdrücklich, sie sei

„... sich bewußt, daß die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nur in einem länger währenden organischen Aufbau erfolgen kann, ...“

und nachdem sie festgestellt hatte, daß die erste Voraussetzung aller wirtschaftlichen Reorganisation die Wiederbelebung der Produktion sei und die wirtschaftliche Lage Deutschlands „gebieterisch die Wiederaufnahme der Exportindustrie und des auswärtigen Handels“ erfordere, verkündete sie es des weiteren als ihre Ansicht,

„... daß für diese Wirtschaftszweige die bisherige Organisation gegenwärtig noch beibehalten werden muß. Ebenso erfordert die Ingangsetzung der Industrie die Aufrechterhaltung und Erweiterung des Zirkulationskredits und damit die ungestörte Funktion der Kreditbanken ...“

Auch werde im Interesse der Lebensmittelversorgung „nicht vorgeschlagen werden, in die bisherigen Besitz- und Betriebsverhältnisse der bäuerlichen Verhältnisse einzugreifen“. Hier solle „durch der Landwirtschaft angepaßte Maßnahmen und durch Unterstützung der Genossenschaften die Produktivität gehoben und die Intensität gesteigert werden“.

Die gesperrt gesetzten Worte weisen auf das oben als spezifisch wirtschaftlichen Zweck der Sozialisierung Gekennzeichnete hin.

Im gewöhnlichen Verlauf der Dinge wird in der kapitalistischen Wirtschaft die Intensivierung und die höhere Produktivität der Arbeit durch den Druck der Konkurrenz erwirkt, welche die Unternehmer einander im Kampf um den Markt bzw. den Absatz machen. Die Methoden, mittelst deren sie erzielt werden und die zuletzt nichts weiter sind als Ersparung von menschlicher Arbeit, sind von Marx im Kapital in den Kapiteln über den Kampf um den Mehrwert geschildert, denn der Kampf um den Markt ist ein Stück des Kampfes um den Mehrwert. Nicht unter allen Umständen aber tritt jenes Resultat ein. Wo sich Monopolverhältnisse entwickeln, und die sind überall vorhanden, wo die Nachfrage nach Waren das Angebot übersteigt, nimmt der Drang der Unternehmer nach Intensivierung der Arbeit entsprechend ab und kann unter Umständen einschlafen. Die Folgen sind Teuerung der Waren und Notstand in weiten Kreisen der Bevölkerung, so daß die Fragen der Steigerung der Produktivität beziehungsweise der Intensivierung der Produktion Gegenstände eines hohen sozialen Interesses werden. Zeichen davon sind in verschiedenen Gegenden als Nachwirkungen des Krieges zu verspüren.

In Deutschland haben die Pflichtleistungen an die Siegermächte ebenfalls die Ersparung von Arbeit zu einem sozialen Interesse gemacht. Nun sind jedoch hier infolge des Warenmangels Unternehmungen noch rentabel, die tatsächlich in bezug auf Größe und Einrichtungen hinter der Durchschnittshöhe der Produktionsentwicklung zurückgeblieben sind. Ihr Fortbestand heißt also volkswirtschaftlich Vergeudung von Arbeit durch Produktion unter rückständigen Arbeitsmethoden und Vergeudung von Arbeit durch unnötige Zersplitterung der Produktionsstätten. Um ihr entgegenzuwirken, sind Vorschläge zu einer Umorganisierung der Volkswirtschaft ausgearbeitet worden, für die der Name Planwirtschaft gewählt worden ist und die ins Gebiet der Sozialisierung gehören.

Der Gedanke der Planwirtschaft knüpft an Maßnahmen an, die in der Kriegszeit im Angesicht der wirtschaftlichen Kriegsnotwendigkeit auf Anregung und nach ausgearbeiteten Plänen des ideenreichen Großindustriellen Walter Rathenau und des Sozialökonomen Wichard von Möllendorf behördlich angeordnet wurden und in der großen Industrie von kartellierten Produktionsgruppen unter Beibehaltung kapitalistischer Überschußwirtschaft mit dem amerikanischen Trust als Vorbild durchgeführt worden sind. Es sollen auf Grund reichsgesetzlicher Vorschrift Verbände von Unternehmern ganzer Produktionszweige ins Leben gerufen werden, die nach Orten und Bezirken organisch zu gliedern sind und in deren Leitung die Allgemeinheit, die Unternehmer und die Arbeiter und Angestellten durch ernannte oder gewählte Vertrauenspersonen vertreten sind. Diese Leitungen sollen auf Organisation, Gliederung und Gebahren der Industrie einen weitgehenden Einfluß im Sinne möglichster sozialer Ökonomie ausüben, und ihre Zentralen sollen die Einfuhr und Ausfuhr, unter dem Gesichtspunkt der Dringlichkeit des Bedarfs und der allgemeinen Wirtschaftslage Deutschlands, regelnden Vorschriften unterwerfen. Sie sollen das Recht haben, unnütze Zwischenglieder der Wirtschaft auszuschalten und auf alle Verbesserungen in der Organisation der Produktion und den Arbeitsmethoden hinzuwirken, die dem Zweck der möglichsten Senkung der Preise dienen. Sie sollen durch Feststellung von Tarifverträgen und ergänzende Verordnungen solche Arbeitsbedingungen herbeiführen, die das Arbeitsverhältnis möglichst zufriedenstellend gestalten.

Gegen diesen Plan, den Rudolf Wissell, der erste sozialdemokratische Wirtschaftsminister der Deutschen Republik, zu einem umfassenden System ausgearbeitet hat, sind außer von bürgerlichen Theoretikern und Interessenten auch von sozialistischer Seite scharfe Einwände erhoben worden. Vor allem wird ihm vorgeworfen, daß er den kapitalistischen Unternehmer beibehalte und möglicherweise in der Praxis sogar dessen Macht noch verstärken werde. Er stehe der so dringend notwendigen Vollsozialisierung von Industrien allgemein gebrauchter Rohstoffe, wie Kohle und Eisen, im Wege und könne sehr leicht das Wirtschaftsleben schädigende bureaukratische Verfügungen und Eingriffe züchten.

Die Möglichkeit solcher Mißgriffe ist nicht ganz ausgeschlossen, aber bei der vielseitigen Zusammensetzung der Leitungen sind sie nicht allzu wahrscheinlich, auch würden Verfügungen, welche sich als nachteilig erweisen, unschwer abzuändern sein. Ebenso ist nicht abzusehen, warum und wie die Verbände bei demokratischer Zusammensetzung und der im Plane liegenden beständigen öffentlichen Kontrolle die Macht der kapitalistischen Unternehmer noch stärken sollen. Es kommt ganz auf ihre Zusammensetzung an, ob der dies behauptende Einwand sich als gerechtfertigt erweisen würde oder nicht, der dem Plan zugrunde liegende Gedanke wird durch ihn nicht widerlegt. Das Gleiche gilt von dem Einwand, daß die planwirtschaftliche Organisation und Regelung von Produktion die Vollsozialisierung von Kohle, Eisen usw. aufhalten oder gar verhindern würde. Die Widerstände, mit denen diese zu kämpfen hat, erweisen sich als nicht geringer, wo wir die planwirtschaftlichen Verbände oder etwas ihnen Nahekommendes nicht haben.

Und Deutschland wird etwas dieser Art haben müssen. Die weltwirtschaftlichen Bedingungen seiner Volkswirtschaft und die auf ihm lastenden finanziellen Verpflichtungen machen es ihm unmöglich, längere Zeit bei dem Zustand der wilden Konkurrenzanarchie zu verharren, der der Beseitigung der Zwangseinrichtungen der Kriegsjahre und der ersten Jahre der Nachkriegszeit gefolgt ist. Zur Zeit, wo dieses geschrieben wird, hält der niedrige Stand seiner Währung seine Ausfuhr und rückwirkend seine Produktion auf solcher Höhe, daß es im Gegensatz zu den Ländern mit hoher Valuta so gut wie keine Arbeitslosigkeit kennt. Jedoch geht eines nach dem anderen jener Länder dazu über, Zuschlagszölle und andere Schutzmaßnahmen gegen die Konkurrenz der Länder mit tiefer Valuta einzuführen, und je mehr sich diese Maßnahmen verallgemeinern, wie das zum Beispiel in den Vereinigten Staaten schon durch Gesetzgebungsakte eingeleitet ist, um so mehr wird der aus der niedrigen Valuta erwachsende Vorteil schwinden, während der Nachteil der erschwerten Beschaffung von vollwertigen Zahlungsmitteln für den Ankauf von Rohstoffen, die Deutschland nicht selbst erzeugt, und für die Zahlung seiner Auslandsverpflichtungen bleibt. Der Übergang zu durchgreifenden Maßnahmen für die stärkere Ökonomisierung seiner Volkswirtschaft wird dann Gebot der Selbsterhaltung, und wenn man sie nicht den Zufälligkeiten und Grausamkeiten des kapitalistischen Konkurrenzkriegs überlassen will, wird man zu Maßnahmen schreiten müssen, wie sie in den Entwürfen zur Planwirtschaft vorgezeichnet sind, wenn auch vielleicht nicht ganz so schematisch. Diese Maßnahmen nun werden, wenn sie im vorentwickelten Geist in die Hand genommen werden, zwar nicht den Sozialismus, wohl aber ein bedeutsames Stück Sozialismus verwirklichen. Denn sie bedeuten jedenfalls einen wichtigen Schritt vorwärts zur gesellschaftlichen Regelung der Produktion und Erhebung der Arbeiter zur Mitbestimmung im Wirtschaftsorganismus. Sie können so elastisch gestaltet werden, daß sie der Initiative der Persönlichkeit in der Wirtschaft dort, wo sie erhaltenswert ist, das heißt, wo sie schöpferisch wirkt, einen weiten Spielraum lassen und die Vollsozialisierung der zu dieser berufenen Produktionszweige nicht hindern, sondern im Gegenteil erleichtern.

Zu Reformen in der Richtung der Gemeinwirtschaft zwingt ferner der so gewaltig gestiegene und noch andauernd steigende Finanzbedarf von Reich, Staaten und Gemeinden. Man hat sich in sozialistischen Kreisen oft darin gefallen, die öffentliche Bewirtschaftung von Wirtschaftszweigen, sobald sie mit Erzielung von Überschüssen verbunden war, kurzerhand Staats- oder Gemeindekapitalismus zu nennen, und wo letztere der einzige oder der alles beherrschende Zweck der Sache war, war der Name auch gerechtfertigt. Aber er verliert diese Berechtigung in dem Maße, als bei solchen Unternehmungen der öffentliche Nutzen leitendes Motiv ist und in bezug auf die in ihnen Beschäftigten das soziale Moment in den Vordergrund tritt, die Erzielung von Überschüssen dagegen nur noch durch größere Ökonomie auf technischem Gebiet erstrebt wird, wie das heute immer stärker der Fall ist. Dann ist die zunehmende Verwandlung von Privatunternehmungen in öffentliche Betriebe zwar auch wiederum nicht der Sozialismus, wohl aber jedesmal ein Schritt auf seinem Wege. Und diese müssen und werden sich mehren.

Der Finanzbedarf der Republik ist so groß geworden, daß er durch eine Mischung von direkten Steuern der alten Gattung mit Verbrauchssteuern und Verkehrsabgaben schwerlich noch länger wird gedeckt werden können. Aus diesem Grunde und weil die Besitzer von Sachwerten – von Grund und Boden, Fabriken, Geschäftsanlagen usw – durch den Fall der Valuta ungeheure Gewinne auf Kosten der Allgemeinheit gemacht haben, ist der Ruf nach direkter Erfassung der Sachwerte durch das Reich laut geworden und wird ganz besonders von der Sozialdemokratie mit Energie vertreten. Die Republik soll Miteigentümerin an den Sachwerten in der Weise werden, daß ihr durch Verschreibungen ein bestimmter Anteil an deren Jahreserträgen sichergestellt wird. Eine Maßnahme, die sie unter gewissen Voraussetzungen in den Stand setzen würde, durch Hinterlegung dieser Verschreibungen in der Reichsbank als Deckung für ihre schwebende Schuld bzw. Notenausgabe eine bedeutende Hebung ihrer Valuta herbeizuführen, die aber zugleich auch ihr einen genaueren Einblick in die Finanzgebahrung der Unternehmungen verschaffen und auf diese Weise ihre Kontrollmöglichkeiten steigern würde. Es sind das Gründe, welche den großen, man könnte sagen, verzweifelten Widerstand erklärlich machen, den Grundbesitzer und Kapitalisten aller Gattungen der Forderung entgegensetzen, die aber ihre Verwirklichung den Sozialisten um so erstrebenswerter erscheinen lassen. Denn man kann es, weil sie Gebot der Notwendigkeit ist, offen sagen, auch sie birgt ein Stück Sozialismus, und zwar ein um so bedeutungsvolleres, weil sie auf dem ganzen Gebiet der Volkswirtschaft sich sozial vorteilhaft auswirken würde, ohne darum das legitime Geschäft irgendwie zu beengen.

Der Umkreis der Anwendung des sozialistischen Gedankens beschränkt sich selbstverständlich nicht auf die Wirtschaftsfragen im speziellen Begriff des Wortes und die mit ihnen verbundenen Eigentumsfragen. Er umfaßt den ganzen Fragenkomplex, der für die Hebung der materiellen Wohlfahrt, der Erzielung der höchstmöglichen geistigen und sittlichen Kultur und der dieser entsprechenden Rechtsgestaltung von Bedeutung ist. Auch hier handelt es sich um Neuerungen, die, einzeln genommen, nicht schon Sozialismus sind, sondern es durch den Geist, der sie erfüllt, und ihren Zusammenhang mit vielen, vom gleichen Geist diktierten Reformen werden. Vom Schulwesen in allen seinen Abstufungen angefangen bis zu den weitverzweigten Gebieten der Sozialpolitik, der Rechtsgestaltung, der sozialen Hygiene und der Kulturpolitik ist es dem Sozialismus vorbehalten, Reformen zu verwirklichen, an welche die bürgerlichen Regierungen und Klassen bisher gar nicht oder nur in Ausnahmefällen herangetreten sind.

Um nur von der Sozialpolitik zu reden, so hat in Deutschland die Revolution vom November 1918 in der Epoche der politischen Herrschaft der Sozialdemokratie neben anderen bedeutsamen Erweiterungen des Arbeiterschutzes die Verkündung des gewerblichen Höchstarbeitstages von acht Stunden gebracht, und wieder können wir uns auf Karl Marx berufen, wenn wir diese Reform einen Fortschritt zum Sozialismus nennen. Noch höheren Anspruch hat auf diesen Namen das Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 1920. Dieses von der gesetzgebenden Nationalversammlung, in der noch der belebende Hauch der Novemberrevolution nachwirkte, geschaffene Gesetz gibt den Arbeitern und Angestellten Rechte im Betriebe, die man zur Zeit, wo Karl Marx schrieb, für unmöglich gehalten hätte. Es ist allerdings nicht vollkommen, und seine Rückwirkungen auf die Erträge der Volkswirtschaft lassen sich noch nicht völlig übersehen. Aber eines ist sicher und wird in der Praxis auch von denjenigen Arbeitern anerkannt, die es unter dem Einfluß einer bestimmten Agitation bei seiner Schöpfung bitter bekämpft haben: es ist ein Stück Sozialpolitik, das, wie kein zweites, den Arbeitern und Angestellten die Möglichkeit eröffnet, aus Hörigen des Gewerbes zu Teilhabern oder Genossen im sozialrechtlichen Begriff des Wortes zu werden. Zustandekommen konnte es indes eben nur durch die Erkämpfung der demokratischen Republik. Diese Republik ist gewiß nur erst der juristische Hebel zu ökonomisch-sozialer Befreiung und noch nicht diese selbst. Aber in einem industriell so vorgeschrittenen Lande wie Deutschland, mit einer so entwickelten, politisch und wirtschaftlich so stark organisierten Arbeiterschaft kann dieser Hebel nur in der Richtung zum Sozialismus wirken. Daran ändert der Umstand nichts, daß es nicht nach einer auf alles passenden Formel, daß es nicht auf dem ganzen Gebiet des sozialen Lebens mit einem Male sich durchsetzt.

Vor jetzt 36 Jahren, im Jahre 1885, schrieb der Verfasser dieses im Zusatzkapitel zu der von Jules Guesde und Paul Lafargue verfaßten Erklärung der Marxschen Einleitungssätze des Mindestprogramms der im Jahre 1880 gegründeten Arbeiterpartei Frankreichs:

„Gewöhne man sich nur ab, von einem vollendeten Zukunftsstaat zu träumen, sondern halte man an der Erkenntnis fest, daß es einer geraumen Zeit der Entwicklung bedarf, bis das Prinzip des Sozialismus sich auf allen Gebieten des sozialen Lebens Bahn gebrochen haben wird.

Spekulativ, in ihrem Kopf, haben zu allen Zeiten sich einzelne Menschen über gewisse Übergangsstadien hinweggesetzt. Aber noch stets hat die Praxis solchen Phantasten einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Vages Träumen ist der Todfeind alles konkreten Denkens. Letzteres aber ist es, was der Arbeiterklasse nottut. Ohne konkretes Denken keine Erkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse, und ohne diese kein planmäßiges Zielbewußtsein, zielbewußtes Handeln, das Haupterfordernis der Befreiung der Arbeiterklasse.“

In viel höherem Grade als ich es damals ahnte, haben diese Sätze sich als berechtigte Mahnung erwiesen, und es wäre noch manches hinzuzusetzen. Ließ doch meine sozialökonomische Erkenntnis noch viel zu wünschen übrig. Auf Grund sehr überschätzter Erscheinungen im Wirtschaftsleben hielt ich West- und Mitteleuropa für der Verwirklichung des Sozialismus viel näher, als sie tatsächlich waren, und den Weg der Verwirklichung für viel einfacher, als er tatsächlich ist. Die Erfahrung hat uns belehrt, daß die Entfernung eine bedeutend größere war, der Weg aber ganz und gar nicht einfach, überhaupt nicht schlechthin Ein Weg ist.

Aber wir haben keinen Grund, darum etwa kleinmütig zu sein. Ich darf es wohl sagen: wenn ich zurückblicke auf das, was damals war, und es mit dem vergleiche, was heute ist, dann sehe ich erst, welch großer, welch gewaltiger Fortschritt in der für das Leben von Völkern doch verhältnismäßig kurzen Spanne Zeit sich vollzogen hat. Der Weg ist nicht so einfach, wie er damals erschien, aber der Kräfte, die an seiner Überwindung arbeiten, sind in noch ganz anderem Grade mehr als damals.

Von den verschiedensten Seiten her, unter Anwendung sehr verschiedenartiger Mittel und Methoden arbeitet ein mehr als zwanzigmal größeres Heer von Arbeitern aller Art, als damals an der Verwirklichung des Sozialismus. Das, was jeder einzelne zum Ganzen hinzufügt, erscheint klein im Verhältnis zur Größe des zu verrichtenden Werkes, und der Fortschritt des Tages geringfügig im Verhältnis zum Stand vom Tage vorher. Nur erst, wenn wir von einem gewissen Abstand her ihn messen, von dem aus wir das Ganze überschauen können, erkennen wir den vollzogenen Fortschritt. Mit dem Traum von dem großen Sprung geht uns aber nichts verloren, was des Bewahrens wert wäre. Junge, schwache Bewegungen mögen seiner bedürfen, um auf dem weiten Weg, der noch keine sozialen Erfolge verspüren läßt, den Mut nicht zu verlieren. Starke, gereifte, zu schöpferischem Wirken gelangte Bewegungen haben seiner nicht nötig. Er kann ihnen im Gegenteil nur schaden. Denn ihnen wird falsches Messen um so verhängnisvoller. Für sie behält im hohen Grade das oft mißbrauchte Wort des Dichters volle Berechtigung:

Vergebens werden ungebund’ne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben;
Wer Großes will, muß sich zusammenraffen.

Erstarkte Bewegungen gewöhnen sich daran, von ihren Zielen jeweilig nur das auf gegebener Stufe der Entwicklung Mögliche für den unmittelbaren Kampf ins Auge zu fassen. In dieser Ökonomie des Wollens aber liegt die sicherste Gewähr der Erreichung des Gewollten.


Zuletzt aktualisiert am 6.11.2008