Moses Heß

 

Die Eine und ganze Freiheit!

(1843)


Ursprünglich veröffentlicht: Georg Herwegh (Hrsg.): Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, Zürich u. Winterthur 1843, S.92-97.
Diese Version: Georg Herwegh (Hrsg.): Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, Leipzig 1989, S.178-184.
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Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


÷ ÷ Das philosophische Deutschland hat in den letzten zwei Jahren eine jener großen Umwandlungen erfahren, welche nicht nur in der Geschichte der Philosophie, sondern auch in der Weltgeschichte Epoche machen. Die Philosophie als solche ist sogar an dieser Umwandlung weniger betheiligt, als die Geschichte der Menschheit überhaupt, und wie der Fortschritt, von dem wir sprechen, weniger ein philosophischer als ein weltgeschichtlicher, so ist er auch weniger von der Philosophie oder deren Repräsentanten, also nicht so, wie die bisherigen Fortschritte in der Philosophie, von bestimmten Personen oder gär von einem einzigen philosophischen Genie, als vielmehr von Völkern, und zwar näher vom Genius des deutschen und französischen Volkes ausgegangen. Der Gedanke, daß die Philosophie ins Leben eingreifen, daß sie That werden müsse, hat sich in den weitesten Kreisen Bahn gebrochen. Wenn aber einerseits die Schnelligkeit, mit der sich dieser Gedanke ausgebreitet hat, Beweis genug von dessen Zeitgemäßheit ist, so mag uns dagegen andrerseits die Fassung, in welcher er bis jetzt ausgesprochen wurde, das Allgemeine und Unbestimmte seines Inhalts, den Beweis liefern, daß man sich bis jetzt über das, was man will, noch keine genaue Rechenschaft abgelegt hat. Man fühlt wohl, wie zwischen Denken und Handeln, zwischen der geistigen und socialen Freiheit ein so inniger Zusammenhang besteht, daß die eine ohne die andere nicht zu ihrer vollen Wirklichkeit kommen kann. Im Allgemeinen erkennt man sogar diesen Zusammenhang; man Weiß, daß im denkenden Subjekte, wie in der objektiven Welt der menschlichen Gesellschaft, die Freiheit von einem und demselben Prinzipe ausgeht; man gibt es zu, daß sie kein Monopol der Philosophen, daß sie allgemeines Gut werden muß, wenn sie mehr als eine Fiktion sein soll – und die jüngern Philosophen begnügen sich nicht mehr damit, die Wirklichkeit zu begreifen, sondern sie haben schon den Muth und den Willen, den Begriff zu verwirklichen. – Aber wir haben noch nirgend gesehen, daß man über diesen bloßen Muthwillen hinausgegangen wäre; wir haben noch nirgend den wirklichen Zusammenhang der geistigen und socialen Freiheit von unsern Philosophen entwickelt gefunden.

Die deutschen Philosophen scheinen, trotz ihrer Anerkennung der freien That und des innigen Zusammenhanges der geistigen und socialen Freiheit, mit der wirklichen Volksfreiheit noch nicht Ernst machen zu wollen. Ihr ganzer Fortschritt, den sie bisher gemacht haben, beschränkt sich auf das Bestreben, der Philosophie beim Volke Eingang zu verschaffen. Wollen sie aber wirklich das Volk gewinnen, so müssen sie vor allen Dingen auch den Volkswünschen bei sich selber Eingang verschaffen. Es ist ein nutz-und fruchtloses Unternehmen, das Volk geistig frei machen zu wollen, ohne ihm zugleich die wirkliche, sociale Freiheit zu geben, und wenn Ihr mit der Freiheit nicht Ernst machen wollt, so ist nicht abzusehen, worin Ihr Euch zu Eu-rim Vortheil von denen unterscheidet, die da behaupten, es sei gegen die Philosophie nichts einzuwenden, nur müsse man die „Fackel der Aufklärung“ dem Volke nicht in die Hände geben, weil sie hier nicht „leuchte“, sondern „zünde“. Ihr fürchtet Euch vor dem Volke, weil Ihr von dessen Wünschen gar keine Notiz nehmt. Wer bürgt aber dafür, daß Ihr nicht dieselbe Gesinnung wie jene Furchtsamen hegen werdet, sobald Ihr die Gefahren kennen lernt, welchen dasjenige, was Ihr als ein Heiligthum verehrt, ausgesetzt ist, wenn einmal das Volk die Freiheit, die Ihr ihm predigt, realisiren will? – Ihr seid noch keineswegs von der Wahrheit durchdrungen, daß die geistige und sociale Freiheit mit einander stehen und fallen, sonst würdet Ihr es aufgeben, dem Volke nur von der Geistesfreiheit zu sprechen oder ihm statt der wirklichen socialen Freiheit das Phantom eines „freien Staates“ vorzuhalten. Das Volk, das „im Schweiße seines Angesichts“, wie die Bibel lehn, arbeiten muß, um sein elendes Dasein zu fristen – das Volk, das nicht frei thätig sein kann – dieses Volk (und Ihr kennt kein anderes) dieses Volk, sagen wir, bedarf der Religion; sie ist seinem gebrochenen Herzen ein eben so unerläßliches Bedürfniß, wie der Branntwein seinem schmachtenden Magen, und es ist eine grausame Ironie, von Sklaven oder Verzweifelnden Nüchternheit und Heiterkeit des Geistes zu verlangen. So lange Ihr das Volk nicht aus dem Zustande des Thieres erheben könnt oder wollt, lasset ihm auch das Bewußtsein, oder vielmehr die Bewußtlosigkeit des Thieres. So lange das Volk in materieller Knechtschaft und Elend schmachtet, kann es nicht geistig frei sein; das Unglück kann wohl in letzter Instanz die religiöse Selbstverleugnung, aber nicht das philosophische Selbstbewußtsein erzeugen. Eben so nutz- und fruchtlos ist aber auch andrerseits, das Volk zur wirklichen Freiheit zu erheben, es an den Gütern des Daseins zu betheiligen ohne es von der geistigen Knechtschaft, von der Religion zu befreien. Es gibt nur Eine Freiheit! Man kann nicht sagen, daß die eine der ändern, z.B. die sociale der geistigen vorhergehen müsse. Die geistige und sociale Knechtschaft ist ein Kreis, dessen diabolische Macht nur gebrochen werden kann, indem man aus demselben heraus in die gesunde Lebenssphäre der Freiheit tritt und so dem Zauber mit Einem Schlage ein Ende macht. Ein Volk, das, nicht selbstständig denkt, kann auch unmöglich selbstständig handeln. Die Religion kann wohl das unglückliche Bewußtsein der Knechtschaft dadurch erträglich machen, daß sie dasselbe bis zur Zerknirschtheit steigert, in welcher jede Reaktion gegen das Uebel und somit jeder Schmerz aufhört – wie das Opium in schmerzlichen Krankheiten gute Dienste leistet – der Glaube an die Wirklichkeit der Unwirklichkeit und an die Unwirklichkeit der Wirklichkeit kann wohl den Leidtragenden eine passive Gefühlsseligkeit, eine thierische Bewußtlosigkeit, aber nicht die aktive Energie, nicht die männliche Thatkraft geben, bewußt und selbstständig gegen das Unglück zu reagiren und sich vom Uebel zu befreien. Die wirkliche ,und die geistige Knechtschaft, das Unglück und die Religion, bedingen sich gegenseitig und so wie die wahre Religion, das Christenthum, historisch nachweisbar eine Tochter des Unglücks ist, so hat das Unglück wiederum seine größte Stütze und die stärkste Garantie seiner Fortdauer in der Religion. – Die dem Volke die sociale Freiheit ohne die geistige geben wollen, unternehmen ein eben so unmögliches Werk, wie die Philosophen, die die Geistesfreiheit allein vorbereiten möchten. Indem sie neben der socialen Freiheit die geistige Knechtschaft, die Religion, bestehen lassen, heben sie mit dieser Knechtschaft jene Freiheit in dem Augenblicke selbst wieder auf, wo sie dieselbe als wirklich setzen. Denn die Religion betrachtet die wirklichen Güter der Welt als äußerliche, die Religion spaltet das einige Leben entzwei, weil sie eben ein Produkt des unglücklichen Bewußtseins ist. Der religiöse Mensch kann nicht nach wirklichen Gütern streben, denn dieses Streben wird unter seiner Hand entweder zu materieller Genußsucht, oder zur Ironie, die das Gegentheil dessen ist, was sie zu sein scheint. – Die also eine sociale Freiheit ohne die geistige wollen, machen mit der Freiheit eben so wenig Ernst, als diejenigen, die eine geistige ohne eine sociale Freiheit zu erstreben scheinen. Im besten Falle schlägt ihr Streben nach einem unabhängigen Dasein in materielle Genußsucht um. Der wahre Genuß, die freie Thätigkeit des menschlichen Willens, exi-stirt für den geistig unfreien, für den religiösen Menschen gar nicht. Die Religion verdammt die menschliche Neigung als das Böse. Des Menschen Wille, sagt sie, ist böse von seinem Ursprünge an. Was in der Freiheit das ursprünglich Gute, das ist in der Knechtschaft das ursprünglich Böse. Der freie Wille, die menschliehe Neigung zur freien That kann von dem System der Knechtschaft nicht als das Gute anerkannt werden, und wo der Tod als das wahre Leben angepriesen wird, da muß natürlich das wahre Leben als der Tod erscheinen und verdammt werden. Wollt Ihr also mit Eurer Freiheit Ernst machen, so bleibt nicht auf halbem Wege stehen. Begnügt Euch nicht damit, diese oder jene Form der Knechtschaft anzugreifen; verfolgt und zerstört die Knechtschaft von Grund aus: seid radikal! Es gibt nur Eine Knechtschaft, wie es nur Eine Freiheit gibt! Das Wesen des Menschen, das Spezifische, wodurch er sich vom Thiere unterscheidet, besteht eben in seiner freien, von jedem äußern Zwange unabhängigen Thätigkeit. Diese Freiheit ist, wie das einzige Leben, so auch der einzige Genuß des Menschen. So lange diese eine und ganze Freiheit nicht hergestellt ist, lebt der Mensch nicht rein menschlich, sondern mehr oder weniger thie-risch; er hat entweder ein unglückliches Bewußtsein, das Bewußtsein seines Elends, oder er schwelgt in Müssiggang und materieller Genußsucht, greift zu den bekannten, betäubenden Mitteln, zu Opium, Religion und Branntwein, ertödtet so alles Lebensbewußtsein in sich und sinkt zum Ideal aller Braminen, Rabbinen und Mönche, aller Pfaffen, Pietisten und Mucker hinab.

Der Unterschied zwischen der geistigen und socialen Knechtschaft, zwischen der religiösen und politischen Regierungskunst ist nur ein formaler; jene will den Menschen einer überirdisch-irdischen, diese will ihn einer irdischüberirdischen Macht unterwerfen. Beide vernichten alle sittliche Macht, alle Freiheit im Menschen und in der Welt, im Geiste und in den objektiven Schöpfungen desselben. An die Stelle des Rechts und der Gerechtigkeit setzen sie die Gnade und das Vertrauen auf äußere Mächte. Die himmlische Regierung ist die beste Stütze der irdischen und diese wiederum der himmlischen. Beide erreichen ihr Ziel, die Vernichtung aller Freiheit und jedes wahren menschlichen Lebens, auf dieselbe Weise, indem sie nämlich den Lebensnerv der Freiheit, die Einheit von Arbeit und Genuß, zerschneiden, und den Menschen in zwei Wesen theilen, in einen arbeitenden Sklaven und in ein genießendes Thier. „Sechs Tage sollst Du arbeiten und am siebenten – ruhen!“ lehrt die Bibel, und unsere Staatsmänner finden diese Lehre noch immer sehr weise, obgleich sie das Motiv dieses Gebotes („weil Gott in sechs Tagen die Welt erschaffen, am siebenten aber geruht hat“) nicht eben billigen; denn sie denken sich die Trennung von Arbeit und Müssiggang schon nicht mehr als ein göttliches Ideal. Ihr Gott ist wenigstens kein Fabrikarbeiter mehr! – Dagegen finden es unsere Politiker noch immer sehr angemessen, daß das Volk an ein jenseitiges“ Leben glaube und „diesseits“ dafür „bete und arbeite“; ja, sie sind sogar gutmüthig genug, ihm schon auf Erden einen Vorgeschmack des himmlischen Genusses zu geben, wie denn die. consequentere österreichische Regierung eben so sehr die Genußsucht ihrer Unterthanen fördert, als in Baiern und Preußen der Glaube poussirt wird. „Zwei Blumen blühen“ noch immer in Deutschland für den „weisen Finder“: Genieße, wer nicht glauben kann, heißt es in Gestenreich. Wer glauben kann, – gehe nach Baiern oder Preußen! – Aber „die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ ...

So wenig Unterschied zwischen der geistigen und materiellen Knechtschaft, eben so wenig Unterschied besteht zwischen der geistigen und materiellen, Freiheit. Man kann nicht die eine ohne die andere vertheidigen oder gar ins Leben rufen und es ist nicht gerade nöthig, daß das Volk in Elend schmachte, um die sociale Freiheit, oder daß es unter der Pfaffenherrschaft seufze, um die Geistesfreiheit wünschenswerth zu finden. Es ist vielmehr gewiß, daß überall, wo nicht die eine und ganze Freiheit existirt, auch keine Garantie gegen die äußerste Knechtschaft vorhanden ist. Ein Volk, das frei sein will, muß auch das letzte Gewebe der Lüge und des Truges zerreißen, welches die Wahrheit verschleiert. – Möglich, daß die geistige und materielle Knechtschaft dem Volke erst in ihrer unerträglichsten Gestalt als ein Uebel zum Bewußtsein kommt; möglich, daß diesem Uebel nicht vorgebeugt werden kann, daß es vom Volke selbst erst erlebt werden muß und die wahre Freiheit nur durch Blut erkauft werden kann; möglich, daß Staat und Kirche erst wieder einige Schritte zurück thun und in ihrer wahren, ursprünglichen Gestalt auftreten müssen, um dem Volke die Erscheinungen der Religion und Politik, die von der Wahrheit einen Heiligenschein abgeborgt haben, in ihrem Wesen und Prinzip kennen zu lernen – die neueste Geschichte scheint sogar auf eine solche Entwickelung durch die überall sich kundgebende religiöse und politische Reaktion hinzudeuten – möglich also, sagen wir, daß das Maß des Uebels, welches uns durch die mittelalterlichen Institutionen der Religion und Politik beschieden worden, noch nicht voll ist, daß die Giftbrut so lange anschwellen muß, bis sie von selber berstet und die Lüge also noch eine kleine Weile Frist hat: das aber darf uns nicht abhalten, zu bekämpfen, ja bis in den Tod zu verfolgen und mit der Wurzel auszüreißen, was wir schon lange als den großen Feind der Volksfreiheit und alles menschlichen Lebens erkennen. – Gewisse Leute, die nichtsdestoweniger als Volks- und Freiheitsvertheidiger gelten wollen, scheinen anderer Ansicht zu sein. So wie wir der Ueberzeugung leben, man könne dem Uebel nicht früh genug vorbeugen, so scheinen jene sogenannten Liberale der Ansicht zu huldigen, man könne ihm nicht spät genug steuern. Charakteristisch ist in dieser Beziehung, was neulich in der Augsburger Zeitung dem „preußischen Communismus“ vorgeworfen wurde. In Deutschland, wird hier unter ändern ähnlichen Gründen gegen die in Rede stehende Geistesrichtung vorgebracht, in Deutschland sei das Volk ja noch nicht am Verhungern, wie in England. Nach diesem Raisonnement bestimmt nicht Kopf und Herz, sondern der Magen die Wahrheit und das Zeitgemäße ihrer Erscheinung. Wir unsrerseits glauben dagegen, daß eine Wahrheit zeitgemäß ist, sobald sie erkannt wird – und wir wollen nicht warten, bis eine Hierarchie und die rohe Gewalt der Indüstrieritter das Volk geistig und leiblich knechtet, um erst dann, wann es vielleicht wieder zu spät ist, gegen die mittelalterlichen Institutionen, gegen Staat und Kirche zu Felde zu ziehen. Wir wollen die innere Lüge aller Religion und Politik, so wie den innigen Zusammenhang der geistigen und socialen Freiheit aufdecken.

 


Zuletzt aktualisiert am 5. Juli 2009