J.W. Stalin

 

Über die Grundlagen des Leninismus

 

VI
Die nationale Frage

Aus diesem Thema greife ich zwei Hauptfragen heraus:

  1. die Fragestellung;
  2. die Befreiungsbewegung der unterdrückten Völker und die proletarische Revolution.
     

1. Die Fragestellung. In den letzten zwei Jahrzehnten hat die nationale Frage eine Reihe höchst bedeutsamer Wandlungen erfahren. Die nationale Frage in der Periode der II. Internationale und die nationale Frage in der Periode des Leninismus sind bei weitem nicht ein und dasselbe. Sie unterscheiden sich gründlich voneinander nicht nur dem Umfang, sondern auch ihrem inneren Charakter nach.

Früher beschränkte sich die nationale Frage gewöhnlich auf einen engen Kreis von Fragen, die hauptsächlich die „zivilisierten“ Nationalitäten betrafen. Irländer, Ungarn, Polen, Finnen, Serben und einige andere Nationalitäten Europas – das war der Kreis der nicht vollberechtigten Völker, für deren Schicksal sich die Führer der II. Internationale interessierten. Die Millionen und aber Millionen der Völker Asiens und Afrikas, die unter der nationalen Bedrückung in ihrer rohesten und grausamsten Form litten, blieben gewöhnlich außerhalb ihres Gesichtsfeldes. Man konnte sich nicht entschließen, Weiße und Farbige, „Zivilisierte“ und „Unzivilisierte“ auf eine Stufe zu stellen. Zwei, drei nichts sagende und süßsaure Resolutionen, die die Frage der Befreiung der Kolonien geflissentlich umgingen – das war alles, womit die Führer der II. Internationale paradieren konnten. Jetzt muss diese Zwiespältigkeit und Halbheit in der nationalen Frage als beseitigt angesehen werden. Der Leninismus hat dieses schreiende Missverhältnis aufgedeckt, die Scheidewand zwischen Weißen und Farbigen, zwischen Europäern und Asiaten, zwischen „zivilisierten“ und „unzivilisierten“ Sklaven des Imperialismus niedergerissen und auf diese Weise die nationale Frage mit der Frage der Kolonien verknüpft. Dadurch wurde die nationale Frage aus einer Einzelfrage und innerstaatlichen Frage zu einer allgemeinen und internationalen, zur Weltfrage der Befreiung der unterdrückten Völker der abhängigen Länder und der Kolonien vom Joche des Imperialismus.

Früher wurde das Prinzip der Selbstbestimmung der Nationen gewöhnlich falsch ausgelegt und nicht selten zu dem Recht der Nationen auf Autonomie eingeengt. Manche Führer der II. Internationale gingen sogar so weit, dass sie aus dem Selbstbestimmungsrecht ein Recht auf kulturelle Autonomie machten, das heißt das Recht der unterdrückten Nationen, ihre eigenen Kultureinrichtungen zu besitzen, während die gesamte politische Macht in den Händen der herrschenden Nation belassen werden sollte. Dieser Umstand führte dazu, dass die Idee der Selbstbestimmung Gefahr lief, sich aus einem Mittel des Kampfes gegen Annexionen in ein Mittel zur Rechtfertigung der Annexionen zu verwandeln. Jetzt muss diese Konfusion als überwunden angesehen werden. Der Leninismus hat den Begriff der Selbstbestimmung erweitert, indem er ihn auslegte als das Recht der unterdrückten Völker der abhängigen Länder und der Kolonien auf voll-ständige Lostrennung, als das Recht der Nationen auf selbständige staatliche Existenz. Damit wurde die Möglichkeit ausgeschlossen, Annexionen zu rechtfertigen durch die Auslegung des Selbstbestimmungsrechts als des Rechtes auf Autonomie. Das Prinzip der Selbstbestimmung selbst wurde somit aus einem Mittel zur Täuschung der Massen, das es in den Händen der Sozialchauvinisten während des imperialistischen Krieges zweifellos war, zu einem Mittel der Entlarvung aller und jeglicher imperialistischer Gelüste und chauvinistischer Machinationen, zu einem Mittel der politischen Aufklärung der Massen im Geiste des Internationalismus.

Früher pflegte man die Frage der unterdrückten Nationen als rein rechtliche Frage zu behandeln. Feierliche Proklamierung der „nationalen Gleichberechtigung“, unzählige Deklarationen über „Gleichheit der Nationen“ – damit begnügten sich die Parteien der II. Internationale, die die Tatsache zu vertuschen suchten, dass „Gleichheit der Nationen“ unter dem Imperialismus, wo eine Gruppe von Nationen (die Minderheit) von der Ausbeutung der anderen Gruppe von Nationen lebt, eine Verhöhnung der unterdrückten Völker ist. Jetzt muss diese bürgerlich-rechtliche Auffassung in der nationalen Frage als entlarvt angesehen werden. Der Leninismus hat die nationale Frage von den Himmelshöhen hochtrabender Deklarationen auf die Erde heruntergeholt, indem er erklärte, dass Deklarationen über „Gleichheit der Nationen“, die nicht von den proletarischen Parteien durch direkte Unterstützung des Befreiungskampfes der unterdrückten Völker bekräftigt werden, hohle und verlogene Deklarationen sind. Damit wurde die Frage der unterdrückten Nationen zur Frage der Unterstützung, der Hilfe, der wirklichen und ständigen Hilfe für die unterdrückten Nationen in ihrem Kampf gegen den Imperialismus, für die wirkliche Gleichheit der Nationen, für ihre selbständige staatliche Existenz.

Früher pflegte man die nationale Frage reformistisch zu behandeln, als eine gesonderte, selbständige Frage, ohne Zusammenhang mit der allgemeinen Frage der Herrschaft des Kapitals, des Sturzes des Imperialismus, der proletarischen Revolution. Stillschweigend wurde vorausgesetzt, dass der Sieg des Proletariats in Europa möglich sei ohne direktes Bündnis mit der Befreiungsbewegung in den Kolonien, dass die nationale und koloniale Frage im stillen, „ganz von selbst“, gelöst werden könne, abseits von der breiten Heerstraße der proletarischen Revolution, ohne revolutionären Kampf gegen den Imperialismus. Jetzt muss dieser antirevolutionäre Standpunkt als entlarvt angesehen werden. Der Leninismus hat den Beweis erbracht, und der imperialistische Krieg und die Revolution in Rußland haben bestätigt, dass die nationale Frage nur im Zusammenhang mit der proletarischen Revolution und auf dem Boden der proletarischen Revolution gelöst werden kann, dass der Weg zum Siege der Revolution im Westen über das revolutionäre Bündnis mit der Befreiungsbewegung der Kolonien und der abhängigen Länder gegen den Imperialismus führt. Die nationale Frage ist ein Teil der allgemeinen Frage der proletarischen Revolution, ein Teil der Frage der Diktatur des Proletariats.

Die Frage ist die: Sind die im Schoße der revolutionären Befreiungsbewegung der unterdrückten Länder vorhandenen revolutionären Möglichkeiten bereits erschöpft oder nicht, und falls sie nicht erschöpft sind, besteht begründete Hoffnung darauf, diese Möglichkeiten für die proletarische Revolution nutzbar machen, die abhängigen und kolonialen Länder aus einer Reserve der imperialistischen Bourgeoisie zu einer Reserve des revolutionären Proletariats, zu seinem Bundesgenossen machen zu können?

Der Leninismus bejaht diese Frage, das heißt, er vertritt die Ansicht, dass im Schoße der nationalen Befreiungsbewegung der unterdrückten Länder revolutionäre Potenzen vorhanden sind, und hält es für möglich, diese für den Sturz des gemeinsamen Feindes, für den Sturz des Imperialismus nutzbar zu machen. Die Mechanik der Entwicklung des Imperialismus, der imperialistische Krieg und die Revolution in Rußland bestätigen völlig die Schlussfolgerungen des Leninismus in dieser Hinsicht.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass das Proletariat der „herrschenden“ Nationen die nationale Befreiungsbewegung der unterdrückten und abhängigen Völker unterstützen, entschieden und aktiv unterstützen muss.

Das bedeutet natürlich nicht, dass das Proletariat jede nationale Bewegung, immer und überall, in allen einzelnen konkreten Fällen unterstützen muss. Es handelt sich um die Unterstützung der nationalen Bewegungen, die auf die Schwächung, auf den Sturz des Imperialismus und nicht auf seine Festigung und Erhaltung gerichtet sind. Es gibt Fälle, wo die nationalen Bewegungen einzelner unterdrückter Länder mit den Interessen der Entwicklung der proletarischen Bewegung in Konflikt geraten. Es ist selbstverständlich, dass in solchen Fällen von einer Unterstützung keine Rede sein kann. Die Frage nach den Rechten der Nationen ist keine isolierte, in sich abgeschlossene Frage, sondern ein Teil der allgemeinen Frage der proletarischen Revolution, der dem Ganzen untergeordnet ist und vom Standpunkt des Ganzen aus betrachtet werden muss. In den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war Marx für die nationale Bewegung der Polen und Ungarn und gegen die nationale Bewegung der Tschechen und Südslawen. Warum? Weil die Tschechen und Südslawen damals „reaktionäre Völker“, „russische Vorposten“ in Europa, Vorposten des Absolutismus waren, während die Polen und Ungarn „revolutionäre Völker“ waren, die gegen den Absolutismus kämpften. Weil die Unterstützung der nationalen Bewegung der Tschechen und Südslawen damals eine indirekte Unterstützung des Zarismus, des gefährlichsten Feindes der revolutionären Bewegung in Europa, bedeutete.

„Die einzelnen Forderungen der Demokratie“, sagt Lenin, „darunter das Selbstbestimmungsrecht, sind nichts Absolutes, sondern ein kleiner Teil der allgemein-demokratischen (jetzt: allgemein-sozialistischen) Weltbewegung. Es ist möglich, dass in einzelnen konkreten Fällen der Teil dem Ganzen widerspricht, dann muss man den Teil verwerfen.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd.22, S.326, russ.)

So verhält es sich mit der Frage der einzelnen nationalen Bewegungen, des möglichen reaktionären Charakters dieser Bewegungen, natürlich nur, wenn man sie nicht vom formalen Standpunkt, nicht vom Standpunkt abstrakter Rechte, sondern konkret, vom Standpunkt der Interessen der revolutionären Bewegung betrachtet.

Das gleiche gilt auch für den revolutionären Charakter der nationalen Bewegungen überhaupt. Die zweifellos revolutionäre Natur der gewaltigen Mehrzahl der nationalen Bewegungen ist ebenso relativ und eigenartig, wie die mögliche reaktionäre Natur mancher einzelner nationaler Bewegungen relativ und eigenartig ist. Der revolutionäre Charakter einer nationalen Bewegung unter den Verhältnissen der imperialistischen Unterdrückung setzt keinesfalls voraus, dass an der Bewegung unbedingt proletarische Elemente teilnehmen müssen, dass die Bewegung ein revolutionäres beziehungsweise republikanisches Programm, eine demokratische Grundlage haben muss. Der Kampf des Emirs von Afghanistan für die Unabhängigkeit Afghanistans ist objektiv ein revolutionärer Kampf, trotz der monarchistischen Anschauungen des Emirs und seiner Kampfgefährten, denn dieser Kampf schwächt, zersetzt, unterhöhlt den Imperialismus, während der Kampf solcher „verbissenen“ Demokraten und „Sozialisten“, „Revolutionäre“ und Republikaner wie, sagen wir, Kerenski und Zereteli, Renaudel und Scheidemann, Tschernow und Dan, Henderson und Clynes während des imperialistischen Krieges ein reaktionärer Kampf war, denn er hatte die Beschönigung, die Festigung und den Sieg des Imperialismus zur Folge. Der Kampf der ägyptischen Kaufleute und bürgerlichen Intellektuellen für die Unabhängigkeit Ägyptens ist aus denselben Gründen objektiv ein revolutionärer Kampf, obgleich die Führer der ägyptischen nationalen Bewegung bürgerlicher Herkunft und bürgerlichen Standes sind, obgleich sie gegen den Sozialismus sind, wohingegen der Kampf der englischen „Arbeiter“regierung für die Aufrechterhaltung der abhängigen Stellung Ägyptens aus denselben Gründen ein reaktionärer Kampf ist, obgleich die Mitglieder dieser Regierung proletarischer Herkunft und proletarischen Standes sind, obgleich sie „für“ den Sozialismus sind. Schon gar nicht zu reden von der nationalen Bewegung anderer, größerer kolonialer und abhängiger Länder, wie Indien und China, bei denen jeder Schritt auf dem Wege zur Befreiung, auch wenn er gegen die Forderungen der formalen Demokratie verstößt, ein wuchtiger Hammerschlag gegen den Imperialismus, das heißt zweifellos ein revolutionärer Schritt ist.

Lenin hat recht, wenn er sagt, dass man die nationale Bewegung der unterdrückten Länder nicht vom Standpunkt der formalen Demokratie, sondern vom Standpunkt der wirklichen Resultate in der Gesamtbilanz des Kampfes gegen den Imperialismus einschätzen muss, das heißt „nicht isoliert, sondern im Weltausmaß“ (siehe 4. Ausgabe, Bd.22, S.326, russ.).
 

2. Die Befreiungsbewegung der unterdrückten Völker und die proletarische Revolution. Bei der Lösung der nationalen Frage geht der Leninismus von folgenden Sätzen aus:

  1. Die Welt ist in zwei Lager geteilt: in das Lager einer Handvoll zivilisierter Nationen, die über das Finanzkapital verfügen und die die gewaltige Mehrheit der Bevölkerung des Erdballs ausbeuten, und in das Lager der unterdrückten und ausgebeuteten Völker der Kolonien und der abhängigen Länder, die diese Mehrheit bilden;
  2. die Kolonien und die abhängigen Länder, die vom Finanzkapital unterdrückt und ausgebeutet werden, bilden eine gewaltige Reserve und eine überaus wichtige Kraftquelle des Imperialismus;
  3. der revolutionäre Kampf der unterdrückten Völker in den abhängigen und kolonialen Ländern gegen den Imperialismus ist der einzige Weg zu ihrer Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung;
  4. die wichtigsten kolonialen und abhängigen Länder haben bereits den Weg der nationalen Befreiungsbewegung beschritten, die zur Krise des Weltkapitalismus führen muss;
  5. die Interessen der proletarischen Bewegung in den entwickelten Ländern und der nationalen Befreiungsbewegung in den Kolonien erheischen die Vereinigung dieser beiden Arten der revolutionären Bewegung zu einer gemeinsamen Front gegen den gemeinsamen Feind, gegen den Imperialismus;
  6. der Sieg der Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern und die Befreiung der unterdrückten Völker vom Joch des Imperialismus sind unmöglich ohne die Bildung und Festigung einer gemeinsamen revolutionären Front;
  7. die Bildung einer gemeinsamen revolutionären Front ist unmöglich ohne direkte und entschiedene Unterstützung der Befreiungsbewegung der unterdrückten Völker durch das Proletariat der unterdrückenden Nationen gegen den „vaterländischen“ Imperialismus, denn „ein Volk, das andere Völker unterdrückt, kann nicht frei sein“ (Engels);
  8. diese Unterstützung bedeutet die Verfechtung, Verteidigung und Verwirklichung der Losung: Recht der Nationen auf Lostrennung, auf selbständige staatliche Existenz;
  9. ohne Verwirklichung dieser Losung ist es unmöglich, die Vereinigung und das Zusammenwirken der Nationen in einer einheitlichen Weltwirtschaft in die Wege zu leiten, die die materielle Basis für den Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt bildet;
  10. diese Vereinigung kann nur eine freiwillige Vereinigung sein, die auf der Grundlage des gegenseitigen Vertrauens und der brüderlichen Beziehungen der Völker zustande kommt.

Hieraus ergeben sich zwei Seiten, zwei Tendenzen in der nationalen Frage: die Tendenz zur politischen Befreiung von den imperialistischen Fesseln und zur Bildung eines selbständigen Nationalstaates, eine Tendenz, die auf der Grundlage der imperialistischen Unterdrückung und kolonialen Ausbeutung entstanden ist, und die Tendenz zur wirtschaftlichen Annäherung der Nationen, die sich aus der Bildung des Weltmarkts und der Weltwirtschaft ergeben hat.

„Der in Entwicklung begriffene Kapitalismus“, sagt Lenin, „kennt in der nationalen Frage zwei historische Tendenzen. Die erste Tendenz: Erwachen des nationalen Lebens und der nationalen Bewegungen, Kampf gegen jede nationale Unterdrückung, Schaffung von Nationalstaaten. Die zweite Tendenz: Entwicklung und Vervielfachung der verschiedenartigen Beziehungen zwischen den Nationen, Niederreißung der nationalen Schranken, Schaffung der internationalen Einheit des Kapitals, des Wirtschaftslebens überhaupt, der Politik, der Wissenschaft usw.

Beide Tendenzen sind ein Weltgesetz des Kapitalismus. Die erste überwiegt im Anfangsstadium seiner Entwicklung, die zweite kennzeichnet den reifen, seiner Umwandlung in die sozialistische Gesellschaft entgegengehenden Kapitalismus.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd.20, S.11, russ.)

Für den Imperialismus sind diese beiden Tendenzen unversöhnliche Widersprüche, denn der Imperialismus kann nicht leben, ohne Kolonien auszubeuten und sie gewaltsam im Rahmen des „einheitlichen Ganzen“ festzuhalten, denn der Imperialismus kann nur durch Annexionen und koloniale Eroberungen, ohne die er, allgemein gesprochen, undenkbar ist, die Nationen einander näher bringen.

Für den Kommunismus dagegen sind diese Tendenzen nur zwei Seiten ein und derselben Sache, der Sache der Befreiung der unterdrückten Völker vom Joch des Imperialismus, denn der Kommunismus weiß, dass die Vereinigung der Völker in einer einheitlichen Weltwirtschaft nur auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens und freiwilligen Übereinkommens möglich ist, er weiß, dass der Weg zur Bildung einer freiwilligen Vereinigung der Völker über die Lostrennung der Kolonien von dem „einheitlichen“ imperialistischen „Ganzen“, über ihre Umwandlung in selbständige Staaten führt.

Daher die Notwendigkeit eines hartnäckigen, ununterbrochenen, entschlossenen Kampfes gegen den Großmachtchauvinismus der „Sozialisten“ der herrschenden Nationen (England, Frankreich, Amerika, Italien, Japan usw.), die nicht gewillt sind, gegen ihre eigenen imperialistischen Regierungen zu kämpfen, nicht gewillt sind, den Kampf der unterdrückten Völker „ihrer“ Kolonien für die Befreiung von der Unterdrückung und für die staatliche Lostrennung zu unterstützen.

Ohne diesen Kampf wäre es undenkbar, die Arbeiterklasse der herrschenden Nationen im Geiste des wahren Internationalismus, im Geiste der Annäherung an die werktätigen Massen der abhängigen Länder und der Kolonien, im Geiste der wirklichen Vorbereitung der proletarischen Revolution zu erziehen. Die Revolution in Rußland hätte nicht gesiegt und Koltschak und Denikin wären nicht geschlagen worden, wenn das russische Proletariat nicht die Sympathien und die Unterstützung der unterdrückten Völker des ehemaligen Russischen Reiches genossen hätte. Um aber die Sympathien und die Unterstützung dieser Völker zu erwerben, musste es vor allem die Ketten des russischen Imperialismus sprengen und diese Völker von der nationalen Unterdrückung befreien.

Sonst wäre es unmöglich gewesen, die Sowjetmacht zu festigen, den wirklichen Internationalismus durchzusetzen und jene großartige Organisation der Völkergemeinschaft zu schaffen, die den Namen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken trägt und das lebendige Vorbild der künftigen Vereinigung der Völker in einer einheitlichen Weltwirtschaft ist.

Daher die Notwendigkeit des Kampfes gegen die nationale Abgeschlossenheit, Beschränktheit und Isoliertheit der Sozialisten der unterdrückten Länder, die nicht über ihren nationalen Kirchturm hinaussehen wollen und den Zusammenhang zwischen der Befreiungsbewegung ihres Landes und der proletarischen Bewegung der herrschenden Länder nicht begreifen.

Ohne diesen Kampf wäre es undenkbar, eine selbständige Politik des Proletariats der unterdrückten Nationen und seine Klassensolidarität mit dem Proletariat der herrschenden Länder im Kampf für den Sturz des gemeinsamen Feindes, im Kampf für den Sturz des Imperialismus durchzusetzen.

Ohne diesen Kampf wäre der Internationalismus unmöglich.

Das ist der Weg zur Erziehung der werktätigen Massen der herrschenden und der unterdrückten Nationen im Geiste des revolutionären Internationalismus.

Über diese zweifache Arbeit des Kommunismus zur Erziehung der Arbeiter im Geiste des Internationalismus sagt Lenin:

„Kann diese Erziehung ... konkret die gleiche sein für die großen, unterdrückenden und für die kleinen, unterdrückten Nationen, für die annektierenden und für die annektierten Nationen?

Offenbar nicht. Der Vormarsch zum gemeinsamen Ziel: zur vollen Gleichberechtigung, zur engsten Annäherung und weiteren Verschmelzung aller Nationen erfolgt hier offenbar auf verschiedenen konkreten Wegen, ebenso wie, sagen wir, der Weg zu einem Punkt, der sich in der Mitte der vorliegenden Buchseite befindet, von einem Rande aus nach links, vom gegenüberliegenden Rande aus nach rechts führt. Wenn der Sozialdemokrat einer großen, unterdrückenden und annektierenden Nation, der sich im allgemeinen zur Verschmelzung der Nationen bekennt, auch nur eine Minute lang vergisst, dass ,sein‘ Nikolaus II., ,sein‘ Wilhelm, Georg, Poincaré usw. ebenfalls für die Verschmelzung mit den kleinen Nationen ist (mittels Annexionen) – Nikolaus II. für die ,Verschmelzung‘ mit Galizien, Wilhelm II. für die ,Verschmelzung‘ mit Belgien usw. –, so ist ein solcher Sozialdemokrat ein lächerlicher Doktrinär in der Theorie, ein Helfershelfer des Imperialismus in der Praxis.

Der Schwerpunkt der internationalistischen Erziehung der Arbeiter in den unterdrückenden Ländern muss unbedingt darin liegen, dass sie die Freiheit der Lostrennung der unterdrückten Länder propagieren und verfechten. Ohne das gibt es keinen Internationalismus. Wir haben das Recht und die Pflicht, jeden Sozialdemokraten einer unterdrückenden Nation, der diese Propaganda nicht betreibt, als Imperialisten und Schurken zu behandeln. Das ist eine unbedingte Forderung, selbst wenn der all der Lostrennung vor der Errichtung des Sozialismus auch nur in einem von tausend Fällen möglich und ‚durchführbar‘ wäre ...

Umgekehrt muss der Sozialdemokrat einer kleinen Nation den Schwerpunkt seiner Agitation auf das zweite Wort unserer allgemeinen Formel legen: ‚freiwillige Vereinigung‘ der Nationen. Er kann, ohne seine Verpflichtungen als Internationalist zu verletzen, sowohl für die politische Unabhängigkeit seiner Nation als auch für ihren Anschluss an den Nachbarstaat X, Y, Z usw. sein. In allen Fällen aber muss er gegen die engnationale Beschränktheit, Abgeschlossenheit und Isoliertheit kämpfen, für die Berücksichtigung des Ganzen und Allgemeinen, für die Unterordnung der Interessen des Teils unter die Interessen der Gesamtheit.

Leute, die sich nicht in diese Frage hineingedacht haben, finden, dass es ‚widerspruchsvoll‘ sei, wenn die Sozialdemokraten der unterdrückenden Nationen auf der ‚Freiheit der Lostrennung‘ beharren, die Sozialdemokraten der unterdrückten Nationen dagegen auf der ‚Freiheit der Vereinigung‘. Einige Überlegung zeigt jedoch, dass es einen anderen Weg zum Internationalismus und zur Verschmelzung der Nationen, dass es einen anderen Weg zu diesem Ziel aus der gegebenen Lage nicht gibt und nicht geben kann.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd.22, S.330-332, russ.)

 


Zuletzt aktualisiert am 15.9.2004