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Moshé Machover

Israelis und Palästinenser:
Der Konflikt und Lösungsansätze

Jahresvorlesung des Barry Amiel & Norman Melburn Trust

(30. November 2006)


Übersetzung: Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning und David Paenson (Oktober 2008).
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für die Encyclopaedia of Trotskyism On-Line (ETOL).


Begrüßung von Tariq Ali
(Diskussionsleitung)

Der Konflikt in Palästina/Israel tobt seit fast einem Jahrhundert. Mit Recht lässt sich sagen, dass dort der am höchsten aufgeladene und explosivste Brennpunkt liegt: ein Pulverfass neben Millionen Barrel Öl. Armageddon – har-megiddo – hat in diesem Land seinen Sitz.

Um Werturteile über diesen Konflikt fällen und Lösungsansätze finden zu können, brauchen wir ein klares Verständnis seines Wesens und des regionalen Kontextes, in den er eingebettet ist.

In seiner Vorlesung wird Moshé Machover darlegen, dass es sich um eine ganz besondere Konfrontation – die letzte aktive dieser Art – zwischen einer Siedlernation und den Bewohnern eines Landes handelt, von dem behauptet wird, es sei ein Land ohne Volk gewesen.

Wesentliche Elemente für eine gerechte und dauerhafte Lösung lassen sich leicht abstrakt umreißen, aber was sind die notwendigen Vorbedingungen dafür?

Moshé Machover ist israelischer Sozialist, Gründungsmitglied der Sozialistischen Organisation Israels (Matzpen). Er ist Mathematiker und emeritierter Professor für Philosophie am King’s College in London. Er ist Verfasser verschiedener Bücher, einschließlich der Abhandlung Laws of Chaos: A Probabilistic Approach to Political Economy (zusammen mit Emmanuel Farjoun), das 1983 bei Verso erschienen ist.


Vorwort

Am 30. November 2006 wurde mir die große Ehre zuteil, die Jahresvorlesung des Barry Amiel & Norman Melburn Trust halten zu dürfen. Das Ereignis fand im Brunei-Gallery-Vorlesungsgebäude des Instituts für Orient- und Afrikastudien der Universität London statt.

Zu meinen Vorgängern bei dieser Jahresvorlesung gehören einige sehr bedeutende Frauen und Männer; ich bin deshalb den Trustverwaltern außerordentlich dankbar für die Ehre, mich dieser Liste angesehener Persönlichkeiten hinzugefügt zu haben und mir die Gelegenheit zu bieten, mit einem großen und lebendigen Publikum Gedanken über ein Thema auszutauschen, mit dem ich mich seit fünfzig Jahren beschäftige.

Ich danke auch dem Treuhänder Willow Grylls und der Organisatorin der Vorlesung, Ariane Severin, für ihre hocheffiziente Vorbereitung dieses Ereignisses.

Mein besonderer Dank gilt aber Tariq Ali, einem der Treuhänder, der die Veranstaltung mit viel Geschick und großer Einsicht in das Thema geleitet hat. Keine andere Diskussionsleitung hätte geeigneter sein können: Im Jahr 1969 veröffentlichte Tariq einen gemeinsam von dem palästinensisch-arabischen Marxisten Dschabra Nikola (der unter dem Pseudonym A. Said schrieb und inzwischen verstorben ist) und mir verfassten Artikel in seinem Magazin Black Dwarf. In diesem Artikel waren zum ersten Mal einige der wichtigsten Ideen meines heutigen Vortrags auf Englisch umrissen.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch meines Genossen und Freundes Dschabra Nikola gedenken, der von 1912 bis 1974 gelebt hat. Er wurde wenige Monate nach Gründung der Sozialistischen Organisation Israels (Matzpen) Mitglied, und seine Analyse der Auswirkungen des Zionismus auf Palästina und den arabischen Osten hat unser Denken stark beeinflusst. Insbesondere verdanken wir ihm den Blick auf den regionalen Kontext des palästinensischen Problems und seiner möglichen Bewältigung – was im Mittelpunkt meiner Vorlesung stehen wird.

Hier nun eine etwas erweiterte Fassung meines Vortrags. Ich habe ein paar Beobachtungen und Klärungen hinzugefügt – die vor allem durch Fragen oder Kommentare aus dem Publikum angeregt wurden – und etwas Quellenmaterial, das ich während der Vorlesung aus Zeitmangel nicht zitieren konnte. Dennoch habe ich versucht, den diskursiven und informellen Stil einer mündlichen Präsentation beizubehalten.

Ich danke Ehud Ein-Gil, Z. Havkin und Tikva Honig-Parnass, die den Entwurf dieses Aufsatzes gelesen und einige hilfreiche Anmerkungen beigesteuert haben.


Präambel: Wie sollten wir an den Konflikt herangehen?

Wie sollten wir uns dem israelisch-palästinensisch Konflikt nähern? Achtung: Das Wie kommt vor dem Was. Ehe wir zu ernsthaften Schlussfolgerungen kommen – und in jedem Fall, ehe wir Partei ergreifen –, müssen wir uns im Klaren darüber sein, wie wir an das Thema herangehen sollten.

Es wäre ein Fehler, würden wir mit dem normativen Ansatz beginnen. Ein moralisches Urteil muss gefällt werden: Ich bin der Letzte, der dem aus dem Weg gehen würde. Aber wir sollten nicht mit moralischen Werturteilen beginnen.

Schuldzuweisungen wegen begangener Verbrechen sind kein guter Ausgangspunkt. In jedem gewalttätigen Konflikt können beide Seiten furchtbare Gräueltaten begehen – und meistens tun sie es auch: Unbewaffnete und unschuldige Menschen werden hemmungslos getötet, ihre Häuser zerstört, die Lebensgrundlage wird ihnen entzogen. Und selbstverständlich müssen all diese Gräueltaten verurteilt werden.

Nun lässt sich leicht nachweisen, dass Israels Grausamkeiten die seiner palästinensischen (oder anderen arabischen) Gegner um ein Vielfaches übersteigt. Das allein reicht jedoch nicht aus, um sich auf eine Seite zu schlagen. Israel verursacht sehr viel mehr Leid, begeht viel schwerere Gräueltaten, weil es das kann: Es ist sehr viel stärker. Israel hat eine riesige Kriegsmaschinerie, in absoluten Zahlen eine der größten der Welt, und die bei weitem respekteinflößendste im Verhältnis zu seiner Größe. Das mengenmäßige Verhältnis der Gewalttaten allein setzt Israel also nicht unbedingt ins Unrecht.

Auch die Frage: „Wer hat angefangen?“ hilft nicht weiter. Beide Seiten behaupten, dass sie „Vergeltung üben“ für Verbrechen des anderen. Die Medien bezeichnen das als „Gewaltkreislauf“; eigentlich ist es aber kein Kreis, sondern eine Spirale. Wie weit zurück müssen wir gehen? Selbst wenn wir so weit zurückgehen wie „weit zurück“ reicht und herausfinden, wer den ersten Schuss abfeuerte: Na und? Vielleicht hatte derjenige, der den ersten Schuss abfeuerte, jedes Recht dazu?

Wir sollten uns dem Thema also zunächst mit der beschreibenden und analytischen Methode nähern. Wir müssen uns fragen: Was ist das Wesen des Konflikts, worum geht es? Das Verstehen sollte vor dem Urteil kommen. Wenn wir verstehen, was da eigentlich los ist, dann kann jede und jeder von uns ihre oder seine moralischen Kriterien darauf anwenden und ein Urteil fällen. Und nur dann, wenn das Wesen des Konflikts begriffen ist und ein moralisches Urteil gefällt wurde, können wir herausarbeiten, wie eine Auflösung des Konflikts aussehen könnte und mit welchen Mitteln wir dies erreichen könnten.


1. Die Analyse des Konflikts

1.1 Ein Kolonisierungsprojekt im regionalen Kontext

Geschichte ist wichtig. Wer nur eine Momentaufnahme des gegenwärtigen Zustands sieht, kann den Konflikt nicht verstehen: Der Film muss ganz zurückgespult werden.

Der Konflikt begann nicht 1967; damals trat er mit der militärischen Besatzung des Westjordanlands, des Gazastreifens und der syrischen Golanhöhen nur in eine neue Phase ein. Er begann auch nicht mit dem Angriff Israels auf Ägypten im Jahr 1956, was mit dem geheimen Einverständnis Großbritanniens und Frankreichs geschah. Und er begann nicht im Jahr 1948 mit der Gründung Israels und der auf die Palästinenser einstürzenden Nakba (Katastrophe), in der die meisten palästinensisch-arabischen Menschen des daraus entstehenden Israels zu Flüchtlingen wurden.

Der Konflikt begann ein Jahrhundert zuvor und wurde unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg akut. In allgemeinen Begriffen ist er Teil eines ganzen Bündels ungelöster Probleme, die die westlichen imperialistischen Mächte Großbritannien und Frankreich der Region durch die Art, wie sie das Osmanische Reich auflösten und unter sich aufteilten, hinterlassen haben. Wir können andere Bestandteile dieses komplexen Erbes im Irak, Libanon und in der gesamten Region sehen.

Dieser überaus wichtige regionale Kontext wird im Folgenden ein Leitmotiv sein.

Spezifisch jedoch ist dies ein Konflikt zwischen dem zionistischen Projekt der Kolonisierung Palästinas und den alteingesessenen Bewohnern des Landes, den palästinensischen Arabern. Im Jahr 1948 wurde es zum Konflikt zwischen Israel (dem Siedlerstaat als Ergebnis des zionistischen Kolonisierungsprojekts) und dem palästinensisch-arabischen Volk.

Die Behauptung, Zionismus sei und ist ein Kolonisierungsprojekt und Israel ein Siedlerstaat, hat nichts mit einem Werturteil zu tun, sondern ist eine einfache Tatsachenfeststellung. Ich gebrauche diese Begriffe nicht als Beleidigung. Die zionistische Bewegung selbst hat in ihrem Diskurs den Begriff der „Kolonisierung“ benutzt (und später die hebräische Entsprechung).

Es lässt sich sagen, und einige tun das auch, dass Kolonisierung und die Errichtung eines Siedlerstaats moralisch akzeptabel seien – ganz allgemein oder in diesem besonderen Fall. Das ist ein Werturteil, das sich aus den eigenen moralischen Kriterien ergibt. Auf keinen Fall intellektuell vertretbar ist aber die Leugnung der Tatsache, dass der Zionismus ein Kolonisierungsprojekt ist und der israelische Staat ein Siedlerstaat.

Es gibt natürlich eine Reihe von Siedlerstaaten, die von Kolonialisten aus Europa in verschiedenen Gegenden der Welt errichtet wurden. Israel ist in dieser Hinsicht nicht einzigartig. Der Zionismus und Israel sind allerdings in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich. Im Folgenden werde ich mich mit drei Besonderheiten beschäftigen.1
 

1.2 Spät begonnen – immer noch aktiv

Die erste Besonderheit der zionistischen Kolonisation besteht darin, dass sie historisch das letzte verwirklichte Kolonisierungsprojekt darstellt. Und es ist das letzte und gegenwärtig das einzig aktive – aktiv wie „aktiver Vulkan“, im Gegensatz zu einem erloschenen Vulkan.

Andere Siedlerstaaten haben ihre „offenkundige Bestimmung“ („Manifest Destiny“ lautete die Doktrin für die Ausdehnung der USA im 19. Jahrhundert) erfüllt. Die Kolonisierung ist dort abgeschlossen. Nicht aber in dem vorliegenden Fall.

Das heutige Israel ist nicht nur ein Produkt des zionistischen Kolonisationsprojekts, sondern auch ein Instrument zu seiner weiteren Ausdehnung. Die Kolonisierung geht weiter. Sie setzte sich von 1948 bis 1967 in dem Territorium fort, das damals unter israelischer Herrschaft stand, innerhalb der Grünen Linie.2 Land, das palästinensischen Arabern gehörte – einschließlich innerhalb der Grünen Linie verbliebenen Arabern –, wurde enteignet und der zionistischen Kolonisation übergeben. Und nach 1967 wurde der Kolonisierungskrieg sofort in die neu besetzten Gebiete getragen, und zwar unter allen Regierungen, sei es unter Labour, Likud oder großen Koalitionen.

Es gibt eine breite Kontroverse über die wirklichen Absichten der israelischen Regierung unter Jitzhak Rabin, als sie im Jahr 1993 das Abkommen von Oslo unterzeichnete, und darüber, was Ministerpräsident Ehud Barak auf dem Camp-David-Gipfel im Jahr 2000 mit seinem „großzügigen Angebot“ meinte. Ich will euch einen Rat geben: Hört nicht auf die Meinungsmache der Politiker, denn von Politikern im Allgemeinen – nicht nur von unserem Tony Blair – können wir nur Lügen erwarten – sie lügen, wann immer es ihnen nützt. Seht euch die Fakten an, denn die lügen nicht.

Lasst uns zum Beispiel einen Blick auf Tafel 1 im Anhang werfen. Sie zeigt die Zahl der israelischen Siedler im Westjordanland in den Jahren 1976 bis 2004.3 Auf der Zeitachse entspricht Jahr 1 dem Jahr 1976 und Jahr 29 ist das Jahr 2004. Wir können selbst sehen, dass die Kolonisierung – geplant, durchgeführt und finanziert von der israelischen Regierung und abgesichert durch ihre Armee – unablässig fortgeschritten ist. Nun, ich habe auf der Tafel die Regierungszeit der Labour-Politiker Jitzhak Rabin und Ehud Barak eingezeichnet, 1992 bis 1995 und 1999 bis 2000/01. Könnt ihr irgendein Nachlassen der Aktivitäten erkennen oder überhaupt irgendeine Veränderung?4 Sehen wir uns hierzu auch die Siedlungskarte im Anhang an. Welche Absichten haben also die israelischen Regierungen – alle israelischen Regierungen – in Bezug auf diese von Israel besetzten palästinensischen Gebiete verfolgt? Zieht eure eigenen Schlussfolgerungen.
 

1.3 Die Ben-Gurion-Doktrin

Am 16. Februar 1973 hielt General Mosche Dajan auf einer Veranstaltung der israelischen Anwaltskammer eine programmatische Rede. Die Tageszeitung Ha’aretz berichtete am 18. Februar 1973, Dajan habe seine „Zuhörer überrascht“: Die Anwälte, die ihn eingeladen hatten, erwarteten von ihm als Verteidigungsminister, dass er über militärische Fragen sprechen würde. Stattdessen hielt er eine vorbereitete ideologische Vorlesung und erläuterte die „Doktrin“ seines Mentors, des Staatsgründers David Ben Gurion. Ben Gurion lebte damals noch – er starb Ende 1973 – und wir können zu Recht annehmen, dass Dajan sich seiner Zustimmung sicher sein konnte. (Es gehört nicht allzu viel Fantasie zu der Annahme, dass Ben Gurion über seinen Schützling der Nation eine Botschaft zukommen lassen wollte.)

Dajan zitierte, was Ben Gurion viele Jahr zuvor in internen Debatten über den Bericht der Peel-Kommission5 gesagt hatte, aber er betonte, dass diese Worte aus dem Jahr 1937 auch „heute noch Gültigkeit“ hätten. Der Kern von Ben Gurions Doktrin, wie er von Dajan zitiert wurde, lautete:

Unter uns [den Zionisten] steht die Einheit des Landes Israel [also Palästinas], unsere Bindung an das gesamte Land und unser Anspruch darauf […] nicht zur Debatte.

Wenn ein Zionist über die Einheit des Landes spricht, dann kann das nur Kolonisierung [hitjaschwut] des Landes durch die Juden in seiner Gesamtheit heißen.

Vom Standpunkt des Zionismus aus ist der wahre Prüfstein also nicht auf die Frage beschränkt, wem dies oder jenes Stück des Landes politisch gehört, nicht einmal darauf, abstrakt an die Einheit des Landes zu glauben. Ziel und Prüfstein des Zionismus ist die wirkliche Umsetzung der Kolonisierung aller Gebiete des Landes Israel durch die Juden.6

Das ist das zionistische Gegenstück zur Doktrin der „offenkundigen Bestimmung“. Lasst mich erklären, was das bedeutet: Jede Teilung Palästinas, jede „Grüne Linie“, jedes Abkommen und jeder Vertrag, die ein Stück des „Landes Israel“ der jüdischen Kolonisierung verschließen, ist aus Sicht des Zionismus höchstens für den Übergang gedacht, darf aber niemals auf immer und ewig gelten.

Das heißt natürlich nicht, dass die Ausweitung der zionistischen Kolonisierung nicht gestoppt werden könnte. Aber es bedeutet, dass sie weiterhin als Angelegenheit von höchster Priorität angesehen wird, solange es die Machtverhältnisse erlauben.
 

1.4 Die Schrift an der Wand

Die zionistische Kolonisierung Palästinas ist die Quelle des Konflikts, die fortgesetzte Kolonisierung ist die anhaltende Kraft, die den Konflikt immer wieder anheizt. Aus diesem Grund will ich mich in meiner Analyse auf das zionistische Projekt beschränken, das in diesen Auseinandersetzungen die aktive Seite darstellt. Aus Zeitmangel werde ich sehr wenig über den palästinensischen Kampf sagen, der eine vorhersehbare Reaktion war.

Dass die Umsetzung des zionistischen politischen Projekts unweigerlich Widerstand der palästinensischen Einwohner hervorrufen und mit unerbittlicher Logik zu einem Gewaltkonflikt führen würde, war von Beginn an abzusehen. Die Klarsichtigsten und die hemmungslosesten und freimütigsten Zionisten haben das offen zugegeben.

Keiner hatte weniger Hemmungen als Wladimir Jabotinsky (1880–1940), der politische und geistige Ahne von fünf israelischen Ministerpräsidenten: Menachem Begin, Jitzhak Schamir, Benjamin Netanjahu, Ariel Scharon und Ehud Olmert.7

Im Folgenden etwas ausführlichere Zitate aus seinem zu Recht berühmt-berüchtigten Artikel Die eiserne Wand (O Zheleznoi Stene), veröffentlicht 1923 in der russischsprachigen Zeitschrift Rasswjet (Morgenröte).

Von einer freiwilligen Versöhnung der palästinensischen Araber mit uns kann keine Rede sein; weder jetzt noch in absehbarer Zukunft. Diese Überzeugung äußere ich in einer derart scharfen Form, nicht aus dem Grunde, weil es mir gefällt, gutherzige Leute [sprich: moderate Zionisten] zu kränken. Übrigens glaube ich nicht, dass sie sich darüber kränken werden, da sie alle, mit Ausnahme der Blindgeborenen, schon lange aus Eigenem begriffen haben, dass es ganz unmöglich ist, eine freiwillige Einwilligung der Araber Palästinas zur Umwandlung desselben Palästinas aus einem arabischen Lande in ein Land mit einer jüdischen Majorität zu erlangen.

Jeder Leser hat einen gewissen allgemeinen Begriff über die Geschichte der Kolonisation anderer Länder.8 Ich empfehle dem Leser, sich an alle bekannten Beispiele zu erinnern – und dann zu versuchen, die ganze Reihe überblickend, einen einzigen Fall zu finden, wo eine Kolonisation sich unter der Zustimmung der Eingeborenen vollzogen hat. Ein solcher Fall ist nicht vorgekommen.

Eingeborene, gleichgültig, ob zivilisiert oder unzivilisiert, haben immer hartnäckig gegen Kolonisatoren, gleichgültig ob zivilisiert oder unzivilisiert, gekämpft.

[...]

Jedes einheimische Volk, gleich ob es zivilisiert oder wild ist, betrachtet sein Land als sein nationales Heim, wo es der einzige Herr ist und für immer bleiben will; nicht nur neue Wirte, auch neue Mitbeteiligte oder Partner in der Wirtschaft wird es nicht freiwillig zulassen.

Dies bezieht sich auch auf die Araber. Die Friedensstifter in unsren Reihen versuchen uns zu überreden, dass die Araber entweder Narren sind, die man mit einer „milderen“ Formulierung unserer wirklichen Ziele täuschen kann, oder dass sie eine bestechliche Bande sind, die gegen kulturelle und ökonomische Vorteile uns den Vorrang in Palästina abtreten wird. Ganz entschieden bin ich mit dieser Ansicht über die palästinensischen Araber nicht einverstanden. Kulturell sind sie um 500 Jahre hinter uns zurückgeblieben; in geistiger Hinsicht besitzen sie weder unsere Widerstandsfähigkeit noch unsere Willensstärke, damit ist aber der ganze innere Unterschied erschöpft. Sie sind nämlich genauso scharfsinnige Psychologen wie wir und sind wie wir seit Jahrhunderten durch schlaue „Pilpul“ [Spitzfindigkeit] erzogen: Wir können ihnen erzählen, was wir wollen, sie verstehen doch die Tiefe unserer Seele genauso gut, wie wir die Tiefe ihrer Seele erfassen. Und zu Palästina hegen sie mindestens dieselbe instinktive Liebe und organische Eifersucht wie die Azteken zu ihrem alten Mexiko und die Sioux zu ihren Prärien. […]

Jedes Volk kämpft gegen die Kolonisation, solange es noch die geringste Hoffnung hat, sich von der Gefahr der Kolonisation zu befreien. So handeln die Araber von Palästina und so werden sie auch handeln, solange sie noch einen Funken solcher Hoffnung haben. […]

Die Kolonisation kann nur ein Ziel haben; für die palästinensischen Araber ist dieses Ziel unannehmbar. Das liegt alles in der Natur der Dinge, und leider lässt sich diese Natur nicht ändern. […]

Falls es auch gelänge (woran ich zweifle), die Araber von Bagdad und Mekka zu überreden, dass Palästina für sie nur ein kleines, bedeutungsloses Grenzgebiet ist, so würde auch dann Palästina für die palästinensischen Araber nicht ein Grenzgebiet, sondern ihr einziges Vaterland, der Mittelpunkt und die Stütze ihrer eigenen nationalen Existenz bleiben. Deshalb wäre man auch dann gezwungen, die Kolonisation gegen den Willen der palästinensischen Araber zu unternehmen, das heißt unter denselben Verhältnissen wie jetzt.

Aber auch ein Übereinkommen mit den Arabern außerhalb Palästinas ist für uns eine unrealisierbare Fantasie. Für eine Konzession von derartiger Bedeutung, wie Verzicht auf den arabischen Charakter Palästinas (eines Landes, das gerade im Mittelpunkte der [ihrer zukünftigen] „Federation“ liegt) – müssten wir den Nationalisten von Bagdad, Mekka und Damaskus ein ebenso großes Äquivalent anbieten. Es ist klar, dass nur zwei Formen für dieses Äquivalent denkbar sind: entweder Geld oder politischen Beistand oder beides zusammen. Wir können aber weder das eine noch das andere anbieten. Was Geld anbelangt, so ist es lächerlich zu denken, dass wir imstande sind, Mesopotamien und Hedschas zu finanzieren, nachdem es uns sogar für Palästina nicht langt. […] Und besonders gewissenlos wäre es unsererseits, ernst von einer politischen Unterstützung des arabischen Nationalismus zu sprechen. Der arabische Nationalismus strebt nach demselben, nach dem der italienische bis 1870 gestrebt hat: nach Einigung und staatlicher Selbstständigkeit. Mit einfachen Worten bedeutet dies eine Vertreibung Englands aus Mesopotamien und Ägypten, die Verjagung Frankreichs aus Syrien und später vielleicht auch aus Tunis, Algerien und Marokko. Dabei mitzuhelfen, wäre unsererseits Selbstmord und Verrat. Wir stützen uns auf das englische Mandat; die Deklaration von San Remo [in die die Balfour-Erklärung mit aufgenommen wurde] hat auch Frankreich unterzeichnet. Wir dürfen nicht an einer politischen Intrige teilnehmen, die eine Vertreibung Englands vom Suezkanal und vom Persischen Golf und eine vollständige Vernichtung Frankreichs als Kolonialmacht im Orient bezweckt. Ein derartiges Doppelspiel ist nicht nur unstatthaft: es schickt sich auch nicht, etwa daran zu denken. Man wird uns zerdrücken – und mit wohlverdienter Schmach –, bevor wir noch die geringste Bewegung in dieser Richtung machen würden. […]

Die Schlussfolgerung: Weder den palästinensischen noch den übrigen Arabern können wir eine in ihren Augen genügende Kompensation für Palästina anbieten. Eine freiwillige Übereinkunft ist deswegen undenkbar. Und deswegen können diejenigen, die eine derartige Übereinkunft als Conditio sine qua non des Zionismus ansehen, schon jetzt „non“ sagen und vom Zionismus Abstand nehmen. Die zionistische Kolonisation muss man entweder einstellen oder sie gegen den Willen der einheimischen Bevölkerung weiterführen. Sie kann daher nur unter dem Schutze einer von der einheimischen Bevölkerung unabhängigen Macht – einer eisernen Wand –, die die einheimische Bevölkerung nicht durchbrechen kann, weitergeführt und entwickelt werden.

Darin besteht auch unsere ganze arabische Politik […] Wozu die Balfour-Deklaration? Wozu das Mandat? Ihr Sinn und ihre Bedeutung besteht für uns darin, dass eine fremde Macht sich verpflichtet hat, solche Verwaltungs- und Sicherheitsverhältnisse im Lande zu schaffen, dass der einheimischen Bevölkerung ohne Rücksicht auf ihre Wünsche die Möglichkeit genommen wäre, die jüdische Kolonisation administrativ oder politisch zu verhindern.9
 

1.5 Wall gegen Asien

Ein zweites, eher ungewöhnliches Muster der zionistischen Kolonisierung besteht darin, dass die Siedler nicht Staatsbürger einer europäischen Macht waren, von der sie zu einem Kolonisierungsfeldzug ausgeschickt wurden und die sie beschützte. Deshalb war den Begründern des politischen Zionismus von Anfang an klar, dass für den Erfolg ihres Projekts die Förderung durch eine Großmacht lebenswichtig war – egal, welche Großmacht gerade im Nahen Osten die Oberherrschaft hatte. Diese sollte sie mit einer „eisernen Wand“ ausstatten, hinter der die zionistische Kolonisierung weitergehen konnte. Ohne solch eine Förderung, die im Diskurs der frühen Zionisten als „Charta“ bezeichnet wurde, wäre die Kolonisierung Palästinas von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen.

Natürlich sind Großmächte keine Menschenfreunde. Ihren Schutz gibt es nicht umsonst, sondern nur im Tausch gegen andere Dienste. Und von Beginn an war klar, welcher Art diese Dienste sein würden. Der Gründervater des politischen Zionismus, Theodor Herzl (1860 bis 1904) schrieb in seinem programmatischen Buch Der Judenstaat im Jahr 1896:

Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen. Wir würden als neutraler Staat im Zusammenhange bleiben mit ganz Europa, das unsere Existenz garantieren müsste.10

Das ist weniger ein „Zusammenstoß der Zivilisationen“ als ein Zusammenstoß der einzigen und alleinigen Zivilisation mit der Barbarei.

Es geht also um einen Handel, ein Tauschgeschäft. Im Tausch für die lebenswichtige „eiserne Wand“ gegen die palästinensischen Araber, die mit Hilfe des westlichen Imperialismus errichtet werden würde, würden die zionistischen Kolonisatoren und schließlich ihr Siedlerstaat ihren Förderern ein „Wall“ gegen die „Barbaren“ im Nahen Osten sein. (Die Praxis des Zionismus ist voll von Wänden und Wällen; aber sie tauchen schon sehr viel früher im zionistischen Diskurs auf: Am Anfang war das Wort.)

Eine notwendige Folge dieses historischen Abkommens war die Regionalisierung des Konflikts. Der Zusammenstoß des zionistischen Projekts (und schließlich Israels) mit den palästinensischen Einwohnern wurde ausgeweitet zu einem Konflikt mit den Menschen der gesamten Region. Der Grund dafür ist nicht nur die nationale Solidarität der Araber der gesamten Region mit ihren arabischen Brüdern in Palästina, sondern auch die aktive Rolle des Zionismus (und Israels) als Partner westlicher Ausbeutung und Beherrschung des Nahen Ostens.

In den 1880er Jahren hatte Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Frankreich und Großbritannien als „Freund und Militärberater“ des niedergehenden Osmanischen Reichs ersetzt. Palästina gehörte damals zu diesem Reich, weshalb Herzl versuchte, seine Idee dem deutschen Kaiser anzutragen. Aber er erhielt eine Abfuhr, der Kaiser verzichtete dankend auf das vorgeschlagene Abkommen.11
 

1.6 „Ein kleines loyales jüdisches Ulster“

Chaim Weizmann hatte zum Ende des Ersten Weltkriegs sehr viel mehr Glück mit der Regierung Lloyd-George. Der Charta der zionistischen Bestrebungen wurde in Gestalt der Balfour-Erklärung vom 2. November 1917 entsprochen.12

In seinen Erinnerungen kommentierte Sir Ronald Storrs, der Kopf hinter Lawrence von Arabien und erster britischer Gouverneur Jerusalems, die Logik der Balfour-Erklärung:

Obwohl das Land noch keine sechzehn Millionen, nicht einmal acht Millionen aufnehmen konnte, konnten genügend zurückkehren, um vielleicht nicht den Judenstaat zu errichten (den ein paar Extremisten öffentlich forderten), aber um zu beweisen, dass dies ein gesegnetes Unterfangen für den Geber [Großbritannien] wie den Nehmer [Zionismus] war, da „ein kleines loyales jüdisches Ulster“ in einem Meer wahrscheinlich feindlichen Arabismus geschaffen wurde.13

Die Balfour-Erklärung war Bestandteil eines ganzen Bündels von Maßnahmen. Ein anderer war das Herausschälen Palästinas als getrennte politische Einheit.

Während fast dreizehn Jahrhunderten muslimischer Herrschaft – unterbrochen nur durch die Kreuzzüge – war Palästina niemals eine eigene und schon gar nicht eine getrennte Verwaltungseinheit, sondern gehörte immer zu Großsyrien (grob bestehend aus dem heutigen „kleinen“ Syrien, dem Libanon, Jordanien, Israel, dem Westjordanland und dem Gazastreifen). Im Osmanischen Reich bildete die Südhälfte Palästinas den Sonderbezirk Jerusalem, der unmittelbar der Hohen Pforte in Istanbul unterstand; die Nordhälfte bestand aus zwei Verwaltungsbezirken, die zur Provinz Beirut gehörten.

Als die gefräßigen imperialistischen Mächte den Leichnam des Osmanischen Reiches zerfledderten, war Palästina eins der Glieder, die Großbritannien an sich riss. Im Jahr 1922 brachte Großbritannien den Völkerbund dazu, ihm das Mandat über Palästina zu garantieren; die Balfour-Erklärung wurde im Wortlaut in den Mandatstext aufgenommen, zusammen mit verschiedenen Einzelbestimmungen zur Förderung der zionistischen Kolonisation.14

Es ist kaum eine Übertreibung zu sagen, dass Palästina, so wie es aus dem arabischen Osten herausgeschält wurde, auf die Bedürfnisse der zionistischen Kolonisation zugeschnitten war, unabhängig von den Wünschen seiner damaligen Bewohner. Im Gegenteil stellte die amerikanische King-Crane-Kommission im Jahr 1919 fest, diese Einwohner verspürten nicht den Wunsch nach einem getrennten Palästina, sondern seien mit ihrer Zugehörigkeit zu Großsyrien zufrieden. Zudem gehörten zu diesem Herauslösen erhebliche Beschneidungen. Das palästinensische Mandat umfasste ursprünglich auch ein großes, überwiegend trockenes Gebiet östlich des Jordans, aber Großbritannien durfte die Umsetzung der Bestimmungen zur Förderung der zionistischen Kolonisierung in Bezug auf dieses Ostgebiet „aufschieben oder zurückhalten“. Daraufhin richtete Großbritannien diese Region als separates Emirat Transjordanien unter seinem haschemitischen Schützling Abdallah ein. Später wurde es zum Königreich Jordanien. Ab 1923 bedeutete „Palästina“ das Gebiet westlich des Jordans, für das die Balfour-Erklärung uneingeschränkt unter dem Mandat des Völkerbunds galt. Dieses „Palästina“ bestand dann 25 Jahre lang als eigenständige politische Einheit.
 

1.7 „Eine Art Wachhund“

In den 1930er Jahren kühlten sich die Beziehungen zwischen der zionistischen Bewegung und ihrem ehemaligen britischen Beschützer ab. Ihre Ziele und Interessen begannen sich auseinanderzuentwickeln. Schließlich tat sich eine ernsthafte Kluft zwischen ihnen auf und wuchs sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem gewalttätigen Konflikt aus. Ich kann hier nicht auf die einzelnen Gründe für diesen Konflikt eingehen. An dieser Stelle kann ich nur darauf verweisen, dass der Große Aufstand der palästinensischen Araber den Briten die Kosten der Durchsetzung des Mandats vor Augen führte, was zu sehr an ihrer ohnehin begrenzten Macht und ihrem Einfluss zehren würde. Inzwischen war das zionistische Projekt den Kinderschuhen eines „kleinen loyalen jüdischen Ulsters“ entwachsen und reif für die Staatssouveränität. In jedem Fall aber verlor Großbritannien seine Vormachtstellung im Nahen Osten; der Zionismus brauchte einen neuen imperialen Patron.

Michael Assaf, ein arbeiterzionistischer Orientalist, beschrieb die Lage wie folgt:15

In jenen Kampfjahren [zwischen Zionismus und britischem Imperialismus] nahm die Entwicklung einer neuen Bindung ihren Anfang: statt England-Zion hieß es jetzt Amerika-Zion. Dieser Prozess kam in Gang, weil die USA als Hauptmacht in den Nahen Osten einzudringen begannen.

In dem Moment, da Israel 1948 gegründet war, setzte es diesen Prozess der Neuanbindung fort. Es suchte ein neues Bündnis – Schutz im Gegenzug für Dienste – mit den USA. Aber der Wechsel zu dem neuen imperialistischen Gönner verlief schrittweise und durchlief verschiedene Stadien. Zunächst behielt Großbritannien nach wie vor einigen Einfluss im Nahen Osten. Das zeigt sich an der folgenden Einschätzung der regionalen Rolle Israels:

Die Feudalregime in diesen Nahoststaaten müssen in einem so hohen Grad wachsam gegenüber den (säkularen wie religiösen) nationalistischen Bewegungen sein, die manchmal auch von eindeutig linkssozialer Färbung sind, dass diese Staaten nicht mehr bereit sind, den Briten und Amerikanern ihre Naturressourcen zur Verfügung zu stellen und ihnen die Nutzung ihrer Länder als Militärstützpunkte für den Kriegsfall zu erlauben. Natürlich wissen die herrschenden Kreise in den Ländern des Nahen Ostens genau, dass sie bei einer sozialen Revolution oder einer sowjetischen Eroberung mit Sicherheit physisch liquidiert werden, aber die unmittelbare Furcht vor der Kugel eines politischen Attentäters überwiegt vorläufig die nicht greifbare Angst vor einer gewaltsamen Eingliederung in die kommunistische Welt. All diese Staaten sind […] militärisch schwach. Israel hat sein militärisches Gewicht im Befreiungskrieg gegen die arabischen Staaten bewiesen, weshalb eine gewisse Stärkung Israels ein durchaus bequemer Weg für die Westmächte ist, das politische Gleichgewicht im Nahen Osten zu erhalten. Unter dieser Prämisse ist Israel die Rolle eines Wachhunds zugewiesen worden. Es ist nicht zu befürchten, dass es mit aggressiven Mitteln gegen die arabischen Staaten vorgehen wird, wenn das eindeutig dem Wunsch der Amerikaner und Briten widerspricht. Aber wenn die Westmächte zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem ein oder anderen Grund ihre Augen verschließen möchten, dann wird Israel zuverlässig und auf geeignete Art und Weise einen oder mehrere Nachbarstaaten bestrafen, deren Unbotmäßigkeit gegenüber dem Westen die erlaubten Grenzen überschreitet.16

Die Zeit von 1948 bis 1967 war eine schwierige Phase für Israels Bestreben, sich den USA als neuer vorherrschender und imperialistischer Macht anzudienen. Die USA waren durchaus interessiert, aber nicht allzu begeistert. Sie gewährten Israel erhebliche finanzielle und politische Unterstützung, ihr Einsatz für Israel war aber keineswegs uneingeschränkt. Die Nützlichkeit Israels als regionaler Gefolgsmann war noch nicht erwiesen; sie hatte sich den US-amerikanischen Politikern noch nicht gezeigt.

In den 1950er Jahren wandte sich Israel verstärkt an Frankreich, um zu einem engeren politischen Bündnis und an Militärausrüstung zu kommen. Frankreich führte damals seinen Kolonialkrieg in Algerien. Der arabische Nationalismus – an dessen Spitze der charismatische ägyptische Präsident Gamal Abdel-Nasser stand – war der gemeinsame Feind.

Im Suezkrieg von 1956 bewies Israel dann sein militärisches Können, seine Nützlichkeit als örtlicher Rottweiler – aber dem falschen imperialistischen Boss. Frankreich und Großbritannien waren als Kolonialmächte erledigt. Die USA waren von ihrem linkischen, nicht genehmigten Versuch eines Comebacks nicht sehr begeistert und erstickten ihn gebieterisch im Keime. Israel wurde ebenfalls sehr deutlich aufgefordert, sich von seinen Eroberungen zurückzuziehen, die Ministerpräsident Ben Gurion etwas voreilig zum „Teil des Dritten Königreichs Israel“ erklärt hatte.17 Dennoch trug Israel aus dieser Episode einen beachtlichen Gewinn davon. Auf der geheimen Klausurtagung in Sèvre, wo der Plan zur Zusammenarbeit bei dem Überfall auf Suez geschmiedet worden war, konnten Ben Gurion, Dajan und Peres Frankreich einen Preis für Israels Schlüsselrolle abhandeln, den Krieg zu beginnen: Der Preis bestand in dem Versprechen Frankreichs, in Israel einen Atomreaktor zu bauen und diesen mit spaltbarem Material zu beliefern. Israel wurde dadurch schließlich zur fünftgrößten Atommacht der Welt.18

Im Jahr 1967 versicherte Israel sich erst der Zustimmung der USA, ehe es Ägypten und Syrien angriff. Es nutzte die Gelegenheit auch, um sich den verbliebenen Teil Palästinas einzuverleiben, den Abdallah 1948 durch ein Geheimabkommen mit Ben Gurions Regierung an sich gerissen hatte.

Israel hat dem Westen viele wichtige Dienste geleistet, vor allem den USA; der wertvollste aber war sein Beitrag zur Bekämpfung des säkularen arabischen Nationalismus, der zu Recht im Westen als Gefahr für seine Interessen angesehen wurde, und der sich von seinem militärischen Debakel im Jahr 1967 nie wieder erholte. Israel ist zum treuesten und zuverlässigsten Bündnispartner der USA geworden und zum Vollstrecker seiner Interessen in der Region.19
 

1.8 Ist es Apartheid?

Israel wird häufig mit Südafrika zur Zeit des Apartheidregimes verglichen. Der Begriff „Apartheid“ wird allgemein genutzt, um den israelischen Siedlerstaat und vor allem das israelische Regime in den besetzten Gebieten seit 1967 zu beschreiben.

Der Grund für diesen weit verbreiteten Gebrauch des Worts, denke ich, liegt darin, dass Südafrika unter dem Apartheidregime als einziger anderer Siedlerstaat noch vor gar nicht so langer Zeit aktiv sein Kolonisierungsprojekt verfolgte, was den meisten Menschen noch in lebendiger Erinnerung ist. Es ist der einzige andere aktive Siedlerstaat, an den sich die meisten Menschen erinnern können. Deshalb verwenden sie den Begriff „Apartheid“ als Schmähung oder als eine allgemeine Bezeichnung für ein Unterdrückerregime mit rassistischer Diskriminierung.20

Rein analytisch gesprochen lässt sich dieses Etikett jedoch nicht strikt auf die zionistische Kolonisierung anwenden. Und es könnte irreführend sein: „Apartheid“ als Beschimpfung zu verwenden, mag Befriedigung verschaffen und die Gefühle erleichtern, es kann vielleicht als wirksame propagandistische Abkürzung dienen, aber es ist trotzdem gefährlich, weil die Menschen zu glauben beginnen, dass Israel eine Art Südafrika und der israelisch-palästinensische Konflikt deshalb vergleichbar sei und auf ähnliche Weise gelöst werden könne.

Es gibt natürlich viele Ähnlichkeiten. Das Südafrika unter dem Apartheidregime und Israel gehören zu derselben Gattung: dem kolonialen Siedlerstaat. Zur Kolonisation gehört notwendig die Enteignung der alteingesessenen Einwohner, harte rassistische Diskriminierung und die Unterdrückung ihres Widerstands mit brutalen Mitteln. Faktisch jedoch geht es den palästinensischen Arabern innerhalb der Grünen Linie (die israelische Staatsbürger sind) nicht ganz so schlecht wie den Nichtweißen unter dem Apartheidregime, auch wenn sie unter scharfer institutionalisierter Diskriminierung zu leiden haben. Andererseits werden die Palästinenser in den 1967 besetzten Gebieten auf vielfältige Weise brutaler durch das israelische Militär und die Siedler behandelt als die Nichtweißen unter der Apartheid.

Aber mir geht es nicht um einen Vergleich des Grads der Unterdrückung. Es gibt einen wichtigen qualitativen, strukturellen Unterschied zwischen den beiden Siedlerstaaten: Sie gehören zwar zu derselben Gattung aber zu unterschiedlichen Spezies der Gattung.

Eine präzise Einordnung erfordert nicht nur die grobe Feststellung der Gattung, sondern muss auch auf die Besonderheiten hinweisen.21

Hier erinnere ich an Karl Marx’ grundlegende Einsicht: Der Schlüssel zum Verständnis einer Gesellschaft liegt in der politischen Ökonomie, der Produktionsweise.22 Und das heißt an erster Stelle: Was ist die Quelle des Mehrprodukts und wie wird es extrahiert?23

Jede Art der Kolonisierung war mit der Enteignung der Einheimischen verbunden. Die Frage ist, was dann aus ihnen wurde.

Etwas schematisch gesprochen, können wir zwischen zwei Spezies unterscheiden, zwei Hauptmodellen von Kolonisations- und Siedlergesellschaften. Der entscheidende Unterschied besteht darin, ob die Kolonisatoren sich die Einheimischen nutzbar machen, um sie als Arbeitskräfte auszubeuten, als Quelle zur Schaffung eines Mehrprodukts; oder ob sie ausgeschlossen werden aus der Siedlerökonomie, ob sie an den Rand gedrängt, ausgelöscht oder vertrieben, ethnisch gesäubert werden.

Südafrika gehörte zur ersten Variante. Es begann nicht auf diese Weise, aber mit der Entstehung der kapitalistischen Industrie und dem Bergbau entwickelte es sich in ein System, in dem schwarze Afrikaner die Hauptquelle von Mehrwert waren. Die Apartheid war so eingerichtet, dass die Nichtweißen immer zur Hand waren, als wesentliche wirtschaftliche Ressource, aber ohne Bürgerrechte.

Der Zionismus ging bewusst und ausdrücklich den anderen Weg: Die Verwendung einheimischer Arbeitskraft musste vermieden werden. Die palästinensischen Araber werden nicht als nützliche, ausbeutbare Quelle von Mehrwert betrachtet, sondern sind überschüssig angesichts der Erfordernisse. Sie bei der Hand zu haben, bringt keinen Nutzen, nicht einmal, wenn sie auf Armeslänge sind, sie müssen aus dem Weg geräumt werden. Sie mussten ethnisch gesäubert oder – in zionistischer Sprachregelung – „transferiert“ werden.

Transfer geisterte von Anfang an durch die Vorstellungswelt des politischen Zionismus. Am 12. Juni 1895 vertraute Theodor Herzl seinem Tagebuch an:

Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Lande jederlei Arbeit verweigern.24

Es wäre mühsam, an dieser Stelle all die vielen Belege für die Planung eines Transfers aufzulisten und die Berichte über ihre Umsetzung durch Druck, Einschüchterung oder Zwangsausweisung, wenn sich die Gelegenheit ergab. Ich verweise hierzu auf die einschlägige Literatur.25

In Bezug auf den Ausschluss einheimischer Palästinenser aus der Siedlerökonomie vor 1948 und die Planung und Umsetzung ihres Transfers waren die „linken“ oder „Arbeiter-“Zionisten besonders emsig.26 Sie dachten in Klassenbegriffen und wussten deshalb sehr genau, dass, wie in anderen politischen Ökonomien, die unmittelbaren Produzenten die Mehrheit bilden würden. Der Zionismus konnte keinen jüdischen Staat mit einer überwiegend jüdischen Mehrheit bekommen, ohne die Araber auszuschließen. Die Arbeit musste von Juden getan werden: von idealistischen europäisch-jüdischen Pionieren und (da es nicht genügend Freiwillige gab) von mittellosen, meist dunkelhäutigen Juden, die in allen vier Winkeln der Erde eingesammelt wurden.

Im Großen und Ganzen hielten sich der Zionismus und Israel an dieses Modell, die Abhängigkeit von palästinensischer Arbeit auf ein Mindestmaß zu beschränken, wobei es sehr begrenzte und kurze Abweichungen in den 1970er und 1980er Jahren gab.27 Gegenwärtig ziehen es die israelischen kapitalistischen Hochtechnologieunternehmen auf kolonisiertem palästinensischem Land in den besetzten Gebieten vor, überausgebeutete israelisch-jüdische Arbeiter statt palästinensischer Araber zu beschäftigten.28

Die zionistische/israelische Strategie verfolgte schon immer zwei Ziele: die jüdische Landkolonisierung maximieren, die arabische Bevölkerung minimieren.

Zwischen diesen beiden Zielen gab es immer eine gewisse Spannung. Yosef Weitz – ein „Arbeiter-“Zionist, ein besonders glühender Architekt von Transferplänen vor dem Krieg von 1948 und einer derjenigen, die diese Pläne maßgeblich während des Kriegs und danach umgesetzt haben – zeigte sich nach dem Krieg von 1967 besorgt:

Als die UN sich entschieden hatten, Palästina in zwei Staaten zu teilen, brach zum Glück [sic!] der Unabhängigkeitskrieg [von 1948] aus, und in diesem ereignete sich ein doppeltes Wunder: ein territorialer Sieg und die Flucht der Araber. Auch im Sechstagekrieg [von 1967] ereignete sich ein großes Wunder: ein außerordentlicher territorialer Sieg, aber die Mehrheit der Einwohner in den befreiten Gebieten blieben an ihren Wohnorten „hängen“, was dazu führen könnte, die Grundlagen unseres Staats zu zerstören. Das demografische Problem ist das dringendste, vor allem, wenn zu ihrem zahlenmäßigen Gewicht das der Flüchtlinge hinzukommt.29

Die feuchten Träume von der Ausdehnung der Kolonisierung werden immer wieder vom Albtraum der demografischen Gefahr getrübt.

Verschiedene zionistische Strömungen versuchen diese beiden Ziele auf unterschiedliche Weise auszugleichen. Für einige hat die territoriale Ausdehnung Vorrang vor der ethnischen Reinheit; andere sind starr vor Angst wegen der demografischen Gefahr: Es gibt zu viele Araber in Palästina, und sie haben eine hohe Geburtenrate.

Alle stimmen überein, dass es das Beste wäre, wenn die Palästinenser irgendwie verschwinden würden und damit alle Probleme gelöst wären. Aber eine große ethnische Säuberung kann nur zur „rechten Zeit“ (sche’at koscher), wie es im zionistischen Diskurs heißt, durchgeführt werden. Bis dahin besteht die Hauptstrategie darin, die Palästinenser auf leicht zu kontrollierende, bevorzugt sich selbst verwaltende Nischen zu beschränken. Diese unterscheiden sich von Konzentrationslagern insofern, als die Insassen das Gefängnis gerne verlassen dürfen, wenn sie dann emigrieren. Es handelt sich auch nicht um Bantustans, weil der Hauptzweck von Bantustans darin bestand, als formell unabhängige Schlafräume für eine Reservearmee von Arbeitskräften zu dienen, die von der Siedlerökonomie gebraucht wurde.

Am ehesten ähneln sie den Indianerreservaten in den USA. Und die verschiedenen israelischen „Friedenspläne“ und Abkommen mit willigen palästinensischen Führern haben sehr viel gemein mit den berühmten indianischen Abkommen.

Die Tatsache, dass die zionistische Kolonisierung diesem Modell folgt – Ausschluss und Vertreibung der Einheimischen statt Ausbeutung ihrer Arbeitskraft –, hat entscheidende Folgen.

Erstens: Die Gefahr weiterer Großtransfers ist niemals weit. Die „rechte Zeit“ mag beispielsweise während eines extremen Ausnahmezustands oder eines Kriegs gekommen sein, was in dieser leicht entflammbaren Region eine beständige Gefahr ist.30 Israel könnte sogar dazu beitragen, eine solche Gelegenheit zu schaffen. Unterdessen setzt sich der Transfer in Zeitlupe durch Anwendung einer Salamitaktik – wie Einsatz wirtschaftlicher, verwaltungstechnischer und körperlicher Schikane – tagtäglich fort.

Zudem sind ethnische Säuberung und Vertreibung sehr viel schwerer rückgängig zu machen als Ausbeutungsbeziehungen und rassistische Diskriminierung.

Deshalb müssen alle, die gegen dieses Unrecht sind, mit hoher Dringlichkeit handeln, die Weltmeinung wachrütteln und die Zivilgesellschaft auf die Beine bringen, um es Israel so schwer wie möglich zu machen, seine Kolonisierung auszudehnen und das Verbrechen des Transfers zu begehen.
 

1.9 Die nationale Dimension

Als weitere sehr wichtige Folge des besonderen Charakters zionistischer Kolonisation hat sich der Konflikt als nationaler herauskristallisiert.

Während in dem Ausbeutungsmodell der Kolonisation der Konflikt zwischen Siedlern und Einheimischen die Form des Quasiklassenkampfs annimmt, bilden in dem anderen Modell, dem des Zionismus, die Kolonisten eine neue Siedlernation.

Die zionistische Kolonisierung mündete also in die Schaffung einer neuen Nation von israelischen Juden oder modernen Hebräern.31 Sie haben all die wesentlichen Attribute einer Nation im modernen Sinn dieses Worts: ein zusammenhängendes Territorium, eine vollständige Klassenstruktur (ähnlich der anderer moderner kapitalistischer Staaten), eine gemeinsame Sprache für den Alltagsgebrauch (die nur sie sprechen!); und eine säkulare „Hoch-“ wie Volkskultur.

Beachtet, dass die Mehrheit der Juden – die in der Diaspora leben – über keins dieser Attribute verfügt.32 Sie bilden keine Nation in dem heutigen modernen Sinn dieses Begriffs.33

Die Annahme einer neuen nationalen Identität findet genauso schnell statt wie bei anderen eingewanderten Siedlernationen. Wer in Israel als Kind jüdischer Einwanderer aus Russland oder einem arabischen Land geboren ist, ist Angehöriger der hebräischen Nation: Sie sind genauso wenig Russen oder Araber wie ein Amerikaner italienischer oder polnischer Herkunft ein Italiener oder Pole ist. Der Ursprung ihrer Eltern ist nicht ausgelöscht, rückt aber in den Hintergrund.

Ironischerweise verleugnet der Zionismus, so wie ein Vater die Existenz eines unerwünschten Kindes, die Existenz dieser hebräischen Nation, wie sie durch die zionistische Kolonisation erschaffen wurde. Denn nach zionistischer Ideologie bilden alle Juden auf der Welt eine einzige Nation. Das wahre Heimatland jedes Juden ist nicht das Land, in dem sie oder er geboren wurde und in dem ihre oder seine Familie vielleicht seit Generationen gelebt hat. Das Heimatland dieser angeblichen Nation ist das biblische Land Israel, auf das es einen uralten und unveräußerlichen, ja, gottgegebenen nationalen Anspruch hat.34 Nichtjuden in der jüdischen Heimstatt sind lediglich ausländische Eindringlinge. Die zionistische Kolonisation wird als „Rückkehr in die Heimat“ gerechtfertigt – ein Recht, das Juden haben, aber den ausländischen Eindringlingen abgesprochen wird, den palästinensischen Flüchtlingen, die berechtigterweise aus dem jüdischen Heimatland geworfen wurden. Es gibt keine hebräische Nation, sondern nur Angehörige einer weltweiten jüdischen Nation, die bereits in ihr Land zurückgekehrt sind, eine Vorhut ihrer Brüder und Schwestern in der Diaspora, die das Recht haben – sogar die heilige Pflicht –, der Vorhut zu folgen und sich im Land Israel zu „sammeln“.

An dieser Stelle möchte ich auf ein weiteres außergewöhnliches Muster der zionistischen Kolonisation hinweisen. In dem Ausbeutungsmodell der Kolonisation sind die Kolonisten am Ende eine relativ kleine Minderheit, eine Oberschicht oder Halbklasse, die die Arbeitskraft der Einheimischen ausbeutet. Die Letzteren stellen die Mehrheit der unmittelbaren Produzenten und bleiben deshalb auch die Mehrheitsbevölkerung. Dagegen werden die Einheimischen in den Kolonien des anderen Modells, in dem die Kolonisten einen neuen Siedlerstaat aufbauen, überrannt oder zumindest an den Rand gedrängt, wenn nicht vollständig aufgerieben. Ihre eigenen nationalen Identitäten wurden von der der Siedlernation überlagert. Ihre Sprachen und Kulturtraditionen gingen unter oder überlebten bestenfalls als Folklore im „Untergrund“ oder in abgelegenen Gebieten, während die Sprache und Kultur der Siedlernation überall sonst vorherrscht.

Nicht so bei der zionistischen Kolonisierung: Hier hat der Zusammenstoß zwischen dem Unterdrücker und den Unterdrückten, den Kolonisten und den Einheimischen, die Form eines nationalen Konflikts zwischen zwei gesonderten und genau umrissenen nationalen Gruppen von etwa gleicher Größe angenommen.35

Trotz größter Bemühungen verzeichnet der israelische Staat nur einen Teilerfolg bei dem „Transfer“ der palästinensischen Araber von ihrem Heimatland. Der Krieg von 1967 war zu kurz, um eine ethnische Säuberung auch nur annähernd wie in dem Ausmaß von 1947 bis 1949 durchzuführen. Außerdem hatten die Palästinenser die bittere Lektion der Nakba gelernt und blieben – wie Yosef Weitz bedauernd feststellt (siehe oben) – an ihren Orten „hängen“. Gleichzeitig hat die höhere Geburtenrate der Araber den Zustrom jüdischer Immigranten nach Israel in etwa ausgeglichen.

Statt unter der Kolonisation zu verschwinden, hat sich die nationale Identität der palästinensischen Araber schärfer herausgebildet und wurde durch sie verstärkt. Sie behielten ihre Sprache bei und entwickelten eine lebendige nationale Kulturproduktion.

Diese bemerkenswerte Lebenskraft hängt vor allem mit dem regionalen Kontext zusammen. Die meisten Palästinenser leben entweder in unmittelbarer Nachbarschaft zu oder als Flüchtlinge inmitten einer riesigen und bevölkerten arabischen Welt, die über eine gemeinsame Literatursprache verfügt (auch eine weniger formelle Variante, wie sie in den Medien benutzt wird) und ein glorreiches kulturelles Erbe teilt. Viele wurden in diese Länder auch als Flüchtlinge verstreut. Ihr gesprochener Dialekt hat sehr viel Ähnlichkeit mit denen in anderen Gegenden des früheren Großsyriens und immer noch einige Ähnlichkeit mit denen der Nachbarländer im arabischen Osten. Kultureller Austausch ist einfach. Selbst palästinensische Araber, die der ethnischen Säuberung von 1948 entgangen sind und als unterdrückte Minderheit in Israel blieben, können Sender der arabischen Welt empfangen. Umgekehrt kann ein in Haifa geschriebener Roman oder ein Gedicht von vielen Millionen gelesen und geschätzt werden – vom Atlantischen Ozean bis zum Arabischen Meer.

Aufgrund der historisch „verspäteten“ Kolonisation (siehe Abschnitt 1.2) trafen die Zionisten auf eine arabische nationale Identität und einen aufstrebenden arabischen Nationalismus, der ungefähr zur selben Zeit entstand. Ungewöhnlicherweise war ein Kolonisationsprojekt von Beginn an mit einer neu entstehenden nationalen Bewegung konfrontiert. Erinnert sei hier an die besorgten Äußerungen Jabotinskys in „Die eiserne Wand“ über den arabischen Nationalismus und seine Bestrebungen, eine regionale Föderation zu schaffen (Abschnitt 1.4).

Der Vergleich, den Jabotinsky zwischen dem arabischen Nationalismus und dem italienischen Nationalismus von 1870 zieht, ist also durchaus angemessen. In Italien bestanden neben einer „panitalienischen“ nationalen Identität und einem panitalienischen Nationalismus – die erst noch die politische Einheit erreichen mussten – verschiedene lokale, kleinnationale Identitäten und Lokalpatriotismen: venezianisch, toskanisch, romanisch, neapolitanisch, sizilianisch etc. Tatsächlich leben sie heute noch fort.36 Ebenso gibt es in der arabischen Welt zwei Stränge nationaler Identität und des Nationalismus: Neben der allarabischen Identität und den Bestrebungen nach Einheit oder einer Föderation gibt es lokale Identitäten und Patriotismen: ägyptisch, irakisch, syrisch usw. – und natürlich palästinensisch, herausgebildet durch eine gemeinsame, verhängnisvolle Erfahrung und im Kampf ums Überleben und um Selbstbehauptung. Zwischen diesen beiden Strängen nationaler Identität gibt es Spannungen, aber sie müssen sich nicht gegenseitig ausschließen; sie können miteinander vereinbar sein und sich sogar gegenseitig ergänzen.

Während die arabischen Regierungen und herrschenden Klassen auf das Ideal der arabischen Einheit nur ein Lippenbekenntnis abgeben, findet sich unter den Massen eine echte und weit verbreitete Hingabe daran, und ein Hauptelement dieser Hingabe ist die tiefsitzende Solidarität mit den Palästinensern.

Jeder überzeugende Lösungsansatz muss vom Charakter des Konflikts ausgehen. Es handelt sich um eine gewaltsame koloniale Konfrontation zwischen zwei Nationen, die in diesem Konflikt Gestalt angenommen haben: einer kolonisierenden hebräischen Nation und ihres unterdrückenden israelischen Siedlerstaats einerseits, und einer unterdrückten einheimischen, kolonisierten palästinensisch-arabischen Nation. Erstere ist verbündet mit der imperialistischen Macht, die die ganze Region beherrscht; die zweite ist Teil der größeren arabischen Nation in der Region.


2 Lösungsansätze - Prinzipien und Vorbedingungen

2.1 Normative Grundsätze

Wenn wir an eine Auflösung des Konflikts denken, sollten wir normativ beginnen. Es macht wenig Sinn, irgendeine spezifische vorgeschlagene Formel zu bewerten, ehe ein paar allgemeine Prinzipien für eine wirkliche und gerechte Lösung aufgestellt wurden.

In anderen Siedlerstaaten derselben Spezies von Kolonisation haben die Siedler erfolgreich die gesamte Bevölkerung ausgelöscht oder sie so dezimiert, dass sie nur noch kleine und unbedeutende Überreste bildet. Der Konflikt zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten endete hier mit einem überwältigenden und nahezu totalen Sieg der Ersteren und war in diesem Sinne „gelöst“.

Solch ein Ausgang ist im Fall des israelischen Siedlerstaats hoch unwahrscheinlich. Die Geschichte Israels lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass die zionistischen Führer keine Gelegenheit zur weiteren territorialen Ausdehnung und zu ethnischen Säuberungen auslassen werden. Und die mutigeren von ihnen werden aktiv versuchen, solche Gelegenheiten zu schaffen. Aber wie weit dieser Prozess auch vorangetrieben werden kann, wird Israel immer umringt von Arabern sein, von der arabischen Nation, zu der auch die palästinensischen Araber gehören.

In diesem Fall muss eine Auflösung des Konflikts letztendlich beide unmittelbar betroffenen nationalen Gruppierungen berücksichtigen, die palästinensischen Araber und die Hebräer.

Beachtet, dass ich hier eine Lösung zur Diskussion stelle und keine schmerzlindernden Mittel. Natürlich gibt es verschiedene Schritte, die gegenwärtige schreckliche Situation zu verbessern, in der Millionen Menschen großes Leid zugefügt wird – vor allem den Palästinensern, aber auch vielen Israelis. Deshalb bin ich nicht gegen solche schmerzlindernden Maßnahmen; im Gegenteil, ich denke, die Öffentlichkeit sollte aufgerüttelt werden, um diese einzufordern. Vor allem muss Druck auf Israel ausgeübt werden, seine militärische Besetzung des Westjordanlandes, des Gazastreifens37 und der syrischen Golanhöhen zu beenden. Wir sollten aber Schmerzmittel nicht mit Heilung verwechseln und Verbesserung mit Lösung: Das wäre eine gefährliche Illusion. Solange die Ursachen nicht behoben sind, wird der Konflikt weiterbestehen; jede Verbesserung wird nicht mehr als eine Flaute sein, der ein neuer zerstörerischer Sturm folgt.

Wie sehen dann die wesentlichen Bestandteile einer dauerhaften Lösung aus?

An allererster Stelle gehören dazu: gleiche Rechte. Darunter verstehe ich nicht nur gleiche individuelle Rechte für alle, das versteht sich von selbst. Aber genauso wichtig sind gleiche Kollektivrechte, nationale Rechte für die beiden derzeit beteiligten nationalen Gruppen: die palästinensischen Araber und die israelischen Hebräer. Das ist eine Mindestvoraussetzung, da ansonsten eine dieser Gruppen unterprivilegiert, unterworfen und unterdrückt sein wird. Nationale Unterdrückung führt unweigerlich zu nationalem Kampf – dem Gegenteil einer Lösung.

Zweitens gehört das Rückkehrrecht dazu: die Anerkennung des Rechts der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Heimat zurückzukehren, rehabilitiert zu werden und hinreichend für den Verlust an Eigentum und Lebensunterhalt entschädigt zu werden. Das ist so offensichtlich gerecht, dass es keiner umständlichen Begründung bedarf. Das einzige vorgebrachte Gegenargument lautet, das würde den „jüdischen Charakter“ Israels gefährden, oder einfach gesagt: seine ethnokratische Verfassung als Siedlerstaat. Würden wir dieses Argument akzeptieren, gliche das einer Kapitulation vor der zionistischen Ideologie, was mich zu meinem nächsten Punkt bringt.

Das dritte und fundamentalste Element einer echten Lösung ist die Beseitigung der grundlegenden Ursache für den Konflikt: Das zionistische Kolonisationsprojekt muss beendet werden. Das bedeutet nicht nur die Entzionisierung Israels, sondern auch Zurückweisung der zionistischen Behauptung, dass die Juden in ihrer Gesamtheit eine „Diasporanation“ bilden und ein besonderes Recht in dem – und natürlich über das – „Land Israel“ haben. Diese Behauptung läuft nicht nur auf eine rückwirkende Legitimation der vergangenen zionistischen Kolonisation hinaus, sondern fordert faktisch die Anerkennung eines angeblich fortdauernden Rechts auf ein zukünftiges „Sammeln“ – und somit weitere Kolonisierung und Gebietsausdehnung. Solch ein unmöglicher Anspruch schließt eine wahre Lösung des Konflikts aus.
 

2.2 Zwei Staaten? Ein Staat?

Im Grundsatz, also abstrakt betrachtet und ohne Rücksicht auf Realitäten wie das gegenwärtige Machtverhältnis, könnte eine vernünftige Lösung entlang den Prinzipien, wie ich sie soeben umrissen habe, innerhalb verschiedener staatsinstitutioneller Rahmen umgesetzt werden.

Wir können uns ein Palästina vorstellen, das in zwei Staaten geteilt ist: Israel und ein palästinensisch-arabischer Staat. Oder wir können uns einen einzigen Staat vorstellen, der das ganze Palästina umfasst. Und wir können uns noch andere Konstellationen überlegen, zu denen ich später kommen werde. Klar ist jedoch, dass nicht die Anzahl der Staaten entscheidend ist, sondern ob die wesentlichen Prinzipien für eine echte Lösung erfüllt werden. Bei einer Zweistaatenlösung muss Israel entzionisiert werden: umgewandelt von einem ethnokratischen Siedlerstaat in einen demokratischen Staat für all seine Einwohner. Auch müssten alle Ressourcen, einschließlich Land und Wasser, gleichverteilt und geteilt werden von den beiden Staaten. Und keiner dürfte das Recht haben, den anderen zu dominieren. Andererseits müsste ein einziger Staat nicht nur demokratisch (und deshalb säkular) sein, sondern eine verfassungsmäßige Struktur aufweisen, die die beiden nationalen Gruppen anerkennt und ihnen gleiche nationale Rechte und den gleichen Status gewährt.38

All das ist zurzeit aber nicht realisierbar. Tatsächlich ist weder kurz- noch mittelfristig wegen des außerordentlichen Missverhältnisses zwischen den Kräften eine echte Lösung möglich. Die Palästinenser sind ökonomisch zerrüttet, nur leicht bewaffnet und haben nur wenig wirksame internationale Unterstützung. Vor ihnen steht ein dominantes, modernes kapitalistisches Israel, eine regionale, hegemoniale Atomwaffensupermacht, ein lokaler Handlanger und Juniorpartner der globalen Hypermacht. Solange dieses große Ungleichgewicht besteht, wird jedes Abkommen unvermeidlich mit harten, unterdrückerischen Bedingungen für die schwächere Seite verbunden sein. Irgendetwas anderes zu erwarten, wäre hoch unrealistisch.

Unter diesen Umständen ist jede „Zweistaatenlösung“ notwendig eine Karikatur: Es gäbe keine zwei echten souveränen Staaten (ganz zu schweigen von gleichberechtigten), sondern einen mächtigen israelischen Staat, der eine Kette unverbundener palästinensischer Enklaven ähnlich den Reservaten der amerikanischen Ureinwohner beherrscht, die von korrupten Eliten als Israels Handlanger verwaltet werden. Das war die wirkliche Aussicht für Palästina selbst mit dem Oslo-Abkommen von 1993; und seitdem hat sich die Lage durch das wachsende, bösartige Krebsgeschwür der israelischen Kolonisation und die Schwächung der Palästinensischen Autonomiebehörde unter den israelischen Schlägen und der internationalen Erdrosselung noch erheblich verschlimmert.39

Angesichts der offensichtlichen Unerreichbarkeit einer vernünftigen Zweistaatenlösung haben viele Leute guten Willens die Losung von der Einstaatenlösung ausgegeben. Das ist abstrakt gesehen ein attraktiver Vorschlag. Das Problem ist jedoch, dass kurz- oder mittelfristig eine wirklich gerechte Einstaatenlösung ebenso wenig erreichbar ist wie eine Zweistaatenlösung – und das aus demselben Grund. Angesichts des derzeitigen Machtungleichgewichts wäre ein einziger Staat in ganz Palästina nicht mehr als eine Verlängerung direkter israelischer militärischer Besatzung und Unterwerfung.

Ob „Zweistaatenlösung“ oder „Einstaatenlösung“, beide sind mit einem Fehler behaftet, weil beide beschränkt sind auf die „Schachtel“ Palästina – das Territorium des britischen Mandatsgebiets von 1923 bis 1948. Sie unterscheiden sich nur insofern, als im ersten Fall eine Neuaufteilung stattfinden soll, während im zweiten Fall eine einzige abgegrenzte politische Einheit wiedererrichtet werden soll. Ironischerweise war diese Schachtel den zionistischen Zwecken angepasst worden, wie ich in Abschnitt 1.5 geschrieben habe, und ist somit der Ursprung des Konflikts. Kann sie also als geschlossener Behälter für die Lösung des Konflikts dienen?
 

2.3 Lösung im regionalen Kontext

Kein Kräfteverhältnis bleibt für immer bestehen. Eine echte Lösung des Konflikts wird längerfristig möglich sein, wenn sich das gegenwärtige Machtverhältnis verschiebt. Wir können unmöglich genau vorhersehen, wie dieser Wandel stattfinden wird. Aber es scheint ziemlich sicher, dass er sich nicht auf die Beziehungen zwischen Israel und den Palästinensern beschränken wird, während alles andere bleibt, wie es ist: Er wird unvermeidlich tektonische Verschiebungen in der ganzen Region und international globale Verlagerungen mit sich bringen.

Zwei miteinander verbundene und sich gegenseitig fördernde Prozesse werden entscheidend für die Veränderung des gegenwärtigen Machtverhältnisses sein: erstens der Niedergang der globalen Dominanz der USA, und vor allem ihrer Fähigkeit, Israel als Regionalmacht weiter zu unterstützen, ohne untragbare wirtschaftliche und politische Kosten auf sich zu nehmen; zweitens eine radikal-progressive gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Transformation des arabischen Ostens mit der Folge einer gewissen Vereinigung der arabischen Nation – voraussichtlich in der Form einer regionalen Föderation.

Es ist nicht sehr sinnvoll, die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu diskutieren, als würde sie in einer isolierten palästinensischen Schachtel stattfinden – sei sie nun geteilt oder ganz – während die übrige Region ignoriert und deren Transformation nicht mit einbezogen wird, ohne die jede Lösung ohnehin ausgeschlossen ist. In ihren richtigen regionalen Kontext eingebettet, beinhaltet unsere Vorstellung von einer Lösung eine Änderung des Blickwinkels. Es wäre falsch, auf einem Stück „Grund und Boden“ zu bestehen – Israel in seinen Grenzen von 1948 bis 1967 oder Palästina in seinen Grenzen von 1923 bis 1948 –, als seien das die ein für allemal gültigen Parameter. Die wirklichen Parameter sind menschlicher Natur, nämlich zwei nationale Gruppierungen, die palästinensischen Araber und die israelischen Hebräer, die unmittelbar an dem Konflikt beteiligt sind und noch sehr lange fortbestehen werden. Und die Aufgabe wird dann lauten, diese beiden Gruppierungen in eine regionale Union oder Föderation einzubinden. Grenzen werden so zu internen Markierungen innerhalb der Föderation und entsprechend gezogen werden. Wir können nicht vorhersehen, welchen Verlauf sie genau haben werden, aber sie müssen keinesfalls den bisherigen entsprechen.

Es wäre albern zu behaupten, dass die Aussichten im Moment gut sind. Die amerikanische Vorherrschaft macht immer noch einen sehr stabilen Eindruck, auch die Unterstützung der USA für Israel als Handlanger in der Region ist noch nicht gefährdet. Der arabische Osten wird von korrupten und feigen Eliten regiert. Er hat sich bis heute nicht von der Niederlage des säkularen arabischen Nationalismus erholt. Selbst in seiner fortschrittlichen nasseristischen Form konnte der arabische Nationalismus seine kleinbürgerlichen Beschränkungen nicht durchbrechen und eine echte aktive und massendemokratische Selbstorganisation befördern. Seine spätere Degeneration unter mörderischen und konkurrierenden Baath-Regimes, die vorgaben, den „Sozialismus“ und die „arabische Einheit“ hochzuhalten, brachte beide Ideale in der Region in Misskredit. Der als Folge aufkommende Islamismus hält falsche Versprechungen bereit. Während er eine Herausforderung an die westliche Vorherrschaft darstellt, ist er rückwärtsgewandt und von Natur aus unfähig, Fortschritt zu bringen. Er wird auch keine vereinheitlichende Kraft sein, im Gegenteil: Er ist, wie bei den Sunniten und Schiiten, entzweiend und hat keinerlei Anziehungskraft für Nichtmuslime und säkulare Araber (einschließlich Palästinenser), ganz zu schweigen für Hebräer.

Während es also mit Blick auf die nahe Zukunft wenig Grund zu Optimismus gibt, können wir doch einige hoffnungsvolle Zeichen für kommende Zeiten erkennen. Die ökonomische und politische Macht der USA ist von Symptomen des Niedergangs gezeichnet, auch wenn sie nach außen robust wirkt. Die militärische Macht der USA bringt nur wenig Nutzen und ist dabei, sich zu übernehmen. Unterdessen gewinnt eine neue radikale und fortschrittliche Bewegung der Gegenglobalisierung in Gegenden der Dritten Welt an Schwung. Im arabischen Osten muss sie noch entstehen. Was geschehen wird, hängt von uns allen ab.


Anhang

Israel als strategischer Aktivposten der USA

Das Folgende sind Auszüge aus dem Artikel ;No demise as a strategic asset (Von ungeschmälerter strategischer Bedeutung) von General Schlomo Gasit, dem ehemaligen Befehlshaber des militärischen Nachrichtendienstes in Israel, aus der Tageszeitung Jediot Achronot (Yedi’ot Aharonot) vom 27. April 1992.

Israels Hauptaufgabe bleibt unverändert [auch nach dem Ende des Kalten Kriegs] und von entscheidender Bedeutung. Aufgrund der geografischen Lage Israels im Herzen des arabisch-muslimischen Nahen Ostens liegt seine Bestimmung in der Rolle des treu ergebenen Wächters der Stabilität in all den umliegenden Ländern. Es hat die Aufgabe, die vorhandenen Regime zu schützen, einen Prozess der Radikalisierung zu verhindern oder aufzuhalten und das Anwachsen fundamentalistisch-religiösen Eiferertums einzudämmen. […]

Zu den „roten Linien“ Israels gehört das Vereiteln drohender Militär- oder Volksaufstände, die am Ende fanatische und extremistische Elemente in diesen Staaten an die Macht bringen könnten. Diese Bedrohung steht in keiner Verbindung zum arabisch-israelischen Konflikt, sondern existiert deshalb, weil es den Regimes [der Region] schwerfällt, Lösungen für ihre sozioökonomischen Probleme anzubieten. Aber solch eine Entwicklung könnte die Beziehungen zwischen Israel und dem ein oder anderen Nachbarstaat ernsthaft zerrütten. […] Israels rote Linien sind ein Warnzeichen an seine Nachbarn, dass Israel es nicht dulden wird, wenn extremistische Kräfte ermutigt werden, die ganze Wegstrecke zu gehen und in die Fußstapfen der Iraner im Osten oder der Algerier im Westen zu treten. […]

Nach der Auflösung der UdSSR als politische Macht mit ihren eigenen Interessen in der Region haben eine Reihe Nahoststaaten einen Schutzherrn verloren, der ein Garant für ihre politische, militärische und sogar wirtschaftliche Lebensfähigkeit war. Es wurde also ein Vakuum geschaffen, das zur Instabilität der Region beiträgt. Unter diesen Umständen hat Israel in seiner Rolle als strategischer Aktivposten zur Sicherung eines gewissen Maßes an Stabilität im gesamten Nahen und Mittleren Osten keineswegs an Bedeutung verloren oder aufgehört, von Bedeutung zu sein, sondern ist von größter Wichtigkeit. Ohne Israel müsste der Westen diese Rolle vollständig selbst übernehmen, aber keine der bestehenden Supermächte könnte sie wegen verschiedener interner und internationaler Beschränkungen wirklich erfüllen. Für Israel ist dagegen die Notwendigkeit des Eingreifens eine Frage des Überlebens.

Der folgende Artikel wurde am 12. Mai 2005 in der englischsprachigen Ausgabe von Jediot Achronot (Yedi’ot Aharonot) unter dem Titel Two-way independence (Zweibahn-Unabhängigkeit) veröffentlicht. Der Autor Yoram Ettinger ist Berater für US-Israel-Beziehungen, Vorsitzender der Besonderen Projekte am Ariel Center für Politikforschung und schreibt regelmäßig für die Zeitung:

In vieler Hinsicht ist Israel der Geber und die USA sind die Nehmer

Äußerungen und Verhalten von israelischen Amtsinhabern seit 1993 erwecken den falschen Eindruck, dass die israelisch-amerikanischen Bindungen eine Einbahnbeziehung sind.

Allgemein wird angenommen, dass Amerika gibt und Israel bekommt, weshalb Israel einen geringeren Status habe und gezwungen sei, dem Diktat des Außenministeriums der USA zu folgen.

Der frühere Außenminister und Kommandeur der Nato-Streitkräfte, Alexander Haig40, hat diese Behauptung zurückgewiesen und erklärt, er sei für Israel, weil „Israel der größte amerikanische Flugzeugträger der Welt“ sei, „der nicht versenkt werden kann, nicht einen einzigen amerikanischen Soldaten trägt und in einer kritischen Region für die amerikanische nationale Sicherheit vor Anker liegt“.

An unserem 57. Unabhängigkeitstag feiern Israel und die Vereinigten Staaten eine Zweibahnbeziehung. Israel ist wie ein Aufsteigerunternehmen, das sich des Wohlwollens des amerikanischen Investors erfreut, dessen Profite die Investitionen aber bei weitem übersteigen.

Tagtäglich gibt Israel seine Lehren aus Kampf und Terrorismusbekämpfung an die USA weiter, wodurch die amerikanischen Verluste im Irak und in Afghanistan begrenzt, Angriffen auf US-amerikanischem Boden vorgebeugt und amerikanische Waffen verbessert werden können, was auch der US-Wirtschaft zugute kommt.

Senator Daniel Inouye argumentierte kürzlich, dass die israelischen Informationen über sowjetische Waffen die USA Milliarden Dollar gespart haben. „Der Beitrag des israelischen Geheimdienstes für die Amerikaner ist größer als die Informationen, die sämtliche Nato-Länder zusammen zur Verfügung stellen“, sagte er.
 

Innovative israelische Technologie

Der Vizepräsident des Konzerns, der die F-16-Kampfflugzeuge herstellt, hat mir erzählt, dass mit Israels Hilfe 600 Verbesserungen im Flugzeugsystem vorgenommen werden konnten, Modifizierungen, die geschätzt Milliarden Dollar wert sind und dutzende Forschungs- und Entwicklungsjahre gespart haben.

Der Einsatz amerikanischer Waffen durch Israel ist ein Garant für unsere Existenz, und gleichzeitig erhält die US-amerikanische Rüstungsindustrie dadurch einen Konkurrenzvorsprung im Vergleich zu europäischen Industrien, während die amerikanische Rüstungsproduktion angekurbelt wird, was amerikanische Arbeitsplätze bedeutet und die Stärkung der amerikanischen nationalen Sicherheit. Japan und Südkorea beispielsweise bevorzugen das Hawkeye-Spionageflugzeug und den MD-500-Hubschrauber, die beide von Israel eingekauft und dann aufgerüstet werden, statt der vergleichbaren britischen und französischen Luftfahrzeuge.

Innovative israelische Technologien haben eine ähnliche Auswirkung auf die amerikanische Zivil- und Landwirtschaftsindustrie, die in Israel einen erfolgreichen Standort für Forschung und Entwicklung sehen.

Schon im Jahr 1952 forderte der Stabschef der US-Armee, Omar Bradley, die politische Angliederung Israels an das Mittelmeerbecken angesichts der Lage und einzigartigen Fähigkeiten des Landes.

Im Jahr 1967 hielt Israel eine radikale prosowjetische Offensive auf, die den Zusammenbruch proamerikanischer arabischer Regime und die Unterbrechung der Ölversorgung zur Folge hätte haben können, was wiederum den amerikanischen Lebensstand erheblich beeinträchtigt hätte.

Im Jahr 1970 zwang Israel Syrien, seine Kräfte aus Jordanien abzuziehen, zu einer Zeit also, als die USA in den Kriegen in Vietnam, Laos und Kambodscha gebunden waren. Israel verhinderte so den Sturz des proamerikanischen haschemitischen Regimes und einen möglichen Dominoeffekt, der bis nach Saudi-Arabien und zu den Golfstaaten gereicht hätte.
 

Israel gibt die Erfahrungen aus der Terrorismusbekämpfung weiter

Die israelische Kommandoaktion im Jahr 1976 zur Befreiung israelischer Passagiere eines entführten Flugzeugs der Air France in Uganda gab Amerika Rückenwind für seinen Krieg gegen internationalen Terrorismus, und 1977 waren es israelische Geheimdienstinformationen, die zur Vereitelung von Mordplänen Muammar Gaddafis, des libyschen Staatschefs, an dem ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat führten.

Namentlich Sadat schloss später Frieden mit Israel und ebnete so den Weg für andere Abkommen zwischen Israel und den Arabern.

Im Jahr 1982 zerstörte Israel Flugabwehrbatterien im Libanon, die als unzerstörbar für amerikanische Waffen galten. Israel ließ die USA sofort an den Lehren aus dieser Operation teilhaben, was nach Schätzungen Milliarden Dollar wert war, das globale Kräfteverhältnis verschob und so zum schließlichen Zerfall der Sowjetunion beitrug.

Im Jahr 1981 bombardierte Israel den irakischen Atomreaktor, wodurch die USA in die Lage versetzt wurden, in den Jahren 1991 und 2003 einen konventionellen Krieg im Irak zu führen, ohne einen möglichen Atomkrieg mit tausenden von Toten zu riskieren. Im Jahr 2005 versorgte Israel Amerika mit den weltweit umfassendsten Erfahrungen aus der Landesverteidigung und dem Krieg gegen Selbstmordattentäter und Autobomben.

Amerikanische Soldaten werden in Einrichtungen der israelischen Streitkräfte ausgebildet, und in Israel hergestellte Drohnen fliegen über das „sunnitische Dreieck“ im Irak sowie über Afghanistan, wodurch die US-Marines an wertvolle Geheiminformationen kommen.

Ohne Israel hätten die USA zehntausende amerikanische Soldaten im östlichen Mittelmeerbecken einsetzen müssen, was jährlich Milliarden Dollar gekostet hätte.

Würde Israel im Persischen Golf liegen, hätten die USA dank des Abschreckungspotenzials Israels und seiner Einsatzfähigkeit nicht hunderttausende Soldaten in die Region schicken müssen.

Die Kongressführer Vizepräsident Cheney und Außenminister Rumsfeld sind sich Israels einzigartigen Beitrags für die Interessen der USA durchaus bewusst. Alle fragen sich, warum das Israel der Jahre nach 1993 nicht seinen beeindruckenden Beitrag als Hebel einsetzt – ganz im Gegensatz zu dem Israel vor 1993.


Fußnoten

1. Siehe die Abschnitte 1.2, 1.5 und 1.9.

2. Interessanterweise hat Israel niemals offiziell seine eigenen internationalen Grenzen definiert. Die auf seinen damaligen Landkarten eingetragene Grüne Linie war seine faktische Grenze.

3. Das umfasst nicht das – außerordentlich vergrößerte – Gebiet innerhalb der Kommunalverwaltung Jerusalems. In den Jahren 1967 bis 1976 waren das vorrangige Ziel der israelischen Kolonisierung die syrischen Golanhöhen und Großjerusalem. Die Kolonisierung im übrigen Westjordanland begann erst 1976 in großem Stil, wie Tafel 1 veranschaulicht.

4. Ähnlich unerbittliche Trends zeigen sich deutlich an den Daten über Ländereien in den besetzten Gebieten, die für die Kolonisierung freigegeben wurden, und der Zahl der gebauten Siedlerhäuser. Siehe zum Beispiel Gezel Haqqarq’ot: Mediniyyut Hahitnahalut Baggadah Hamma’aravit (Robbery of the Lands: The Policy of Colonization in the West Bank), Hebrew Report von B’Tselem – Israelisches Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten, Mai 2002.

5. Die Königliche Untersuchungskommission für Palästina unter Lord Peel wurde nach dem Ausbruch des großen Aufstands der palästinensischen Araber im Jahr 1936 von der britischen Regierung eingesetzt und sollte Vorschläge zur Änderung des Status von Palästina erarbeiten. Im Jahr 1937 empfahl die Kommission die Teilung des Lands zwischen Arabern und Juden. Ben Gurion akzeptierte den Plan nur zögerlich, allerdings – wie Dajan deutlich machte – aus taktischen Gründen und mit der Erwartung, dass die zionistische Kolonisierung in ganz Palästina fortgesetzt werden könne.

6. Ha’aretz, 18. Februar 1973. Die hier und in folgenden Zitaten in eckige Klammern gesetzten Worte wurden von mir hinzugefügt.

7. Begin war der Begründer der Herut-Partei (Freiheitspartei), der direkten Nachfolgerin der „revisionistischen“ Zionistischen Bewegung von Jabotinsky nach 1948. Herut schloss sich 1973 mit kleineren Parteien zum Likud-Block (Festigung) zusammen. Nach Begins Abdanken wurde der Likud von Schamir, Netanjahu und Scharon geleitet. Im Jahr 2005 organisierte Scharon eine Abspaltung und bildete eine neue Partei, die jetzt unter der Führung von Olmert steht. Der Name der neuen Partei, Kadima – Hebräisch für „vorwärts“ und „ostwärts“ –, war eine Hommage an Jabotinsky, der 1904 den gleichnamigen zionistischen Verlag gegründet hatte. Dasselbe hebräische Wort wurde auch zum Signum einer jüdischen Freiwilligeneinheit, die im Ersten Weltkrieg nach langer Lobbyarbeit von Jabotinsky in der britischen Armee aufgebaut wurde.

8. In einigen neueren englischen Übersetzungen dieses Artikels heißt es (an dieser und an weiteren Stellen) „Siedlung“ statt „Kolonisierung“; das russische Original ist jedoch eindeutig: ob istorii kolonizatsii drugikh stran.

9. Rasswjet (Deutsches Heft) unter der Redaktion von Wladimir Jabotinsky, Berlin 1925, S. 56–61.

10. Theodor Herzl, Der Judenstaat, Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, Zürich 1988, S.  39.

11. Siehe das Foto aus dem Zionistischen Archiv im Anhang: Herzl (links) erweist dem Kaiser bei dessen Besuch in Palästina im Jahr 1898 seine Ehrerbietung. Dieses berühmte Foto war eine Fälschung, eine Fotomontage, aber es ist bezeichnend für das Wunschdenken der Zionisten.

12. Arthur James Balfour war Außenminister. Die „Erklärung“ hatte die Form eines Briefs, adressiert an Lord Rothschild (Walter Rothschild, 2. Baron Rothschild), Führer der britisch-jüdischen Gemeinde, zur Weitergabe an die Zionistische Föderation. Andere britisch-jüdische Führer waren Gegner des Zionismus und der Erklärung, zu ihnen gehörte Edwin Samuel Montagu, Staatssekretär für Indien, der das einzige jüdische Mitglied im britischen Kabinett war.

13. Ronald Storrs, Orientations, autorisierte Fassung, London 1943, S. 345.

14. Das Mandat war zwei Jahre zuvor auf der Konferenz des Völkerbunds in San Remo entworfen worden. Deshalb die Bezugnahme auf San Remo im Jabotinsky-Zitat über die „eiserne Wand“.

15. Artikel in Dawar, Tageszeitung der israelisch-zionistischen Gewerkschaft Histadrut, 2. Mai 1952.

16. Leitartikel The Harlot from the Cities Overseas and We – Thoughts on the Eve of [Jewish] New Year 5712 [Die Dirne aus den Überseestädten – Gedanken am Vorabend zum (jüdischen) Neujahrsfest 5712], Ha’aretz, 30. September 1951.

17. Botschaft an die israelischen Streitkräfte in Scharm al-Scheich, 6. November 1956, zit. n. Dawar, 7. November 1956. Erstaunlicherweise bemerkte Ben Gurion die unheilvolle Konnotation des Begriffs „Drittes Königreich“ gar nicht.

18. Siehe Jediot Achronot, 23. Dezember 2005. Schimon Peres deutete dieses Abkommen an in einem Artikel mit der Überschrift This war has taught us that Israel must revise its military approach [Dieser Krieg hat uns gelehrt, dass Israel seine militärische Strategie überdenken muss], Guardian, 4. September 2006: „Vor fünfzig Jahren hatte ich das Privileg, ein neues Waffensystem bei den israelischen Streitkräften einführen zu dürfen, das Israel mit einem mächtigen, immer noch wirkenden Abschreckungsmittel versehen hat.“

19. Zu Israels Bedeutung als strategischer Aktivposten für den Westen siehe Anhang.

20. Der Begriff „Faschismus“ wird oft ähnlich falsch benutzt als Allgemeinbezeichnung für jede Art von autoritärem rechtem Regime.

21. Entsprechend der klassischen Maxime: Definitio fit per genus proximum et differentiam specificam [etwa: Definition erfolgt durch Beibringung eines Abgrenzungsmerkmals zu einem Oberbegriff; d. Übers.].

22. „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt.“ (Karl Marx, Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 13, Berlin 1971, S. 9.

23. Darauf hat Geoffrey de Ste. Croix, The Class Struggle in the Ancient Greek World, Ithaca 1981, mit Nachdruck hingewiesen.

24. Theodor Herzl, Tagebücher, Band 1, Berlin 1922, S. 98.

25. Siehe zum Beispiel Nur Masalha, Expulsion of the Palestinians: The Concept of „Transfer“ in Zionist Political Thought, 1882–1946, Washington 1992; Ilan Pappé, Die ethnische Säuberung Palästinas, Frankfurt am Main 2007.

26. Der „Arbeiter-“Zionismus dominierte die zionistische Bewegung seit Anfang der 1930er Jahre und stellte alle israelischen Regierungen bis 1977.

27. Am Ende dieses Zeitabschnitts waren gut über 100.000 (vielleicht sogar doppelt so viel) Arbeiter aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen innerhalb der Grünen Linie beschäftigt, vor allem in einfachen und schlecht bezahlten Tätigkeiten. Siehe Emmanuel Farjoun, Palestinian workers in Israel: A reserve army of labour, in: Jon Rothschild (Hg.), Forbidden Agendas, London 1984. Seit Ausbruch der ersten Intifada (Ende 1987) wurden diese Arbeiter weitgehend durch zugewanderte Arbeiter aus weit entfernten Ländern ersetzt.

Laut Schätzungen von Kav La’oved (Arbeiter-Hotline) liegt die Zahl der westjordanischen Palästinenser, die im Westjordanland von Israelis beschäftigt werden (außer Jerusalem), bei 20.000. Die meisten arbeiten in Industrieparks, der größte ist Barkan nahe Ariel. Es gibt auch bis zu 10.000 Beschäftigte im Bau je nach Bedarf, in den Siedlungen (vor allem den städtischen), aber auch im Straßenbau und selbst beim Bau der berüchtigten Trennmauer. Diese Zahlen sind sehr niedrig im Verhältnis zur Gesamtzahl der palästinensischen Arbeitskräfte, ganz zu schweigen von den israelischen.

28. Eine ausgezeichnete und sehr erhellende Fallstudie, in der auch die Ausbeutung unterwürfiger ultraorthodoxer jüdischer Frauen behandelt wird, hat Gadi Algazi, Matrix in Bil‘in – Capital, settlements and civil resistance to the separation fence, or: A story of colonial capitalism in present-day Israel, verfasst, http://www.taayush.org/new/fence/matrix-bilin-en.html.

29. Yosef Weitz, Solution to the refugee problem: The State of Israel with a small Arab minority, in: Dawar, Tageszeitung der Histadrut, 29. September 1967.

30. Ein detailreiches und beängstigendes Szenario dieser Art findet sich bei dem führenden israelischen Militärhistoriker Martin van Creveld:Sharon’s plan is to drive Palestinians across the Jordan [Scharon will die Palästinenser über den Jordan treiben], The Sunday Telegraph, 28. April 2002.

31. Ich bevorzuge den zweiten Begriff, weil damit jeder religiöse Beigeschmack vermieden wird und ihre Sprache als hervorstechendstes Merkmal in den Vordergrund rückt.

32. Es ließe sich natürlich einwenden, dass die Juden Osteuropas vor dem Nazi-Völkermord ebenfalls sehr ausgeprägt über diese Attribute verfügten und so etwas wie eine nationale Gemeinschaft bildeten.

33. Was aber sind sie dann? Das ist eine bekanntermaßen komplexe Frage, die ich hier nicht weiter vertiefen muss und kann. Lasst mich zwei recht einfache Beobachtungen wiedergeben: Erstens hat der Begriff „jüdisch“ viele verschiedene, wenn auch teils überlappende Bedeutungen. Zweitens kann das Jüdischsein der Diaspora analytisch betrachtet nicht auf den Judaismus (die jüdische Religion) reduziert werden, dennoch ist Letzterer empirisch gesprochen ein wesentlicher Bestandteil des Ersteren in folgendem Sinne: Ohne Judaismus löst sich das Jüdischsein nach ein paar Generationen auf; außerhalb Israels wird es schwierig sein, eine Person zu finden, die sich selbst als Jude/Jüdin sieht oder von anderen als solche angesehen wird, ohne den Judaismus zu praktizieren und ohne Eltern oder Großeltern zu haben, die den Judaismus praktizieren. Andererseits finden sich bei den Hebräern ziemlich viele Atheisten der dritten Generation.

34. Irgendjemand (ich kann mich nicht erinnern, wer es war) hat einmal gesagt: Ein Zionist muss nicht glauben, dass Gott existiert, er muss nur glauben, dass Er Palästina den Juden versprochen hat.

35. Auf dieses außergewöhnliche Muster des gegenwärtigen Konflikts hat Nira Yuval-Davis in ihrem Aufsatz Conclusion hingewiesen, in: Ephraim Nimni (Hg.), The Challenge of Post-Zionism, Zed Books, London 2003, S. 182–196.

36. Sie sind sogar verstärkt worden dank des EU-Prinzips der Subsidiarität.

37. Israels „Rückzug“ aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 hat die militärische Besatzung nicht beendet, sondern nur ihre Form geändert – weitgehend zum Schlimmeren.

38. Wie ich bereits an anderer Stelle gezeigt habe, ist die Formel von einem gemeinsamen „säkular-demokratischen Palästina“ unzureichend und wurde entwickelt, um sich der nationalen Dimension des Konflikts zu entziehen (siehe Abschnitt 1.9) und ihn als interkonfessionellen Konflikt darzustellen. Siehe auch meinen Aufsatz Zionism – A Major Obstacle, September 2005.

39. Einige Befürworter einer „Zweistaatenlösung“ haben argumentiert, dass selbst diese Karikatur der Fortsetzung der militärischen Besatzung vorzuziehen sei. Wir können auch sagen, dass sie ein kleineres Übel wäre; und es gibt extreme Zwangslagen, wo solch ein kleineres Übel hingenommen werden muss. Aber Zwangsmaßnahmen sollte auch mit Protest begegnet werden, statt sie zu begrüßen und zu befürworten, als seien sie ein höchstes Gut oder eine echte Lösung.

40. [Alexander Haig war von 1973 bis 1974 Richard Nixons Stabschef im Weißen Haus, Oberster Nato-Kommandeur von 1974 bis 1979 und 1981/82 Ronald Reagans Außenminister; d. Verf.]



Siedlerzahl im Westjordanland, 1976-2004 - anklicken für größeres Bild

Tafel 1: Anzahl der Sieder im Westjordanland 1976–2004




Siedlungen im Westjordanland - anklicken für größeres Bild

Tafel 2: Jüdische Siedlungen im Westjordanland – bebaute Gebiete
und zur Bebauung vorgesehenes Land, Mai 2002




Herzl und der Kaiser (Fotomontage) - anklicken für größeres Bild

Theodor Herzl und der deutsche Kaiser
in Palästina, 1898, Fotomontage


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Zuletzt aktuaqlisiert am: 23 May 2021