Karl Kautsky

Thomas More



Zweiter Abschnitt. Thomas More

Erstes Kapitel. Die Biographen des Thomas More

1. William Roper

Wer den Lebenslauf des ersten modernen Sozialisten darstellen will, hat sich über Mangel an Material wahrlich nicht zu beklagen. Er kann die Arbeiten einer großen Reihe von Vorgängern benutzen. Aber er wird bald finden, daß fast allen Morebiographien, die bisher geschrieben worden, etwas Weihrauchduft anhaftet, mitunter sogar sehr viel: nicht der Duft des Weihrauchs, den die dankbare Nachwelt Männern spendet, die ihrer Ansicht nach die menschliche Entwicklung besonders gefördert haben, sondern des Weihrauchs, mit dem die katholische Kirche ihren Heiligen opfert, um die Sinne der Gläubigen zu benebeln.

More hatte Stellung genommen in dem großen Kampfe zwischen dem Papismus und dem Protestantismus, der sich unter seinen Augen entwickelte; er war auf Seite des ersteren getreten, er war für seine Überzeugung gestorben. Der Katholizismus hat seit der Reformation keinen solchen Überfluß an großen Denkern aufzuweisen, daß er den berühmten Humanisten nicht für sich in Anspruch genommen hätte. More wurde ein katholischer Märtyrer, ein Heiliger, allerdings bis vor kurzem nur ein offiziöser. Erst 1886 wurde er offiziell selig gesprochen. Immerhin haben ihn seit seinem Tode fromme Gemüter als Helligen verehrt, und das war ein großer Nachteil für ihn, oder wenigstens für seine Biographie.

More starb 1535. Seine erste Biographie wurde etwas über zwei Jahrzehnte später (wahrscheinlich um 1557) verfaßt von seinem Schwiegersohn William Roper, einem Katholiken; es war eine Schrift zur Rechtfertigung Mores, verfaßt unter der Regierung der „blutigen“ Maria, der Tochter Heinrich VIII., zur Zeit einer heftigen katholischen Reaktion gegen die Kirchentrennung, die dieser Monarch herbeigeführt. Unbefangenheit des Biographen ist unter solchen Umständen schwer zu erwarten. Es ist jedoch Roper gelungen, soweit wir beurteilen können, sie wenigstens insoweit zu wahren, daß er der Versuchung widerstand, welche die Zeitumstände an ihn herantreten ließen, More als einen Heiligen erscheinen zu lassen. Einfach und schlicht, nüchtern, ja trocken, gibt er vollkommen ehrlich nur Tatsachen, keine Legenden; und er war in der Lage, die authentischste Darstellung liefern zu können. Er sagt uns das selbst in den Eingangsworten seiner Schrift:

„Ich, William Roper, der (allerdings höchst unwürdige) Schwiegersohn Mores, Gatte seiner ältesten Tochter [3], kenne niemanden, der von ihm und seinen Taten mehr wüßte als ich, da ich über sechzehn Jahre lang ununterbrochen in seinem Hause wohnte.“

Roper ist die wichtigste und verläßlichste Quelle für das Leben Mores. Aber gerade die Eigenschaften, die ihn verläßlich machen, bewirken, daß wir nur eine beschränkte Kenntnis Mores aus ihm schöpfen. Seine Trockenheit hielt ihn ab, in schwärmerische Ekstase zu verfallen und seinen Helden zu einem übermenschlichen Wesen zu gestalten; sie hinderte ihn aber auch, die Bedeutung Mores zu erfassen und die dafür charakteristischen Tatsachen mitzuteilen. Wir dürfen das meiste als richtig annehmen, was Roper erzählt – wir haben wenigstens keinen wesentlichen Irrtum bei ihm gefunden. Nur mit der Chronologie steht er, wie alle ersten Biographen Mores, auf sehr schlechtem Fuße. Die verschiedenen Ereignisse laufen bei ihm kunterbunt durcheinander, ohne Zeitangabe, er gibt uns nicht einmal das Geburtsjahr Mores. Aber ist auch das meiste richtig, was er mitteilt, so erzählt er doch nicht alles, was wir wissen wollen. Wären wir nur auf Ropers Biographie angewiesen, dann wüßten wir zum Beispiel nicht einmal, daß More die Utopia geschrieben. Der Prozeß Mores ist dagegen von Roper sehr eingehend dargestellt. [4]
 

2. Stapleton

Der nächste, der sich daran machte, eine Biographie Mores zu schreiben, war der Archidiakonus von Canterbury Nicholas Harpsfield, der ebenfalls unter der „blutigen Maria“, aber nach Roper schrieb. Sein Werk wurde nie gedruckt. Bridgett, dem ein Jesuit eine noch erhaltene Abschrift geborgt hatte, teilt mit, daß Harpsfield außer Roper nur noch die Schriften Mores selbst benutzte, und daß wir von ihm nichts Neues von Belang erfahren.

Dem Archidiakonus folgte ein spanischer Dominikanermönch, Ludovicus Pacäus, der zwischen 1560 bis 1570 schrieb, aber starb, ehe er sein Werk vollendete. Wir haben wohl nicht viel daran verloren. Was konnte damals ein spanischer Dominikaner über den englischen Humanisten wissen! Kaum mehr als frommen Klatsch.

Diese beiden Geistlichen eröffnen die lange Reihe katholischer Pfaffen, die das Martyrium des heiligen Thomas More verherrlicht haben. Der Hervorragendste unter ihnen und der erste der Zeit nach, wenn wir von den beiden eben genannten absehen, ist Thomas Stapleton, geboren zu Sussex 1535, in dem Jahr und dem Monat, in dem More starb. Er wurde katholischer Priester, erhielt unter der „blutigen Maria“ ein Kanonikat in Chichester, flüchtete aus England, als dort unter Elisabeth die Katholikenverfolgungen begannen, und wurde Professor der Theologie in Douai, wo er 1588 starb. In demselben Jahre erschien in Douai seine Biographie der drei Thomasse, des Apostels Thomas, des heiligen Thomas Becket und des Thomas More. [5] Die Biographie des letzteren (Vita et illustre martyrium Thomae Mori) nimmt zwei Drittel des Buches ein; sie wurde geschrieben „zur höheren Ehre Gottes und zur Erbauung des Lesers“. In der Tat, sie ist ein Erbauungsbuch, kein Geschichtsbuch, und erinnert in ihrem Charakter sehr an die Evangelien. So wie die Evangelisten geht auch Stapleton gleich seinem Vorgänger Roper jeder Zeitangabe sorgfältig aus dem Wege. Er ersetzt sie durch nichtssagende Flickwörter: „In der Zeit“, „darauf“, „später“ usw. Aber wozu auch Zeitangaben, wenn nicht eine historische Entwicklung gegeben werden soll, sondern ein Sammelsurium von Anekdoten, Legenden und Wundergeschichten (von denen ein Teil nicht einmal More, sondern andere „fromme Männer“ angeht)!

Deutlich kann man da das Wachstum der Legende verfolgen. Auch Roper hat bereits seine Wundergeschichten. Aber bei näherem Zusehen verlieren sie ihren wunderbaren Charakter und werden sehr prosaisch. Wir können getrost annehmen, daß die berichteten Tatsachen sich wirklich zugetragen haben.

So erzählt er uns zum Beispiel folgendes (S. XVIII, XIX): Gott bewies More wegen seiner Tugend und Gottesfurcht durch ein offenbares Wunder seine besondere Gunst. Margarete, Ropers Gattin, war am englischen Schweißfieber (sweating sickness) schwer erkrankt. Die Ärzte hatten sie aufgegeben. Sie wußten kein Mittel mehr, das Erfolg versprach. Da ging More in seine Hauskapelle und sandte ein inbrünstiges Gebet zum Allmächtigen. Und siehe, dieser erhörte das Gebet und erleuchtete ihn, so daß ihm in den Sinn kam, ein Klistier könne ihr helfen. More teilte seine Eingebung augenblicklich den Ärzten mit, und diese gestanden, daß wenn Rettung möglich sei, sie nur durch dies Mittel gebracht werden könne, und wunderten sich, daß ihnen das nicht früher eingefallen sei. Es wurde angewendet und Margarete genas.

Dergleichen simple Wunder genügten dem Herrn Professor der Theologie nicht. Auf Dienstbotenklatsch und ähnliche Autoritäten hin sammelte er eine hübsche Anzahl von wunderbaren Taten, Vorzeichen, Träumen und dergleichen, mit denen Mores Andenken bereichert worden war seitdem Roper seine Biographie geschrieben hatte. Den Quellen entsprechend, deren sich Stapleton bediente, sind diese Geschichten ungemein platt und albern, was für den Autor das eine Gute hat, daß man ihn nicht für deren Erfinder hält. Wir wollen wenigstens aus Respekt für die katholische Theologie des sechzehnten Jahrhunderts annehmen, daß er geschickter erfunden hätte.

Wie albern ist zum Beispiel folgendes „Wunder“: Nach Mores Tod gab Margarete all ihr Geld an die Armen, damit sie für ihres Vaters Seele beteten. Als sie dann dessen Leichnam begraben wollte, hatte sie natürlich kein Geld mehr, ein Leichentuch zu kaufen. Was tun? Guter Rat war teuer. Endlich entschloß sich Frau Harris, eine ihrer Dienerinnen, zu einem Tuchhändler in der Nähe zu gehen, um zu versuchen, ob er nicht ein Tuch auf Kredit geben wolle. Aber welch Entzücken! Beim Tuchhändler angelangt, fand sie genau so viel Geld, keinen Penny mehr oder weniger in ihrer Börse, als das Tuch kostete! Die Autorität, auf die hin Stapleton dies Bargeldwunder erzählt, ist Dorothea Colly, ein Dienstmädchen Margaretens. Daß Roper auch nicht die leiseste Andeutung davon bringt, geniert ihn nicht im mindesten.

Trotz alledem ist Stapleton nächst Roper die wichtigste Quelle für den Biographen Mores. Er ergänzt Roper, indem er auf die literarische Tätigkeit Mores näher eingeht und ist besonders dadurch nützlich, daß er mit großem Fleiß ein reiches Material gesammelt hat, namentlich aus Briefen Mores und seiner Zeitgenossen, das seinen Wert behält, auch wenn man den Standpunkt des Verfassers keineswegs teilt.
 

3. Cresacre More und andere.

Neben Roper und Stapleton wird häufig ein dritter als Hauptquellenschriftsteller für Mores Leben genannt, sein gleichnamiger Urenkel Thomas More, ein katholischer Geistlicher, der 1625 in Rom starb und in dessen Hinterlassenschaft ein Manuskript, eine Biographie seines Urgroßvaters, gefunden wurde, die 1627 in London erschien. Die Biographie wurde viel gesucht und war bald so selten, daß 1726 ein Unbekannter sie neu herausgab: The Life of Sir More, Knight, Lord Chancellor of England under King Henry the Eight and his Majestys Embassadour to the courts of France and Germany. By his great Grandson Thomas More Esq., London 1726, XXXI und 336 S. Die Ausgabe ist sehr brauchbar durch die Noten des Herausgebers, der uns gründlicher, gewissenhafter und vernünftiger zu sein scheint als sein Autor. Eine deutsche Übersetzung erschien in Leipzig 1741 unter dem Titel: Das Leben des Sir Thomas More usw. Von dem Herausgeber des Lebens Coleti und Erasmi ins Deutsche übersetzt nebst einer Vorrede Dr. Christian Gottlieb Jöchers, Professors zu Leipzig. Die neueste stammt von Jos. Hunter: The Life of Sir Thomas More, by his great Grandson Cresacre More, with a biographical preface, notes and other illustrations, London 1828, LXIV und 376 S. In der Vorrede macht Hunter unter anderem die richtige Bemerkung, daß jedesmal, so oft die Katholiken Englands ihre Zeit wieder gekommen glaubten, eine Biographie Mores erschien: die Ropers unter der „blutigen Maria“, die Stapletons, als die spanische Armada England bedrohte, 1588, die Cresacre Mores unter Karl I., kurz nachdem dieser eine katholische Prinzessin, Henriette Marie von Frankreich, geheiratet hatte. (S. LXII) In derselben Vorrede führt Hunter aber auch aus, er sei infolge von Angaben, die der Verfasser in dieser Biographie darin über sich selbst macht, zur Überzeugung gekommen, Thomas könne nicht der Autor sein, sondern die Biographie rühre von dessen jüngstem Bruder Cresacre More her. Auf diesen stimmen die betreffenden Angaben vollkommen. Wir dürfen also wohl Cresacre als den Autor betrachten. Die Frage ist übrigens von geringer Bedeutung, Cresacre war ein ebenso fanatischer Katholik wie Thomas.

Die letztgenannte Biographie ist die am meisten benutzte, und man sollte in der Tat meinen, daß sie die beste sein muß, da der Verfasser neben den mündlichen Mitteilungen solcher, die seinen Urgroßvater noch persönlich gekannt, die Familienarchive benutzen konnte und außerdem die Ergebnisse der historischen Forschung fast eines ganzen Jahrhunderts. Mit der genauen Sachkenntnis des Familienmitglieds konnte er den weiten Blick des Historikers verbinden, der die Ereignisse von einem höheren Standpunkte betrachtet. Nichts von alledem. Cresacre More schrieb, wie er in der Einleitung sagt, zu seiner und anderer Leute Erbauung, wie Stapleton; es war ihm nicht um Erforschung der Wahrheit, sondern um eine rührende Wirkung auf die Gemüter zu tun, und zu diesem Zwecke erschien es ihm höchst überflüssig, sich viel Arbeit zu machen. Das ganze Buch ist ein unverschämtes Plagiat aus Stapleton und Roper. Er hat einmal den einen, das andere Mal den anderen abgeschrieben, und nicht einmal gewissenhaft abgeschrieben, sondern schleuderhaft, und zu verschiedenen Malen grobe Böcke geschossen, wie der Herausgeber der Ausgabe von 1726 nachwies, der sich die Mühe gab, jede einzelne Stelle Cresacre Mores mit den entsprechenden Stapletons und Ropers zu vergleichen.

Die originalen Leistungen Cresacre Mores beschränken sich auf einige Histörchen, die erst nach Stapletons Buch in den Kreisen des katholischen Wunderklatsches aufgekommen waren und daher in dem Werk des Professors der Theologie fehlten. Sie sind aber womöglich noch dümmer als die Stapletonschen.

Nur ein Beispiel: Zwei Brüder hatten einen Zahn Mores zwischen sich auf dem Tisch liegen, jeder gleich begierig, die kostbare Reliquie zu erhalten. Der selige Märtyrer löste die Schwierigkeit auf die einfachste Weise der Welt: zum großen Erstaunen der beiden Brüder teilte sich plötzlich der Zahn und es lagen zwei Zähne auf dem Tisch (a. a. O., S. 304). Schade, daß der Knochen, der sich verdoppelte, nicht einer war, der nur einzeln beim Menschen vorkommt, etwa der Unterkiefer. Ein Heiliger mit zwei Unterkiefern wäre ein noch größeres Wunder, als einer mit dreiunddreißig Zähnen.

Das Buch Cresacre Mores hat nicht den mindesten Wert; trotzdem ist es die am meisten benutzte Quelle über Thomas More geworden; es bietet eben einen sehr bequemen Extrakt aus Roper und Stapleton und ist fast noch mehr als das Werk des letzteren im richtigen Gebetbuchstil geschrieben.

Die große Mehrzahl der folgenden katholischen Biographien Mores sind nur mehr oder weniger schlechte Paraphrasen des Buches Cresacre Mores – soweit wir sie kennen. Der Leser wird von uns kaum verlangen, daß wir die ganze katholische Literatur durcharbeiten sollten, die über More seit dem siebzehnten Jahrhundert erschienen ist. Irgend ein Gewinn zur Erkenntnis unseres Sozialisten war daraus nicht zu erwarten, und wir haben an einigen aufs Geratewohl herausgenommenen Beispielen mehr als genug gehabt.

Auch die protestantische Literatur hat keine bedeutende Biographie Mores aufzuweisen. Das Buch Cayleys ist, was die Biographie anbelangt, keine hervorragende Leistung. Wertvoll wurde es dadurch, daß es die besten literarischen Schöpfungen Mores einem größeren Publikum zugänglich machte. [6]

Außer den drei erwähnten Quellenschriftstellern über More erscheinen uns nur noch vier Biographen der Erwähnung wert: die Katholiken Rudhart und Bridgett, und die Protestanten Seebohm und Hutton. Rudhart [7] und Seebohm [8] sind noch genügend religiös, um ihren spezifischen konfessionellen Standpunkt erkennen zu lassen, beide über die konfessionelle Beschränktheit so weit hinaus, daß sie sich dadurch den Blick nicht trüben ließen.

Rudhart war ein süddeutscher Gelehrter, der nie in England gewesen zu sein scheint, der aber in Göttingen zahlreiches Material über More fand, das er gut benutzte. Er suchte More nach allen Seiten seines Wirkens darzustellen und die Berichte seiner Biographen durch anderes, gleichzeitiges Material je nachdem entweder sicherzustellen oder zu ergänzen oder zu berichtigen. Die Bedeutung Mores vermochte er allerdings nicht zu erfassen; sein Standpunkt ist beschränkt und kleinlich. Aber es ist eine gewissenhafte, fleißige und ehrliche Arbeit, die Arbeit eines deutschen Gelehrten aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, wo die deutsche Wissenschaft noch nicht durch das Überwuchern des Strebertums auf den Hund gekommen war. Wir haben Rudhart manchen wertvollen Fingerzeig zu verdanken.

Seebohm betrachtet More von einer Seite, die bisher noch wenig untersucht worden: More als Humanisten in seinem Zusammenarbeiten mit den beiden anderen Humanisten, die in England zu seiner Zeit wirkten, Colet und Erasmus von Rotterdam. Die Darstellung geht nur bis zum Tode Colets, dem Jahre 1519. Damit endet in der Tat der Humanismus in England. Er wird abgelöst durch die Reformation. Die Frage, wieso More dazu kam, mit voller Kraft für die katholische Sache einzustehen, wird in dem Buche nicht mehr behandelt. Wohl aber fällt die Utopia noch in den Kreis von Seebohms Betrachtungen. Jedoch ebensowenig wie Rudhart oder irgend einer der bisherigen Biographen Mores weiß er etwas mit diesem Buche anzufangen. Rudhart erscheint die Utopia als ein Scherz, Seebohm nimmt sie ernsthaft, legt aber das Hauptgewicht auf die in ihr niedergelegte christliche Philosophie, die er so protestantisch-platt als möglich wiedergibt. Ihren kommunistischen Charakter bemerkt er nicht einmal, oder will ihn nicht bemerken, weil er ihm völlig ratlos gegenübersteht.

Endlich müssen wir noch der jüngsten Biographien Mores gedenken, die erst nach der ersten Auflage des vorliegenden Buches erschienen. [9] Ihre Verfasser sind beide Geistliche, der eine T.G. Bridgett, Mitglied der Kongregation des heiligsten Erlösers, verfaßte sein Werk zur Verherrlichung des 1886 selig gesprochenen katholischen Märtyrers. Er arbeitet mit dem Apparat der modernen Wissenschaft, namentlich was die Chronologie anbelangt und hält sich von den gröbsten Abgeschmacktheiten fern. Aber von einem historischen Verständnis Mores kann auch bei ihm keine Rede sein. Angesichts der aufdringlichen Hervorhebung der katholischen Formen, die das Moresche Denken namentlich am Schlusse seiner Laufbahn annahm, kommt der Leser ebenso wie etwa bei Roper nicht einmal dazu, zu ahnen, welcher Geistesriese More gewesen. Sein ganzes Wirken wird in das Prokrustesbett beschränkter katholischer Rechtgläubigkeit gepreßt.

Man braucht deswegen nicht an Unehrlichkeit des Verfassers zu denken. Ein Schelm gibt mehr, als er hat.

Hutton endlich, dessen Schrift in erster Auflage 1895, in zweiter einige Jahre später erschien [10] ein Oxforder Theolog und Kaplan des Lordbischofs von Ely, schreibt ebenso wie Bridgett mit einer theologischen Tendenz. Er will nachweisen, daß Mores Theologie mit der der englischen Staatskirche sehr wohl verträglich ist. So heißt es dort zum Beispiel auf Seite 282:

„Es wäre müßig, mit den römischen Heiligenlehrern über ihr Recht zu streiten, ihn (More) als ihren Märtyrer zu verehren; aber keine richtige theologische Würdigung wird leugnen, daß er zu der geschichtlichen und ununterbrochenen Kirche von England gehört. Ein eingehendes Studium seiner religiösen Schriften und seines Lebens zeigt, daß More ein Heiliger war, auf den England heute noch stolz sein darf.“ (Vergleiche auch S. 201).

Viel Neues kommt bei dem Kampf der katholischen und protestantischen Pfaffen um die Leiche ihres Patroklus More nicht heraus. Indessen ist in dem Huttonschen Buche die theologische Tendenz nicht allzu aufdringlich, und es bietet eine ganz lesbare und sorgfältige Darstellung des Entwicklungsganges Mores, sogar mit einigem Interesse für den Sozialismus des Verfassers der Utopia.
 

4. Erasmus von Rotterdam

Angesichts solcher Biographen ist es namentlich für denjenigen, der dem Sozialisten More näher treten will, um so wichtiger und willkommener, daß diejenige Quelle wohlerhalten ist, aus der More am besten zu erkennen: seine eigenen Schriften und ein großer Teil seines Briefwechsels.

Die Originalausgaben seiner einzelnen Werke sind sehr selten; aber die Gesamtausgaben seiner Werke, namentlich der lateinischen, dürften auch in deutschen Bibliotheken zu finden sein. Mores englische Werke wurden 1557 in London auf Befehl der Königin Maria herausgegeben. [11]

Von seinen lateinischen Werken erschienen drei Gesamtausgaben, die erste in Basel 1563, die zweite in Löwen 1566, die dritte 1689 in Frankfurt und Leipzig. Diese soll nach Cayley (a. a. O., S. 274) die beste sein. Wir haben uns daher an sie gehalten. [12]

Eine Unzahl von Abhandlungen, Gedichten usw. von More wurde in den schon erwähnten Memoirs of Sir Thomas More im Anfang unseres Jahrhunderts von A. Cayley herausgegeben. Eine ähnliche Sammlung (zum Teil nur Bruchstücke und Auszüge enthaltend) von einigen Schriften Mores (in neues Englisch übertragen) lieferte der gutkatholische W. Jos. Walter in Amerika. [13]

In neuester Zeit wurden außer der Utopia, von der wir noch eingehender handeln werden, nur Mores Fragment über Richard III. und sein Buch über Pico von Mirandula herausgegeben. [14]

Neben den Schriften Mores selbst sind die wichtigsten Quellen für seine Beurteilung die Briefe seiner Freunde an ihn und über ihn. Unter diesen ist der wichtigste einer, der ebenso großes Interesse erregt durch die Person des Mannes, von dem er handelt, wie durch die des Schreibers und des Adressaten. Er wurde im Jahre 1519, also gerade im Beginn der Reformation, von Erasmus von Rotterdam an Ulrich von Hutten gerichtet. Er enthält eine förmliche Lebensbeschreibung Mores bis zu diesem Datum von seinem vertrautesten Freunde, mit dem er jahrelang zusammen gewohnt und gewirkt. Wer könnte uns trefflicher mit More bekannt machen? Wir wissen keine bessere Einleitung zu einem Versuch, das Verständnis Mores zu fördern, als diesen Brief. Wir geben ihn daher um so lieber vollinhaltlich wieder (mit Weglassung einiger langweiligen und nichtssagenden Höflichkeitsformeln, wie sie der schwülstige Briefstil der Humanisten erforderte), als eine deutsche Übersetzung des Briefes unseres Wissens noch nicht veröffentlicht worden. Er ist lateinisch geschrieben und nach der Sitte der damaligen Zeit mit griechischen Brocken gespickt. [15]

Er lautet:

„Wenn des Thomas Morus [16] so überaus gelehrte und liebenswürdige Schriften Dich so entzücken, daß Du ihn liebst, ja fast hätte ich geschrieben, sterblich in ihn verliebt bist, so stehst Du damit nicht allein da, erlauchter Hutten, sondern hast Deine Schwärmerei mit vielen gemein. Und sie ist eine gegenseitige, denn Morus erfreut sich so sehr an Deinen Schriften, daß ich Dich fast beneiden könnte .... Wenn Du mich übrigens bestürmst, ich möchte Dir doch ein Bild von Morus entwerfen, so wünsche ich nur, meine Kraft, dies zu vollbringen, wäre ebenso groß als Dein Verlangen danach ungestüm. Denn auch für mich ist es ein Vergnügen, mich von Zeit zu Zeit der Betrachtung des liebenswürdigsten meiner Freunde hinzugeben. Aber es ist nicht jedem gegeben, des Morus Gaben zu erkennen, und ich weiß nicht, ob er es sich gefallen läßt, vom ersten besten Maler gezeichnet zu werden. Ich glaube in der Tat, daß es nicht leichter ist, Morus darzustellen, als Alexander den Großen oder Achilles: sie waren nicht würdiger der Unsterblichkeit als er. Ein solcher Vorwurf verlangt die Hand eines Apelles, und ich fürchte, ich bin dem Fulvius Rutuba ähnlicher als dem Apelles. Aber ich will es versuchen, Dir des ganzen Mannes Bild wenigstens zu skizzieren, wenn auch nicht genau darzustellen, wie es mir ein langjähriges Zusammenleben gezeigt hat .... Beginnen wir die Beschreibung des Morus von der Seite, von der Du ihn am wenigsten kennst: er ist nicht groß, aber auch nicht auffallend klein, und seine Glieder sind so ebenmäßig, daß man nichts an ihm auszusetzen findet. Die Haut seines Körpers ist weiß, doch zeigt sein Gesicht mehr eine lichte als eine blasse Hautfarbe, die allerdings nirgends eine kräftige Röte aufweist, sondern nur einen zarten rosigen Schimmer. Seine Haare sind von einem ins Schwärzliche spielenden Braun oder, wenn Du lieber willst, von einem ins Bräunliche spielenden Schwarz (sufflavo nigore); der Bart dünn, die Augen blaugrau, mit einigen Flecken: solche Augen deuten in der Regel einen hochbegabten Geist an und gelten bei den Engländern auch für hübsch, während uns schwarze besser gefallen; keine Augenart soll sicherer vor Schäden sein als diese.

„Sein Antlitz entspricht seinem Charakter, es verkündet immer eine freundliche und liebenswürdige Heiterkeit und zeigt uns gern ein Lächeln: und daß ich es nur offen sage, er neigt mehr zu Fröhlichkeit als zu Ernst und Würde, wenn er sich auch von alberner Possenreißerei fernzuhalten weiß. Seine rechte Schulter ist etwas höher als die linke, namentlich beim Gehen. Es ist ihm das nicht angeboren, sondern zur Gewohnheit geworden, wie ja unsereinem oft dergleichen anzuhaften pflegt. Sonst ist an ihm nichts Anstößiges als höchstens seine im Verhältnis zu seinem Körper etwas bäuerischen Hände.

„Alles, was das körperliche Aussehen betrifft, hat er von Jugend auf vernachlässigt und in der Regel nicht einmal das sehr gepflegt, was nach Ovid der Mann allein zu pflegen hat. Wie hübsch er als Jüngling war, kann man noch jetzt aus dem, was davon geblieben, entnehmen; und doch lernte ich ihn kennen, als er noch nicht mehr als 23 Jahre alt war; und jetzt zählt er etwas über 40. Seine Gesundheit ist gut, ohne gerade robust zu sein; aber sie reicht für die Arbeiten aus, die einem ehrbaren Bürger anstehen, und ist keinen oder doch nur wenigen Krankheiten unterworfen: wir dürfen hoffen, daß er sich als zäh erweisen wird, da er einen Vater hat, der trotz seines hohen Alters noch sehr rüstig ist.

„Ich sah noch niemanden, der in bezug auf Speisen weniger wählerisch wäre als er. Bis zum Jünglingsalter trank er gern Wasser; das hatte er vom Vater. Um aber in lustiger Gesellschaft kein Spielverderber zu sein, täuschte er seine Zechgenossen, indem er aus einem Zinnkrug (stanneo poculo) leichtes Bier, oft reines Wasser trank. Da die Engländer beim Wein sich gegenseitig zuzutrinken pflegen, so pflegte er dabei zu nippen, damit es nicht aussehe, als habe er einen Widerwillen dagegen und um kein Sonderling zu sein. Rindfleisch, gesalzene Fische und grobes, stark gesäuertes Brot ißt er lieber als Speisen, die gewöhnlich als Leckerbissen gelten, ohne dabei etwas zu verschmähen, was dem Körper ein unschädliches Vergnügen bereitet. Milchspeisen und Baumobst aß er immer sehr gern; für Eier schwärmt er.

„Seine Stimme ist nicht stark, aber auch nicht schwach, leicht vernehmbar, klar, aber ohne Weichheit und Schmelz. Zum Gesang scheint er nicht veranlagt zu sein, obwohl er ein großer Freund jeder Art Musik ist. Seine Sprache ist deutlich, ebensowenig überhastend als zaudernd. Er liebt die Einfachheit, trägt weder Seide, noch Purpur, noch goldene Ketten, außer wenn es seine Stellung erfordert. Wunderbar ist es, wie wenig er sich um jene Formen kümmert, die die Menge für Höflichkeit und Anstand hält: er verlangt sie weder von anderen, noch hält er sich streng an sie, nicht in ernsten Versammlungen, nicht bei fröhlichen, geselligen Zusammenkünften: er ist ihrer nicht etwa unkundig, aber er hält es für weibisch und eines Mannes unwürdig, mit solchen Albernheiten die Zeit zu verschwenden. Vom Hofe und dem Umgang mit Fürsten hielt er sich früher fern, weil ihm die Tyrannei von jeher besonders verhaßt und nichts lieber war als die Gleichheit. Denn Du wirst kaum einen Hof finden, und wäre er noch so bescheiden, an dem nicht viel Lärm und Streberei, viel Heuchelei und Prunk zu finden, und der gänzlich frei wäre von jeglicher Tyrannei. So ließ sich denn Morus nur mit vieler Mühe an den Hof Heinrich VIII. ziehen; und doch kann man sich keinen liebenswürdigeren und anspruchsloseren Fürsten wünschen.

„Morus liebt Ungebundenheit und Muße; aber so wie er sich gern dem Nichtstun überläßt, wenn dazu Gelegenheit ist, so wird er von niemandem an Eifer und Ausdauer übertroffen, wenn es arbeiten heißt. Zur Freundschaft scheint er geboren zu sein; er hegt sie treu und fest. Und er fürchtete nicht jenen Freundschaftsüberfluß πολυφιλιαν(polphilias), von dem Hesiod so wenig Gutes zu sagen weiß. Sehr entgegenkommend in bezug auf das Eingehen des Freundschaftsbündnisses, zeigt er sich nicht pedantisch streng in der Auswahl der Freunde, nachsichtig im Verkehr, beständig im Festhalten an ihnen. Wenn er einmal auf einen stößt, dessen Fehler er nicht bessern kann, dann läßt er die Freundschaft mit ihm wieder einschlafen, bricht sie aber nicht gewaltsam ab. Mit denjenigen zu verkehren, die er treu und seiner Sinnesart entsprechend findet, erscheint ihm als das größte denkbare Vergnügen. Denn er hat einen Widerwillen gegen das Ballspiel, Würfel-, Karten- und ähnliche Spiele, mit denen der vornehme Pöbel (vulgus procerum) die Zeit totzuschlagen pflegt. So unbekümmert er ist, wo es sich um den eigenen Vorteil handelt, so sorgfältig in Wahrung der Interessen seiner Freunde. Kurz, wenn jemand ein vollkommenes Beispiel wahrer Freundschaft sucht, so bietet es ihm niemand besser als Morus. Im geselligen Verkehr ist er so munter und angenehm, daß niemand so grämlich sein kann, den er nicht aufheiterte, nichts so scheußlich, daß er nicht dessen Wirkung verscheuchte. Schon als Knabe hatte er ein solches Gefallen an Scherz und Spiel, daß er dazu geboren schien; aber sein Scherz wurde nie possenhaft oder verletzend. Als Jüngling schrieb er kleine Lustspiele und führte sie auf. So sehr liebt er geistreiche Witze, daß sie ihm gefallen, selbst wenn sie auf seine Kosten mit Verdrehung der Wahrheit gemacht werden. Schon als Jüngling schmiedete er daher Epigramme und erfreute sich am Lucian. Auch mich hat er dazu angestiftet, das Lob der Narrheit (eine Satire) zu schreiben, das heißt einen Kameltanz aufzuführen. Und nichts kann passieren, das er nicht von der heiteren Seite zu nehmen suchte, selbst höchst ernste Dinge. Hat er es mit gelehrten und gescheiten Männern zu tun, dann freut er sich über ihren Geist; ist er in Gesellschaft von Ungebildeten und Toren, bietet ihm die Torheit Gelegenheit zum Lachen. Selbst an dem größten Narren nimmt er keinen Anstoß, indem er sich mit wunderbarer Geschicklichkeit in die Laune eines jeden zu schicken weiß. Mit den Frauenzimmern, selbst mit seiner Gattin, treibt er nichts als Spiel und Scherz: Du könntest ihn für einen zweiten Demokrit halten oder eher noch für jenen pythagoräischen Philosophen, der sorglos und müßig auf dem Markte herumschlenderte und das Getümmel der Käufer und Verkäufer lächelnd besah. Niemand läßt sich weniger vom Urteil der Menge beeinflussen als Morus, und andererseits ist niemand zugänglicher und leutseliger als er.

„Eine seiner liebsten Vergnügungen ist die Beobachtung der Formen, der geistigen Tätigkeiten und Gemütsbewegungen der Tiere. Es gibt kaum eine Vogelart, die er nicht zu Hause hielte; wenn er ein seltenes Tier zu sehen bekommt, das verkäuflich, einen Affen, einen Fuchs, ein Frettchen, einen Marder und dergleichen, etwas Exotisches und ähnliches, dann eilt er, es zu kaufen. Sein ganzes Haus hat er damit angefüllt, und wohin man tritt, findet man etwas, das die Augen auf sich zieht: und Morus freut sich jedesmal wieder von neuem, so oft er sieht, daß andere sich daran ergötzen. [17]

„Als Jüngling war er durchaus kein Mädchenhasser, doch verursachte er keine üble Nachrede und genoß lieber die, die ihm entgegenkamen, als die er erobern mußte; auch hatte der geschlechtliche Umgang für ihn keinen Reiz, wenn er nicht mit gegenseitiger geistiger Anregung verknüpft war. [18]

„Der klassischen Literatur wandte er sich frühzeitig zu. Schon als Jüngling studierte er die griechische Literatur und Philosophie, sehr wider Willen seines Vaters, eines sonst tüchtigen und verständigen Mannes, der ihm alle Unterstützung entzog und ihn fast verstoßen hätte, weil es schien, als wolle er nicht in die Fußtapfen des Vaters treten, der ein Gelehrter des englischen Rechtes ist. So sehr auch dieser Beruf der wahren Bildung fremd ist, so werden doch in England diejenigen hochgeschätzt und geehrt, die auf diesem Gebiet einen Ruf erlangt haben, und kaum gibt es dort einen besseren Weg als den der Rechtsgelehrsamkeit, um Ruhm und Geld zu erwerben; gar manchem hat dieser Beruf sogar den englischen Adelsstand eingebracht. Und man soll auf diesem Gebiet nichts leisten können, wenn man nicht schon viele Jahre darüber geschwitzt hat. Morus aber, trotzdem er, der zu etwas Besserem geboren, nicht mit Unrecht einen Abscheu dagegen hatte, erlangte eine solche Vollkommenheit darin, nachdem er kaum davon gekostet, daß die Prozeßführenden sich an niemanden lieber wandten als an ihn, und daß keiner seiner Kollegen, die sich ausschließlich ihrem Beruf widmeten, eine größere Einnahme daraus zog als er. So groß war sein Scharfsinn und seine Schlagfertigkeit.

„Aber nicht genug damit, verwendete er noch große Mühe auf das Studium der Kirchenlehrer. Er hielt noch als Jüngling öffentliche Vorlesungen vor einer zahlreichen Zuhörerschaft über des Augustinus Bücher vom Reiche Gottes (de civitate dei); und sogar Priester und Greise kamen, von dem jungen Manne, der keine Weihen empfangen, die Geheimnisse der Religion erklären zu hören, und es reute sie nicht. Dabei widmete er sich auch mit ganzer Seele frommen Werken und suchte sich durch Nachtwachen, Fasten, Beten und ähnliche Vorübungen für den Priesterstand vorzubereiten. Aber er erkannte in dieser Sache eher als die meisten derjenigen, die sich unbedacht zu einem so schwierigen Beruf drängen, daß keiner für ihn gefährlicher sei als dieser. Nur eines stand im Wege, daß er sich dieser Lebensweise widmete: er vermochte es nicht, sein Verlangen nach einem Weibe zu überwinden. Und er wollte lieber ein keuscher Gatte sein, als ein schmutziger Priester. So heiratete er ein Mädchen, das fast noch ein Kind war, aus edlem Geschlecht, auf dem Lande bei Eltern und Schwestern aufgewachsen, noch unerfahren und ungebildet, so daß er sie völlig nach seinen Neigungen entwickeln konnte. Er ließ sie in den Wissenschaften unterrichten und bildete sie in jeder Gattung der Musik: er hatte sie vollkommen zu einer Frau gemacht, mit der er sein ganzes Leben hätte wohl verbringen können, wenn nicht ein früher Tod sie ihm entrissen hätte, nachdem sie ihm mehrere Kinder geboren, von denen drei Mädchen und ein Knabe noch leben: Margareta, Aloisia [19], Cäcilia und Johannes. Er blieb nicht lange ledig, vielleicht durch Ratschläge seiner Freunde beeinflußt. Wenige Monate nach dem Tode seiner Frau heiratete er eine Witwe, mehr zur Führung seines Haushaltes als um ihrer Reize willen, da sie weder jung noch hübsch war, wie er selbst scherzend zu sagen pflegt, aber eine tätige und fürsorgliche Hausfrau. Und er lebt mit ihr ebenso gut, als wenn sie ein weiß Gott wie hübsches Mädchen gewesen wäre. Kaum erlangt ein anderer Gatte von der Seinen solchen Gehorsam durch Befehl und Strenge, als er durch Güte und Scherze. Was sollte sie ihm verweigern können, wenn er es dahin gebracht, daß sie, die schon begann alt zu werden, keineswegs von geschmeidiger Gemütsart war und dabei eine sehr prosaische Natur, lernte Saiteninstrumente [20] spielen und die Flöte blasen, und daß sie die für jeden Tag vorgeschriebenen Übungen auf diesen Instrumenten dem Gatten auf Verlangen vortrug? Mit der gleichen Güte wie die Frau leitet er die Kinder und das Hausgesinde; da gibt es keine Trauerspiele, keinen Streit. Wo sich ein solcher zu entspinnen droht, da unterdrückt er ihn im Keime oder schlichtet ihn augenblicklich. Noch nie ging jemand von ihm als sein Feind. Es scheint eine Vorherbestimmung seines Hauses zu sein, Glückseligkeit zu verbreiten: noch niemand hat dort gelebt, ohne zu höherem Glück zu gelangen, noch niemand hat sich dort üblen Leumund zugezogen.

„Wenige gibt es, die sich mit der Mutter so gut vertragen hätten, wie er mit der Stiefmutter: denn der Vater hatte eine zweite Frau geheiratet, die Morus nicht weniger lieb gewann als seine Mutter. Vor kurzem nahm jener die dritte Frau, und Morus schwört hoch und heilig, er habe noch kein besseres Frauenzimmer gesehen. Eltern, Kinder, Schwestern liebt er in einer Weise, daß er weder durch Überschwenglichkeit lästig wird, noch jemals seine Pflichten gegen sie vernachlässigt.

„Sein Sinn geht nicht nach schmutzigem Gewinn. Von seinem Einkommen legt er einen Teil für seine Kinder beiseite, das andere gibt er mit vollen Händen aus. Als er noch als Anwalt sein Brot verdiente, erteilte er allen, die ihn um Rat fragten, freundschaftliche und wahre Auskunft, mehr auf ihren Vorteil bedacht als auf den eigenen. Den meisten riet er zu einem Ausgleich mit dem Gegner, weil das weniger koste. Drang er mit diesem Ratschlag nicht durch, dann wies er seinen Klienten an, wie er den Prozeß am billigsten führen könne. Anderer Freude ist um so größer, je mehr und längere Prozesse es gibt.

„In seiner Vaterstadt London fungierte er durch einige Jahre als Richter in Zivilsachen. [21] Dieses Amt ist mit keinen hohen Mühen verknüpft, denn Gerichtssitzungen finden nur Donnerstags und bloß vormittags statt, wohl aber mit hohen Ehren verbunden. Niemand erledigte so viele Klagen, niemand war uneigennütziger als er: erließ er doch vielen sogar die ihm gebührenden Gerichtssporteln! Bei Einleitung eines Prozesses haben nämlich Kläger wie Geklagter jeder drei Groschen [22] zu erlegen, und niemand darf mehr fordern. Durch solches Benehmen wurde er der beliebteste Bürger seiner Vaterstadt. Er beschloß aber, sich mit dieser Stellung zu begnügen, die genügend Ansehen bot, ohne schweren Gefahren unterworfen zu sein. Zweimal wurde er gepreßt, eine Gesandtschaft zu übernehmen; und da er seine Mission sehr klug erfüllte, so beruhigte sich der erhabene König Heinrich, seines Namens der Achte, nicht eher, als bis er den Mann an seinen Hof geschleppt hatte. Warum soll ich nicht sagen „geschleppt“, da niemand noch so viel Mühe aufgewendet hat, an den Hof zu gelangen, als Morus, ihm fernzubleiben. Da aber der hochedle König sich vorgenommen hatte, um sich eine große Schar gelehrter, gesetzter, kluger und uneigennütziger Männer zu versammeln, so zog er, wie viele andere, so vor allem Morus zu sich heran, und er hat sich so eng an diesen angeschlossen, daß er ihn niemals von seiner Seite läßt. Handelt es sich um ernste Dinge, dann findet man keinen Erfahreneren als Morus; will der König in leichtem Geplauder den Geist erfrischen, dann ist Morus der heiterste Gesellschafter. Oft verlangen schwierige Fragen einen gewiegten und verständigen Richter: Morus löst sie so, daß jeder Teil befriedigt ist. Noch niemand aber hat ihn dahin gebracht, daß er ein Geschenk von ihm angenommen hätte. Glücklich wären die Staaten, wenn die Fürsten überall Obrigkeiten einsetzten, die dem Morus glichen!

„Nicht die geringste Spur von Hochmut ist ihm bei Hofe angeflogen. In dem großen Drange der Geschäfte, die auf ihm lasteten, vergaß er weder seine alten Freunde, noch vernachlässigte er seine geliebten Studien. Die ganze Macht seiner Stellung, seinen ganzen Einfluß auf den erlauchten König verwendet er bloß zum Besten des Staates, zur Befriedigung der Herzen. Seit jeher war sein lebhaftestes Streben dahin gegangen, der Allgemeinheit zu nützen, seit jeher neigte sein Sinn zum Mitleid. Je höher er steigt, desto mehr vermag er Gutes zu tun. Die einen unterstützt er mit Geld, die anderen schützt er mit seinem Einfluß, andere wieder fördert er durch seine Empfehlung, und denen er nicht anders helfen kann, steht er wenigstens mit seinem Rate bei. Niemanden entläßt er traurig von sich. Man möchte sagen, Morus sei der oberste Schutzpatron aller Armen im Reiche. Er freut sich, als hätte er den größten Gewinn gemacht, wenn es ihm gelang, einem Unterdrückten zu helfen, einen Bedrängten aus seinen Verlegenheiten zu befreien, einem in Ungnade Gefallenen wieder Gunst zu gewinnen. Niemand übt lieber Wohltaten, niemand verlangt weniger Dankbarkeit. Und so reich begabt und berühmt er auch ist, und so natürlich damit Prahlerei verbunden zu sein pflegt, so ist doch niemand ferner von dieser Untugend als er.

„Aber ich gehe zu seinen Studien über, die mich dem Morus, die Morus mir so teuer gemacht haben. In seiner Jugend gab er sich namentlich mit der Poesie ab, bald aber ging er dazu über, in langem und mühsamem Arbeiten seine Prosa zu verbessern und seinen Stil in allen Arten der Darstellung zu üben. Welchen Zweck hätte es, diesen näher zu beschreiben, namentlich Dir, der Du seine Schriften immer in der Hand hast? Besonders gern schrieb er Reden und Vorträge, namentlich über ungewöhnliche Themata, um seinen Geist desto mehr zu schärfen. Noch als Jüngling arbeitete er an einem Dialog, in dem er den Kommunismus des Plato, sogar mitsamt der Weibergemeinschaft, verteidigte. Auf den Tyrannicida (Tyrannenmörder) des Lucian schrieb er eine Antwort und wünschte, mich dabei zum Gegner zu haben, damit er aus dem Versuch um so genauer erfahre, ob er Fortschritte in dieser Art Schriftstellerei gemacht. Die Utopia verfaßte er mit der Absicht, zu zeigen, worin es liege, daß die Staaten in schlechtem Zustand seien, namentlich aber hatte er bei seiner Darstellung England vor Augen, das er gründlich durchforscht und kennen gelernt hat. Das zweite Buch verfaßte er zuerst in seinen Mußestunden; bald fügte er das erste Buch dazu, das er gelegentlich aus dem Stegreif niederschrieb: so sehr wurde sein reicher Geist durch seine Sprach- und Schreibgewandtheit unterstützt.

„Sein Geist ist schlagfertig und eilt stets voraus, sein Gedächtnis wohl geschult: da es alles gewissermaßen geordnet enthält, so liefert es rasch und ohne Zögern, was die jeweilige Sachlage erheischt. Bei Disputationen ist niemand gewandter als er, so daß er mitunter selbst bedeutende Theologen in Verlegenheit setzt, wenn er sich auf ihrem eigenen Gebiet bewegt. Johann Colet, ein scharfsinniger Mann mit trefflicher Urteilsgabe, pflegte oft in vertrautem Gespräch zu sagen, England besitze nur ein einziges Genie, Morus, und doch blühen auf dieser Insel so viele ausgezeichnete Geister.

„Er übt wahre Frömmigkeit, dagegen ist ihm jeder Aberglaube fremd. Er hat seine Stunden, wo er Gott sein Gebet darbringt, nicht gewohnheitsgemäß, sondern aus vollem Herzen. Mit den Freunden spricht er vom künftigen Leben in einer Weise, daß man sieht, er spricht mit Überzeugung und mit der besten Hoffnung. So ist Morus am Hofe, und da gibt es Leute, die glauben, gute Christen seien nur in Klöstern zu finden.“

Damit schließt des Erasmus Schilderung des ersten modernen Sozialisten.


Zweites Kapitel. More als Humanist

1. Mores Jugend

Es ist nicht unsere Aufgabe, eine eingehende Biographie Mores zu liefern. Diese würde den uns zugemessenen Raum weit übersteigen und uns auf Gebiete führen, die mit der Utopia nicht das mindeste zu schaffen haben. Wir haben es hier nur mit dem Kommunisten More zu tun und seiner geistigen Entwicklung auf den Gebieten, auf denen sich das soziale Leben äußert, vor allem der Entwicklung seiner ökonomischen, politischen, religiösen Anschauungen. Sein äußerer Lebensgang interessiert uns hier nur, soweit er Einfluß auf diese genommen hat. Wir werden uns daher mit wenigen Angaben darüber begnügen können, um so mehr, da des Erasmus Brief bereits die wichtigsten Einzelheiten des Lebens Mores bis zum Jahre 1519 gegeben hat.

Es ist bezeichnend für die ersten Biographen Mores, daß, wie schon erwähnt, keiner dessen Geburtsjahr mitteilt. Man nahm bis vor wenigen Jahrzehnten allgemein an, More sei 1480 geboren worden. Doch spricht schon des Erasmus Brief an Hutten dagegen, der 1519 geschrieben wurde und der angibt, More sei etwas über 40 Jahre alt. Dieser mußte also vor 1479 geboren sein. W. Aldis Wright hat denn auch 1868 aus einem Manuskript, das sich in der Bibliothek des Trinity College in Cambridge befindet, nachgewiesen, daß More am 7. Februar 1478 geboren wurde. Näher brauchen wir auf diese Frage wohl nicht einzugehen, die Seebohm in seinen Oxford Reformers weitläufig behandelt hat. (1. Auflage, wo noch 1480 als Geburtsjahr genannt wird, S. 429 ff. 2. Auflage, S. 521 ff.)

Thomas Mores Vaterstadt ist London, welches damals zwar noch nicht die Hauptstadt der Welt, aber immerhin einer der bedeutendsten Handelsplätze Europas war, in dem die Tendenzen der neuen Produktionsweise scharf und deutlich hervortraten. Er entstammte einer „ehrbaren, aber keineswegs hervorragenden“ städtischen Familie. In der Grabschrift, die More für sich selbst abgefaßt hatte, heißt es: Thomas Morus urbe Londinensi, familia non celebri, sed honesta natus. Sein Vater, John More, war einer der Richter am Oberhofgericht (Kings Bench), ein nüchterner, strenger, fast filziger Mann, der auf jede Weise dahin wirkte, seinen Sohn zum Nachdenken über ökonomische Verhältnisse zu veranlassen und ihn mit den materiellen Bedingungen des Lebens bekannt zu machen.

Nach der Sitte seiner Zeit hatte Thomas zunächst Lateinisch zu lernen; zu diesem Behufe besuchte er die Sankt Anthonyschule in London, später wurde er von seinem Vater im Hause des Erzbischofs, späteren Kardinals Morton untergebracht, eines bedeutenden Staatsmanns, der in der englischen Politik, namentlich den Kriegen der weißen und der roten Rose, eine hervorragende Rolle spielte (er wurde 1478 Lordkanzler von England und schloß sich später Heinrich VII. gegen Richard III. an) und einen sehr günstigen Einfluß aus den jungen Thomas übte. Der dankbare More hat ihm im ersten Buche seiner Utopia ein Denkmal gesetzt. Da heißt es unter anderem von Morton:

„Er sprach schön, fließend und wirksam; die Gesetze kannte er genau, sein Witz war unvergleichlich, sein Gedächtnis geradezu wunderbar. Diese Gaben, von Natur aus bedeutend, hatte er durch Studium und Übung vervollkommnet. Der König setzte das größte Vertrauen in ihn, und auch der Staat fand in ihm seine beste Stütze, als ich dort war. Sehr jung war er schon gleich von der Schule an den Hof gekommen und verbrachte sein Leben inmitten von Unruhe und Geschäftigkeit, unaufhörlich von den wechselnden Wogen des Glückes hin und her geworfen. So hatte er in vielen und großen Gefahren eine Weltkenntnis erworben, die, auf diese Weise angeeignet, nicht so leicht vergessen wird.“

War Thomas durch seinen Vater mit den materiellen Sorgen vertraut gemacht worden, die zu seiner Zeit die Welt bedrückten, so lernte er beim Erzbischof von Canterbury die Mächte kennen, die damals das Schicksal der Welt entschieden oder wenigstens zu entscheiden sich anmaßten. So wurden frühzeitig in ihm die Keime zu dem Verständnis der Gegenwart, vor allem ihrer materiellen Fragen, geweckt, das den Humanisten des Nordens, der Mehrzahl nach bloßen Schulgelehrten, in der Regel sehr mangelte.

More war daher trotz seiner Jugend kein Knabe mehr, als er nach Oxford auf die hohe Schule kam (wahrscheinlich 1492 oder 1493). Dort hatten neben der alten Scholastik auch die neuen humanistischen Studien eine Stätte gefunden. Ihre Hauptvertreter waren Linacre, Grocyn und Colet, später auch Erasmus von Rotterdam, der 1498 als Lehrer des Griechischen nach Oxford kam. More fühlte sich von den Humanisten ebenso angezogen, als sie von ihm. Bald war er völlig vom Humanismus gewonnen.

Dem alten More scheint angst und bange geworden zu sein, als sein Thomas sich dem brotlosen Studium der antiken Klassiker ergab. So nahm er ihn etwas unvermittelt und gewaltsam, wie uns Erasmus mitteilt, von der Universität weg und steckte ihn in eine Schule des englischen Rechtes, New Inn, wahrscheinlich ums Jahr 1494 oder 1495. Hier und später in Lincolns Inn studierte Thomas mehrere Jahre lang das englische Recht, um dann als Rechtsanwalt eine ausgedehnte Praxis zu erwerben.
 

2. More als humanistischer Schriftsteller

Aber die Liebe für seine Studien erstarb nicht in dieser angestrengten Beschäftigung. Er vervollkommnete nicht nur seine Kenntnisse der lateinischen und griechischen Sprache und Literatur, er fing bald an, produktiv als Schriftsteller aufzutreten. Einige Andeutungen darüber hat uns bereits des Erasmus Brief gegeben.

Die griechischen Autoren zog More den lateinischen bei weitem vor, und mit Recht. Waren doch die letzteren zum großen Teil nur Nachahmer, und nicht immer die glücklichsten, der ersteren. In der Utopia heißt es von Raphael Hythlodäus, der in dem Buche die Ansichten Mores wiedergibt: „Er war allerdings zur See, aber nicht als Palinurus, sondern als Ulysses oder vielmehr als Plato. Dieser Raphael, Hythlodäus zubenannt, ist nicht übel bewandert im Lateinischen, aber ausgezeichnet und gründlich im Griechischen. Auf dieses verwendete er viel mehr Fleiß als auf das Lateinische, da er sich ganz der Philosophie ergeben hat. Auf diesem Gebiet ist aber in lateinischer Sprache nichts Bedeutendes vorhanden, mit Ausnahme einiger Schriften von Seneca und Cicero.“

Unter den Griechen zog ihn vor allen Plato an. „Von den Philosophen las und studierte er am liebsten den Plato und die Platoniker“, schrieb Stapleton (S. 167), „da man aus ihnen sowohl in bezug auf die Regierung der Gemeinwesen, wie auf den Verkehr der Bürger untereinander [23] sehr viel lernen kann.“

Wenn man neben diesen Stellen die wichtige Mitteilung in dem Briefe des Erasmus in Erwägung zieht, daß More schon als Jüngling sich mit den kommunistischen Ideen Platos bekannt gemacht hatte und so sehr für sie eingenommen war, daß er sie (mitsamt der Weibergemeinschaft) in einer Schrift verteidigen wollte, dann wird man nicht umhin können, zuzugeben, daß die Utopia von der Platonischen Republik beeinflußt worden ist.

Daß More bei der Verfassung der Utopia das Platonische Staatsideal vor Augen schwebte, erhellt auch aus einem kurzen Gedicht (angeblich von einem Neffen des Hythlodäus), das er im Eingang zu ihr veröffentlichte:

„Utopia wurde ich ursprünglich genannt, wegen meiner Öde (infrequentiam).“

Aus dieser Zeile scheint uns hervorzugehen, daß die gewöhnliche Übersetzung von „Utopia“ (eine Zusammensetzung aus den griechischen Worten ου = nicht, und τοποσ – Platz, Gegend) mit „Nirgendheim“ dem von More gewünschten Sinne nicht entspricht. Vielleicht kommt das Wort „Unland“ ihm näher.

Nun bin ich die Nebenbuhlerin des Platonischen Staates,
Vielleicht diesem überlegen (denn was dieser mit Worten
Ausmalte, habe bloß ich verwirklicht,
Mit Männern und Macht und den besten Gesetzen),
Mit Recht sollte ich jetzt Eutopia heißen.“

Eutopia = Glücksland. Die Engländer sprechen „Eutopia“ ebenso aus wie „Utopia“, nämlich „Jutopia“.

Noch aus mehreren Stellen der Utopia erhellt Platos Einfluß. Nur eine davon sei noch angeführt: Im ersten Buche sagt Hythlodäus: „Wenn ich die Einrichtungen der Utopier mit denen der jetzigen Nationen vergleiche, dann muß ich Plato Recht widerfahren lassen und wundere mich nicht darüber, daß er für Völker keine Gesetze machen wollte, welche die Gütergemeinschaft zurückwiesen.“

Platos Republik war in manchen Beziehungen das Vorbild für die Utopia, und diese insoweit ein echt humanistisches Werk. Es heißt jedoch viel zu weit gehen, wenn man behauptet, wie von verschiedenen Seiten geschehen, die Utopia (oder wenigstens ihr zweites Buch, der positive Teil) sei eine rein akademische Leistung, eine Art literarischer Spielerei, ein Versuch, die Platonische Republik in neuer Form darzustellen. Nichts irriger als das. Wir werden noch sehen, daß die Utopia aus den Verhältnissen entsprossen ist, die More umgaben, daß sie einen ganz modernen Charakter besitzt, und daß die Verwandtschaft mit der Platonischen Republik sich wesentlich auf Äußerlichkeiten beschränkt.

Die Utopia war keine bloße Schulübung; sie sollte praktischen Einfluß auf die Geschicke der Nation gewinnen. Da ist es denn wieder echt humanistisch, daß sie nicht in der Sprache der Nation verfaßt wurde, sondern in einer Sprache, die nur ein geringer Bruchteil des Volkes verstand, der lateinischen.

Nicht etwa, daß More ausschließlich lateinisch geschrieben hätte. Der Humanismus entwickelte im Gegensatz zum barbarischen Kirchenlatein einerseits das klassische Latein des Heidentums, andererseits aber, als der erste literarische Vertreter des nationalen Gedankens, die nationale Sprache. Die Humanisten, von Dante, Petrarca und Boccaccio an, haben nicht nur das klassische Latein wiedererweckt, sondern auch eine nationale Prosa geschaffen, die sich zur Behandlung wissenschaftlicher wie künstlerischer Stoffe in gleicher Weise eignete.

So war auch More nicht nur einer der elegantesten Lateiner seiner Zeit, sondern auch „der Vater der englischen Prosa“, wie Sir James Mackintosh ihn nennt; einer der ersten, die in englischer Prosa schrieben und deren Bildung beeinflußten. Schon vor der Utopia hatte More Schriften in englischer Sprache verfaßt. Er übersetzte 1510 aus dem Lateinischen ins Englische eine Biographie des englischen Humanisten Pico von Mirandola [24] und schrieb 1513 seine berühmte Geschichte Richard III. [25], die leider ein Fragment geblieben ist. Sie erschien erst nach Mores Tode, 1543, und wurde sofort die klassische Darstellung der Zeit, die sie schilderte. Von ihr stammt wohl das nicht sehr schmeichelhafte Bild Richards, das in dem Shakespeareschen Drama unsterblich geworden ist.

Seine übrigen englischen Schriften wurden nach der Utopia abgefaßt: sie stammen aus der Zeit der Reformation und sind sämtlich polemischen Inhalts. Mit diesen Abhandlungen und Dialogen verließ More ebenso den Boden des Humanismus, wie Hutten mit seinen deutschen Schriften. Sie benutzten da die nationale Sprache nicht im Dienste der Wissenschaft und Kunst, sondern der Politik, sie wandten sich ans Volk von dem sich die Humanisten hochmütig fern hielten.
 

3. More über das Frauenstudium. Seine Pädagogik

Die Verwendung und Ausbildung der nationalen Sprache zu ihren Zwecken hatten die Humanisten mit den Reformatoren gemein; dagegen war ihnen ausschließlich eigentümlich die Hochhaltung der Frau, der Naturwissenschaften, der schönen Künste.

In bezug auf jeden dieser Punkte stand More unter den Humanisten selbst wieder in erster Linie.

Für seine Ansichten vom Frauenstudium ist namentlich ein Brief wichtig, den er an Gunnell, den Erzieher seiner Kinder, richtete, eines derjenigen Schriftstücke, durch deren Überlieferung Stapleton sich verdient gemacht hat. Es heißt da unter anderem:

„Wohl verdient in meinen Augen Gelehrsamkeit mit Tugend vereint den Vorzug vor allen Schätzen der Könige, wissenschaftlicher Ruhm ohne Tugend aber bedeutet nichts als glänzende Schande. Dies gilt namentlich von der Gelehrsamkeit eines Frauenzimmers. Denn da bei diesen gemeiniglich jedes Wissen etwas Seltenes und ein heimlicher Vorwurf über der Männer Trägheit ist, so lieben es viele, sie anzugreifen und der Literatur zuzuschreiben, was in Wirklichkeit ein Fehler der Natur ist, indem sie meinen, die Fehler der Gelehrten stempelten ihre eigene Unwissenheit zur Tugend. Vereinigt jedoch ein weibliches Individuum auch nur einige Kenntnisse mit vielen löblichen Tugenden, so schätze ich dies über des Krösus Reichtümer und der Helena Schönheit ... Der Unterschied des Geschlechtes tut (in bezug auf Gelehrsamkeit) nichts zur Sache, denn zur Zeit der Ernte ist es gleich, ob die Hand, die den Samen ausgestreut, einem Manne oder einem Weibe angehört hat. Sie haben beide die gleiche Vernunft, die den Menschen vom Tiere unterscheidet. Beide sind daher gleich befähigt zu jenen Studien, durch welche die Vernunft vervollkommnet und befruchtet wird, wie ein Ackerland, auf das die Saat guten Unterrichtes ausgestreut worden ist. Sollte aber, wie viele behaupten, die die Frauen vom Studium abhalten wollen, beim weiblichen Geschlecht das Erdreich unfruchtbar sein oder Unkraut hervorbringen, so wäre dies meines Erachtens ein Grund mehr, die Fehler der Natur durch anhaltenden Fleiß und durch Unterricht in den Wissenschaften zu verbessern.“

Diese Grundsätze betätigte More praktisch bei der Erziehung seiner drei Töchter und seiner Pflegetochter, Margarete Giggs, die er in den humanistischen Wissenschaften gründlich unterrichtete und unterrichten ließ. Margarete, seine älteste Tochter, kam ihrem Vater an Geist und Witz am nächsten; sie erlangte ein so hohes Wissen, daß sie bedeutendes Ansehen unter den Gelehrten ihrer Zeit genoß. Ihre literarischen Leistungen erregten Aufmerksamkeit in weiten Kreisen; Erasmus schrieb an sie stets mit der größten Ehrerbietung und nannte sie einmal „Britanniens Zier“. Sie sprach geläufig Griechisch und Lateinisch, übersetzte den Eusebius aus dem Griechischen ins Lateinische und stellte, wie Johannes Costerius berichtet, eine verdorbene Stelle des Cyprianus wieder her, Leistungen, die uns heute als Schulmeisterarbeiten erscheinen, die aber im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts als höchst bedeutsam galten und allgemeines Interesse erregten. More liebte seine Margarete ungemein. Noch ist uns ein Brief von ihm an sie erhalten, in dem er ihr, der Gattin Ropers, seines späteren Biographen, Glück wünscht zu ihrer bevorstehenden Niederkunft: möge sie eine ihr gleiche Tochter gebären; ein solches Mädchen ziehe er drei Jungen vor. Sie starb leider schon 1544, neun Jahre nach der Hinrichtung ihres Vaters, noch bei Lebzeiten Heinrich VIII., als Mores Gedächtnis noch geächtet war. Hätte sie die katholische Reaktion noch erlebt, so würde sie wohl eine bessere Biographie Mores gegeben haben, als ihr Gatte vermochte.

In der trefflichen Erziehung seiner Kinder zeigte More jenes Talent, das allen großen Utopisten eigen, ohne das sie kaum ihre Größe erlangt hätten, das pädagogische. Die ersten Sozialisten waren ja vor allem deshalb Utopisten, weil sie das Menschenmaterial, mit dem das Gemeinwesen aufgebaut werden sollte, zu unentwickelt, zu tiefstehend fanden, als daß sie hätten erwarten dürfen, daß es sich aus eigener Kraft emanzipieren werde. Die Erziehung des Volkes, nicht im Klassenkampf, sondern durch pädagogische Maßnahmen war demnach ein Haupterfordernis für den utopistischen Sozialismus. Niemand konnte auf diesem Gebiet etwas leisten ohne pädagogisches Talent. So wie Robert Owen, war auch Thomas More als Pädagoge seiner Zeit weit voraus. So wie jener in seiner Fabrik, zeigte dieser in seiner Familie, bei seinem Gesinde durch die Tat, welch glänzende Erfolge sich mit seiner Methode erreichen ließen. Die Mittel, durch die der eine wie der andere diese Erfolge erzielte, waren Liebenswürdigkeit, Milde, Konsequenz und geistige Überlegenheit. Erasmus hat uns in seinem Briefe gezeigt, wie gut More auf diese Weise seine Kinder, sein Gesinde und namentlich seine zweite Frau zu erziehen wußte, die nach allem, was wir von ihr wissen, ursprünglich eine wahre Xanthippe für diesen neuen Sokrates gewesen zu sein scheint.

Einige der pädagogischen Grundsätze, denen More folgte, sind uns noch erhalten. So heißt es zum Beispiel in dem oben erwähnten Brief an Gunnell:

„Du sagst, die Eitelkeit fern zu halten, welche selbst Männer von großer Gelehrsamkeit nicht besiegen können, sei eine zu große Aufgabe für Kinder. Allein je mühsamer es ist, dies Unkraut auszuraufen, desto frühzeitiger sollen wir an dessen Ausbildung Hand anlegen. Die Ursache, warum dies Übel so tief sitzt, ist darin zu suchen, daß Ammen, Eltern und Lehrer es bei den Kindern vom zartesten Alter an entwickeln und großziehen, denn kaum wird dem Kinde etwas Gutes beigebracht, so erwartet es auch alsbald sein Lob und sucht gern um dieses Lobes willen den meisten, also gerade den Schlechtesten zu gefallen.“

Am liebenswürdigsten schildert uns More selbst sein Verhältnis zu seinen Kindern in einem reizenden Gedicht An meine geliebten Kinder, dem wir folgende Verse entnehmen:

„Küsse gab ich euch wahrlich genug, doch Schläge kaum einmal,
Und wenn ich jemals euch schlug, so mit dem Schwanz eines Pfauen. ...
Stets hab’ ich jene zärtlich geliebt, die ich zeugte,
Hab’ sie mit Milde erzogen, wie es dem Vater geziemt;
Doch so unendlich ist jetzt die Liebe zu euch mir gewachsen,
Daß es fast scheint, als hätt’ ich euch früher gar nicht geliebt.
Ernstes Streben, vereint mit der Anmut der Jugend,
Geister, trefflich gebildet in Kunst und in Wissen,
Zungen, die sprechen mit fließender Anmut,
Die nicht Worte bloß reden, sondern auch große Gedanken,
Das ist’s, was mich an euch so mächtig entzücket,
Was mein Herz mit den euren so innig verbindet,
Daß ich euch jetzt, meine Teuren, unendlich mehr liebe,
Als wäret ihr bloß die Kinder, die ich gezeuget.“

Heute noch erscheint die Milde und Liebenswürdigkeit Mores ungemein anziehend. Sie ist aber um so höher anzuschlagen, wenn man bedenkt, daß das sechzehnte Jahrhundert eines der grausamsten und blutdürstigsten in der Geschichte der Menschheit ist. Das Zeitalter des Humanismus war nichts weniger als das Zeitalter der Humanität.

In pädagogischer Beziehung leitete es das Zeitalter der Prügelpädagogik und des geistlosen Auswendiglernens unverstandener Worte ein. Erasmus berichtet, daß ein Schulmeister nach der gemeinsamen Mahlzeit immer einen Schüler hervorzog und einem rohen Prügelmeister zur Züchtigung übergab, der, sinnlos sein Amt verwaltend, einmal einen schwächeren Knaben nicht eher losließ, als bis er selbst vor Schweiß troff und der Knabe halbtot zu seinen Füßen lag. Der Lehrer aber wendete sich mit ruhiger Miene zu den Schülern und sagte: „Er hatte zwar nichts getan, aber er mußte gedemütigt werden.“

Man vergleiche damit Mores pädagogische Grundsätze.
 

4. Mores Verhältnis zur Kunst und zu den Naturwissenschaften

An Humanität war More mehr als ein Humanist. Das Interesse für die Kunst hatte er dagegen mit allen Humanisten gemein. Seine Vorliebe für Musik haben wir bereits in dem Briefe des Erasmus kennen gelernt. Aber auch die bildenden Künste hatten sich seiner vollen Teilnahme zu erfreuen. Für uns ist in dieser Beziehung von besonderem Interesse sein Verhältnis zu Hans Holbein dem Jüngeren, dem großen deutschen Maler. Dieser kam 1526 nach England mit einem Empfehlungsschreiben von Erasmus an More, „um einige Engeltaler zusammenzukratzen, da in Deutschland die Künste darbten“. Dieser nahm ihn mit offenen Armen auf, waren ihm die Werke des Künstlers doch schon von früher her bekannt. Die Frobensche Ausgabe der Utopia von 1518 hatte Holbein mit Zeichnungen geschmückt, wie früher schon des Erasmus Lob der Narrheit. More behielt ihn längere Zeit in seinem Hause. Dafür schmückte Holbein dieses mit seinen Gemälden und malte More und dessen Familie. Unter Mores Anleitung soll er auch zwei berühmte Gemälde, den Triumph des Reichtums und den der Armut, im Steelyard, dem Londoner Haus der deutschen Hansa, verfertigt haben, die bei dem großen Brand 1666 leider zugrunde gingen. (Rudhart, a. a. O., S. 230, 231) More führte Holbein später (wahrscheinlich 1528) beim Hofe ein und machte Heinrich VIII. auf den genialen Maler aufmerksam, der diesen in seine Dienste nahm.

Neben Mores Interesse für die Kunst ist noch bemerkenswert seine Vorliebe für die Naturwissenschaften.

Zu den wenigen, die sich im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts für die Erforschung der Gesetze der Natur interessierten und den jungen Naturwissenschaften ein weiteres Ziel wiesen, als die Befriedigung beschränkter Augenblicksbedürfnisse, gehörte Thomas More. Es ist dies zu ersehen aus der Rolle, welche er die Naturwissenschaften in seinem utopistischen Gemeinwesen spielen läßt. Wir werden bei dessen Darstellung einige davon handelnde Stellen mitteilen.

Hier, wo es sich um die Skizzierung des Charakterbildes Mores handelt, seien nur einige Tatsachen erwähnt, die sein Verhältnis zu den Naturwissenschaften bezeichnen. Aus dem Brief des Erasmus haben wir bereits gesehen, wie gern er die Tierwelt beobachtete, ein Zug, der zu seiner Zeit nicht häufig war.

Von den Biographen Mores erfahren wir, daß er neben der Geometrie auch Astronomie studierte, und er muß es in ihr zu einer gewissen Vollkommenheit gebracht haben, da er in der ersten Zeit seines Aufenthalts am Hof von Heinrich VIII. mehr als Astronom denn als Staatsmann beschäftigt wurde. Daß es sich dabei nur um wissenschaftliche Forschung handelte und nicht um astrologische Verwertung, ersieht man aus seinen Ausfällen gegen die Astrologen, die er allerdings nicht mit moralischer Entrüstung, sondern seiner Lieblingswaffe, dem Spott, angriff. Eine Reihe seiner lateinischen Epigramme ist gegen die Astrologen gerichtet, darunter erscheint uns am gelungensten eines, in dem er einen Sterndeuter verhöhnt, der aus den Sternen alles herausliest, nur das nicht, daß ihm seine Frau Hörner aufsetzt.

Aber More war nicht nur ungläubig den Astrologen gegenüber. Er verlachte auch die Leichtgläubigkeit der Frommen und ihre Lust an Schauermärchen. Sein Lieblingsschriftsteller war nebst Plato Lucianus von Samosata, der Heine des untergehenden Römertums, dem „nichts heilig war“ und der die Schale seines Witzes ebenso ausgoß über das neuaufkommende Christentum und die Modephilosophen wie über den alten Götterglauben.

Er las die Schriften dieses Ungläubigen trotz der Ermahnungen seiner frommen Freunde, die befürchteten, er könne durch eine solche Lektüre „verdorben“ werden, und verteidigte ihn ihnen gegenüber. In einem seiner Briefe (an Ruthall) heißt es von Lucian:

„Wundere Dich nicht, daß diejenigen plumpen Pöbelgeister sich über seine Dichtungen ärgern, die glauben, etwas Großes geleistet und Christum sich für immer eigen gemacht zu haben, wenn sie irgend ein Märchen von einem heiligen Mann oder eine Schauergeschichte aus der Hölle erfinden, daß ein altes Weib darob halb verrückt Tränen vergießt oder vor Entsetzen zusammenschaudert. Es gibt kaum einen Heiligen oder eine fromme Jungfrau, denen sie nicht derartige Lügen angehängt hätten, natürlich in frommer Absicht, da sie fürchteten, die Wahrheit werde nicht geglaubt werden, wenn man sie nicht mit Lügen gehörig unterstütze.“

More ahnte nicht, daß er einige Jahrzehnte später selbst zu den „heiligen Männern“ gehören würde, auf deren Kosten katholische Pfaffen „sich Christum zu eigen machten“.


Drittes Kapitel. More und der Katholizismus

1. Mores Religiosität

More war ein Spötter, ein kritischer Kopf; aber zu dem Unglauben, den der Humanismus in Italien und Frankreich erreichte, ist er ebensowenig gekommen als ein anderer der englischen und deutschen Humanisten. Die ökonomische Entwicklung der germanischen Länder war im ganzen und großen hinter der der romanischen zurückgeblieben und damit auch die geistige Entwicklung. Und so wie der Humanismus überhaupt, war auch seine höchste Entwicklungsstufe, der heidnische Unglaube, ein Gemisch widersprechender Elemente. Der Unglaube des Humanismus war teils revolutionärer Trotz gegen die hergebrachte kirchliche Anschauung, teils die schlaffe Indifferenz einer verkommenden Klasse, die des kraftvollen Enthusiasmus spottete, den sie selbst in der Jugend entwickelt hatte, dessen sie aber längst nicht mehr fähig war. Am päpstlichen Hofe machte man sich in derselben Weise über den alten Glauben lustig, wie heute die „staatsmännischen“ Liberalen der demokratischen Illusionen ihrer Jugend spotten: nicht weil sie klüger geworden, sondern weil sie erschlafft sind.

Ein Unglaube so erbärmlicher Sorte mußte die nordischen „Barbaren“ anekeln und abstoßen, in denen die alte Produktionsweise noch urwüchsige Tatkraft und Begeisterungsfähigkeit erhalten hatte.

Selbst die freiesten Geister des Nordens blieben gläubig und fromm, und zwar um so mehr, je enthusiastischer sie waren. Dies sehen wir an Hutten, an Erasmus von Rotterdam, an More. Bei dem so energischen Charakter des letzteren grenzte die Frömmigkeit mitunter an Fanatismus und Aszetismus. Andeutungen davon haben wir bereits im Briefe des Erasmus empfangen. Zahlreiche weitere Beispiele davon könnten noch aus den Werken seiner katholischen Biographen beigebracht werden. Wir verzichten darauf, nicht nur, weil das Zeugnis des Erasmus genügt, sondern auch, weil schwer zu entscheiden ist, wo in den Berichten jener Biographen die Wahrheit aufhört und die Dichtung anfängt.

Den größten Einfluß auf More gewann unter den italienischen Humanisten Pico della Mirandola, dessen Lebensbeschreibung denn auch More aus dem Lateinischen ins Englische übersetzte, wie wir im vorhergehenden Kapitel gesehen. Pico, geboren 1462, gestorben 1494, war einer der wenigen italienischen Humanisten, die eine moralische und wissenschaftliche Reinigung der Kirche und ihrer Lehren sich zum Ziele setzten, einer der wenigen unter ihnen, die eine gewisse geistige Verwandtschaft mit den Reformatoren hatten, wenn sie diesen auch an Wissen und freiem Blick überlegen waren.

Den Päpsten galt Pico kaum viel weniger gefährlich, als der Reformator Savonarola. Nicht die ungläubigen Humanisten, die das Volk nicht verstand, gefährdeten ihre Ausbeutung, sondern die frommen, die es mit der Kirche ernst meinten, deren Denkart der des Volkes nahe stand und von ihm begriffen wurde.

Pico versuchte die christlichen Lehren zu reinigen, indem er sie auf den Stand des Wissens seiner Zeit zu bringen suchte. Zu diesem Behufe studierte er nicht nur das heidnische Griechentum, sondern war auch einer der ersten Christen, die das Hebräische wissenschaftlich-gründlich erlernten, um durch die mystische Philosophie der Kabbala den Geheimnissen des Christentums näher zu kommen. Die Ergebnisse seiner Studien legte er in seinen „neunhundert Sätzen“ nieder, in denen er unter anderem die Ewigkeit der Höllenstrafen und die Anwesenheit Christi im Abendmahle leugnete usw. Wäre Pico ein richtiger Reformator gewesen, das heißt ein Agitator, so wäre er um dieser Sätze willen wohl verbrannt worden. Da er nur ein Mann der Wissenschaft war, begnügte sich Papst Innozenz VIII. damit, die Schrift zu verbieten. Es war wie zur Zeit der seligen Zensur vor 1848, wo man sich wenig um Leute kümmerte, deren Bücher über zwanzig Bogen stark waren: je dünner das Buch, desto gefährlicher der Autor, desto strenger der Zensor.

Dieser halbe Ketzer Pico war Mores Ideal.
 

2. More ein Gegner der Pfaffenherrschaft

Schon Mores Verhältnis zu Pico beweist, daß er nicht der Pfaffenknecht war, zu dem ihn katholische wie protestantische Pfaffen gern stempeln möchten. Es ist richtig, er war in seiner Jugend in ein Kartäuserkloster gegangen und hatte längere Zeit dort mit frommen Übungen zugebracht. Aber was er dort sah, scheint ihm keinen allzu hohen Respekt vor den Mönchen beigebracht zu haben. Der Pfaffe Stapleton muß selbst zugestehen, daß More seine Absicht, Mönch zu werden, aufgab, da „die Geistlichen bei uns zu seiner Zeit ihre frühere Strenge und fromme Begeisterung eingebüßt hatten“. More hielt mit seinem Urteil über das Pfaffentum durchaus nicht zurück. Er wußte die Mönche zu höhnen, so gut wie irgend ein anderer Humanist.

Man höre zum Beispiel folgende Stelle aus dem ersten Buche der Utopia: Raphael Hythlodäus beschreibt ein Mahl bei dem Kardinal Morton, an dem unter anderen auch ein Witzbold, der die Stelle eines Hofnarren vertritt, und ein Bettelmönch teilnehmen. Es kommt die Rede darauf, was man mit den altersschwachen oder aus anderen Ursachen arbeitsunfähigen Bettlern anfangen soll. Der Narr meint: Ich gebe den Bettlern nie ein Almosen; „daher erwarten sie auch nichts von mir, in Wahrheit, nicht mehr, als wenn ich ein Priester wäre. [26] Aber ich will ein Gesetz machen, daß alle diese Bettler in Benediktinerklöster gesteckt und Laienbrüder werden sollen (fieri laicos ut vocant monachos), die Frauen mache ich zu Nonnen.“ Der Kardinal lächelte dazu und billigte den Vorschlag als Scherz, die anderen auch als Ernst. Ein Bruder Theolog aber wurde durch den Scherz von den Priestern und Mönchen so belustigt, daß auch er, sonst ein Mann von finsterer Strenge, zu scherzen begann. „Nein“, sagte er, „du wirst die Bettler nicht los, wenn du nicht auch für uns Bettelmönche Vorsorge triffst.“ „Für die ist schon gesorgt“, sagte der Schmarotzer, „denn der Kardinal selbst hat eine sehr gute Bestimmung für euch getroffen, indem er erklärte, Vagabunden sollten kurz gehalten und zur Arbeit gezwungen werden. Denn ihr seid die größten Vagabunden.“ – Der Pfaffe nimmt diesen Witz gewaltig übel. Ein Streit zwischen ihm und dem Narren entsteht, in dem More den Pfaffen so dumm erscheinen läßt, daß dieser unter allgemeinem Gelächter kläglich den kürzeren zieht. Natürlich endet der Pfaffe damit, dem Narren mit Gottes Zorn zu drohen: „Wenn die vielen, die den Elisäus verspotteten, der nur ein Kahlkopf war, seinen Zorn zu fühlen bekamen, wie viel fühlbarer muß er den treffen, der, ein Mann, die Menge der Mönche angreift, unter denen so viele Kahlköpfe! Und haben wir nicht eine Bulle des Papstes, die alle exkommuniziert, die uns verspotten?“

Der Kardinal bringt ein anderes Thema auf, um der Blamage des Pfaffen eine Grenze zu setzen. Damit endet die Episode, in der mit wenigen Worten die Dummheit, Faulheit und der Geiz der Mönche dem Gelächter preisgegeben werden.

Ebenso humoristisch ist ein Gedicht, das sich unter den lateinischen Epigrammen Mores befindet. Wir geben es, so gut es in holpriger Prosa geht, deutsch wieder.

Ein Sturm erhob sich, das Schiff schwankte,
Die Matrosen fürchten für ihr Leben!
Unsere Sünden, unsere Sünden, jammern sie entsetzt.
Haben dies Unheil über uns gebracht.

Ein Mönch war zufällig an Bord,
Sie drängen sich um ihn, zu beichten.
Doch das Schiff schwankt wie zuvor,
Und noch immer fürchten sie für ihr Leben.

Da schreit einer, klüger als die andern:
Das Schiff hat noch immer unsrer Sünden Last zu tragen,
Werft ihn hinaus, den Pfaffen, dem wir sie aufgeladen,
Und leicht wird das Schiff auf den Wellen tanzen.

Gesagt, getan: Alle packen an
Und werfen den Mann über Bord,
Und nun fliegt die Barke vor dem Wind
Mit leichtem Rumpf und erleichtertem Segel.

Und die Moral von der Geschicht:
Die Sünde hat ein schwer Gewicht.

Was wohl der fromme Cresacre More sich gedacht haben mag, wenn er las, wie sein „heiliger“ Urgroßvater sich über Beichte und Ablaß lustig machte?

Der Spott unseres „katholischen Märtyrers“ beschränkt sich nicht auf die niedere Geistlichkeit; auch die Bischöfe werden von ihm hergenommen. Namentlich einer, den er Posthumus nennt, ist die Zielscheibe des Witzes in seinen Epigrammen. In einem derselben (In Posthumum Episcopum) drückt More seine Freude darüber aus, daß besagter Posthumus zum Bischof gemacht worden, denn während die Bischöfe in der Regel aufs Geratewohl ohne Rücksicht auf ihre Befähigung ernannt würden, sei es augenscheinlich, daß man diesen mit besonderer Sorgfalt auserlesen habe. Man hätte unter Tausenden kaum einen schlechteren und dümmeren Bischof finden können. Im nächsten Epigramm (In Episcopum illiteratum) heißt es von demselben Bischof: er zitiere gern den Spruch: der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig; und doch sei Posthumus viel zu unwissend, als daß irgend welche Buchstaben ihn töten könnten; und hätten sie es getan, so besäße er keinen Geist, der lebendig mache.

Selbst der Papst erschien More nur als ein gewöhnlicher Sterblicher. 1510 schrieb Erasmus in Mores Haus und auf dessen Anregung hin sein Lob der Narrheit, an dem sich dieser höchlichst ergötzte, an dem er vielleicht auch mitarbeitete; das Manuskript wurde Erasmus von einem seiner Freunde, höchstwahrscheinlich von More selbst, heimlich weggenommen und nach Paris gesandt, wo es gedruckt wurde, 1511, und in wenigen Monaten sieben Auflagen erlebte. Es war eine ungemein kühne und übermütige Satire auf die ganze damalige Gesellschaft, namentlich aber auf das Mönchswesen und Papsttum. Es kam daher auch auf den Index der verbotenen Bücher. Trotzdem hat der selige Märtyrer seinen Anteil daran nie bedauert.

Doch wir bedürfen nicht eines solchen indirekten Beweises, um Mores Stellung zum Papsttum kennen zu lernen. Wir haben einige Aussprüche von ihm aus der Zeit nach dem Beginn der Reformation, wo der Kampf gegen den Protestantismus bereits More enger an das Papsttum anschließen mußte. Trotzdem schreibt er zum Beispiel in seiner Widerlegung von Tyndalls Antwort (1532), daß ein allgemeines Konzil über dem Papst stehe, daß es den Papst ermahnen und strafen, ja, wenn er sich unverbesserlich zeige, schließlich absetzen könne (S. 621).

Ebenso bezeichnend wie diese Stelle ist folgendes:

Als die Reformation begann, erklärte sich Heinrich VIII. von England entschieden gegen sie und für den Papst. Und er veröffentlichte sogar ein Buch gegen Luther über die sieben Sakramente. [27] Es erschien unter seinem Namen (1521), aber es war, was in solchen Fällen nicht selten vorkommen soll, von anderen Leuten geschrieben worden. Mitunter wurde More für den Verfasser gehalten, er hatte aber nur geringen Teil daran. Als Heinrich VIII. sich vom Papsttum lossagte, war ihm dieses Buch natürlich höchst unbequem. Die Verfasser seines Buches wurden jetzt Hochverräter.

Unter anderen Anklagen, die gegen More erhoben wurden, nachdem er sein Amt als Lordkanzler niedergelegt (1532), war auch die, er habe „durch seine verworfenen Ränke den König ganz widernatürlich dahin gebracht, ein Buch zur Verteidigung der sieben Sakramente und der päpstlichen Autorität herauszugeben, und habe so den König veranlaßt, zu seiner Unehre dem Papst eine Waffe gegen sich selbst in die Hand zu drücken“.

Das Komischste bei dieser moralischen Entrüstung des armen verführten Königs ist der Umstand, daß dieser ganz ruhig zehn Jahre lang sich selbst als den Verfasser ausgegeben und alles Lob des Buches für sich in Anspruch genommen hatte. Der Papst hatte Heinrich dafür den Titel eines „Verteidigers des Glaubens“ (defensor fidei) erteilt und allen Lesern des Buches einen Ablaß gewährt.

Nun war das Buch ein schändliches Machwerk geworden und More sollte dafür büßen. Dieser erwiderte auf die Anklage (nach Roper):

„Mylords, mit solchen Drohungen kann man Kinder schrecken, nicht mich. Um aber Ihre Hauptanklage zu beantworten, so glaube ich nicht, daß des Königs Hoheit mich je damit belasten wird. Niemand kann mich in diesem Punkte besser entlasten als seine Hoheit selbst, der sehr gut weiß, daß ich bei der Verfassung des Buches in keiner Weise zu Rate gezogen wurde, sondern dasselbe auf Befehl seiner Hoheit und mit Einwilligung der Verfasser bloß zu redigieren hatte (only a sorter out and placer of the principall matter therein contayned), nachdem es vollendet war. Und da ich fand, daß darin des Papstes Autorität stark betont und gar sehr verteidigt wurde, sagte ich seiner Hoheit: ‚Ich muß Eure Hoheit daran erinnern, daß der Papst, wie Eure Hoheit weiß, ein Fürst ist, wie Sie, und in einem Bündnis mit den anderen christlichen Fürsten steht. Es mag daher kommen, daß Eure Hoheit und er über verschiedene Punkte des Bündnisses in Zwiespalt geraten und einander den Krieg erklären. Ich halte es daher für das beste, daß die betreffende Stelle geändert und die Autorität des Papstes weniger stark betont werde.‘ ‚Nein’, erklärte Seine Hoheit, ‚das soll nicht geschehen. Wir sind dem römischen Stuhle so tief verpflichtet, daß wir ihm nicht zu viel Ehre erweisen können.‘ Ich erinnerte ihn nun an das Statut Prämunire, durch das ein gut Teil des päpstlichen Hirtenamtes für England beseitigt worden ist. Darauf antwortete Seine Hoheit: ‚Was immer dagegen sprechen mag, wir wollen diese Autorität so stark als möglich hinstellen, denn wir haben von ihr unsere königliche Krone erhalten’, was ich nie gehört hatte, ehe es mir Seine Hoheit nicht selbst mitteilte.“

Die Anklage fiel ins Wasser. Weder Heinrich selbst, noch sonst jemand hat je die Richtigkeit der Behauptungen Mores bestritten. Wir dürfen sie also als richtig annehmen. Wir sehen aber deutlich aus ihnen, ebenso wie aus der mitgeteilten Stelle in der Widerlegung Tyndalls, daß More weit entfernt war, eine sklavische Verehrung für das Papsttum zu fühlen. Er sah in ihm, wie wir noch im nächsten Kapitel nachweisen wollen, ein internationales Bindemittel, ohne das die Christenheit in ein Chaos einander feindlicher Nationen zerfallen würde. Er verteidigte jedoch die Rechte der einzelnen Nationen wie der gesamten Kirche gegenüber dem Papste, der in seinen Augen nichts war als ein absetzbarer Präsident der Christenheit.
 

3. Mores religiöse Toleranz

Wie frei More in religiösen Dingen dachte, ersieht man am besten aus der Idealreligion, die er seinen Utopiern beilegte. Wir werden sie im dritten Abschnitt unserer Schrift kennen lernen. Hier sei nur noch eines charakteristischen Zuges gedacht, durch den More den Katholizismus wie den Protestantismus seiner Zeit weit überragte, und den er nur mit wenigen Zeitgenossen teilte: seiner religiösen Toleranz. Er proklamierte sie nicht nur vor der Reformation in seiner Utopia, sondern auch inmitten der erbittertsten Kämpfe zwischen Protestanten und Katholiken, als allerorten Scheiterhaufen zur Verbrennung der „Ketzer“ rauchten. Und er proklamierte sie nicht bloß, er übte sie auch.

Stapleton (S. 215) findet es sehr sonderbar, daß sein katholischer Heiliger Lutheraner in seinem Hause aufnahm.

Simon Grynäus, ein Schüler und Anhänger Melanchthons, kam nach England, um Materialien zu seiner Übersetzung des griechischen neuplatonischen Philosophen Proklus zu sammeln. Dabei wurde er von More, der damals Lordkanzler war, so sehr unterstützt, daß er die Übersetzung Mores Sohne Johannes widmete, da Thomas More vor ihrer Fertigstellung als Märtyrer für den katholischen Glauben gestorben war. Die Widmung teilt uns Stapleton mit. Sie erscheint uns wichtig für die Kennzeichnung Mores. Es heißt darin:

„Dein herrlicher Vater, der damals seiner Stellung wie seinen ausgezeichneten Eigenschaften nach der Erste des ganzen Reiches war, hat mir, einem unbekannten Privatmann, um der Studien willen Zutritt zu vielen öffentlichen und privaten Instituten verschafft, hat mich zu seinem Tischgenossen gemacht, er, der das königliche Zepter trug, und mich an seiner Seite mit an den Hof genommen. Aber mehr noch: milde und gütig bemerkte er, daß meine religiösen Ansichten in nicht wenigen Punkten von den seinen abwichen, was er sich von vornherein denken konnte. Aber trotzdem blieb seine Fürsorge für mich die gleiche, und er richtete es sogar so ein, daß er alle meine Auslagen aus eigener Tasche bestritt. Auch gab er mir einen gelehrten jungen Mann, Johannes Harris, als Reisebegleiter mit und einen Empfehlungsbrief an die Vorsteher der gelehrten Schule zu Oxford, der wie eine Wünschelrute wirkte und mir nicht nur alle Bibliotheken, sondern auch alle Herzen erschloß. Alle Bibliotheken, deren die Schule ungefähr zwanzig besitzt, wohlgefüllt mit wichtigen alten Büchern, stöberte ich durch und nahm mit der Einwilligung der Vorsteher nicht wenige von solchen, die über Proklus handelten, mit mir heim, so viel ich glaubte in ein bis zwei Jahren durcharbeiten zu können. Hocherfreut über diesen Schatz und von Deinem Vater reich beschenkt und mit Wohltaten von ihm überhäuft, verließ ich England.“

Dies ereignete sich mehr als ein Jahrzehnt nach der Kriegserklärung Luthers gegen Rom.

Protestantische wie liberale Schriftsteller haben More trotzdem zu einem Ketzerverfolger stempeln wollen. So schrieb zum Beispiel Voltaire über ihn:

„Fast alle Geschichtschreiber, und namentlich die katholischen Glaubens, betrachten übereinstimmend Thomas More oder Morus als tugendhaften Mann, ein Opfer der Gesetze, als einen Weisen, voll von Milde, Güte und Wissen; aber in Wirklichkeit war er ein abergläubischer und barbarischer Verfolger.“ Er habe verschiedene Leute wegen ihres Glaubens martern und verbrennen lassen. „Für diese Grausamkeiten, und nicht für seine Leugnung der kirchlichen Obergewalt Heinrich VIII., verdiente er die Todesstrafe. Er starb scherzend: besser wär’s gewesen, er hätte einen ernsthafteren und weniger barbarischen Charakter besessen.“ (Essai sur les moeurs et l’esprit des nations, 135. Kapitel: über den König Heinrich VIII. und die Revolution der Religion in England)

Neben der freidenkerischen Stimme aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts sei noch eine protestantische aus der zweiten Hälfte des neunzehnten erwähnt, die des Herrn James Anthony Froude in seiner History of England from the Fall of Wolsey to the Defeat of the Spanish Armada, London 1870, in der die Geschichte der englischen Reformation vom plattesten protestantischen Bourgeoisstandpunkt aus zurechtgerichtet wird. Derselbe Herr, der über die angeblichen „Ketzerverfolgungen“ Mores so entrüstet ist, hält es für seine Aufgabe, die Hinrichtung Mores zu rechtfertigen und zu erklären, Hinrichtung auf den geringsten Verdacht hin, „gesellschaftsgefährliche“ Ansichten (opinions subversive of society) zu hegen, könne auch noch im neunzehnten Jahrhundert mitunter notwendig werden. 1848 sei England nicht weit von dieser Notwendigkeit entfernt gewesen. Sie wäre eingetreten, wenn sich die englischen Chartisten mit den „Mördern“ und „Rebellen“ in Paris in Verbindung gesetzt hätten. Welches Geheul über „blutdürstige Hyänen“ wohl Herr Froude angestimmt hätte, wenn die „Rebellen“ in Paris 1848 nach seinem Rezept, aber in ihrem Interesse vorgegangen wären? Das Hinüberschießen im Kriege wäre ganz schön, wenn nur das verdammte Herüberschießen nicht wäre!

Den Beweis für die angebliche Intoleranz Mores bildet neben einigen unbewiesenen Behauptungen protestantischer Klatschbrüder seine von ihm selbst verfaßte Grabschrift, in der es heißt: „Furibus, homicidis, haereticis molestus“, „er setzte Dieben, Mördern und Ketzern arg zu“. Die Zusammenstellung ist für die „Ketzer“ nicht sehr schmeichelhaft, das „molestus“ schließt aber keineswegs notwendig eine Bekämpfung mit anderen als geistigen Waffen in sich. An einer solchen ließ es More freilich nicht fehlen. Unter Toleranz verstand er, daß man den Gegner nicht mit „schlagenden“ Gründen mundtot machen solle. Daß es aber Intoleranz sein sollte, wenn man seine ganze geistige Kraft aufbietet, um seine Überzeugung zur Geltung zu bringen und die des Gegners zu erschüttern, das wäre More nie eingefallen. Er war eine viel zu energische Kampfesnatur, um Rücksichten vom Gegner zu verlangen, er fühlte sich aber auch nicht bemüßigt, seine eigenen Waffen abzustumpfen. Seine Hiebe saßen. Alte Weiber mögen darüber in moralische Entrüstung geraten und ebenso über die „leichtfertige“ und „rohe“ Sprache, die More führte. Unser schwächliches und heuchlerisches Zeitalter mag wohl Anstoß nehmen an der Derbheit, mit der die Geisteskämpfe damals ausgefochten wurden, und die in der Hitze des Gefechtes mitunter weiter ging, als auch den weniger Prüden unter uns gefallen mag. Ein Beweis der Intoleranz ist diese Sprache für sich allein noch lange nicht.

Wie weit More aber die Ketzer verfolgte, erzählt er uns selbst in seiner Apology, geschrieben 1533, nachdem er seine Stelle als Lordkanzler aufgegeben. Seine Darlegungen machen den Eindruck der vollsten Wahrheit, werden durch die Tatsachen bestätigt, soweit diese von anderer Seite her bekannt sind, und verdienen schon darum vollen Glauben, weil More kein Interesse daran hatte, die Wahrheit zu entstellen und eine bewußte Lüge ihm ganz unähnlich sieht. Bald nach der Abfassung seiner Apology ging er in den Tod, weil er keine Lüge aussprechen wollte!

Er sagt in der genannten Schrift unter anderem:

„Es ist nicht unbekannt, welche Art von Gunst ich dem Klerus zuwandte, als ich im Rate des Königs saß, als ich Kanzler des Herzogtums Lancaster, namentlich aber, als ich Reichskanzler war. Lobte und ehrte ich die Guten, so war ich nicht lässig in der Bestrafung der Nichtsnutzigen, die den anständigen Leuten Ärgernis gaben und ihrem Stande zur Schande gereichten. Diejenigen, die den Geboten der Religion zuwiderhandelten, Diebe und Mörder wurden, fanden so wenig Gnade vor mir, daß sie niemanden mehr fürchteten als mich.“

Nachdem er so sein Verhältnis zum damaligen katholischen Klerus, damit aber auch diesen selbst, gekennzeichnet, geht er auf die Behauptung über, er sei ein Ketzerverfolger gewesen:

„Verschiedene unter ihnen (den Lutheranern) haben gesagt, daß ich als Kanzler Leute meines Gesindes peinlich zu befragen pflegte, indem ich sie in meinem Garten an einen Baum binden und jämmerlich durchprügeln ließ. Dieses Märchen haben manche dieser sauberen Brüder so herumgeklatscht, daß ein braver Freund von mir allgemein davon reden hörte. Was werden diese Brüder nicht noch erzählen, wenn sie schamlos genug sind, so etwas zu behaupten? Allerdings ließ ich dergleichen mitunter durch die Beamten oder die Verwaltung eines der Gefängnisse vornehmen, wenn es sich um einen großen Raub, einen scheußlichen Mord oder eine Kirchenschändung handelte, Diebstahl der Monstranz mit dem Allerheiligsten oder dessen böswillige Entfernung ... Aber wenn ich so verfuhr mit Dieben, Mördern und Kirchenräubern, so habe ich doch niemals in meinem Leben Ketzern um ihres Glaubens willen etwas zuleide getan, zwei Fälle ausgenommen.“

Diese zwei Fälle werden nun eingehend erzählt. Das eine Mal handelte es sich um einen Jungen im Dienste Mores, der einen anderen Jungen in dessen Hause anlernen wollte, das Sakrament des Altars zu verspotten. Dafür ließ ihm More, „wie man Knaben zu tun pflegt“, vor den versammelten Hausbewohnern von einem Diener einige Hiebe auf die Hosen applizieren. Die andere „Ketzerverfolgung“ traf einen verrückten Kerl, der schon einmal in der Irrenanstalt Bedlam gewesen war und dessen Hauptvergnügen darin bestand, Messen zu besuchen und während der „heiligen Handlung“ lautes Geschrei zu erheben und Skandal anzufangen. More ließ ihn, als er einmal bei seinem Hause vorbeiging, vom Konstabler greifen, an einen Baum in der Straße binden und mit einer Rute prügeln.

Diese zwei Prügelstrafen waren sicherlich harmlos in einer Zeit, wo man gleich bei der Hand war, Ketzer und Hexen ohne viel Federlesens zu verbrennen.

More fährt fort:

„Von allen denen, die mir wegen Ketzerei übergeben wurden, hat kein einziger, so wahr mir Gott helfe, einen Schlag oder Streich erhalten, nicht einmal einen Nasenstüber. Alles, was mir meine Amtspflicht auferlegte, war, sie in sicherem Gewahrsam zu halten – nicht in so sicherem, daß es nicht Georg Konstantin gelungen wäre, sich wegzustehlen.“

Die Lutheraner behaupten, More sei über des Mannes Flucht außer sich vor Wut gewesen. Aber in Wirklichkeit gab er niemandem ein böses Wort deswegen, nicht einmal dem Torwächter, dem er sagte:

„‚John, sorge dafür, daß die Gitter wieder gerichtet und fest verschlossen werden, sonst schleicht sich am Ende der entwischte Gefangene wieder ein.’ Was Konstantin getan (nämlich das Durchgehen), das hat er mit Recht getan. Niemals werde ich so unvernünftig sein, einem Manne zu zürnen, wenn dieser seine Stellung wechselt, weil ihm das Sitzen unbequem geworden ist.“

Alle anderen Geschichten von seinen Grausamkeiten gegen Ketzer und dergleichen erklärt More für erlogen:

„Was die Ketzer anbelangt, so mißverstehe man mich nicht. Ich hasse ihre Irrtümer, nicht ihre Personen; ich wünschte, jene würden vernichtet, diese geschont.“

Noch ein Absatz aus dieser Schrift sei zitiert, der für die Art und Weise bezeichnend ist, wie More religiöse Dinge behandelte: „Und laßt uns zu dem letzten Fehler kommen, den die Brüder an mir rügen: dem, daß ich unter die ernstesten Dinge Schnurren und Witze und lustige Anekdoten mische. Horaz sagt: ridentem dicere vernum (quid vetat) – warum soll man nicht lachend die Wahrheit sagen? Und einem, der nur ein Laie ist, wie ich, mag es besser anstehen, in heiterer Weise seine Ansichten vorzubringen, als ernst und feierlich zu predigen.“

More hatte recht, ein Prediger im Sinne des neueren Katholizismus war er nicht. So oft er sich auch bemüht, in seinen polemischen religiösen Schriften ernsthaft zu bleiben, der Schalk blickt immer wieder durch. Nichts amüsanter zu lesen als manche Stellen seiner Supplication of Souls (Bittschrift der armen Seelen) aus dem Jahre 1529, einer Polemik gegen die Flugschrift: Supplication of beggars (Bittschrift der Bettler), die bei einer Prozession verbreitet worden war, gerichtet an Heinrich VIII., der aufgefordert wurde, die frommen Stiftungen einzuziehen, um dadurch dem arbeitslosen Proletariat aufzuhelfen. Unter anderem verlangte Fishe, der Verfasser, die Geistlichen sollten aus den Klöstern vertrieben, mit Peitschenhieben zur Arbeit gezwungen und verheiratet werden: so werde die Produktion und die Bevölkerung des Landes vermehrt werden. More lachte ungemein über den Vorschlag:

„Man denke nur, eine Bittschrift an den König einreichen, damit die Geistlichkeit beraubt, geplündert, gefesselt, gehauen und – verheiratet werde! Wie der Mann über das Heiraten denkt, kann man daraus ersehen, daß er es als das letzte dieser Übel anführt, und fürwahr, wenn er es für etwas Gutes hielte, würde er es der Geistlichkeit nicht wünschen.“

More kommt dann auf das Fegefeuer zu sprechen, dessen arme Seelen zu kurz kämen, wenn die Stiftungen aufgehoben würden, so daß niemand da sei, der für sie bete. Und welche Qualen erleiden nicht die armen Seelen! Man denke nur, sie sind verdammt, all den Blödsinn anzusehen, der auf der Welt vorgeht. Und wie schnell ist ein Verstorbener vergessen! Da muß der Mann im Fegefeuer zusehen, wie seine Frau schleunigst einen anderen heiratet und die Kinder lustig sind und niemand mehr des Vaters gedenkt, der so schnell vergessen ist wie ein weggeworfener alter Schuh. Nur mitunter gedenkt das Weib des verstorbenen Gatten, wenn sie sich gerade mit dem zweiten Gatten gezankt hat.

In seiner Confutation of Tyndales Answer läßt er den protestantischen Prediger Barnes vor versammelter Gemeinde mit zwei Frauen disputieren, einer Kaufmannsfrau und der Flaschenwirtin von Botolphs Wharf. Es handelt sich um die Zeichen, an denen der wahre Priester Christi zu erkennen sei. Barnes gibt als solche an, daß er die wahre Auslegung der heiligen Schrift gebe und nach der Schrift lebe. Darauf ruft die Wirtin:

„Beim heiligen Dreckfink (malkin)! Vater Barnes, alle die Zeichen, von denen du sprichst, halten den Vergleich nicht aus mit meinem Wirtshauszeichen oder einem Senfladenzeichen. Wo ich das eine sehe, bin ich sicher, warme Semmeln zu kriegen, und wo das andere, einen Senftopf. Aber deine beide Zeichen geben mir nicht die geringste Sicherheit, nicht für einen Heller!“

In dieser Weise sind Mores „theologische“ Abhandlungen gehalten. Daß sie gegen Schluß seines Lebens weniger heiter sind und mitunter einen ekstatischen und fanatischen Zug aufweisen, daß er in ihnen Dinge sagt, die seinen früheren Prinzipien widersprechen, wie er sie etwa in der Utopia geäußert, ist richtig. Die Untersuchung darüber, wieso diese Umwandlung gekommen, gehört mehr in das Gebiet der Psychologie als der Geschichte: daß ein Feuergeist, wie More, in der Hitze des Gefechts über die Schnur haut und Dinge behauptet, die seinem früheren Standpunkt widersprechen, daß er sich in die Feindschaft gegen seine Widersacher verbeißt und Anwandlungen von Fanatismus bekommt, daß schließlich Schriften, die im Kerker in der Erwartung des Todes geschrieben wurden, einen ekstatischen Charakter tragen, dürfte kaum jemand anderer, als ein gegnerischer Pfaffe anstößig finden. Wir überlassen es den katholischen und protestantischen Pfaffen, ihre Materialien für oder wider More aus diesen Schriften zu schöpfen. Für uns sind sie höchstens von pathologischem Interesse, die wir nur vom Sozialisten, dem Denker More handeln. Die theologische Literatur Mores erklärt sich fast von selbst, sobald wir verstehen, warum More auf die katholische und nicht auf die protestantische Seite trat. Sobald er sich für die erstere entschieden hatte, war alles Folgende nur die natürliche Konsequenz dieses Schrittes. Die Gründe aber, warum er dem Protestantismus entgegentrat, waren nicht dogmatischer, nicht theologischer, sondern politischer und ökonomischer Natur; zum Teil dieselben Gründe, die im allgemeinen den Humanismus bewogen, sich auf die katholische Seite zu schlagen, und die wir im ersten Abschnitt berührt haben. Aber diese Gründe nahmen bei More infolge lokaler und persönlicher Einwirkungen eine ganz eigentümliche Gestaltung an. Wir werden sie im folgenden näher kennen lernen.


Viertes Kapitel. More als Politiker

1. Die politische Lage Englands am Anfang des sechzehnten Jahrhunderts

Wir haben die allgemeine politische Situation Europas im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert bereits im ersten Abschnitt gekennzeichnet. Einige Worte genügen, darzulegen, in welcher Gestaltung diese Situation in England speziell zum Ausdruck kam.

Von den mittelalterlichen Ständen waren am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts die zwei mächtigsten der Krone fast völlig unterworfen: der Adel und die Kirche. Der Gang der allgemeinen Entwicklung, der damals, wie wir gesehen, dahin ging, diese beiden Stände zu schwächen, wurde in England durch einige besondere Umstände gefördert. Die Macht des Feudaladels erhielt einen furchtbaren Stoß durch den Bürgerkrieg zwischen der weißen und der roten Rose. Die englischen Barone, raubgierig gleich ihren Vorfahren, hatten zuerst im „heiligen Land“, dann in Frankreich Beute und Land und Leute zu erwerben gesucht. Als ihnen diese Ausbeutungsobjekte verschlossen wurden, als das „heilige Land“ für die Christenheit und später Frankreich für England verloren gingen, da blieb den englischen Baronen nichts übrig, als sich untereinander um das einzige Ausbeutungsobjekt zu raufen, das ihnen geblieben war: um Land und Leute von England.

1453 war von ganz Frankreich nur noch Calais in den Händen der Engländer. Die ganze Menge adeliger englischer Ausbeuter, die wenige Jahre zuvor noch reichen Gewinn aus den eroberten Ländern gezogen hatte, sah sich plötzlich wieder auf den engen Raum des „teuren Vaterlandes“ zusammengedrängt. Eine „Übervölkerung“ von Ausbeutern begann. Der Ertrag der Ausbeutung war zu gering für sie alle, wenn sie das verschwenderische Leben fortsetzen wollten, das sie sich infolge der Ausbeutung Frankreichs angewöhnt hatten. Die natürliche Folge dieser „Übervölkerung“ war ein „Kampf ums Dasein“, die Spaltung des englischen Adels in zwei feindliche Fraktionen, die unter dem Vorwand, die Ansprüche des Hauses York oder die des Hauses Lancaster auf die Krone Englands zu verteidigen, sich gegenseitig abschlachteten und ausplünderten. Der Krieg der weißen und der roten Rose, der Anhänger der Häuser York und Lancaster, war anscheinend ein „Kampf ums Recht“, nämlich um das Recht auf den Thron, ungefähr in der Weise, wie der Kampf zwischen Schutzzöllnern und Freihändlern ein Kampf für die „Rechte des armen Mannes“ ist. In Wirklichkeit war er ein Kampf zweier Ausbeutungsfraktionen um das Ausbeutungsobjekt, und daher von einer kolossalen Erbitterung und Grausamkeit begleitet. Beide Parteien nahmen den Grundsatz an, keinem Adeligen Pardon zu geben, und diejenigen der vornehmen Herren, die nicht auf dem Schlachtfelde umkamen, fielen unter dem Schwerte der Henker der jeweilig siegreichen Partei. In diesem furchtbaren Gemetzel, das ein Menschenalter lang dauerte (von 1452, dem endgültigen Verlust der französischen Besitzungen an, bis 1485), ging fast der ganze Adel zugrunde, dessen so erledigter Grundbesitz dem König zufiel, der damit einen neuen Adel schuf, welcher weder die Macht noch die Befugnisse des Feudaladels hatte. Wohl sollte der englische große Grundbesitz wieder eine Macht werden, die es wagen konnte, dem Königtum zu trotzen, es von sich abhängig zu machen. Dies war aber noch nicht der Fall in der Zeit von Thomas More, der sieben Jahre vor der Beendigung des Bürgerkrieges zur Welt kam. Die hohen Adeligen aus der Zeit Mores waren fast alle Kreaturen des Königtums, verdankten dem herrschenden König oder dessen Vater ihr Besitztum und waren daher vollkommen von ihm abhängig.

So wie der Adel war auch der Klerus zum Diener des Monarchen herabgesunken. Vielleicht keine andere Monarchie Europas war so abhängig vom Papsttum gewesen, als England, nach der Eroberung durch die Normannen (1066). Diese hatten das Land mit Hilfe der Kirche gewonnen, dafür bekannte sich der siegreiche Normannenherzog Wilhelm der Eroberer, der nun Englands König wurde, als Lehensmann des Papstes. Und später wieder, im Jahre 1213 mußte Johann ohne Land sein Königtum vom Papst als Lehen gegen einen jährlichen Zins von 1.000 Mark (1 Mark = 2/3 Pfund Silber) nehmen. Die normannische Feudalmonarchie in England hatte alle Ursache, zur Größe und Macht des Papsttums beizutragen, solange der englische Adel hoffen durfte, daß die Kreuzzüge ihm das reiche Plünderungsobjekt des Orients offen hielten. Als die Aussichten darauf gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts immer geringer wurden, trat die Ausbeutung Frankreichs für die englischen Ritter und Barone in den Vordergrund; – gleichzeitig bekamen die englischen Kaufleute ein Interesse an der Erwerbung französischer Besitzungen, mit denen sie einen einträglichen Handel trieben, den sie durch keine Zölle und Schikanen gehindert sehen wollten [28] –: im Kampf gegen Frankreich war aber der Papst nicht Bundesgenosse, sondern Gegner der Engländer; hatte ihn doch Frankreich im vierzehnten Jahrhundert völlig zu seinem Werkzeug gemacht! Diese Gegnerschaft zeitigte die papstfeindliche Stimmung in England rascher, als in den anderen nichtromanischen Ländern, sie verstärkte das Gewicht der Einflüsse, die in allen vom Papsttum ausgebeuteten Gebieten seit dem vierzehnten Jahrhundert in immer steigendem Maße das Streben nach Unabhängigkeit von Rom hervorriefen. Diese Gegnerschaft gegen das Papsttum nahm wie später in Deutschland so auch in England, zwei einander feindliche Gestaltungen an, je nach den Klassen, von denen sie getragen wurde: auf der einen Seite eine demokratische, ausgehend von Bauern, Handwerkern, mitunter auch niederen Adeligen. Auf der anderen Seite eine monarchische, ausgehend vom Königtum, dessen Kreaturen und den Handelsleuten. Die erstere Richtung lehnte sich an die Lehren von Wiklif (1324 bis 1484) an und entwickelte die Sekte der Lollharden. Die monarchische Richtung begnügte sich damit, ohne an den Dogmen der Kirche zu rütteln, durch Parlamentsbeschlüsse die Ausbeutung und Macht des Papsttums erheblich einzuschränken, ja fast völlig zu beseitigen. Schon 1360 faßte das Parlament dahinzielende Beschlüsse. 1390 wurde jedem Engländer bei Verlust von Gut und Leben verboten, irgend eine Pfründe von einem Ausländer anzunehmen oder für ihn zu verwalten oder Geld außer Landes zu senden. Und als sich die Päpste daran nicht kehrten, erhielten diese Bestimmungen besondere Bekräftigung durch das Statut Prämunire, das ein Grundgesetz der englischen Verfassung geworden ist. Von den Königen hing es ab, ob und inwieweit dies Statut ausgeführt werden sollte. Sie waren dadurch fast völlig vom Papsttum unabhängig geworden, auf das sie durch die Drohung, das Statut Prämunire streng durchzuführen, jederzeit einen starken Druck ausüben konnten. Die Tage waren aber längst vorbei, wo der nationale Klerus, unabhängig vom Papste, über das Königtum gebieten konnte. Er konnte sich der Abhängigkeit vom Papsttum nicht entziehen, ohne der Abhängigkeit vom König zu verfallen. In dem Maße, in dem die Macht des Papstes in England sank, in demselben Maße wurde der Klerus Diener des Königs.

Die Türkengefahr trug nicht dazu bei, dem Papsttum erneute Bedeutung in England zu verschaffen. Dies Land war dasjenige in Europa, welches am wenigsten von den Türken zu fürchten hatte.

So kam es, daß zu Mores Zeit Adel und Klerus Englands untertänige Diener des Königtums waren und diesem eine absolute Macht verliehen, wie es sie damals in keinem anderen Lande Europas besaß.

Aber mit dem Königtum waren auch Bürger und Bauer emporgekommen. Wir haben im ersten Abschnitt schon gezeigt, daß in Europa im allgemeinen die Bauern am Ende des dreizehnten und Anfang des vierzehnten Jahrhunderts ihre Lage wesentlich verbesserten. Die Leibeigenschaft war im Schwinden, die persönlichen Dienste wurden mitunter ganz aufgehoben, oft durch Geldgaben ersetzt, eine Umwandlung, die auch für die Grundherren manche Vorteile bot. An Stelle der Arbeit der Leibeigenen im Fronhof trat die von bezahlten Knechten, von Lohnarbeitern. Allein die Zahl der Leute, die gezwungen waren, sich um Lohn zu verdingen, war damals noch gering [29]; die Löhne waren hoch. Geringe Ursachen reichten hin, die Löhne rasch zu steigern. Eine Reihe von Umständen, wie die Verheerungen der Pest, des „schwarzen Todes“, der 1348 sich zuerst in England zeigte, das Aufblühen neuer Industrien, die zahlreiche Arbeitskräfte in die Städte lockten – so das der Wollenweberei im vierzehnten Jahrhundert in Norwich – oder die auf dem Lande eine Hausindustrie erzeugten und dadurch die Zahl der sich anbietenden Lohnarbeiter verringerten, ferner Kriege, die Söldner anzogen – alles das wirkte dahin, daß die Löhne der Arbeiter in England in der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts im allgemeinen um 50 Prozent, vorübergehend um viel mehr stiegen.

Die Grundherren gerieten in Verzweiflung. Sie versuchten durch Parlamentsakte die Arbeiter zur Arbeit zu zwingen und die Löhne herabzudrücken. Das erste dieser Statutes of Labourers stammt aus dem Jahre 1349. Aber diese Gesetze genügten den Landjunkern nicht. Diese versuchten direkt, die Arbeiter und Bauern wieder unter das Joch der Leibeigenschaft zu beugen. Schließlich war der Druck nicht länger zu ertragen. Arbeiter und Bauern erhoben sich unter Wat Tyler, 1381. Die Rebellion hatte keinen direkten Erfolg. Ihr Führer wurde durch Verrat erschlagen, die Insurgenten verliefen sich wieder, ihre Rädelsführer wurden hingerichtet, die Lollhardie wurde grausam verfolgt: aber die Rebellion hatte den Grundherren einen heilsamen Schreck eingejagt; sie ließen ab von ihren Versuchen, die Bauern und Arbeiter zu zwingen. Die Bürgerkriege des fünfzehnten Jahrhunderts brachen den Feudalismus vollends.

Ein trotziger, selbstbewußter, kräftiger Stand freier Bauern entwickelte sich so in England. Diese Bauern waren es, die seine Heere furchtbar machten, vom vierzehnten bis ins siebzehnte Jahrhundert, sie waren es, an denen der Anprall der französischen Ritter sich brach, wie später der der Kavaliere der Stuarts.

Sie bildeten ein Material, das der königlichen Gewalt sehr gefährlich werden konnte, wenn sich eine Klasse fand, die es in diesem Sinne zu benutzen verstand. Ohne Verbindung mit einer anderen Klasse war der Bauer ungefährlich; er hatte keine politischen, nationalen Bestrebungen, sein Interesse ging nicht viel über den Bereich der Gemeinde, kaum über den des Kantons (County) hinaus. Wenn man ihn in diesem Bereich in Ruhe ließ, war er zufrieden.

So viel Freiheitsgefühl der englische Bauer auch hatte, so war er doch unter Heinrich VII. und Heinrich VIII., das heißt zur Zeit Mores, kein Hindernis für den königlichen Absolutismus. Er war diesem gegenüber indifferent, ja eher noch freundlich gesinnt, da er in ihm eine Schutzwehr gegen die Übergriffe der großen Grundeigentümer sah, die zu Mores Zeit begannen, und von denen wir unten noch handeln werden.

Ebensowenig als durch die Kräftigung des Bauernstandes erlitt das Königtum Abbruch durch die rasche Zunahme der Macht des Bürgertums. Der eine der beiden Stände, aus denen es bestand, die Handwerker, waren damals allerdings ein unruhiges Element, trotzig und selbstbewußt und den Kampf nicht scheuend. Neben den Bauern lieferten sie zahlreiche Rekruten für die Lollhardie. Aber so wie der Bauer lebte und webte auch der Handwerker, wenigstens der der Landstädte, viel mehr in seiner Gemeinde als im Staate, und so rebellisch und zäh er auch in Gemeindeangelegenheiten sein konnte, auf die Reichsangelegenheiten nahm er keinen dauernden Einfluß. Auch war das zünftige Handwerk zu Mores Zeit bereits in manchen Landstädten im Sinken begriffen und verkam in diesen so rasch, daß schon unter Heinrichs VIII. Nachfolger, Eduard VI., dessen Vormünder es wagen konnten, die Gilden auszuplündern, das Gildenvermögen ebenso für die Krone zu konfiszieren, wie Heinrich VIII. schon die Kirchengüter konfisziert hatte. Es war das in der Zeit, in der die Grundlagen zur Heiligkeit der modernen Eigentumsform gelegt wurden.

Diese Konfiskation wurde allerdings nur in den Landstädten durchgeführt, nicht in London. Die Gilden dieser Stadt wagte man nicht anzutasten. Die Bürger Londons waren zu Mores Zeit eine Macht, vor der die englischen Könige mehr Respekt hatten, als vor Kirche, Adel, Bauern und Landstädten. Die zentralisierende Tendenz des Handels, die wir im ersten Abschnitt dargetan, hatte sich nirgends in Europa so früh und so weit geltend gemacht, wie in Frankreich und England, zwei Staaten, die auch am frühesten zu Nationalstaaten geworden sind. Paris und London sind die ersten Städte gewesen, die das ganze ökonomische Leben ihrer Länder sich dienstbar machten, deren Herren die tatsächlichen Herren des Landes waren.

Mit Recht sagt Rogers:

„London war ohne Zweifel von den frühesten Zeiten an ganz anders als jede andere englische Stadt, sowohl in bezug auf Größe wie auf Reichtum, wie auf seine besondere Bedeutung, seine militärische Macht und die Energie, mit der es sich von der übergroßen Macht, der Geschlechter (magnates) in seinen Mauern zu befreien suchte … Während der vielen politischen Kämpfe des Mittelalters war schließlich die Seite siegreich, auf die sich London schlug, und gewöhnlich sehr bald.“ (Th. Rogers, a. a. O., S. 106, 108, 109)

Die größte Macht in London besaßen aber die Kaufleute. London war vor allem Handelsstadt. Dort konzentrierte sich der Handel Englands, der zu Mores Zeit schon sehr bedeutend war. Im dreizehnten Jahrhundert hatten noch die Hanseaten den größten Teil des englischen Handels vermittelt; in London befand sich eine ihrer blühendsten Faktoreien, der Stahlhof (Steelyard). Aber rasch entwickelte sich die Handelsflotte Englands; englische Schiffe fuhren im fünfzehnten Jahrhundert nach Frankreich und den Niederlanden, nach Portugal und Marokko; sie drangen in die Ostsee ein und bereiteten dort den Hanseaten eine erbitterte Konkurrenz; namentlich war eine Handelsgesellschaft in dieser Richtung tätig, die der Merchant adventurers (über See handelnden Kaufleute) genannt. Die Entwicklung der Fischerei förderte auch die Ausbildung der Handelsflotte. Immer kühner und unternehmender wurden die englischen Seeleute, immer weiter in unwirtliche Meere wagten sie sich. Handel und Walfischfängerei zogen sie nach Island, und im Zeitalter der Entdeckungen sollten sie in dem nordischen Meere Entdeckungen machen, die zwar nicht so profitabel wie die der Spanier und Portugiesen waren, aber ebensoviel Waghalsigkeit und Seemannskenntnis voraussetzten wie diese. Wenige Jahre nach Mores Tod sollten sie den Weg nach Archangelsk an der Nordküste Rußlands finden, damals der einzigen Hafenstadt „Moskowiens“, und schon 1497 entdeckte John Cabot, von Bristol mit englischen Schiffen ausfahrend, Labrador, und erreichte so den Kontinent Amerikas fast vierzehn Monate vor Kolumbus. (G. Bancroft, Geschichte der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Leipzig 1845, 1. Band, S. 9)

So wichtig diese Entdeckungen und der kühne Unternehmungsgeist, dem sie entstammten, später für die Handelsgröße Englands wurden, zu Mores Zeit hatten sie bloß symptomatische Bedeutung. Der Haupthandel Englands wurde damals mit viel näheren Ländern geführt; am weitaus wichtigsten war der Wollhandel mit den Niederlanden. Die Wollweberei hatte sich in den Niederlanden früh – vom zehnten Jahrhundert an – entwickelt und ihnen großen Reichtum verschafft. Bis zum siebzehnten Jahrhundert gab es jedoch nur zwei Länder in Europa, die Wolle exportierten: England und Spanien. Die englische Wolle war aber viel besser als die spanische und für die Niederländer viel leichter zu erreichen. England besaß daher tatsächlich das Monopol des Wollhandels mit den Niederlanden, ähnlich wie bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die Südstaaten der amerikanischen Union das Monopol hatten, England mit dem für seine textile Industrie unentbehrlichen Rohmaterial, Baumwolle, zu versorgen. Mit dem Reichtum der Niederlande wuchs daher auch der Reichtum Englands, oder besser gesagt, der Reichtum der Wolle produzierenden Großgrundbesitzer, der Kaufleute und der Monarchen Englands. Das Anwachsen des Reichtums der ersteren war jedoch bis zu Mores Zeiten eingedämmt worden einesteils durch die Bürgerkriege und die Verwüstungen und Konfiskationen, die sie im Gefolge hatten, andernteils durch das Fehlen eines Proletariats, einer Reservearmee von Arbeitslosen, die Löhne herabzudrücken. Erst zu Mores Zeit begann man, diesem beklagenswerten Mangel an Elend im Interesse des Volkswohlstandes abzuhelfen. Erst von da an bekamen auch die großen Grundbesitzer ihren gehörigen Anteil an den Profiten des Wollenmonopols. Bis dahin war der Löwenanteil daran den Kaufleuten zuteil geworden und den Monarchen: der Ausfuhrzoll auf Wolle bildete damals die ergiebigste Einnahmequelle der englischen Könige, eine der festesten Stützen des Absolutismus. Je mehr sich der Handel entwickelte, desto stärker wurde die Macht des Königs im Lande, desto mehr wurde aber auch dieser gezwungen, den Interessen des Handels zu dienen. Die Tudors, deren Herrschaft mit Heinrich VII. begann und mit Elisabeth endete, erkannten ganz gut, daß die Interessen des Handels auch die ihren waren, und förderten ihn daher im allgemeinen, wo sie nur konnten. So tyrannisch sie auch regierten, die Londoner Bürger, die entscheidende Macht im Reiche neben dem Königtum, ließen sich ihre Herrschaft gefallen: die Bürgerschaft Londons lebte ja fast völlig vom Handel, die einen direkt, die anderen indirekt. Solange dieser blühte, hatten sie keine Ursache zur Empörung.

So fand die Herrschaft der Tudors kein Hindernis; sie war die unumschränkteste, die je in England bestanden hat.

Aber man glaube nicht, daß das englische Bürgertum deswegen in Sklavensinn versunken war. Es war sich seiner Kraft wohl bewußt und scheute sich nicht, dem Königtum entgegenzutreten, wenn dieses sich in Widerspruch zu seinen Interessen setzte. Und die unumschränkte Herrschaft der Tudors hätte nicht über ein Jahrhundert lang gedauert, wenn sie nicht in ihrer Mehrzahl genau gewußt hätten, wie weit sie gehen durften, und wenn sie nicht jedesmal, so oft sie diese Grenze überschritten, rechtzeitig vor dem Volke wieder den Rückzug angetreten hätten.

Die Widerstandskraft und das freiheitliche Selbstbewußtsein des Volkes, vor allem Londons, war die einzige Schranke der Macht der Tudors. Das Parlament war unter ihnen machtlos. Neben den Vertretern des Adels und der Geistlichkeit wurden seit dem dreizehnten Jahrhundert auch Vertreter der Städte in dasselbe berufen, natürlich nur zu dem Zwecke, um diese zu Geldbewilligungen zu zwingen. Mit der Macht der Städte wuchs indes auch die Macht ihrer Vertreter und ihr Einfluß auf die Gesetzgebung. Eine Eigentümlichkeit des englischen Parlaments war es, daß die Vertreter des niederen Adels sich im vierzehnten Jahrhundert vom hohen Adel trennten, der fortan mit den hohen Würdenträgern der Kirche das Oberhaus bildete, und sich mit den Vertretern der Städte vereinigten und im Unterhaus konstituierten. Die Macht des Parlaments hing natürlich von der Macht der Klassen ab, die hinter ihm standen, und von ihrer Einigkeit. Wo zwei feindliche Parteien sich die Wage hielten, hatten die Könige leichtes Spiel. Stets aber blieb, bis ins siebzehnte Jahrhundert, die Macht des Parlaments der herrschenden Macht gegenüber geringer, als die der Klassen, die es vertrat, da es persönlichen Einflüssen zugänglicher war. Das Bürgertum ließ sich nicht bestechen oder einschüchtern, wohl aber dessen Vertreter: konnte ja der König, wenn er wollte, Parlamentsmitglieder, die ihm nicht gefielen, als Hochverräter hinrichten lassen! Wenn ein König sich vor dem Parlament beugte, so geschah es nicht aus Rücksicht auf dessen Rechte, sondern aus Angst vor der Kraft derjenigen, deren Interessen es vertrat.

Wenn die Tudors mit dem Volke fertig wurden, brauchten sie sich um das Parlament nicht zu kümmern.

Machtlos, persönlichen Einflüssen unterworfen, zum großen Teile aus adeligen und geistlichen Kreaturen des Königs zusammengesetzt, waren die Parlamente der Tudorzeit wohl die servilsten der englischen Geschichte. Sie gaben die Gesetzgebung vollkommen dem Königtum preis und vollzogen willig die Henkerdienste, die es von ihnen verlangte. Nur in einem Punkte waren manchmal auch sie unerbittlich und zwangen die Könige zum Nachgeben, weil sie die Massen hinter sich hatten: in dem Punkte der Geldbewilligung.

Alle die eben erwähnten Verhältnisse förderten einen eigentümlichen anscheinenden Widerspruch zutage: Nirgends in Europa war zur Zeit Mores die absolute Gewalt des Königtums größer als in England; vielleicht in keinem Lande war das Freiheitsgefühl und Selbstbewußtsein von Bürger und Bauer kräftiger entwickelt als gerade dort.
 

2. More ein Monarchist und Tyrannenhasser

More war das Kind der geschilderten Verhältnisse. Der erwähnte Widerspruch spiegelt sich daher in seinen Schriften wider. Infolge seines enthusiastischen Temperaments ist er vielleicht bei niemandem stärker ausgeprägt worden als bei ihm. Gierig nahm er die Lehre der Humanisten auf, daß der Fürst zwar notwendig sei, aber ein Diener der Philosophen sein solle. Er erweiterte sie dahin, daß er ein Diener des Volkes sein solle. Und was bei anderen nur literarische Phrase, das wurde bei ihm feste Überzeugung. Er haßte die Tyrannei, wie nur je ein Engländer sie gehaßt hat, und war doch von der Notwendigkeit des Fürstentums überzeugt. Er hielt es für recht, den König abzusetzen, wenn er dem Volksinteresse zuwiderhandle, aber nur, um einen anderen, besseren König an dessen Stelle zu setzen.

Dies in kurzem sein politischer Standpunkt. Besser als durch alle Auseinandersetzungen wird er dargelegt durch eine kurze Schilderung des politischen Denkens und Wirkens von More.

Seine ersten politischen Äußerungen finden sich in seinen Epigrammen. Für uns sind hier nur diejenigen von Interesse, die von den Fürsten handeln. Einige derselben, die uns am charakteristischsten erscheinen, seien hier wiedergegeben. Der gute und der böse Fürst heißt das eine:

Was ist der gute Fürst? Ein Schäferhund,
Der die Wölfe verscheucht. Und der schlechte Fürst? Selbst ein Wolf.

Der Unterschied zwischen einem Tyrannen und einem Fürsten ist ein anderes betitelt:

Wodurch unterscheidet sich
Der gesetzliche König vom scheußlichen Tyrannen?
Der Tyrann hält seine Untertanen für seine Sklaven,
Der König hält sie für seine Kinder.

Diese Unterscheidung erinnert an die Fiktionen der Konstitutionellen, die den König herrschen, aber nicht regieren lassen. Zwischen den konstitutionellen Theoretikern zum Beispiel des Julikönigtums und More besteht jedoch ein Unterschied. Jene nahmen ihre Zuflucht zu Fiktionen, um den Widerspruch zu verdecken, daß die Konsequenz ihres theoretischen Standpunktes die Republik war, indes ihre Augenblicksinteressen sie zu einem bestimmten König zogen. More bedurfte seiner Fiktion, um seine theoretische Überzeugung von der Notwendigkeit der Monarchie vereinbaren zu können mit dem Hasse, den er gegen die Tyrannei des herrschenden Königs, zur Zeit der Abfassung seiner Epigramme noch Heinrich VII., empfand. Die Fiktion der Konstitutionellen war ein Ausfluß feigen Opportunismus; die Mores ein Ergebnis trotziger Opposition. Wie wenig More sich von dem Schreckensregiment der Despoten seiner Zeit einschüchtern ließ, einem Schreckensregiment, das seiner Unberechenbarkeit wegen die strengste Selbstzensur erzwang, ersieht man zum Beispiel aus dem Epigramm: Des Volkes Wille verleiht und nimmt die Königswürde:

Wer immer an der Spitze vieler Männer steht,
Er verdankt es denen, an deren Spitze er steht.
Auf keinen Fall darf er ihnen länger vorstehen,
Als die wollen, denen er vorsteht.
Was brüsten sich also machtlose Herrscher?
Sie besitzen ihr Amt doch nur auf Kündigung (precario).

Ebenso keck ist folgendes Epigramm über die Herrschsucht:

Unter vielen Königen findet man kaum einen
– Wenn man einen findet –, dem sein Reich genügt.
Unter vielen Königen findet man kaum einen
– Wenn man einen findet –, der sein Reich zu regieren verstünde.

Von welchen Gedanken sein Geist erfüllt war, ersieht man daraus, daß er einen Dialog Lucians, den Tyrannenmörder, aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzte und eine Antwort darauf schrieb. [30] Die Fabel des Tyrannenmörders ist folgende: Jemand war in der Absicht, den alten Tyrannen zu töten, in dessen Burg gegangen. Er traf statt des Vaters den Sohn und ermordete diesen, ließ aber sein Schwert in der Leiche zurück. Der Tyrann kommt, sieht seinen Sohn tot daliegen, gerät in Verzweiflung und tötet sich selbst mit dem Schwerte des Mörders. Dieser begehrt nun den jedem Tyrannenmörder gebührenden Lohn. More führte in seiner Antwort aus, der Mörder habe keinen Anspruch auf eine Belohnung, da er den Tyrannen nicht getötet habe.

„Wenn ich dafür eintrete“, sagte er, „daß dir, dem angeblichen Tyrannenmörder, dein Lohn nicht ausbezahlt werde, so tue ich es nicht deswegen, weil ich über den Tod des Tyrannen weine. Hättest du ihn wirklich erschlagen, dann würde ich nicht Klage führen, sondern vielmehr dich preisen, dich bewundern, dir den Lohn zuerkennen. Gerade deswegen trete ich gegen dich auf, weigere dir den Ehrensold und führe Klage gegen dich, weil du den Tyrannen nicht erschlagen hast.“

Die pfäffischen Biographen Mores suchen natürlich die Beschäftigung Mores mit einem solchen Thema als bloßem grammatikalischem Interesse entsprungen darzustellen. Der katholische Audin, der einen Kommentar zu der 1849 in Paris erschienenen französischen Übersetzung der Morebiographie des Stapleton schrieb, sieht sich jedoch gezwungen, zu erklären: „Der Tyrannenmörder; ist ein politisches Glaubensbekenntnis. More haßt den Despotismus; er glaubt nicht an das göttliche Recht; er ist bereit, jeden freizusprechen, der sich gegen einen schlechten Fürsten erhebt.“ Auch uns scheint die Beschäftigung mit dem Tyrannenmörder keine bloße Stilübung zu sein, sondern diese nur der Vorwand, um Dinge sagen zu können, die in anderer Form nicht gesagt werden konnten.
 

3. More der Vertreter des Londoner Bürgertums

Bald hatte More Gelegenheit, zu beweisen, daß sein „Männerstolz vor Fürstenthronen“ mehr sei als eine deklamatorische Phrase. Sechsundzwanzig Jahre alt, wurde er von einem Wahlkreis, dessen Name nicht überliefert ist, wahrscheinlich London selbst, ins Parlament gewählt, das Heinrich VII. berief, um einen gesetzlichen Vorwand zur Ausplünderung des Volkes von ihm zu erlangen. Das vorhergehende Parlament von 1496/97 hatte dem König ohne Zögern zwei Fünfzehnte wegen des Krieges bewilligt, der mit Schottland drohte. Der Fünfzehnte war eine Eigentumssteuer von bestimmtem Betrag, den die Grafschaften (Counties), Städte und Flecken, sowie der Klerus aufzubringen hatten. 1500 berechnete der venetianische Gesandte in England den Ertrag eines Fünfzehnten auf 37.930 Pfund Sterling. Zu demselben Ergebnis kommt Seebohm. (Oxford Reformers, 2. Auflage, S. 145)

Mit der Nachgiebigkeit des Parlaments wuchs die Habsucht des Königs. Er verlangte vom Parlament von 1504/05, in dem More saß, die Gewährung von drei Fünfzehnten, nach Roper. Es ist jedoch möglich, daß dieser sich irrte. Andere geben eine geringere Forderung an. Die Summe sollte angeblich teils zur Ausstattung seiner Tochter Margarete dienen, die mit dem König von Schottland vermählt wurde, teils ihm gebühren als Beitrag anläßlich des Ritterschlags seines Sohnes Artur. Um die Unverschämtheit dieses Verlangens würdigen zu können, muß man wissen, daß die Verpflichtung, dem König einen Beitrag anläßlich des Ritterschlags eines Sohnes zu geben, aus der Feudalverfassung stammte und längst außer Übung gekommen war; sie wurde das letztemal gewährt in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, als Eduard III. Sohn, der schwarze Prinz, zum Ritter geschlagen wurde, überdies war aber Artur bereits 1502 in zartem Alter gestorben!

Trotzdem schien das Parlament nicht übel Lust zu haben, die Forderung zu bewilligen. Die Bill hatte schon zwei Lesungen passiert, da, „bei der letzten Debatte, führte More solche Argumente und Gründe dagegen vor, daß des Königs Forderung abgelehnt wurde. Einer von des Königs Geheimräten, ein gewisser Tyler, der anwesend war, eilte zum König aus dem Parlament und sagte ihm, ein bartloser Knabe habe alle seine Bestrebungen vereitelt.“ So erzählt uns Roper. Leider ist der Vorgang nicht ganz aufgehellt. Gewiß ist, daß die Forderung Heinrichs VII. nicht gänzlich abgelehnt, sondern nur beschnitten wurde, und daß er sich mit 30.000 Pfund Sterling begnügte, „aus überschwenglicher Gnade und zarter Liebe für seine Edlen und Untertanen“.

Heinrich VII. war, wie man sich denken kann, wütend über den jungen Oppositionsmann. Zunächst hielt er sich an den Vater, da der Sohn kein Vermögen besaß, das er hätte konfiszieren können. Er sperrte den alten John More in den Tower ein und erpreßte von ihm ein Lösegeld von 100 Pfund Sterling. Aber seine Rache war damit nicht befriedigt. Der junge Politiker mußte sich vom öffentlichen Leben zurückziehen und sich verborgen halten, um dem Zorne des Tyrannen zu entgehen. In diese Zeit darf man wohl seinen Aufenthalt im Kloster und seine Absicht, Mönch zu werden, setzen. Damals trug sich More auch mit der Absicht, auszuwandern.

Der König vergaß nach einiger Zeit den „bartlosen Knaben“. More mußte sich jedoch hüten, des Königs Aufmerksamkeit neuerdings auf sich zu ziehen, und dem Parlament fernbleiben. Daß er aber in dieser Zeit nicht untätig war, geht daraus hervor, daß er unmittelbar nach dem Tode Heinrichs VII., 1509, Untersheriff in London wurde, eine Beförderung, die beweist, daß er sich als Jurist einen guten Namen erworben hatte. In diesem Amte muß er sich bald das Vertrauen seiner Mitbürger, gleichzeitig aber ein tiefes Verständnis der ökonomischen Situation seines Landes erworben haben, denn bald finden wir ihn als Vertrauensmann der Londoner Kaufleute in wichtigen Missionen tätig. „Wegen seiner Gelehrsamkeit, seiner Weisheit, seiner Kenntnisse und seiner Erfahrung schätzte man ihn so hoch“, erzählt uns Roper, „daß er, ehe er noch in die Dienste König Heinrichs VIII. trat, auf das dringende Ansuchen der englischen Kaufleute mit des Königs Zustimmung zweimal Gesandter wurde zur Schlichtung gewisser wichtiger Differenzen zwischen ihnen und den Kaufleuten des Steelyard“, das heißt den Hanseaten, wie wir wissen. Der Schluß dieser Stelle beruht auf einer Verwechslung Ropers. Streitigkeiten mit den Hanseaten hatte More erst später zu schlichten. Richtig ist es dagegen, daß die englischen Kaufleute es waren, die seine Ernennung zum Gesandten durchsetzten. Die erste dieser Gesandtschaften fiel in das Jahr 1515. More erzählt uns davon selbst im Beginn des ersten Buches seiner Utopia:

„König Heinrich VIII., der siegreiche und ruhmvolle König von England, der mit allen Tugenden eines guten Fürsten geschmückt ist, war vor kurzem in Zwiespalt mit Karl, dem erhabenen König von Kastilien. Zu dessen Beilegung sandte Seine Königliche Majestät mich als Abgesandten nach Flandern, zusammen mit Cuthbert Tunstall, einem unvergleichlichen Manne“ usw.

Prinz Karl, der spätere Kaiser Karl V., der Erbe Maximilians, des deutschen Kaisers, und Ferdinands, Königs von Spanien, war schon 1503 als dreijähriger Knabe mit der damals zwei Jahre alten französischen Prinzessin Klaudia verlobt worden. Der Wechsel der diplomatischen Verhältnisse führte bald zum Abbruch dieser Verlobung und zur Verlobung Karls mit Maria, der Schwester des nachmaligen Heinrich VIII. von England, im Jahre 1506; 1514 aber fand es Maximilian vorteilhafter, zur Bekräftigung eines Bündnisses mit Frankreich Karl wieder mit einer französischen Prinzessin, der jüngeren Schwester seiner ersten Braut zu verloben. Der Vater der ersten und dritten Braut, Ludwig XII., heiratete die zweite „verflossene“ Braut, die von dem vierzehnjährigen Karl sitzen gelassene englische Prinzessin Maria.

Diese Verlobungsreihe ist charakteristisch für den Absolutismus zur Zeit Mores. Es war die Zeit, in der die zerstreuten Stätlein zu großen Staaten zusammengeheiratet wurden und niemand als ein vollendeter „Staatsmann“ gelten konnte, der nicht ein gewandter Heiratsvermittler war.

Heinrich VIII. war natürlich über Maximilians und Karls Untreue sehr erbost. 1515 übernahm der letztere die Regierung der Niederlande und Heinrich hatte nichts Eiligeres zu tun, als ihn, respektive die Niederländer, dadurch zu schädigen, daß er durch das Parlament die Ausfuhr der Wolle nach den Niederlanden verbieten ließ. Bald versöhnte sich jedoch Heinrich wieder mit Karl, auch war das Wollausfuhrverbot für die englischen Kaufleute wohl ebenso unangenehm wie für die Holländer. Daher die Gesandtschaft Mores, um den Handel wieder zu eröffnen. Seine Gesandtschaft war von dem vollsten Erfolge begleitet, und daher wurde er bald zu einem ähnlichen Zweck ausgesandt, 1517 nach Calais, um Streitigkeiten zwischen englischen und französischen Kaufleuten zu schlichten.

More erwies sich so verwendbar und sein Ansehen in London, dieser mächtigen Stadt, ward ein so bedeutendes, daß Heinrich alle Ursache hatte, ihn an seinen Hof zu ziehen. More jedoch lehnte ab. Selbst eine jährliche Pension, die ihm der König anbot, wies er zurück; er fürchtete, wie er an Erasmus schrieb, dadurch das Vertrauen seiner Mitbürger einzubüßen: „Wenn zwischen den Bürgern und Seiner Hoheit ein Zwist wegen ihrer Vorrechte ausbrechen sollte, wie das mitunter vorkommt, könnten sie mir mißtrauen, da ich dem König durch eine jährliche Zahlung verpflichtet sei.“ Er war also entschlossen, wenn es zwischen den Londoner Bürgern und dem König zu einem Kampfe kommen sollte, für die Bürgerfreiheit einzutreten.

In der Tat, er hatte keine Ursache, mit Heinrich VIII. zufrieden zu sein. Heinrich VII. war ein gemeiner, knotenhafter Geizhals gewesen, der gierig Gold auf Gold aufhäufte und das Volk aussog, wo und wie er nur konnte. Sein Sohn war liebenswürdig und freigebig, durch seinen Luxus ein Förderer des Handels und der Künste, ein Freund der neuen Wissenschaften, des Humanismus: kurz, ein liberaler Kronprinz, wie er den Idealen seiner Zeit entsprach. Allgemeiner Jubel begrüßte ihn, als er den Thron bestieg. Auch More hoffte, daß jetzt ein Fürst gekommen sei, der sich von den Philosophen leiten lasse, ein Vater des Volkes, nicht ein Sklavenhalter. Er feierte Heinrichs VIII. Krönung mit einem Lobgedicht, in dem allerdings mehr als das Lob des neuen Fürsten die Satire auf den vergangenen hervortritt, und das mit den Worten schließt:

Sei gegrüßt, hocherhabener Fürst,
Und was mehr sagt, Vielgeliebter!

Die ersten Akte der Regierung Heinrichs VIII. waren auch danach angetan, ihn populär zu machen. Vor allem die Hinrichtung zweier Minister seines Vaters, die dessen eifrigste Werkzeuge und Blutsauger des Volkes gewesen waren, Empson und Dudley. Sie konnten sich freilich darauf berufen, daß alles, was sie verübt, nur in Vollziehung der Befehle ihres königlichen Herrn geschehen war.

Bald indessen zeigte sich Heinrichs Politik von einer weniger populären Seite. Er trat der sogenannten „heiligen Ligue“ gegen Frankreich bei (1512) und nahm an dem Krieg gegen dieses teil, der bis 1514 dauerte, England sehr viel Geld kostete, sehr wenig Ruhm und gar keine Vorteile einbrachte. Heinrich hatte sich düpieren lassen, für andere Leute die Kastanien aus dem Feuer zu holen, vor allem für Ferdinand den Katholischen von Aragonien, der bei dem „heiligen Krieg“ zum Schutze des „heiligen Vaters“ die besten Geschäfte machte.

Zu den Kosten des Krieges gesellten sich die eines ausschweifenden Prunkes der Hofhaltung und einer wahnsinnigen Bauwut. Heinrich baute fünfzig Paläste und war so ungeduldig bei deren Herstellung, daß die Arbeiten oft keinen Moment ruhen durften. Er darf wohl den Ruhm in Anspruch nehmen, einer der ersten in England gewesen zu sein, die Nachtarbeit und Sonntagsarbeit in größerem Maßstabe eingeführt haben.

Hatte der Vater das Volk ausgesogen, um Schätze aufzuhäufen, so preßte es der Sohn aus, um seinen ewigen Geldverlegenheiten zu entgehen, und die Geldgier des Verschwenders wurde noch furchtbarer als die des Geizhalses. Die Steuern wuchsen unermeßlich, selbst der ärmste Taglöhner wurde belastet: eines der neuen Steuergesetze bestimmte, daß Arbeiter mit einem Jahreslohn von zwei Pfund einen Schilling, mit einem Lohn von ein bis zwei Pfund sechs Pence und mit einem geringeren Lohn vier Pence Steuer zu zahlen hatten. Außerdem eine Kopfsteuer von einem Schilling pro Kopf!

Dazu kam das beliebte Mittel der Münzverschlechterungen und Münzfälschungen, die natürlich nur vorübergehenden Gewinn abwarfen, sich aber namentlich dann sehr profitabel erwiesen, wenn es galt, Schulden zu bezahlen. Bereits im ersten Jahre seiner Regierung hatte Heinrich den Silbergehalt eines Schillings von 142 auf 118 Gran herabgesetzt.
 

4. Die politische Kritik der Utopia

Ein Fürst wie Heinrich VIII. war nicht der „Schäferhund, der seine Herde gegen die Wölfe schützt“, sondern der Wolf selbst. More fühlte sich tief enttäuscht. In dieser Stimmung schrieb er seine Utopia. [31] Im zweiten Buche legte er dar, wie glücklich ein Staat sein könnte, wenn er vernünftig regiert und organisiert sei. Im ersten zeigte er, wie schlecht die Staaten in Wirklichkeit regiert würden, an welchen Gebrechen vor allem Heinrichs Regime leide. Dies Buch ist ein wichtiges Dokument für die ökonomische und politische Situation des Anfangs des sechzehnten Jahrhunderts, wichtig für die Kennzeichnung Mores als Politiker. Wir müssen daher näher darauf eingehen.

Bei der Beurteilung des Buches darf man sich durch die ehrfurchtsvollen Titel, die dem König mitunter erteilt werden, ebensowenig irre machen lassen, als etwa bei der Beurteilung der Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts durch die Reverenz, die sie gelegentlich dem Christentum erwiesen. Hier wie dort bestand die Kunst des oppositionellen Kritikers darin, zwischen den Zeilen das Gegenteil von dem lesen zu lassen, was auf ihnen geschrieben stand.

So hat auch More in der Utopia die Vertretung seines Standpunktes einem anderen, Raphael Hythlodäus, überlassen, indes er sich selbst einführt als teilweiser Gegner seiner Auffassung. Aber nicht das, was More, sondern was Raphael sagt, ist bedeutend. More erzählt, wie er Raphael in Brügge gelegentlich seiner Gesandtschaft nach Flandern getroffen. Er und sein Freund Peter Giles fordern Raphael auf, in die Dienste eines Königs zu treten. Dieser lehnt es ab und erörtert weitläufig seine Gründe. Die betreffenden Absätze verdienen wörtlich wiedergegeben zu werden:

„In der Tat, Meister Raphael“, sagte Peter, „es wundert mich sehr, daß du nicht an den Hof eines Königs gehst. Denn ich bin überzeugt, daß es keinen König gibt, dem du nicht sehr lieb und wert würdest, da du ihn durch dein tiefes Wissen und deine Kenntnis fremder Länder und Völker nicht nur unterhalten, sondern auch belehren und beraten könntest. So wirst du dir selbst und deinen Freunden und Verwandten nützen können.“

„Meine Freunde und Verwandten machen mir wenig Sorgen“, erwiderte Raphael. „Ich glaube meiner Pflicht ihnen gegenüber völlig genügt zu haben. Denn ich habe in der Vollkraft meiner Jugend unter sie verteilt, was andere ängstlich festhalten, bis sie alt und siech sind, an was sie sich noch anklammern, wenn sie scheiden müssen. Ich denke, sie können mit meiner Freigebigkeit zufrieden sein und dürfen nicht erwarten, daß ich ihretwegen den Knechtsdienst bei einem Könige auf mich nehme.“

„Gemach, mein Freund“, sagte Peter, „du sollst dem König nicht dienen, sondern ihm Dienste erweisen.“

„Dazwischen sehe ich keinen großen Unterschied“, erwiderte der andere. [32]

„Wie immer du die Sache nennen magst“, sagte Peter, „ich glaube, es ist der richtige Weg, nicht nur anderen zu nützen, sondern auch dich selbst glücklich zu machen.“

„Ich sollte glücklicher werden auf einem Wege, vor dem ich zurückschrecke?“ rief Raphael. „Ich lebe jetzt, wie es mir gefällt, und ich glaube nicht, daß das für viele Purpurträger gilt. Überdies gibt es genug Leute, die nach der Gunst der Mächtigen streben, und ich glaube nicht, daß es ein großer Verlust ist, wenn ich und vielleicht noch ein paar andere nicht darunter sind.“

„Darauf erwiderte ich (More selbst): Ich sehe, mein Raphael, du verlangst weder nach Reichtum noch nach Macht. Und fürwahr, ich achte einen Mann wie dich nicht weniger als irgend einen der Machthaber. Aber es würde deiner Weisheit und deinem hohen Geist wohl anstehen, Wissen und Kraft dem Wohle des Gemeinwesens zu widmen, wenn es auch Unbequemlichkeit und Mißvergnügen bereitet. Du kannst aber dem Gemeinwesen nicht wirksamer nützen, als im Rate eines Fürsten, den du zu gutem und ehrenhaftem Handeln antreibst, woran ich nicht zweifle. Denn die Fürsten sind die Quellen des Guten und des Bösen, das den Völkern zuteil wird. Deine Gelehrsamkeit ist so groß, daß du ohne die geringste Erfahrung, deine Erfahrung so groß, daß du ohne jegliche Gelehrsamkeit einen ausgezeichneten Ratgeber für einen König abgeben würdest.“

„Lieber More, du bist in einem doppelten Irrtum befangen, in bezug auf mich und in bezug auf die Verhältnisse. Ich bin weder so begabt, wie du mir einreden willst, und wenn ich’s noch so sehr wäre, so würde das Opfer meiner Ruhe dem Gemeinwesen doch nichts nützen. Denn erstens erfreuen sich die meisten Fürsten mehr am Kriegswesen, wovon ich nichts verstehe und auch nichts zu verstehen verlange, als an Werken des Friedens. Und sie streben eifriger danach, neue Reiche durch Recht oder Unrecht zu erwerben, als diejenigen, die sie besitzen, gut zu verwalten. Und von den Ministern der Könige ist jeder entweder so weise, daß er eines Rates nicht bedarf, oder er dünkt sich so weise, daß er keinen hören will; nur einen, der beim Fürsten hoch in Gunst steht, den hören sie zustimmend an, um sich einzuschmeicheln, mag er auch das ungereimteste Zeug schwätzen. Und es ist ja ganz natürlich, daß jeder Mensch seine eigenen Ideen für die besten hält. Auch dem Raben und dem Affen erscheinen ihre Jungen als die schönsten. Wenn unter solchen Leuten, von denen die einen auf jede fremde Idee eifersüchtig sind, die anderen die ihren für die besten halten, jemand etwas empfiehlt, von dem er in der Geschichte gelesen, oder das er anderswo gesehen, da tun die Hörer so, als ob das ganze Ansehen ihrer Weisheit auf dem Spiel stände und sie als Narren gelten würden, wenn sie nicht die Ideen anderer Leute schlecht fänden. Und wenn alle anderen Einwände nicht verfangen, dann bleibt ihnen immer noch einer: Das Bestehende gefiel unseren Vorfahren; wären wir nur so weise wie sie. Und sie setzen sich nieder mit einer Miene, als sei damit die Sache trefflich erledigt. Man könnte glauben, daß nichts gefährlicher wäre, als in irgend einem Punkte weiser zu sein als unsere Väter waren. Freilich lassen wir alles, was sie wirklich gut eingerichtet hatten, in Vergessenheit geraten, sobald es sich aber um eine Verbesserung handelt, dann klammert man sich an sie an.“

Nun folgt die Erzählung einer Episode beim Erzbischof Morton, aus der wir bereits eine Stelle mitgeteilt haben. Dann geht die Unterredung über das Thema weiter fort, indem More wieder erklärt:

„Trotz alledem beharre ich bei meiner Ansicht, daß du mit deinen guten Ratschlägen das Gemeinwesen fördern wirst, wenn du es über dich bringen kannst, an den Hof eines Fürsten zu gehen. Dem Gemeinwesen zu nützen ist aber deine Pflicht, wie die jedes tüchtigen Mannes. Wenn dein Plato recht hat, daß die Völker nur dann glücklich werden können, wenn die Philosophen Könige oder die Könige Philosophen werden, wie weit sind wir dann vom Glück entfernt, wenn die Philosophen es unter ihrer Würde finden, die Könige zu beraten und aufzuklären!“

„Die Philosophen sind nicht so selbstsüchtig“, erwiderte Raphael, „daß sie das nicht gerne täten, ja, viele haben es bereits getan in Büchern, die sie Herausgaben, in denen Könige und Fürsten genug gute Ratschläge fänden, wenn sie nur die Absicht hatten, ihnen zu folgen. Plato wußte das jedenfalls sehr gut, daß die Könige sich um die Ratschläge der Philosophen nicht kümmern würden, wenn sie nicht selbst zu denken anfingen; werden sie doch von Jugend an von verkehrten Anschauungen angesteckt und verdorben. Wie wahr dies sei, erfuhr Plato selbst beim König Dionysius.

„Wenn ich einem König heilsame Gesetze vorschlagen und mich bemühen würde, aus seinem Herzen die verderblichen Wurzeln des Schlechten auszurotten, glaubst du nicht, daß ich alsbald fortgejagt oder ausgelacht würde?

„Nehmen wir an, ich wäre am Hofe des Königs von Frankreich und säße in seinem Rate. Eine ganz geheime Ratsitzung finde statt, vom König selbst präsidiert: um was handelt es sich da? Man sucht herauszufinden, durch welche Schliche und Ränke der König Mailand behalten, das abtrünnige Neapel wieder an sich ziehen, wie er die Venetianer schlagen und ganz Italien unter seine Oberhoheit bringen könnte; wie Flandern, Brabant und schließlich ganz Burgund zu gewinnen seien, und andere Länder, auf die er schon lange ein Auge geworfen. Der eine rät, ein Bündnis mit den Venetianern einzugehen, das so lange dauern solle, als es vorteilhaft sei, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen, und ihnen einen Anteil an der Beute zukommen zu lassen, den man wieder nehmen könne, wenn man mit ihrer Hilfe sein Ziel erreicht habe. Ein zweiter hält es für vorteilhaft, deutsche Landsknechte zu mieten, ein dritter möchte die Schweizer mit Geld gewinnen. Ein anderer wieder rät, die Zuneigung des mächtigen Kaisers mit Gold zu erkaufen. Dann schlägt wieder einer vor, Frieden mit dem König von Aragonien zu machen und ihm als Friedenspfand das Königreich Navarra abzutreten. Schließlich hält es einer für das vorteilhafteste, den König von Kastilien zu angeln, indem man ihm eine Verschwägerung oder Allianz in Aussicht stellt, und einige Große an seinem Hofe durch Aussetzung von Pensionen zu gewinnen. Am meisten macht es ihnen Kopfschmerzen, was in der Zwischenzeit mit England anzufangen. Alle sind darin einig, man müsse mit den Engländern Frieden schließen und die stets schwache Freundschaft mit ihnen durch die stärksten Bande befestigen; man müsse sie Freunde nennen, müsse ihnen aber gleich Feinden mißtrauen. Daher sollten die Schotten bereit gehalten werden, sich auf die Engländer zu werfen, sobald diese sich rühren wollten. Und heimlich – denn öffentlich geht’s nicht wegen des Friedensvertrags – müsse man irgend einen verbannten Edelmann von England unterstützen, der Ansprüche auf die Krone dieses Königreichs erheben solle, so daß er eine beständige Gefahr für den König von England bilde und diesen im Zaume halte.

„Wohlan, in einer solchen Versammlung, wo so viele vornehme und gelehrte Männer ihrem König nichts raten als Krieg, welche Wirkung hätte es da, wenn ich Menschlein auftreten würde und erklären, daß das Staatsschiff in einer anderen Richtung zu steuern sei; daß mein Rat dahin gehe, Italien in Ruhe zu lassen und hübsch zu Hause zu bleiben; daß Frankreich bereits fast zu groß sei, um von einem einzigen Manne gut regiert werden zu können, daß der König also nicht danach trachten solle, sein Gebiet zu erweitern; und wenn ich dann etwa ein Verfahren vorschlüge, gleich dem der Achorier [33], die südöstlich von der Insel Utopia wohnen.

„Diese führten einmal Krieg für ihren König, ihm ein anderes Königreich zu erobern, auf das er Erbansprüche infolge einer alten Verbindung hatte. Als sie es schließlich gewonnen hatten, sahen sie, daß ihnen dessen Behauptung ebensoviel Schwierigkeiten bereite wie dessen Eroberung. Bald rebellierten die neuen Untertanen, bald litten sie unter einem Einfall feindlicher Nachbarn, so daß man ununterbrochen unter den Waffen zu stehen hatte, entweder für sie oder gegen sie. Auf diese Weise verarmten sie selbst; ihr Geld ging aus dem Lande, ihre Männer wurden erschlagen, um des Schattens des Ruhmes willen. Hatten sie keinen Krieg, dann einen Frieden, der nicht besser war; hatten doch die vielen Kriege das Volk so verroht, daß es ein Vergnügen an Raub und Diebstahl fand. Die Metzeleien hatten es kühn zu Untaten gemacht und die Gesetze wurden mißachtet, da der König, mit der Verwaltung zweier Königreiche belastet, keines der beiden ordentlich verwalten konnte. Als die Achorier sahen, daß alle diese Übel kein Ende nehmen wollten, taten sie sich zusammen und stellten ihren König in der höflichsten Weise vor die Wahl, welches der beiden Königreiche er behalten wolle; er sei nicht imstande, beide zu behalten, und ihrer wären zu viele, als daß sie von einem halbierten König regiert werden könnten: würde doch niemand in Gemeinschaft mit einem anderen auch nur einen gemeinsamen Eselsknecht halten. So mußte denn der gute Fürst sich mit seinem alten Königtum begnügen und das andere einem seiner Freunde geben, der bald nachher vertrieben wurde.

„Wenn ich solche Beispiele vorfühlte und weiter dem König erklärte, daß diese eifrigen Kriegsvorbereitungen, die so viele Nationen seinetwegen beunruhigen, seine Kassen leeren, seine Schätze vergeuden und sein Volk ruinieren, schließlich doch durch irgend ein Mißgeschick nutzlos sein würden, und daß es für ihn am sichersten sei, sich mit seinem ererbten Reiche zu begnügen, diesem Lande seine Sorgfalt zuzuwenden, es zu bereichern und es so blühend als möglich zu machen, danach zu streben, seine Untertanen zu lieben und von ihnen geliebt zu werden, unter ihnen zu leben, sie milde zu regieren, sich um andere Reiche nicht zu kümmern, da das seine groß genug und fast zu groß für ihn sei; wenn ich solchen Rat erteilte, wie würde der wohl aufgenommen werden, lieber More?“

„Wahrlich, nicht allzu günstig“, erwiderte ich.

„Fahren wir fort“, sagte er. „Nehmen wir an, der König und seine Räte säßen zusammen und strengten ihren Witz an, um herauszufinden, durch welche schlauen Kniffe der König bereichert werden könnte. Einer rät, der König solle den Nennwert des Geldes über seinen wirklichen Wert erhöhen, wenn er etwas zu zahlen habe, und ihn wieder herabsetzen, wenn er etwas zu erhalten habe, so daß er große Summen mit wenig Geld zahlen könne und viel Geld erhalte, wenn kleine Summen ihm geschuldet seien.“ [34]

Ein anderer schlägt vor, viel Geschrei von einer bevorstehenden Kriegsgefahr zu erheben. Habe der König unter diesem Vorwand eine große Summe Geldes eingetrieben, dann könne er mit großer Feierlichkeit den Frieden für gesichert erklären und so dem guten Volke Sand in die Augen streuen, als habe er den Frieden nur herbeigeführt, um als gnädiger und liebevoller Fürst der Vergießung von Menschenblut vorzubeugen. [35] Ein anderer erinnert den König an alte, mottenzerfressene Gesetze, die längst vergessen sind und die jedermann übertritt, da niemand von ihrem Bestand eine Ahnung hat. Er rät dem König, die Geldstrafen einzuziehen, die auf der Übertretung dieser Gesetze stehen, da kein Verfahren so einträglich und gleichzeitig so ehrenvoll sei, als das im Namen der Gerechtigkeit. Ein anderer wieder hält es für vorteilhaft, eine Menge von Handlungen mit schweren Strafen und Geldbußen zu belegen, namentlich solche, die dem Volke schädlich sind, und für Geld allen denen eine Dispens zu erteilen, die durch diese Verbote beeinträchtigt werden. Dadurch erwerbe man die Gunst des Volkes und gewinne gleichzeitig Geld auf doppelte Weise: erstens durch die Geldstrafen derjenigen, die in blinder Habgier das Gesetz übertreten, und zweitens durch den Verkauf des Privilegiums, dies Gesetz zu übertreten, wobei der Fürst um so besser dastehe, je teurer er dies Privilegium verkaufe; er bekomme nicht nur mehr, sondern gewinne noch den Anschein, als könne er sich nur schwer entschließen, das Wohl des Volkes irgend jemandem preiszugeben. [36]

„Wieder einer rät dem König, die Richter von sich abhängig zu machen, so daß sie immer für ihn entschieden. Ja, er solle sie an seinen Hof berufen und verlangen, daß sie ihn betreffende Angelegenheiten in seiner Gegenwart verhandeln. Und wenn er noch so offenkundig im Unrecht wäre, es würde sich dann immer einer finden, der entweder aus Widerspruchsgeist oder um sich den Dank seines Fürsten zu verdienen, irgend eine Schlinge entdeckte, in der man die Gegenpartei fangen könnte. Wenn so die Richter sich nicht einigen können und Dinge diskutieren, die klar zutage liegen, und die offenbare Wahrheit bezweifeln, dann geben sie dem König eine gute Gelegenheit, das Gesetz zu seinen Gunsten auszulegen: worauf ihm die anderen Richter aus Scham oder Furcht zustimmen. Die Richter können dann mit kecker Stirn für den König entscheiden: um eine Begründung ihres Urteils brauchen sie nicht verlegen zu sein; entweder können sie sich auf die Billigkeit berufen, oder auf den Buchstaben des Gesetzes, oder auf eine gedrehte und gewundene Auslegung desselben oder, was bei gewissenhaften Richtern mehr gilt als alle Gesetze, auf die besonderen Rechte, Prärogative des Königs.

„Alle Räte sind einstimmig der Ansicht des Crassus, daß ein Fürst nie genug Geld haben kann, der eine Armee zu erhalten hat; ferner, daß ein König nie Unrecht tun kann, selbst wenn er wollte, da ja alles, was seine Untertanen besitzen, ja diese selbst sein Eigentum sind, und jeder alles, was er besitzt, der Gnade seines Königs verdankt, der es ihm gelassen. Und daß es des Königs Interesse und Sicherheit ist, daß seine Untertanen wenig oder nichts besitzen, da Wohlstand und Freiheit das Volk trotzig machen, so daß es sich harten und ungerechten Geboten nicht fügt, daß hingegen Not und Elend seine Kraft brechen und es geduldig machen, indem sie den Gedrückten die Kühnheit und das Selbstbewußtsein rauben.“

Auf welchen Erfolg hätte ich mit meinen Grundsätzen unter solchen Räten des Königs zu rechnen? fragt Raphael.

Der ganze Passus ist eine vernichtende Satire auf das Königtum der damaligen Zeit. Er bildet das politische Glaubensbekenntnis Mores, seine Rechtfertigung, warum er sich vom Hofe fernhielt.
 

5. More, der Tyrannenhasser, tritt in des Königs Dienste

Zwei Jahre, nachdem More die Utopia geschrieben, finden wir ihn am Hofe, am Beginn jener kurzen aber glänzenden Laufbahn, die ihn in nicht viel mehr als einem Jahrzehnt zur höchsten Würde im Reiche nach dem König, der eines Reichskanzlers (Lord Chancellor), führen sollte. Was ist in diesen zwei Jahren geschehen, um in More eine solche Sinnesänderung hervorzurufen? Wir sind bloß auf Vermutungen darüber angewiesen. Unseres Erachtens ist der Schlüssel zur Umwandlung Mores in dem Erfolg zu suchen, den die Utopia hatte.

Dieser war ein enormer, nicht nur in der Gelehrtenwelt, sondern auch unter den Staatsmännern. Wir werden im nächsten Abschnitt darauf noch zurückkommen. Daß die Utopia Mores Einfluß in London selbst sehr steigerte, dürfen wir wohl annehmen, wenn wir auch keinen direkten Beweis dafür haben. Sein Kommunismus schreckte niemanden, denn es gab damals noch keine kommunistische Partei; seine Kritik des Absolutismus, seine Forderung, der König habe viel mehr als für den Krieg, für den Wohlstand seiner Untertanen zu sorgen, diese Forderung sprach offen und kühn aus, was das aufstrebende Bürgertum und der Humanismus ersehnten. In der Feudalzeit war der König vor allem Führer im Kriege gewesen; in das ökonomische Getriebe hatte er sich nicht einzumischen, das vollzog sich in der Markgenossenschaft ohne sein Zutun. Der moderne König, der König der Bourgeoisie, sollte vor allem dafür sorgen, daß das Bürgertum sich bereichere. Es war nicht dem Kriege als solchem abgeneigt, wohl aber jedem Kriege, der nicht im Interesse des Handels lag. Und zu solchen Kriegen hatte sich Heinrich aus bloßer Eitelkeit und beeinflußt von feudalen Traditionen herbeigelassen. Da mußten Mores Ausführungen im Bürgertum ein williges Ohr finden.

Der Kommunismus Mores war für die Humanisten und das Bürgertum eine anmutige Schwärmerei; seine Kritik der herrschenden politischen Verhältnisse war ihnen aus der Seele gesprochen.

Daraus erklärt sich die große Wirkung der Utopia auf ihre Zeitgenossen, eine Wirkung, der sich auch Heinrich VIII. nicht entziehen konnte. More hatte mit seiner Utopia ein politisches Programm entworfen, das allgemeinen Beifall errang, er war damit in die erste Reihe der englischen Politiker getreten. Wenn er auch wollte, er konnte jetzt dem Hofe nicht länger fern bleiben, gerade wegen seiner kühnen Kritik des bestehenden Absolutismus. More hatte damit aufgehört, ein bloßer Privatmann zu sein; er, der Liebling Londons, der England beherrschenden Stadt, der Liebling der Humanisten, die damals die öffentliche Meinung machten, er war ein politischer Faktor geworden, den man gewinnen oder vernichten mußte. Heinrich hatte schon früher versucht, More zu gewinnen; jetzt bot er alles auf, ihn in seine Dienste zu ziehen. Die Ablehnung einer solchen Aufforderung, wenn sie dringend gestellt war, bedeutete damals die Feindschaft des allmächtigen Königs, sie war gleichbedeutend mit Hochverrat, sie zog oft die Hinrichtung nach sich. Der Absolutismus wollte eine private Opposition ebensowenig dulden als eine öffentliche, er verfuhr nach dem Grundsatz: wer nicht für mich ist, ist wider mich.

Wurde also infolge der Utopia der Druck, der auf More geübt wurde, um seine Abneigung gegen den Hof zu überwinden, ein viel stärkerer als er bis dahin gewesen, so wurde andererseits diese Abneigung selbst eine schwächere. Wir haben allen Grund, anzunehmen, daß der Eindruck, den die Utopia machte, so groß war, daß Heinrich sich genötigt sah, Konzessionen zu machen und sein bedrücktes Volk zu entlasten. Sicher ist es, daß Heinrich VIII. wenige Monate nach dem Erscheinen der Utopia seine Kriegspolitik aufgab und einen Teil seiner französischen Eroberungen zurückstellte. Im Februar 1518 wurde Tournay an Frankreich zurückgegeben und eine Ehe zwischen dem Dauphin (französischen Kronprinzen) und Heinrichs Tochter Maria verabredet. Die Eroberungskriege Englands in Frankreich, dieses traditionelle Überbleibsel aus der Feudalzeit, hatten damit aufgehört.

Bereits 1516 war auch der Kardinal Wolsey Lordkanzler geworden, ein den Humanisten wohlgewogener Mann; Seebohm schließt aus verschiedenen Gründen, daß Wolsey zugegeben habe, die Grundsätze der Utopia müßten wenigstens insoweit durchgeführt werden, daß man die jährlichen Ausgaben beschränke.

Friedenspolitik, Sparsamkeit, Zuneigung zum Humanismus: diese Aussichten bot damals der Hof Heinrichs VIII. Sie waren trügerisch, aber sie waren da. Sollte unter diesen Umständen More in seinem Widerstreben beharren, das ihm den Kopf kosten konnte? Sollte er nicht vielmehr den Versuch wagen, trotz aller seiner Bedenken eine praktische Tätigkeit zu entfalten? Hatte er von seinem Standpunkt aus eine andere Möglichkeit dazu, als am Hofe seines Fürsten? Sollte Heinrich VIII. nicht vielleicht doch vernünftigen Mahnungen zugänglich sein? Und war es nicht besser, den Versuch zu machen, als tatenlos die Faust im Sacke zu ballen und bloße Utopien zu schreiben?

Nur dieser Gedankengang und die Wirkungen der Utopia machen unseres Erachtens die Schwenkung Mores verständlich, die uns sonst ein Rätsel bleibt bei einem Charakter wie dem seinen, der zäh an seinen Überzeugungen hing und nach Ehren und Geld kein Verlangen trug. Wir haben in der Tat auch nicht einmal den Versuch einer anderen Erklärung gefunden. Für Leute, die die Utopia als eine Stilübung oder einen Scherz betrachten, wie die meisten von Mores Biographen, war eine Erklärung auch nicht notwendig.

Erst Seebohm hat nach einer Erklärung des anscheinenden Widerspruchs zwischen Mores politischen Grundsätzen und Handlungen in der Zeit von 1516 bis 1518 gesucht (1. Auflage, S. 353 ff.): er sah sie im literarischen Erfolg der Utopia, welcher es Heinrich rätlich erscheinen ließ, More zu gewinnen, und diesen hoffen ließ, seine Ratschläge würden Gehör finden. Wir schließen uns in dieser Beziehung Seebohm an, müssen jedoch bemerken, daß der Einfluß, den More als Schriftsteller gewann, uns nicht hinreichend erscheint, zu erklären, warum Heinrich VIII. so hohen Wert auf dessen Gewinnung und später auf dessen Verbleiben in seinem Dienste legte. Man hat unseres Erachtens bisher viel zu wenig in Betracht gezogen, daß More der Vertrauensmann und der Vertreter einer der mächtigsten und aufstrebendsten Klassen Englands geworden war. Erst die Bedeutung Mores für London, Londons für England gibt uns den Schlüssel für die Wirkung der Utopia und den Einfluß ihres Verfassers auf den englischen Hof.
 

6. More im Kampfe gegen das Luthertum

Zu der Zeit als More an den Hof Heinrichs VIII. kam, begann bereits die Reformationsbewegung sich in England fühlbar zu machen, die im Jahre vorher, 1517, in Deutschland begonnen hatte. More mußte natürlich ihr gegenüber Stellung nehmen: gleich der überwiegenden Mehrzahl der anderen Humanisten trat er entschieden gegen sie auf, sobald es klar ward, daß sie die Losreißung der einzelnen Teile der Christenheit vom Papsttum, die Zerstückelung der Christenheit bedeutete.

Wir haben bereits im ersten Abschnitt die Motive beleuchtet, die die Humanisten im allgemeinen gegen die Reformation einnahmen. Diese Motive wirkten auch auf More im besonderen. Daß sie nicht kirchlicher Art waren, haben wir im vorhergehenden Kapitel gezeigt. More hatte die Mißstände der Kirche klar erkannt und sich nicht gescheut, sie bloßzulegen. Wenn die katholische Kirche ihn trotzdem unter ihre Heiligen versetzen will, weil er auf Luther geschimpft hat, dann kann sie ihm eine gute Gesellschaft geben. Sie kann ihm dann zum Beispiel Rabelais zur Seite stellen, der von der Reformation auch nichts wissen wollte und die Schale seines Hohnes über Calvin ausgoß. In der Vorrede zum zweiten Buche seines Romans Gargantua und Pantagruel erhält Calvin, der Prediger der Lehre von der Prädestination (Vorherbestimmung) des Menschen, die schönen Titel: „prédestinateur, imposteur et séducteur“ (Vorherbestimmer, Schwindler und Verführer). Im vierten Buche, Kapitel 5 bis 8, wird der fanatische Calvin, der sich in Genf mit Vorliebe Pastor (Hirt) nennen ließ, als Schafhändler Dindenault (von Dindon, der Puterhahn) verhöhnt. Das Feilschen desselben um den Hammel ist eine Verspottung der protestantischen Dispute über das Abendmahl. Im 32. Kapitel desselben Buches wird der Calvinismus direkt angegriffen. Es heißt da: Die Unnatur (Antiphysie) gebar unter anderem widernatürlichen und ekelhaften Gesindel auch die Duckmäuser, Heuchler, „die besessenen Calvins, die Schwindler von Genf“ (les demoniacles Calvins, imposteuers de Genève).

Die Motive, die More zu einem Gegner der Reformation machten, sind auf dem politischen und ökonomischen Gebiet zu suchen. In diesem Kapitel haben wir es nur mit denen ersterer Art zu tun.

Als der Verfasser vorliegender Abhandlung daran ging, Mores Schriften zu studieren, da war er der Ansicht, Mores Gegnerschaft gegen die Reformation sei, soweit sie politischen Ursprunges, der Gegnerschaft gegen den Absolutismus zuzuschreiben. Diese Ansicht hat sich als unhaltbar erwiesen. More war, wie wir gesehen, kein Gegner des Fürstentums, er hielt es im Gegenteil für höchst notwendig, gleich der überwiegenden Mehrzahl der Humanisten. Es gibt kaum eine Klasse des sechzehnten Jahrhunderts, die das Fürstentum für notwendiger hielt, als die der Kaufleute: More war aber in praktischer Beziehung der Vertreter ihrer Klasseninteressen, wenn er auch theoretisch über diese hinausragte. Das Kapital hat stets nach „Ordnung“ gerufen, nur zeitweise nach „Freiheit“. Die „Ordnung“ war sein wichtigstes Lebenselement; More, in dem Ideenkreis des Londoner Bürgertums groß geworden, war daher ein „Ordnungsmann“, der nichts mehr scheute, als eine selbständige Aktion des Volkes. Alles für das Volk, nichts durch das Volk, war seine Losung.

Die deutsche Reformation war aber in ihrem Beginn eine Volksbewegung. Der gemeinsame Ausbeuter aller Klassen der deutschen Nation war das römische Papsttum: sobald eine Klasse sich gegen dieses erhob, riß sie notwendig die anderen Klassen mit sich. Städte, Ritter, Bauern, alles erhob sich gegen die Römlinge mit einem Ungestüm, daß die Fürsten fast erschraken. Erst im Fortgang der Bewegung wurde der Kampf gegen die römische Ausbeutung bei den niederen Klassen ein Kampf gegen die Ausbeutung überhaupt, aus der nationalen Erhebung Deutschlands gegen Rom ein Bürgerkrieg, ein Bauernkrieg. Und erst seitdem in diesem inneren Kampfe die Kraft der niederen Klassen gebrochen worden ist, gestaltete sich die Reformation in Deutschland immer mehr zu einer rein dynastischen Angelegenheit. Die Lutheraner selbst hatten sich anfänglich an alle Klassen der Nation gewandt; erst als sie sahen, daß die Gegensätze innerhalb der Nation nicht überbrückbar seien und daß sie sich für eine bestimmte Klasse entscheiden müßten, schlugen sie sich auf Seite des Fürstentums.

Erst seit dem großen Bauernkrieg, 1525, wurde diese Wandlung des Lutheranismus offenkundig. Es ist demnach erklärlich, wieso More dazu kam, die Luthersche Lehre wegen ihrer Gefährlichkeit für das Fürstentum anzugreifen. Er tat dies 1523 in einer lateinischen Schrift „des Thomas More Antwort auf die Schmähungen, mit denen Martin Luther König Heinrich VIII. von England überhäuft hat“. [37]

Der Titel nennt uns bereits die Veranlassung dieser Streitschrift. Wir haben schon im vorigen Kapitel das Buch Heinrichs VIII. gegen Luther über die „sieben Sakramente“ erwähnt. Auf diese Schrift aus dem Jahre 1521 antwortete Luther 1522 eben nicht in der höflichsten Weise. [38] Er nannte Heinrich „einen dummen, groben Eselskopf, einen unsinnigen Narren, der nicht weiß, was Glauben ist“, und sagte unter anderem [39]:

„Hat der König von England seine unverschämten Lügen ausgespien, so habe ich sie ihm fröhlich wieder in den Hals gestoßen, denn er lästert damit alle meine christliche Lehre und schmiert seinen Dreck an die Krone meines Königs der Ehren, nämlich Christi, des Lehre ich habe; darum soll’s ihn nicht wundern, wenn ich den Dreck von meines Herrn Krone auf seine Krone schmiere, und sage vor aller Welt, daß der König von England ein Lügner ist und ein unwissender Mann.“

Wir empfehlen allen frommen Protestanten, denen die „Roheit“ der Arbeiterpresse so viel Herzeleid bereitet, sich durch eine fleißige Lektüre ihres Martin Luther dagegen abzuhärten.

More antwortete in seiner oben genannten Schrift ebenso grob in lateinischer Sprache. Atterbury meint, More habe unter allen Männern seiner Zeit die größte Geschicklichkeit besessen, in gutem Latein zu schimpfen. Die persönlichen Angriffe gegen Luther, der als Trunkenbold und Ignorant hingestellt wird, füllen den größten Teil der Antwort aus. Daneben findet sich noch eine Verteidigung des Papsttums und eine Darlegung der Staatsgefährlichkeit der neuen Lehre. So heißt es da unter anderem:

„Jederzeit haben sich die Feinde des christlichen Glaubens als Gegner des heiligen Stuhles erwiesen. Werden aber der Menschen Fehler dem Amte aufgebürdet, wie denn das Papsttum von den Lutheranern in der furchtbarsten Weise geschmäht wird, so ist es nicht allein um dieses, sondern auch um das Königtum, überhaupt um alle Staatshäupter geschehen, und das Volk findet sich ordnungs- und gesetzlos. Und doch ist es besser, schlechte Lenker des Gemeinwesens als gar keine zu haben. Klüger ist es darum, das Papsttum zu reformieren, als es abzuschaffen.“

Fünf Jahre später veröffentlichte More seinen Dialog über Ketzereien und Religionsstreitigkeiten. [40] In diesem läßt er sich schon mehr auf theologische Diskussionen ein. Das wichtigste sind jedoch auch hier die Auseinandersetzungen weltlicher Natur. Besonders charakteristisch für Mores politische Stellung gegenüber der Reformation erscheint uns folgende Ausführung:

„All sein Gift hat Luther mit einem besonderen Ding gewürzt, der Freiheit, die er dem Volke so anpries, indem er sagte, daß es nichts nötig habe als den Glauben. Fasten, Beten und dergleichen stellte er als überflüssige Zeremonien hin und lehrte die Menschen, daß, wenn sie gläubige Christen, sie auch Christi Vettern seien, und in voller Freiheit, ledig aller Herrscher, Sitten und Gesetze, geistlich wie weltlich, ausgenommen die Evangelien. Und obgleich er sagte, es wäre eine Tugend, zu ertragen und zu dulden die Herrschaft von Päpsten, Fürsten und anderen Obrigkeiten, die er Tyrannen nennt, so erklärte er doch, das Volk werde durch den Glauben so frei, daß sie diesen nicht mehr verpflichtet seien, als verpflichtet, Unrecht zu leiden. Dieselbe Lehre predigt Tyndall. Diese Lehre gefiel dem gemeinen Bauernvolk so wohl, daß sie das andere, was Luther sagte, nicht in Erwägung zogen und sich nicht darum bekümmerten, zu welcher Schlußfolgerung er wohl kommen möge. Die weltlichen Herren freuten sich, seine Anschuldigungen gegen den Klerus zu hören, und das Volk freute sich, seine Anschuldigungen gegen den Klerus und die weltlichen Herren zu hören und gegen die Obrigkeiten jeder Stadt und Gemeinde. Und schließlich kam es so weit, daß die Bewegung zum offenen Ausbruch von Gewalttätigkeiten führte. Natürlich fingen sie mit den Schwächsten an. Zuerst tat sich ein gewalttätiger Haufen der unglückseligen Sektierer zusammen, um die gottlose Ketzerei zu fördern, und empörte sich gegen einen Abt, dann gegen einen Bischof, was den weltlichen Herren viel Spaß machte. Sie vertuschten die Sache, da sie selbst nach den Kirchengütern lüstern waren, bis es ihnen fast ebenso erging wie dem Hunde in der Äsopschen Fabel, der, um den Schatten des Käses zu erhaschen, den Käse fahren ließ. Denn die lutheranischen Bauern wurden bald so kühn und stark, daß sie sich auch gegen die weltlichen Herren erhoben. Und hätten diese nicht beizeiten zugesehen, so wären sie in Gefahr geraten, ihre eigenen Güter zu verlieren, während sie nach anderer Leute Gut ausblickten. So aber retteten sie sich, indem sie in diesem Teile Deutschlands in einem Sommer 70.000 Lutheraner niedermetzelten und den Rest in die elendeste Sklaverei herabdrückten, aber erst, nachdem sie viel Unheil angerichtet. Und doch ist in vielen Teilen Deutschlands und der Schweiz diese gottlose Sekte durch die Nachlässigkeit der Obrigkeiten der großen Städte so erstarkt, daß schließlich das gemeine Volk die Regierenden zwang, ihm zu folgen, die, wenn sie rechtzeitig zugesehen hätten, die Leiter und Führer geblieben wären.“

Wir sehen hier von einem Zeitgenossen der Reformation den Klassenkampf, der ihr zugrunde lag, bis zu einem gewissen Grade deutlich gekennzeichnet. Allerdings, daß der Kampf gegen das Papsttum ein Kampf gegen die Ausbeutung war, das sah More nicht. Daran trugen die eigentümlichen ökonomischen Verhältnisse Englands die Schuld, von denen wir im nächsten Abschnitt sprechen werden. Hier handelt es sich nur darum, darzulegen, daß einer der politischen Gründe, die More gegen die Reformation einnahmen, ihr populärer Charakter war, ihr Charakter als eine nationale, eine Volksbewegung. Aber ihr nationaler Charakter war ihm noch in anderem Sinne zuwider. More war, wie viele der Humanisten, entschieden gleichzeitig international und national gesinnt. In Italien, dem Vaterland des Humanismus, war diese anscheinend widerspruchsvolle Haltung durch die ökonomischen Verhältnisse bedingt, wie wir gezeigt haben: die Einigung der ganzen Christenheit unter dem Papst lag im nationalen Interesse Italiens, oder genauer gesagt, im materiellen Interesse der herrschenden Klassen Italiens. Außerhalb Italiens und namentlich in den nichtromanischen Ländern hatte diese internationale Gesinnung keinen materiellen Rückhalt, war sie eine bloße ideologische Schrulle, ohne Einfluß auf das Volk zu gewinnen. Allerdings findet die internationale Gesinnung Mores anscheinend eine Erklärung in den tatsächlichen Verhältnissen: More war, wie wir wissen, ein Gegner der dynastischen Kriege, und darin Vertreter wirklicher materieller Interessen. Diese erforderten die Einigkeit der Christenheit und deren Frieden; es war jedoch eine ideologische Illusion, zu glauben, daß der Katholizismus noch imstande sei, diese einigende Kraft darzustellen. War doch der Papst selbst ein weltlicher Fürst geworden, der in diplomatischen Intrigen und dynastischen Kriegen mit seinen Herren Kollegen wetteiferte.
 

7. More im Konflikt mit dem Königtum

Die gemeinsame Gegnerschaft gegen den Lutheranismus mußte Heinrich VIII. und More einander näher bringen. Indessen wuchs auch die Geschäftskenntnis und Bedeutung des letzteren. Kein Wunder, daß er rasch „Karriere“ machte. Einen Monat, nachdem er in des Königs Rat aufgenommen und zum Referenten über einlaufende Gesuche (Master of Requests) gemacht worden war, erfolgte seine Ernennung zum Geheimrat (Privy Councillor). Wenige Jahre nachher (1521) ernannte ihn Heinrich zum Verwalter der Schatzkammer (Treasurer of the Exchequer), eine Art Finanzminister, und kurz darauf zum Kanzler des Herzogtums Lancaster, in welcher Stellung er bis 1529 verblieb. In diese Zeit dürfte auch seine Erhebung in den Ritterstand (Knight) fallen, die indes auf More kaum erhebliche Wirkung ausübte. Seinem Namen wurde von nun an das Wörtchen „Sir“ vorgesetzt! Sir Thomas More oder Sir Thomas, nie aber Sir More. Das Wörtchen „Sir“ wird stets in Verbindung mit dem Vornamen gebraucht, dagegen kann der Familiennamen wegfallen.

Durch diese Ehrenstellen ließ sich jedoch More ebensowenig bestechen, als er sich durch seinen Gegensatz gegen die Bewegungen des Volkes zur unbedingten Unterwürfigkeit unter das Königtum verleiten ließ. Daß er diesem selbständig gegenüberstand, und daß weder der Hofdienst noch die Reformation seinen prinzipiellen Standpunkt geändert hatten, der die Herrschaft des Königs, des Völkerhirten, für notwendig, die Unterwerfung unter den Tyrannen, den Völkerschinder, für schimpflich erklärte, das hatte er Gelegenheit zu beweisen, als Wolsey ihn 1523 zum Sprecher, das heißt Präsidenten des Parlamentes erwählen ließ.

Dieses Parlament hatte natürlich vor allem Gelder zu bewilligen, was der Beruf der Parlamente seit jeher gewesen ist. Mores Aufgabe war da keine angenehme; der Sprecher fungierte nicht bloß als Vorsitzender und Leiter der Verhandlungen des Unterhauses, wie heute, er hatte auch das Budget abzufassen und dem Hause vorzulegen, hatte also einige der Funktionen des modernen Finanzministers. (Thorold Rogers, a. a. O., S. 308) Heinrich meinte natürlich, Mores Aufgabe sei es, den „Gemeinen“ seine Forderungen plausibel zu machen; und das war allerdings sehr nötig, denn das Unterhaus zeigte sich entschieden abgeneigt, die neuen Steuern zu bewilligen. Der Kardinal und Lordkanzler Wolsey, aufgebracht darüber, ging selbst ins Parlament, um dieses einzuschüchtern. Er hoffte, More werde ihm dabei behilflich sein. Wie uns Roper erzählt, mußte er jedoch mit zornigem Erstaunen sehen, daß der Mann, den er zu seinem Werkzeug auserlesen hatte, die Rechte des Unterhauses gegenüber dem allmächtigen Minister verteidigte. Außer sich vor Zorn rannte er aus dem Parlament davon. Schließlich erreichte Heinrich freilich seinen Zweck, aber erst, nachdem er das Parlament durch Todesdrohungen eingeschüchtert hatte.

Gegen diese Darstellung Ropers sind schwere Bedenken erhoben worden und die Sache ist noch nicht genügend geklärt. Wir müssen sie auf sich beruhen lassen, ebenso die folgende Darstellung Ropers, daß man sich des unbequemen Mannes entledigen wollte, daß man aber nicht wagte, ihn offen anzugreifen – sein Einfluß bei der Bürgerschaft hatte durch sein mutvolles Eintreten für die Rechte des Unterhauses jedenfalls eher gewonnen als verloren. Man suchte ihn daher unter dem Scheine einer Erhöhung aus dem Lande zu schaffen, indem man ihn als Gesandten nach Spanien schicken wollte. More merkte indes die Falle und lehnte die Ehre, die Heinrich ihm zugedacht, aus „Gesundheitsrücksichten“ ab.

Wie dem auch sei, jedenfalls sollte More bald in einen ernsteren Konflikt mit dem König kommen, der schließlich mit einer Beförderung anderer Art endete.

Heinrich VIII. war mit der Witwe seines als Kind verstorbenen Bruders Artur, Katharina von Spanien, vermählt. Diese Dame wurde ihm jedoch um so langweiliger, je älter sie wurde, und als er Anna Boleyn, eine ihrer Hofdamen, kennen lernte, ein hübsches und witziges Mädchen, das am französischen Hofe alle Künste der Koketterie gelernt und geübt hatte, entbrannte er in solcher leidenschaftlichen Liebe, daß er sich’s in den Kopf setzte, Anna zu heiraten und sich von Katharina scheiden zu lassen. Da der Papst die Scheidung nicht bewilligte, riß Heinrich sich von der katholischen Kirche los und setzte die Reformation in England ins Werk.

Dies die Tatsachen, wie sie gewöhnlich erzählt werden, und die in dieser Darstellung fast zu dem Glauben verführen könnten, die Weltgeschichte werde gemacht, wie Zschokke uns in einer netten Novelle erzählt, durch die Launen von Kammerkätzchen und Hoffräulein. Dieser Darstellung zufolge würde England heute noch katholisch sein, wenn Heinrich weniger liebesbrünstig und Anna weniger kokett gewesen wäre.

In Wirklichkeit lagen die Gründe und selbst die Veranlassungen der Kirchenspaltung etwas tiefer, als in einer bloßen Liebelei. Viele katholische Fürsten haben reizlose Frauen und neben diesen reizende Maitressen gehabt, vor, während und nach Heinrich VIII., ohne daß eine Kirchenspaltung daraus erwuchs; und viele Päpste haben vor und nach Heinrich VIII. Ehescheidungen ausgesprochen, wenn sie es für gut hielten. Wir haben uns also zu fragen, woher kommt es, daß gerade Heinrichs Ehescheidung den Anstoß zu so weittragenden Umwälzungen gab?

Die Ehen der absoluten Monarchen, namentlich im sechzehnten Jahrhundert, hatten einen eigentümlichen Charakter. Die Reiche der absoluten Fürsten waren ihre Domänen, über die sie freies Verfügungsrecht hatten, und die sie soviel als möglich zu vergrößern strebten. Noch hatten die Staaten nicht die Festigkeit der modernen Nationalstaaten erlangt, noch waren sie in beständiger Umbildung begriffen: hier wurde ein Stück abgerissen, dort eines hinzugefügt; hier zwei Länder durch Heirat vereinigt, dort das Gebiet durch den Erbvertrag mit einem kleinen Nachbarn „arrondiert“. Wie unter den großen Grundbesitzern, herrschte unter den Fürsten eine rasende Gier nach Land, daher ewige Kriege, diplomatische Intrigen, Allianzen, die ebenso leicht gebrochen wie abgeschlossen wurden usw. Die festeste Form eines diplomatischen Bündnisses war die durch ein Ehebündnis besiegelte: man setzte damit dem „Freunde“ in der Gattin einen Spion und Agenten an die Seite. Freilich durfte man auch auf das eheliche Bündnis kein allzu großes Vertrauen setzen, immerhin bot es doch eine bessere Gewähr als ein bloßes Stück Pergament. Und die Erbansprüche, die aus der Verbindung folgten, konnten unter Umständen recht nützlich werden.

Wie es unter diesen Umständen mit der „Heiligkeit der Ehe“ aussah, läßt sich denken. Kinder wurden miteinander, alte Weiber mit Knaben, Greise mit Backfischen gepaart.

So war auch, wie wir schon erwähnt, der Anschluß Englands an Spanien unter Heinrich VII. durch die Vermählung Katharinas von Aragonien mit Heinrichs ältestem Sohne Artur bekräftigt worden. Artur war bei seiner Verlobung sechs Jahre alt. Im elften Jahre heiratete er und starb ein Jahr darauf. Sieben Jahre später vermählte sich Arturs jüngerer Bruder, Heinrich VIII., mit Arturs Witwe. Die Ehe hatte sich so lange verzögert, weil Heinrich seinem geliebten Schwiegervater nicht recht traute, der mit der versprochenen Mitgift nicht herausrücken wollte.

Im Laufe der Regierung Heinrichs änderten sich indessen die Beziehungen Englands zu Spanien. Karl V. hatte durch die Vereinigung von Spanien, den Niederlanden und der deutschen Kaiserkrone in seiner Hand eine furchtbare Macht erlangt, der Frankreich nicht gewachsen schien. Dadurch wurde das spanisch-englische Bündnis überflüssig, das sich gegen Frankreichs Übergewicht gerichtet hatte: die Freundschaft Englands zu Spanien geriet ins Schwanken und wurde mehreremal durch ein Bündnis mit Frankreich ersetzt. So war die Ehe mit Katharina zwecklos geworden. Nicht nur Heinrich betrieb die Scheidung von ihr, sondern auch sein Minister, der Kardinal Wolsey. Letzterer allerdings nicht, um Anna Boleyn, sondern um eine französische Prinzessin an ihre Stelle zu setzen.

Dieselben Gründe, die Heinrich und Wolsey bewogen, die Scheidung zu betreiben, bewogen den Papst, ihr zu widerstreben. Gerade in der Zeit, in der die Scheidungsangelegenheit ihre akuteste Form annahm, von 1527 bis 1533, hing der Papst am vollständigsten von Karl V. ab, dessen Tante Katharina war. Clemens VII. bot alles auf, um Heinrich zu befriedigen; auch die Scheidung hätte er ihm bewilligt, und er wäre ein schlechter Papst gewesen, wenn er nicht einen kanonischen Grund dafür gefunden hätte, aber Karl wollte von einer solchen Konzession nichts wissen. So spitzte sich der Streit dahin zu, ob der Papst ein Werkzeug Englands oder Spaniens sein solle.

Die Lutheraner erklärten, die Scheidung auch nicht billigen zu können, sie rieten aber Heinrich VIII., nach dem Vorbild Abrahams und Jakobs zwei Frauen zu nehmen. Für Könige und Patriarchen habe Gott besondere Ehevorschriften gemacht. Luther erlaubte auch dem Landgrafen von Hessen, in Bigamie zu leben, „wegen der Versoffenheit und Häßlichkeit der Landgräfin“. Heinrich wies jedoch die Luthersche Erlaubnis verächtlich zurück.

Er hatte sich in seinem Größenwahn eingebildet, mit den Mächten konkurrieren zu können, die damals um die Beherrschung und Ausbeutung des Papsttums rangen: mit Franz I. von Frankreich und dem spanisch-deutschen Habsburger Karl. Auch nach der deutschen Kaiserkrone hatte er gestrebt. Und als der Papst Leo X. starb, bewarb sich Wolsey um die Tiara, ebenso 1523, nach dem Tode von dessen Nachfolger. Beidemal mußte Heinrich die Demütigung erleben, daß an Stelle seiner Kreatur Kreaturen Karls gewählt wurden: Hadrian VI. (1522 bis 1523) und Clemens VII. Die Ehescheidungsangelegenheit überzeugte Heinrich vollends, daß an eine Beherrschung des Papsttums durch ihn nicht zu denken sei, daß daher, wollte er diesem nicht unterwürfig werden, wollte er Herr im Lande, Herr der Kirche sein, nichts anderes übrig blieb als Losreißung vom Papsttum.

Zu diesem politischen gesellte sich noch ein ökonomisches Motiv: der große Schatz, den der geizige Heinrich VII. hinterlassen hatte, war längst in Krieg und Prunk verschwendet. Das Parlament von 1523 hatte aber gezeigt, daß, wie gefügig es auch sonst sich erwies, auf große Geldbewilligungen durch dasselbe nicht zu rechnen war. Was lag da näher, als nachzumachen, was die Herren Vettern in Deutschland so schön vorgemacht: die Geldnot durch die Einziehung des Kirchenvermögens zu beenden? Allerdings wurde die Auflösung der Klöster erst nach Mores Tode ins Werk gesetzt, aber angedroht wurde sie schon vorher, dadurch die Geistlichkeit eingeschüchtert und bewogen, durch große Geldbewilligungen die Gunst des Despoten zu erkaufen. Erst, als es nichts Erhebliches mehr zu erpressen gab, ging man an die Einziehung der Güter.

Nirgends trat die Kirchenspaltung so offen, so schamlos als bloßes Ergebnis der Wollust, des Größenwahns und der Habsucht des Absolutismus auf, wie in England. An den Dogmen, am Ritual wurde nichts geändert, als daß an die Stelle des Papstes der König trat: der Lutheranismus wurde ebenso verpönt wie der Papismus.

Daß More sich mit dieser Art Reformation ebensowenig befreunden konnte, als mit den Anfängen des Lutheranismus, ist klar. Von seinem internationalen Standpunkte mußte er jede Bildung einer nationalen Kirche bekämpfen. Ebensowenig konnte er aber einer Vermehrung der fürstlichen Macht zustimmen. Im Gegenteil, er wollte sie beschränken, allerdings nicht so sehr von unten, als von oben. Er fühlte die Notwendigkeit einer Beschränkung, einer Unterordnung des Absolutismus; er glaubte jedoch im Volke nicht die nötigen Elemente hierzu zu finden, und so suchte er seine Zuflucht bei einer doktrinären Illusion, die er mit vielen Humanisten teilte, und die wir schon im ersten Abschnitt berührt haben: die Fürsten sollten vom Papst geleitet werden, dieser aber unter dem Konzil stehen und letzteres wieder mit dem Geiste des Humanismus erfüllt werden. Der alte Schlauch sollte bleiben, der Wein sollte erneuert werden. Und nun kam das Königtum und verwandelte die Kirche aus einer Schranke in ein Werkzeug! Da konnte More nicht mithelfen.

Lange hat er seine Einwendungen gegen die „Reformation“ Heinrichs verschwiegen. Erst nachdem er in seinem Prozeß schuldig gesprochen worden war, rückte er mit der Sprache heraus und erklärte, daß England, welches nur einen kleinen Teil der ganzen Christenheit bilde, ebensowenig Gesetze erlassen könne, die den allgemeinen Gesetzen der Kirche widersprächen, als die City von London Gesetze gegen einen Parlamentsakt machen könne. Und er sagte weiter:

„Wenn vielleicht auch nicht in diesem Königreich, so sind doch in der gesamten Christenheit die Bischöfe, Universitäten und gelehrten Männer in ihrer Mehrheit auf meiner Seite ... Ich bin daher nicht verpflichtet, meine Überzeugung der Ratsversammlung eines Königreichs anzupassen entgegen der Vertretung (council) der gesamten Christenheit.“

Das ist in der Sprache seiner Zeit deutlich genug gesprochen.

Der Standpunkt Mores war ebenso kühn, als er haltlos war. Wir haben schon im ersten Abschnitt auf die Haltlosigkeit des deutschen und englischen Humanismus hingewiesen und daraus sein rasches Verschwinden erklärt. Die Mehrzahl der Humanisten waren jedoch bloße Theoretiker, Professoren und Literaten, die sich duckten und zurückzogen, als der Sturm der Reformation losbrach. Ein Feuergeist wie More tat das nicht. Und wenn er es gewollt hätte, er hätte es nicht gekonnt. Sein politischer Einfluß war zu groß, als daß man ihn hätte unbeachtet verschwinden lassen: er mußte entweder dem König dienen oder untergehen. Mit dieser Alternative war sein Schicksal angesichts seines Charakters besiegelt.

Sein Untergang ging jedoch nur zögernd, Schritt vor Schritt, vor sich; er bereitete sich schon vor, indes More immer höher stieg und zur höchsten Würde im Reich nach dem König erhoben wurde. Allerdings hatte er von Anfang an sich gegen dessen Ehescheidung ausgesprochen und geweigert, für sie einzutreten. Heinrich hoffte jedoch bis zum letzten Moment, ihn zu gewinnen, und er hatte um so mehr Ursache, dies anzustreben, da Mores Popularität damals womöglich im Steigen war. 1529 wurde dieser mit Cuthbert Tunstall und John Haclet nach Cambray abgesandt, um bei den Friedensverhandlungen zwischen England und Frankreich auf der einen und Spanien auf der anderen Seite England zu vertreten. Der Friede war namentlich für die englischen Kaufleute sehr wichtig, da der Handel mit den Niederlanden durch den Krieg sehr gelitten hatte. More und seine Genossen führten die Verhandlungen mit großer Geschicklichkeit [41] und erlangten einen über alles Erwarten günstigen Vertrag, mit dem die Engländer und namentlich die Kaufleute höchlich zufrieden waren. Einen so brauchbaren und beliebten Mann mußte man womöglich zu gewinnen suchen.

Als Wolsey den Intrigen der Anna Boleyn erlegen war, wurde daher More an dessen Stelle zum Lordkanzler von England ernannt (1529), der erste Laie in dieser Stellung, der nicht aus dem hohen Adel stammte. Wider Willen übernahm er die Stellung, aber ihm blieb keine Wahl. Seine Antrittsrede läßt uns seine Gemütsstimmung ahnen. Die Herzöge von Norfolk und Suffolk geleiteten ihn in öffentlichem Aufzuge in die Westminsterhalle, wo More sein Amt vor versammeltem Volke antrat. Der Herzog von Norfolk hielt eine schmeichelhafte Rede, in der er die Verdienste des neuen Lordkanzlers pries. Darauf antwortete More, daß er sich über seine Beförderung nicht so erfreut fühle, als andere Leute glaubten, wenn er seines weisen und mächtigen Vorgängers und dessen Falls gedenke. „Ich besteige diesen Sitz als einen Platz voll von Mühen und Gefahren und ohne jegliche wahre Ehre. Je höher die Ehrenstellung, desto tiefer der Fall, wie das Beispiel meines Vorgängers beweist. Wäre nicht des Königs Gnade, so würde mir dieser Sitz nicht angenehmer sein, als dem Damokles sein Schwert, das über ihm hing.“

Seine düsteren Ahnungen sollten sich nur zu bald erfüllen. Er versuchte es, neutral zu bleiben, aber es ging nicht. Er wurde bald vor das Verlangen gestellt, seinen Namen zu Handlungen herzugeben, die er aufs tiefste verabscheute. Heinrich zwang ihn, im Unterhaus die Gutachten der Universitäten von Paris, Orleans, Angers, Bourges, Toulouse, Bologna, Padua, die erkauft, und die von Oxford und Cambridge, die erpreßt waren, vorzulesen: diese Gutachten erklärten die Ehescheidung Heinrichs für eine kanonisch gültige. Da erkannte More, daß ein weiteres Bleiben im Amte mit seiner Überzeugung unverträglich sei, und er legte seine Stellung nieder (1532).
 

8. Mores Untergang

Mit seinem Rücktritt war Mores Schicksal entschieden. Er hatte sich gegen den Tyrannen erklärt in einem Moment, wo dieser aller seiner Diener bedurfte, in einem Moment, als er einen Kampf gegen eine Klasse von Bürgern des eigenen Reiches unternommen. Unter solchen Umständen zurücktreten, hieß in den Augen des Königs Rebellion und Hochverrat begünstigen. Jene Sorte von Historikern, die man als die Staatsanwälte der Vergangenheit bezeichnen kann, haben denn auch nicht ermangelt, so oft sie auf die Gerichtskomödie zu sprechen kamen, die zu Mores Verurteilung aufgeführt wurde, sich mit dem Nachweis abzumühen, daß More wirklich ein Rebell und Hochverräter gewesen sei. So sagt der von uns schon einmal gekennzeichnete Froude: Der Hauptpunkt, um den sich der Kampf drehte, war der, ob der König das Haupt der Kirche sein solle oder nicht. Die Behauptung, er solle es nicht sein, war gleichbedeutend damit, daß die Exkommunikation gültig, daß Heinrich nicht mehr König sei(!). Die Leugnung, daß Heinrich das Haupt der Kirche sei, war also Hochverrat (Froude, History of England, 2. Band, S. 220, 221). Die bewußte Verlogenheit dieser geschraubten Logik kann man daraus ersehen, daß die Exkommunikation in Wirklichkeit nicht die Ursache, sondern die Folge der Hinrichtungen Mores und der anderen „Märtyrer“ war. Die Bannbulle wurde erst nach diesen Hinrichtungen abgefaßt und erst 1538 veröffentlicht, drei Jahre nach Mores Tode. [42]

Wäre More wirklich Rebell gewesen, so würde uns das nicht mit Entrüstung erfüllen. Wenn wir diese Behauptung zurückweisen, so geschieht es also nicht, um More „reinzuwaschen“, sondern allein im Interesse der historischen Wahrheit. Die Fälschung der Herren Froude und Konsorten gibt nicht bloß dem Despotismus Heinrichs VIII., sondern auch More einen von seinem wirklichen ganz verschiedenen Charakter.

More zog sich vom öffentlichen Leben völlig zurück, ohne sich einen Augenblick darüber zu täuschen, was ihn erwartete. Aber der Schlag ließ länger auf sich warten, als er dachte. Mores Einfluß und Ansehen war zu groß, als daß Heinrich nicht alles versucht hätte, ihn zu gewinnen, ehe er ihn vernichtete. Durch Belohnungen und Ehrenstellen ließ derselbe sich nicht verlocken. Vielleicht ließ er sich aber durch Drohungen beugen, durch die Not zwingen.

Ein System von Schikanen und Quälereien begann. Mores Güter, die ohnehin nicht sehr ausgedehnt waren, wurden vom König konfisziert. An Bargeld besaß More nicht viel, er hatte seine Laufbahn bei Hofe ärmer beschlossen, als er sie begonnen. In großer Dürftigkeit lebte er nun in Chelsea bei London.

1533 wurde eine Anklage wegen Hochverrats gegen eine Nonne von Canterbury, Elisabeth Barton, erhoben, genannt die heilige Jungfrau von Kent, eine Betrügerin, die Visionen und dergleichen Zeug simulierte. Sie hatte prophezeit, der König werde keinen Monat nach Eingehung seiner Ehe mit Anna Boleyn am Leben bleiben. More wurde in den Prozeß verwickelt, weil er einmal zufälligerweise mit der Nonne zusammengetroffen war, der gegenüber er sich jedoch sehr reserviert verhielt, da er sie von vornherein als Betrügerin erkannte. Die Anklage war so unbegründet und Mores Ansehen so groß, daß die Lords sich weigerten, die Bill (Gesetzvorschlag) anzunehmen, durch welche die Nonne von Kent und Genossen des Hochverrats schuldig erklärt werden sollten, wenn nicht Mores Name von ihr gestrichen werde. Heinrich mußte sich dazu verstehen. Die Nonne wurde mit sechs anderen hingerichtet, More kam für diesmal mit heiler Haut davon. Als seine Tochter Margarete ihre Freude darüber aussprach, meinte er: „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“

Der Herzog von Norfolk redete ihm zu, sich dem König zu beugen: „Es ist gefährlich, mit Fürsten zu kämpfen, und ich wünschte daher, Ihr würdet dem Wunsche des Königs nachkommen. Denn, bei Gott, des Fürsten Zorn bedeutet Tod.“ „Ist das alles, Mylord?“ erwiderte More. „Das macht zwischen mir und Euch nur den Unterschied, daß ich heute sterbe und Ihr morgen.“

Im November 1533 nahm das Parlament die Suprementsakte an, durch welche der König zum obersten Haupte der englischen Kirche gemacht wurde. Außerdem verordnete das Parlament, daß Heinrichs erste Ehe ungültig, seine zweite gültig sei; es schloß Katharinas Tochter Maria von der Nachfolge aus und erklärte Annas Tochter Elisabeth als die rechtmäßige Nachfolgerin Heinrichs. Ein Eid wurde aufgesetzt, in dem man die Anerkennung dieser Sätze beschwor, und allen Priestern von London und Westminster, daneben auch More, vorgelegt. Er weigerte sich, den vollen Eid abzulegen, erklärte sich jedoch bereit, denjenigen Teil zu beschwören, der auf die Nachfolge Bezug habe. Infolge dieser Weigerung wurde er verhaftet und in den Tower als Gefangener gesetzt. Länger als ein Jahr blieb er dort, elend gehalten, bald auch seiner Bücher beraubt: umsonst, seine physische Kraft ließ sich brechen, seine moralische nicht, er verweigerte immer noch entschieden die Ablegung des Eides.

Da wurde ihm endlich der Prozeß gemacht.

Das Parlament hatte keine Strafen für Verweigerung des Eides festgesetzt. Um das gut zu machen, bestimmte es später, es sei Hochverrat, wenn jemand „böswillig (maliciously) wünsche, wolle oder erwarte, in Wort oder Schrift, daß des Königs Person, die Königin oder ihre Erben ihrer Würden und Titel verlustig gehen.“

More hatte seine Gründe der Eidverweigerung beharrlich verschwiegen. Schweigen war aber kein Hochverrat. In der Verlegenheit nahm man zu einem eigenartigen Zeugen seine Zuflucht, dem Staatsanwalt Rich, der erklärte, More habe sich ihm gegenüber ausgesprochen, das Parlament habe nicht das Recht, den König zum Haupte der Kirche zu machen.

Vergebens wies More darauf hin, wie unsinnig es sei, anzunehmen, daß er einem Menschen, den er seit langem als Lumpen kenne, ein Geständnis machen würde, das er niemand anderen gemacht habe. Vergebens erklärten andere Zeugen, die der Unterredung Richs mit More im Tower beigewohnt, daß sie nichts gehört hätten. Die Geschworenen waren des Zeugen würdig. Sie erklärten More ohne weiteres für schuldig, ohne auch nur die Anklageschrift gelesen zu haben. Das Urteil lautete:

„Er soll zurückgebracht werden in den Tower mit Hilfe des Sheriffs William Bingston, und von da durch die City von London nach Tyburn geschleift, dort aufgehängt werden, bis er halbtot ist, dann abgeschnitten, solange er noch lebendig, seine Geschlechtsteile abgeschnitten, sein Bauch aufgeschlitzt, seine Gedärme ausgerissen und verbrannt werden. Dann soll man ihn vierteilen und auf jedem der vier Tore der City einen der vier Teile, den Kopf aber auf der Londoner Brücke aufstecken.“

Der König begnadigte More zur Enthauptung. Als More davon erfuhr, rief er aus: „Gott bewahre meine Freunde vor solcher Gnade!“

Der Humor ging More überhaupt nicht aus. Seine letzten Worte waren Witzworte.

Am 6. Juli 1535 wurde er im Tower hingerichtet. Das Schafott war schlecht zusammengefügt, es schwankte, als er es bestieg. Er sagte daher heiter zum Leutnant des Towers, der ihn geleitete: „Ich bitte, helft mir hinauf. Für das Herunterkommen will ich allein sorgen.“ Er versuchte darauf zum Volke zu sprechen, wurde aber daran gehindert.

„So wendete er sich nach einem Gebet“, berichtet Roper, „zum Scharfrichter und sagte ihm mit heiterer Miene: ‚Nur Mut, Mann, fürchte dich nicht vor deinem Amte. Mein Hals ist kurz, ziele also gut, damit du keine Schande einlegst.‘“

So starb der erste der großen kommunistischen Utopisten.


Anmerkungen des Verfassers

3. Margarete; er heiratete sie 1521, starb 1577, 33 Jahre nach ihrem Tode.

4. Der Titel seiner Schrift lautet: The Life of Sir Thomas More, written by his son in law William Roper. Als Motto ist ihr ein Kreuz vorangesetzt mit der Umschrift: In hoc signo vinces (unter diesem Zeichen wirst du siegen). Der englischen Ausgabe der Utopia der Pitt-Press-Series (Cambridge 1885) ist ein Abdruck dieser Biographie nach Hearnes Ausgabe von 1716 beigegeben. Die folgenden Seitenangaben aus Roper sind nach dieser Ausgabe gemacht.

5. Wir haben die Kölner Ausgabe dieses Werkes von 1612 benutzt: Tres Thomae, seu res gestae S. Thomae Apostoli, S. Thomae, Archiepiscopi Cantuariensis et Martyris, Thomae Mori, Angliae quondam cancelarii. Autore Thoma Stapletono. Coloniae Agrippinae 1612, 382 S. (gewidmet dem Abt „Hermanno Mayero“). Es existiert eine schlechte französische Übersetzung dieser Biographie, besorgt von A. Martin, mit Noten und einem Kommentar von Audin (das Beste davon aus Rudharts „Morus“ abgeschrieben): Histoire de Thomas More, par Stapleton, Paris 1849.

6. Arthur Cayley the younger, The memoirs of Sir Thomas More, 2 Bände, London 1804.

7. Dr.Georg Thomas Rudhart, Thomas Morus, aus den Quellen bearbeitet, Nürnberg 1829. X und 458 Seiten.

8. Frederic Seebohm, The Oxford Reformers of 1498. Being a history of the fellow work of John Colet, Erasmus and Thomas More, London 1867. XII und 434 Seiten. 2. Auflage 1869. XIV und 551 Seiten. Kaum war die erste Auflage dieses Buches erschienen, als ein Manuskript aufgefunden wurde, aus dem das Geburtsjahr Mores zu ersehen war. Dadurch wurde die ganze Chronologie und ein gut Teil der Hypothesen des Buches hinfällig. Seebohm veranstaltete schleunigst eine zweite Auflage und zog den Rest der ersten Auflage zurück. Unsere Exzerpte sind teils der ersten, teils der zweiten Auflage entnommen, da uns letztere später zu Gesicht kam.

9. Rev. T.E. Bridgett, Life and Writings of Sir Thomas More, Lord Chancellor of England and Martyr under Henry VIII, London 1891,. XXIV und 458 Seiten.

10. William Holden Hutton, Sir Thomas More, London 1900, X und 290 Seiten.

11. The workes of Sir Thomas More Knyght, sometimes Lorde Chauncellor of England, written by him in the English tongue. Printed at London 1557, 1458 Seiten Fol.

12. Thomae Mori Angliae quondam Cancellarii opera omnia quotquot reperiri potuerunt ex Basileensi anni MDLXIII et Lovaniensi anni MDLXVI editionibus deprompta, diversa ab istis serie deposita, emendatioraque edita, praefixae de vita et morte Thomae Mori, Erasmi et Nucerini epistolae ut et doctorum virorum de eo eulogia, Francofurti ad Moenum et Lipsiae, sumptibus Christiani Genschii, anno MDCLXXXIX.

13. Sir Thomas More. A Selection from his works, as well in prose as in verse, forming a sequel to Life and Times of Sir Thomas More by W. Jos. Walter, Baltimore 1841, 364 S.

14. Mores History of King Richard III. Edited with Notes, Glossary, Index of Names, by J. Rawson Lumby, Pitt Press Series, Cambridge University Press, Leipzig 1885, F.A. Brockhaus. In einer Volksausgabe wurde Mores Geschichte Eduard V. und Richard III. abgedruckt zusammen mit I. Miltons Britain under Trojan, Roman, Saxon Rule und E. Bacons Henry VII, London. 1890 erschien eine Neuausgabe von Mores Life of John Picus, Earl of Mirandula etc.

15. Er findet sich in der Gesamtausgabe der lateinischen Werke von More, von 1689. Größere Bruchstücke daraus sind bei Bridgett abgedruckt.

16. Nach Humanistenart latinisierte More seinen Namen in Morus.

17. Unter Mores Tieren ist ein Affe berühmt und im Bilde unsterblich geworden. Dieser wußte einmal Mores Wiesel so geschickt daran zu hindern, daß es zu den Kaninchen durch eine Bretterspalte ihres Verschlags gelange, daß Erasmus bewundernd die Geschichte davon in seinen Colloquiis erzählte. Hans Holbein malte einige Jahre später die Familie des Lordkanzlers More, und da durfte dieser Affe auf dem Bilde nicht fehlen. (Seebohm, a. a. O., 1. Aufl., S. 420, 421)

18. Da wir nicht mehr Gelegenheit haben, später darauf zurückzukommen, so sei hier bemerkt, daß More nichts weniger als prüde war. An einem witzigen Zötchen konnte er sich sehr ergötzen, und zwar nicht bloß im geheimen, wie der moralisierende Philister. War ihm eines gelungen, dann ließ er es auch drucken. Unter seinen lateinischen Epigrammen finden sich mehrere dieser Art. Zur Charakterisierung Mores sei eines derselben hier wiedergegeben: Ein Jüngling überrascht ein Mädchen in der Einsamkeit. Er umschlingt sie und fleht um ihre Liebe. Umsonst, sie wehrt sich verzweifelt mit Händen und Füßen gegen ihn. Da reißt ihm die Geduld; er zieht sein Schwert und ruft:

„Ich schwöre dir bei diesem Schwert,
„Wenn du nicht ruhig liegst und den Mund hältst – dann geh’ ich.
„Erschreckt von der düsteren Drohung fällt sie um:
„Nun so tu’s, sagt sie, aber wisse, ich weiche nur der Gewalt.“

Der Witz besteht auf diesem Gebiet weniger in dem, was man sagt, als wie man’s sagt. Eine Übersetzung verliert daher stets an Wirkung. Im Original lautet die Pointe:

„Per tibi ego hunc ensem juro, simul etulit ensem,
„Commode ni jaceas, ac taceas, abeo.
„Illico succumbuit tam tristi territa verbo:
„Atque age, sed quod agis, vi tamen, inquit, agis.“

19. More selbst gibt als die Namen seiner Töchter an: Margareta, Elisabetha und Cäcilia (zum Beispiel in dem gereimten Brief an seine Kinder im Anhang zu seinen Epigrammen). Die englische Aussprache des abgekürzten Namens hat wohl Erasmus irregeführt.

20. Erasmus nennt drei: cythara, testudo und monochordum. Wir überlassen es den der Geschichte der Musik Kundigen, herauszufinden, was für Instrumente er damit meint, namentlich mit der letzten Bezeichnung.

21. More wurde 1509 Untersheriff von London.

22. Unser klassisch gebildeter Erasmus schreibt drachmas. Die Drachme war eine altgriechische kleine Silbermünze. Hier ist darunter wohl der groat gemeint, der Groschen, eine kleine Silbermünze im Werte von 4 Pence.

23. „Civilem conversationem“; damit meinte Herr Stapleton wohl nicht eine „höfliche Konversation“.

24. The Life of John Picus, Erle of Mirandula, a great Lorde of Italy, an excellent connyng man in all sciences and vertuous of living: with divers epistles and other works of y said John Picus, full of great science, vertue and wisedom: whose life and workes bene worthy and digne to be read and often to be head in memory. Translated out of latin into Englishe by maister Thomas More.

25. The history of King Richard the Third (unfinished) written by Master Thomas Morus, than one of the undersheriffis of London, about the year of the Lord 1513 (S. 35 der Gesamtausgabe von Mores englischen Schriften).

26. In manchen alten Ausgaben steht hier die Randglosse: „Ein gewöhnliches Sprichwort bei den Bettlern.“ Ein Beweis, wie sehr die Kirche ihrer Aufgabe der Armenunterstützung untreu geworden war.

27. Assertio septem sacramentorum adversus Martinum Lutherum edita ab invictissimo Angliae et Franciae rege et domino Hiberniae, Henricus ejus nominis octavo, Londini 1521.

28. Namentlich Guienne (mit der alten Hauptstadt Bordeaux) war für die Engländer wichtig, weil sie von dort Salz und Wein bezogen. Als der König von Frankreich diese Provinz 1450 eroberte, legte er sogleich eine Ausfuhrsteuer auf diese beiden Artikel, wohl wissend, wie nötig sie für die Engländer seien. Thorold Rogers, Six Centuries of Work and Wages, S. 96.

29. „Die Lohnarbeiter der Agrikultur bestanden teils aus Bauern, die ihre Mußezeit durch Arbeit bei großen Grundeigentümern verwerteten, teils aus einer selbständigen, relativ und absolut wenig zahlreichen Klasse eigentlicher Lohnarbeiter. Auch letztere waren faktisch zugleich selbstwirtschaftende Bauern, indem sie außer ihrem Lohn Ackerland zum Belauf von vier und mehr Acres nebst Cottage angewiesen erhielten. Sie genossen zudem mit den eigentlichen Bauern die Nutznießung des Gemeindelandes, worauf ihr Vieh weidete und das ihnen zugleich die Mittel der Feuerung, Holz, Torf, usw. bot.“ Marx, Kapital, 3. Aufl., 1. Band, S. 740.

30. Thomae Mori Dialogi Lucianei e Graeco in Latinum sermonem conversi, adjecta declamatione qua Luciani Tyrannicidae respondetur.

31. Das Haus, in dem die Utopia wahrscheinlich verfaßt wurde, steht heute noch und ist – ein Wirtshaus, eine der Sehenswürdigkeiten von London, die Crosby Hall, in der Bishopsgate Street, gebaut 1466. Wenige Jahre nach Eingehung seiner ersten Ehe, die in das Jahr 1505 fiel, kaufte More das Haus, um es 1523 an Antonio Bonvisi, einen Kaufmann von Lucca, mit dem er persönlich befreundet war, wieder zu veräußern. Das Jahr, in dem er es erwarb, steht nicht fest; wahrscheinlich fällt es vor 1515. Vergl. Charles Knight, London, 1. Band, S. 322.

32. Es handelt sich im lateinischen Original bei dieser Stelle um ein unübersetzbares Wortspiel zwischen servire und inservire.

33. Das Wort ist gebildet aus dem griechischen chora = das Land, und der verneinenden Partikel a; Achoria bedeutet daher ähnlich wie Utopia: Unland.

34. Die ärgsten Finanzschwindeleien Heinrichs VIII. hat More nicht mehr erlebt. Heinrich begann sein Regime gleich mit einer Geldverschlechterung. Weitere Fälschungen nahm er erst nach Mores Tode vor. Es fehlt uns leider jeder Anhaltspunkt, um entscheiden zu können, ob und inwieweit More das zeitweilige Aufhören der Münzfälschungen beeinflußt hat. Tatsache ist, daß sie sich später um so rascher wiederholten. Der Silbergehalt des Schillings betrug bei Heinrichs Regierungsantritt 142 Gran. Er wurde herabgesetzt

1509 auf 118 Gran
1543 auf 100 Gran
1545 auf   60 Gran
1546 auf   40 Gran

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„Eine wertlose Legierung“, fügte Anderson zu den beiden letzten Daten hinzu (Origin of commerce, 1. Band, S. LXX).

35. More hat mit der Beschreibung dieses Kniffs nicht etwa künftige Ereignisse vorausgeahnt, sondern beschrieben, was er selbst erlebt. 1492 tat Heinrich VII., als sei England von Frankreich bedroht; er begann große Rüstungen und berief ein Parlament ein, von dem er sich eine neue Steuer bewilligen ließ, die den schönen Namen Benevolence (Liebesgabe) führte. Durch seine Rüstungen setzte er Frankreich so in Schrecken, daß dieses den Frieden erkaufte – den Heinrich niemals ernstlich zu stören die Absicht gehabt hatte. So verstand es dieser große „Staatsmann“, durch Kriegsgeschrei und Friedensliebe am rechten Orte Freund und Feind zu schröpfen. Die Stadt London allein hatte als Benevolence 9.000 Pfund Sterling aufgebracht. Von Frankreich erhielt Heinrich 745.000 Dukaten und eine jährliche Pension von 25.000 Kronen. (Cobbetts Parliamentary History of England from the Norman Conquest in 1066 to the year 1803, London 1806, I. Band, S. 462 ff.)

36. Wir glauben, daß More hier namentlich die Gesetzgebung zum Schutze der Bauern vor den Großgrundbesitzern vor Augen hatte, die damals anfingen, das Gemeindeland der Bauern für sich in Beschlag zu nehmen und diese von ihren Gütern zu verjagen. Seit Heinrich VII. wurden strenge Gesetze gegen die Expropriation der Bauern erlassen, welche den König bei diesen populär machten und – die großen Grundbesitzer zwangen, sich die Dispens zur Übertretung des Gesetzes von ihm oder seinen Günstlingen zu erkaufen, das heißt, vom erwarteten Ertrag des Landdiebstahls einen Anteil von vornherein an den Landesvater abzuliefern. Ein großer Teil des Reichtums Wolseys soll auch aus dieser Quelle geflossen sein. Kurz vor der Abfassung der Utopia war ein Akt erlassen worden (1514), der die Umwandlung von Ackerland in Weidegründe verbot.

37. Thomae Mori responsio ad convitia Martini Lutheri congesta in Henricum Regem Angliae ejus nominis Octavum.

38. Antwort Dr. Martin Luthers auf Heinrichs, Königs von England, Buch. Auch lateinisch.

39. Wir haben die Orthographie modernisiert.

40. A dialogue concernyng heresies and matters of religion, 1528.

41. Rabelais läßt in seinem Gargantua und Pantagruel, 2. Buch, 18. bis 20. Kapitel, einen großen englischen Kanzler (un grand clerc d’Angleterre) Thaumaste auftreten, der Pantagruel in Paris aufsucht und mit ihm eine höchst komische Unterredung durch bloße Zeichen führt. Mit diesem Thaumaste soll unser More (Thomas) gemeint sein, und die für jedermann unverständliche Zeichensprache soll die diplomatischen Finessen der Friedensverhandlungen von Cambray persiflieren. Inwieweit das letztere richtig ist, vermögen wir nicht zu entscheiden. Dagegen halten wir es für zweifellos, daß mit Thaumaste More gemeint ist, nach der eingehenden Untersuchung von Esmangard (Oeuvres de Rabelais, edition variorum, augmentée ... d’un nouveau commentaire historique et philologique par Esmangard et Eloi Johanneau, Paris 1823, 3. Band S. 437 bis 444). Manche französische Humanisten scheinen auf More nicht sonderlich günstig zu sprechen gewesen zu sein, seit seinem Streit mit Germain de Brie (Germanus Brixius), einem Zeitgenossen und guten Bekannten Rabelais’. Brixius schrieb 1513 ein Gedicht Herveus, sive Chordigerae navis conflagratio, in dem er ein Seegefecht zwischen einem englischen und französischen Schiff besang und die Franzosen auf Unkosten der Engländer herausstrich. More, darüber erbost, antwortete mit einem beißenden Epigramm gegen Brixius: „In Brixium Germanum false scribentem etc.“, welches dieser mit einem Kampfgedicht von 400 Versen erwiderte, dem Antimorus. Welch großes Aufsehen der Streit erregte und welches Ansehen More bei den Humanisten genoß, ersieht man daraus, daß der Antimorus drei Auflagen erlebte. Wir haben die Pariser Ausgabe von 1519 benutzt. Von den beiden anderen haben wir nur durch Esmangard Kunde erhalten. Erasmus schlichtete den Streit und bewog More, von einer weiteren Antwort gegen Brixius abzustehen.

42. Einer der hervorragendsten Kenner des Zeitalters Heinrichs VIII., F.J. Furnivall, sagt von Herrn Froude, dem jetzigen bürgerlichen Modehistoriker Englands: Die englischen Volkslieder „bieten eine sehr nützliche Berichtigung zu dem überschwenglichen Bild, das Herr Froude in seiner Geschichte von dem Zustand Englands in den Anfängen Heinrichs VIII. entwirft – einem Bild, welches eine ganz einseitige und falsche Darstellung der wirklichen Verhältnisse liefert“. (Vorrede zu Ballads from Manuscripts. I. Ballads on the condition of England in Henry VIII. and Edward VI. reigns, Edited by Frederick Furnivall, London 1868 bis 1872) Die Volkslieder einer Zeit sind ein wichtiger Beitrag zu ihrer Erkenntnis. Die geschriebenen Quellen enthalten meist nur die Darstellungen der herrschenden Klassen; im Volkslied lernen wir den Standpunkt der Beherrschten kennen. Speziell die Volkslieder aus Heinrichs VIII. und seiner nächsten Nachfolger Zeit sind für uns deswegen bedeutsam, weil sie zeigen, wie unpopulär die Heinrichsche Reformation war und wie tief die Utopia ins Volk drang. Mehrfach finden sich Hindeutungen auf sie in den Balladen; namentlich ist das Wort von den Schafen, die Menschen fressen (vergl. nächsten Abschnitt), eine beliebte Wendung.



Zuletzt aktualisiert am 6.1.2012