Karl Kautsky

Thomas More



Dritter Abschnitt: Die Utopia

Erstes Kapitel. More als Ökonom und Sozialist

1. Die Wurzeln von Mores Sozialismus

Als Humanist, als Politiker stand More in erster Reihe unter seinen Zeitgenossen, als Sozialist war er ihnen allen weit voraus. Seine politischen, religiösen, humanistischen Schriften werden heute nur noch von einer sehr geringen Zahl von Historikern gelesen. Hätte er seine Utopia nicht geschrieben, sein Name wäre heute kaum bekannter als etwa der seines Freundes und Schicksalsgenossen, des Bischofs Fisher von Rochester. Sein Sozialismus hat ihn unsterblich gemacht.

Woher stammt dieser Sozialismus?

Wir glauben nicht, wie die Historiker der idealistischen Schule, an einen heiligen Geist, der die Köpfe erleuchtet und mit Ideen erfüllt, denen sich die politische und ökonomische Entwicklung anzupassen hat. Wir gehen vielmehr von der Ansicht aus, daß die Widersprüche und Gegensätze, welche die ökonomische Entwicklung in der Gesellschaft erzeugt, besonders glücklich veranlagte und situierte Menschen zum Denken anregen und zum Forschen bewegen, um die vor ihren Augen vor sich gehende Entwicklung zu verstehen und die Leiden, die sie mit sich bringt, zu beseitigen. Auf diese Weise entstehen die politischen und sozialen Ideen, die um so mehr auf ihre Zeitgenossen oder mindestens bestimmte Klassen derselben wirken, je mehr sie den tatsächlichen augenblicklichen Verhältnissen entsprechen, je mehr sie im Interesse der aufstrebenden Klassen liegen, je richtiger sie sind. Daher kommt es, daß bestimmte Ideen nur unter bestimmten Verhältnissen wirken, daß Ideen, die zu einer gewissen Zeit auf Gleichgültigkeit, ja Hohn stoßen, einige Jahrzehnte später mit Enthusiasmus, oft ohne tiefere Prüfung als selbstverständlich aufgenommen werden. Die idealistischen Geschichtschreiber sind nicht imstande, zu erklären, wieso das kommt; sie müssen also, wie alle idealistischen Philosophen, in letzter Linie zum lieben Gott ihre Zuflucht nehmen, zu einem Mysterium: es ist der „Zeitgeist“, der entscheidet, ob eine Idee in der Gesellschaft Geltung erlangen soll oder nicht. Dieser Zeitgeist ist, wenn auch von Freidenkern und Atheisten akzeptiert, nichts als eine Neuauflage des heiligen Geistes.

Nur die materialistische Geschichtsauffassung erklärt die jeweilige Wirkung bestimmter Ideen. Es fällt ihr nicht ein, zu leugnen, daß jede Epoche ihre besonderen Ideen hat, die sie bestimmen, daß diese Ideen die Lokomotiven der gesellschaftlichen Entwicklung bilden. Sie bleibt aber dabei nicht stehen, sondern forscht nach der Triebkraft, welche diese Lokomotiven in Bewegung setzt, und findet sie in den materiellen Verhältnissen.

Es ist klar, daß sich Ideen einige Zeit vorher bilden müssen, ehe sie auf die Massen eine Wirkung ausüben können. Man wirft den Volksmassen gern vor, daß sie zu neuerungssüchtig seien. Sie hängen im Gegenteil ungemein zäh am Alten. Der Gegensatz der neuen ökonomischen Verhältnisse zu den überlieferten und den diesen entsprechenden Ideen muß schon ein ziemlich hochgradiger geworden sein, ehe sich die Masse seiner bewußt wird. Wo der Scharfblick des forschenden Denkers bereits unüberbrückbare Gegensätze der Klassen sieht, da bemerkt der Durchschnittsmensch nur zufällige persönliche Zwistigkeiten; wo der Forscher soziale Übel sieht, die nur durch soziale Umwälzungen beseitigt werden können, da tröstet sich der Durchschnittsmensch noch immer mit der Hoffnung, die Zeiten seien nur vorübergehend schlecht, sie werden bald wieder besser werden. Wir reden da gar nicht von den Mitgliedern verkommender Klassen, die in ihrer Mehrzahl nicht sehen wollen, sondern haben die aufstrebenden Klassen im Auge, deren Interesse es ist, zu sehen, die aber nicht sehen können, ehe sie nicht mit der Nase auf die neuen Verhältnisse gestoßen werden.

So kommt es, daß es so oft hochbegabte Denker gegeben hat, die ihrer Zeit voraus waren, das heißt ihren Zeitgenossen. Auch sie konnten nicht bestimmte Ideen entwickeln, ehe die denselben entsprechenden materiellen Verhältnisse vorhanden waren. Auch ihre Ideen wurden durch neu sich bildende materielle Verhältnisse bedingt, aber diese waren noch nicht scharf genug ausgeprägt, um die aufstrebenden Klassen für jene Ideen empfänglich zu machen.

Ein Denker kann aber, auf den materiellen Verhältnissen fußend, seiner Zeit noch um eine ganze Epoche weiter voraus sein, wenn er eine neuauftauchende Produktionsweise und ihre sozialen Konsequenzen nicht nur früher erkennt als die Mehrzahl seiner Zeitgenossen, sondern, davon ausgehend, durch einen dialektischen Prozeß im Kopfe bereits zu einer Ahnung der Produktionsweise gelangt, die ihr Gegenteil bildet, die sich aus ihr entwickeln wird.

Thomas More ist einer der wenigen, denen dieser kühne Gedankensprung gelungen ist: zu einer Zeit, wo die kapitalistische Produktionsweise noch in ihren ersten Anfängen war, gelang es ihm bereits, in deren Wesen so weit einzudringen, daß die gegensätzliche Produktionsweise, die er in seinem Kopfe ausmalte und jener entgegenstellte, um ihre Schäden zu beseitigen, schon mehrere der wesentlichsten Grundzüge des modernen Sozialismus enthält. Seine Zeitgenossen haben die Tragweite seiner Darlegungen natürlich nicht begriffen. Er selbst gelangte nicht zum vollen Bewußtsein derselben. Erst heute können wir sie voll ermessen: trotz der kolossalen ökonomischen und technischen Umwälzungen der letzten drei Jahrhunderte finden wir in der Utopia eine Reihe von Tendenzen, die heute noch in der sozialistischen Bewegung wirksam sind.

Da wir, wie gesagt, nicht zu den Historikern gehören, die die Ideen vom heiligen Geiste ableiten, so ist die erste Frage, die sich uns bei einer so außergewöhnlichen Erscheinung aufdrängt, die nach ihren Ursachen. Wollen wir nicht auf Spiritismus und Hellseherei verfallen, dann muß es eine eigentümliche Verkettung von Umständen gewesen sein, die den einzigen More zu seiner Zeit geneigt und befähigt zu sozialistischen Theorien machte – der Sozialismus Münzers war ganz anderer Natur als der Mores und kann daher hier nicht in Betracht kommen.

Trotzdem keiner der Biographen Mores sich bisher – aus naheliegenden Gründen – mit dieser Frage befaßt hat und More selbst uns darüber nur wenig Aufschlüsse gibt, glauben wir wenigstens einige dieser Ursachen, teils persönlicher, teils lokaler Natur, aufzeigen zu können, die im Zusammenhang mit der allgemeinen Situation, die wir im ersten Abschnitt schilderten, es verständlich machen, daß der Sozialismus früher als der Kapitalismus, sein Vater, einen theoretischen Ausdruck gefunden hat.

Diese Umstände sind, kurz zusammengefaßt, Mores persönlicher Charakter, seine philosophische Schulung, seine ökonomische Tätigkeit und die ökonomische Situation Englands.

Mores persönlicher Charakter darf wohl als eine der Ursachen seines Sozialismus betrachtet werden. Wir haben von Erasmus gehört, wie liebenswürdig, hilfsbereit, voll Mitleid für die Armen und Unterdrückten More war: er nennt ihn den Schutzpatron aller Armen.

Nur in den nordischen Ländern des Abendlandes waren im sechzehnten Jahrhundert die materiellen Verhältnisse der Bildung so uneigennütziger Charaktere günstig. Je näher nach Italien, desto ungünstiger wurden diese Bedingungen, desto mehr waltete in den Städten der eigensüchtige und eifersüchtige Kaufmannsgeist vor. In den Kaufmannsrepubliken Italiens wie an den Höfen der romanischen Monarchien herrschte die Selbstsucht unumschränkt, der große Charakterzug der neuen Produktionsweise; sie herrschte damals noch offen, kühn, voll herausfordernden revolutionären Trotzes. Es war eine großartige Selbstsucht, gänzlich verschieden von der feigen, verlogenen, niederträchtigen Selbstsucht von heute, die sich selbst als gemein betrachtet und hinter konventioneller Heuchelei verbirgt.

Ganz andere ökonomische Zustände als in den Städten Italiens und, in abgeschwächtem Maße, Frankreichs und Spaniens herrschten im ganzen und großen in denen Deutschlands und Englands. Noch war vielfach die Landwirtschaft und damit die Marktverfassung, also der urwüchsige Kommunismus, die Grundlage auch der städtischen Produktionsweise; die Trennung von Stadt und Land war noch nirgends in voller Schärfe vollzogen. „Noch im Jahre 1589 erkannte der Herzog von Bayern selbst an, daß die Bürgerschaft Münchens ohne gemeine Weide gar nicht bestehen könne. Der Ackerbau muß demnach damals noch ein Hauptnahrungszweig der Bürger gewesen sein.“ (G.L. v. Maurer, Geschichte der Städteverfassung, 1. Bd., S. 273) Im Beginn des sechzehnten Jahrhunderts bestand noch der urwüchsige Agrarkommunismus in England, der sich unter der Decke des Feudalismus erhalten hatte und erst damals anfing, einem anderen System der Landwirtschaft Platz zu machen. Noch herrschten damals, namentlich in der niederen Bevölkerung, die Charakterzüge vor, die dem urwüchsigen Kommunismus entsprachen, und wir finden sie bei More vollständig vor, nur wenig versteckt durch den modernen humanistischen und Höflingsanzug und die Selbstzensur, die ihm die Verhältnisse auferlegten. In seiner Heiterkeit, Zähigkeit, Unbeugsamkeit, Uneigennützigkeit und Hilfsbereitschaft sehen wir alle Charaktereigenschaften des kommunistischen „merry old England“ ausgeprägt.

Aber das Mitleid mit den Armen macht noch nicht den Sozialisten. Allerdings, ohne Interesse für das Proletariat wird man kein Sozialist, am allerwenigsten dann, wenn man selbst kein Proletarier ist. Aber damit aus diesem Interesse sozialistische Gesinnungen und Ideen erwachsen, dazu gehört einmal eine eigenartige ökonomische Situation, das Vorhandensein eines arbeitenden Proletariats als dauernder Massenerscheinung und andererseits eine tiefgehende ökonomische Erkenntnis.

Das Bestehen eines bloßen Lumpenproletariats erzeugt die Mildtätigkeit, das Almosen, nicht einen modernen Sozialismus. Ohne ökonomische Erkenntnis gelangt man zu sentimentalen Phrasen und sozialen Schönheitspflästerchen, nicht zum Sozialismus.

In bezug auf die ökonomische Entwicklung war nun England zu Mores Zeit sehr begünstigt, viel mehr, als zum Beispiel Deutschland. In bezug auf die Gelegenheit zu ihrer Erkenntnis war aber Mores Stellung in den nordischen Ländern überhaupt fast einzig. Die einzigen Leute, die damals gelernt hatten, wissenschaftlich, methodisch zu denken, zu generalisieren, von denen also ein theoretischer Sozialismus ausgehen konnte, waren die Humanisten. Der Humanismus war aber im nordischen Europa ein exotisches Gewächs, an dem keine Klasse ein besonderes Interesse hatte. Während die Humanisten in Italien mitten im praktischen Leben standen und daher den ökonomischen und politischen Tendenzen ihrer Zeit und ihres Landes Ausdruck gaben, waren die deutschen Humanisten in ihrer überwiegenden Mehrzahl bloße Schulmeister, die vom praktischen Leben keine Ahnung hatten, die nicht aus der Vergangenheit ihre Waffen holten für die Kämpfe der Gegenwart, sondern sich vor diesen Kämpfen scheu in ihre Studierstuben zurückzogen, um ganz in der Vergangenheit zu leben.

Die Entwicklung Deutschlands trug nicht dazu bei, die Kluft zwischen der Wissenschaft und dem Leben zu schließen. Im Gegenteil, die Roheit, die Barbarei, die Verbauerung, der Deutschland vom sechzehnten Jahrhundert an in immer steigendem Maße verfiel, um sich erst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts aus seiner Verkommenheit wieder zu erheben, machte die Erhaltung der Wissenschaft in Deutschland nur möglich dadurch, daß sie sich völlig vom wirklichen Leben abschloß.

Die Grundursache dieses Verkommens Deutschlands lag in der Veränderung der Handelswege seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, welche in Deutschland die ökonomische Entwicklung nicht nur hinderte, sondern für einige Zeit geradezu in einen ökonomischen Rückgang verwandelte.

Die Entdeckungen der Portugiesen in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts eröffneten einen Seeweg nach Indien. Gleichzeitig wurden die alten Verbindungen mit dem Orient über Kleinasien und Ägypten durch das Vordringen der Türken unterbrochen, nachdem früher schon die Karawanenstraßen von Zentralasien durch Umwälzungen der dortigen Bevölkerungen verschlossen worden waren. Damit wurde nicht nur der Handel der Länder im Mittelmeerbecken lahmgelegt, sondern auch der der Städte an den großen deutschen Wasserstraßen, die nicht bloß den Handel zwischen Italien und dem Norden vermittelt, sondern zum Teil auch auf anderen Wegen mit dem Orient gehandelt hatten – über Trapezunt und das Schwarze Meer sowie auf dem Landweg über Rußland. Den deutschen Städten, vor allem den Hansastädten an der Ostsee und den Städten im südlichen Deutschland, Nürnberg, Augsburg usw., waren damit die Lebensadern unterbunden. Weniger litten die Städte am Rhein und an den Flußmündungen der Nordsee, aber der Handel, den sie vermittelten, war ein unbedeutender und seine Richtung hatte gewechselt. Er ging nicht von Ost nach West, von Süd nach Nord, sondern umgekehrt. Antwerpen wurde für das sechzehnte Jahrhundert, was Konstantinopel im vierzehnten Jahrhundert gewesen und London im achtzehnten Jahrhundert werden sollte, das Zentrum des Welthandels, der Vereinigungspunkt der Schätze des Orients, zu denen sich nun auch die Amerikas gesellten, die sich von dort aus über ganz Europa ergossen.

Die Nähe Antwerpens mußte auf den Handel Englands, vor allem Londons, die anregendste Wirkung üben. Und bereits zur Zeit Mores versuchte England selbständig überseeische Besitzungen zu erwerben, allerdings anfänglich noch ohne großen Erfolg. In demselben Maße, in dem der Handel Deutschlands sank, hob sich der Englands.

Und schon begannen sich aus dem Kaufmannskapital die Anfänge des industriellen Kapitals zu entwickeln: die Engländer begannen Wollmanufakturen nach flämischem Muster im eigenen Lande anzulegen, und bereits in der Zeit Heinrichs VIII. beginnen die Klagen über den Verfall des selbständigen Handwerkes in der Wollweberei. Italienische Kaufleute in England werden schon zu Richards III. Zeit in einem Parlamentsakt (an Act touching the merchants of italy) angeklagt, daß sie große Mengen Wolle aufkaufen und bei den Webern verarbeiten lassen. Bei dieser Gelegenheit eine kleine Bemerkung: Herr Professor Philippson erzählt uns in seinem Westeuropa im Zeitalter von Philipp II., Elisabeth und Heinrich IV., Berlin 1882, S. 49, daß unter Heinrich VIII. „der kleine Handwerker aufgesogen, ja vernichtet“ wurde durch – „die Großindustrie“! Von einer solchen war damals natürlich noch nicht die entfernteste Spur vorhanden, es sei denn, daß man jede von Kapitalisten ausgebeutete Industrie, auch die Hausindustrie, Großindustrie nennen wollte.

Viel mehr aber als diese Keime des industriellen Kapitals machten sich in England zu Mores Zeit die Anfänge der kapitalistischen Produktionsweise in der Landwirtschaft bemerkbar. Es ist eine der merkwürdigsten Eigentümlichkeiten Englands, daß sich der Kapitalismus dort früher in der Landwirtschaft als in der Industrie entwickelte.

Die Ursache davon haben wir schon erwähnt: sie ist in der Güte der englischen Wolle zu suchen, welche sie zu einem weit und breit gesuchten Rohmaterial für die Wollmanufakturen machte. Neben der Wolle waren wichtige landwirtschaftliche Waren in England Bau- und Brennholz – wohl infolge des Anwachsens der Städte – und Gerste für die flämischen Bierbrauereien. Die Nachfrage nach der Wolle wuchs in dem Maße, in dem sich einerseits die Manufakturen, andererseits die Transportmittel entwickelten. Zunächst fand die englische Wolle vornehmlich ihren Markt in den Niederlanden; am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ging sie aber bereits bis nach Italien einerseits, Schweden andererseits. Man ersieht dies deutlich unter anderem aus zwei Handelsverträgen, die Heinrich VII. 1490 mit Dänemark und Florenz abschloß. (Geo. J. Craik, The history of british commerce, 1. Band, S. 203, 204)

Mit dem Markte wuchs auch das Streben der Kaufleute und großen Grundbesitzer Englands nach Ausdehnung der Wollproduktion. Das einfachste Mittel hierzu war, daß die letzteren die Gemeindeweiden, auf deren Benutzung die Bauern ein Anrecht hatten, in immer steigendem Maße für sich allein in Anspruch nahmen. Damit verlor der Bauer immer mehr die Möglichkeit, Vieh zu halten, der nötige Dünger ging ihm verloren, sein ganzer Betrieb geriet in Unordnung, die Bauern eilten dem finanziellen Ruin entgegen. Aber die Gier der großen Grundbesitzer nach Land wuchs rascher als die „Befreiung“ der Bauern von Grund und Boden vor sich ging. Mit allen möglichen Mitteln wurde nachgeholfen. Nicht bloß einzelne Bauern, nein, mitunter die Bewohnerschaft ganzer Dörfer und selbst kleiner Landstädte wurde verjagt, um den Produzenten der wertvollen Ware, den Schafen, Platz zu machen.

Solange die Grundherren selbst ihre Güter bewirtschafteten, oder, was eine kurze Zeitlang vorkam, Teile derselben durch Pächter bewirtschaften ließen, denen sie das nötige Betriebsmaterial, Ackerbaugeräte, Vieh usw. vorschossen, hatte die Ausdehnung ihrer Güter immer noch eine gewisse Grenze an der Beschränktheit des Betriebsmaterials, das der Grundherr besaß. Eine Erweiterung des Gutes war zwecklos, wenn er nicht die Mittel hatte, gleichzeitig sein Betriebsmaterial zu vermehren. Diese Grenze fiel weg und der Landhunger der großen Grundbesitzer wurde ein maßloser, als der kapitalistische Pächter erstand, der den gepachteten Grund und Boden mit eigenem Kapital durch Lohnarbeiter bewirtschaftete. Diese Klasse tritt in England auf im letzten Drittel des fünfzehnten Jahrhunderts. Sie wächst rasch an im sechzehnten Jahrhundert infolge der unerhörten Profite, die sie damals machte, und die nicht nur die Akkumulation ihres Kapitals beschleunigten, sondern auch Kapitalisten aus den Städten anzogen.

Das Steigen der Profite ist namentlich der Entwertung von Gold und Silber zuzuschreiben, die durch die massenhafte Einfuhr von Edelmetallen aus Amerika nach Europa, zunächst nach Spanien, veranlaßt wurde: die Wirkung dieser Geldentwertung mag durch die Geldfälschungen der Fürsten wohl gefördert worden sein. [43]

Die Geldentwertung hatte im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts ein Steigen der Preise der Produkte der Landwirtschaft um das Zweieinhalb- bis Dreifache zur Folge. Die Grundrenten stiegen dagegen oft lange Zeit gar nicht, da die Pachtkontrakte für lange Termine liefen, sie wuchsen längst nicht in dem Maße wie die Preise der landwirtschaftlichen Produkte, sie sanken also, wenn nicht nominell, so doch tatsächlich. Der Profit der Pächter wuchs auf Kosten der Grundrente. Das vermehrte nicht nur die Kapitalien und die Zahl der Pächter, sondern es bildete auch einen neuen Sporn für die großen Grundbesitzer, nach Ausdehnung ihrer Güter zu streben, um auf diese Weise ihre Verluste wettzumachen.

Die Folge war eine rasche Proletarisierung der kleinen Bauern. Dazu kam gleichzeitig noch die Auflösung der feudalen Gefolgschaften, auf die wir hier nicht näher einzugehen brauchen, da wir sie schon im ersten Abschnitt behandelt haben und sie in England keine besonderen Eigentümlichkeiten aufweist. Die Gefolgschaften waren auf jeden Fall eine Last für das arbeitende Volk: dort, wo sie blieben, für die tributpflichtigen Bauern, von denen sie zu ernähren waren; dort, wo sie aufgelöst wurden, für die Lohnarbeiter, indem sie die Zahl der Arbeitslosen schwellten.

Das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert bildeten das goldene Zeitalter für die Bauern und Lohnarbeiter Englands. Am Ende dieses Abschnitts stürzten beide plötzlich und unvermittelt in das tiefste Elend. Die Zahl der Arbeitslosen wuchs zu entsetzlicher Größe an. Die scheußlichsten Strafen waren natürlich weder imstande, ihre Zahl zu vermindern, noch auch sie von Verbrechen abzuhalten: die Strafe des Verbrechens war unsicher; sicher dagegen die Strafe der Enthaltung vom Verbrechen: der Hungertod.

Nicht viel besser als die Lage der Arbeitslosen war die Zahl der besitzlosen Arbeiter, die damals anfingen, in der Landwirtschaft eine zahlreiche Klasse zu bilden. Was die Gesetze der Parlamente in den vorhergehenden zwei Jahrhunderten nur unvollkommen erreicht hatten, das wurde vom sechzehnten Jahrhundert an leicht erreicht durch das erdrückende Gewicht der Reservearmee der Arbeitslosen. Die Reallöhne verringerten sich, die Arbeitszeit wuchs. Die Preise der Lebensmittel stiegen um 300 Prozent, die Löhne nur um 150 Prozent. Von Mores Zeit an begann das stetige Herabsinken der englischen Arbeiter in Stadt und Land, deren Lage im letzten Viertel des achtzehnten und dem ersten des neunzehnten Jahrhunderts ihren tiefsten Stand erreichte, um sich von da an wenigstens für gewisse Schichten zu verbessern infolge der strammen Organisationen der Arbeiter, die sich seitdem bildeten, und der Konzessionen, die sie den herrschenden Klassen abrangen. Die günstige Lage, die ihre Brüder im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert einnahmen, haben jedoch die englischen Arbeiter bisher nicht erreicht, über ein gewisses Maß können sie unter der kapitalistischen Produktionsweise nicht hinaus.

Die Löhne sanken ebenso wie die Grundrenten, die Profite wuchsen und damit der Kapitalismus.

Wenn sich der Kapitalismus zuerst der Industrie bemächtigt und dann erst der Landwirtschaft, so tritt er anfangs anscheinend wohltätig auf. Er muß auf beständige Erweiterung des Marktes, der Produktion hinarbeiten, indes die Zufuhr von Arbeitskräften nur langsam vor sich geht. Die stete Klage einer solchen Industrie am Anfang ist der Arbeitermangel. Die Kapitalisten müssen Handwerker und Bauern überbieten, um ihnen die Gesellen und Knechte wegzulocken; die Löhne steigen.

In dieser Art hat der Kapitalismus in manchen Ländern begonnen, er wurde als ein Segen begrüßt. Anders in England, wo er sich zuerst auf die Landwirtschaft warf und dieselbe revolutionierte, um ihre extensivste Form, die Weidewirtschaft, auszubreiten. Hand in Hand damit ging Überflüssigmachung von Arbeitern durch Verbesserung der Kulturmethoden. Der Kapitalismus in der Landwirtschaft bedeutet stets absolute, direkte Freisetzung von Arbeitern. In England ging diese Freisetzung in ihren schärfsten Formen vor sich, und das zu einer Zeit, wo sich die Industrie nur langsam entwickelte und nur wenig zuschüssige Arbeitskräfte verlangte – und am wenigsten die ungelernter Landarbeiter. Und Hand in Hand mit der Trennung der Arbeiter auf dem Lande von ihrem Produktionsmittel, dem Boden, ging die rasche Konzentration des Grundbesitzes in wenigen Händen.

Nirgends in ganz Europa lagen daher die der Arbeiterklasse ungünstigen Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise gleich in ihren ersten Anfängen so klar zutage, wie in England; nirgends schrien sie dringender nach Abhilfe.

Daß eine solche ökonomische Situation einen Mann von dem Charakter Mores zum Nachdenken veranlaßte und ihn Mittel suchen hieß, den unerträglichen Zuständen abzuhelfen, ist einleuchtend. More war nicht der einzige, der solche Hilfsmittel suchte und vorschlug. Aus zahlreichen Schriften jener Zeit, aus zahlreichen Parlamentsakten ersehen wir, welch tiefen Eindruck die ökonomische Revolution machte, die damals vor sich ging, wie allgemein die schmutzigen Praktiken der Landlords und ihrer Pächter verurteilt wurden.

Aber keiner von denen, die Vorschläge zur Abhilfe machten, hatte einen weiteren Horizont, keiner von ihnen kam zur Überzeugung, daß den Leiden der neuen Produktionsweise nur ein Ende gemacht werden könne durch den Übergang zu einer anderen, höheren Produktionsweise, keiner von ihnen war ein Sozialist, außer More.

Nur im Bereich des Humanismus konnte, wie schon erwähnt, ein theoretischer Sozialismus erstehen. Als Humanist lernte More methodisch denken, generalisieren. Als Humanist erhielt er einen weiteren Gesichtskreis über den Horizont seiner Zeit und seines Landes hinaus: er lernte in den Schriften des klassischen Altertums Gesellschaftszustände kennen, die von denen seiner Zeit verschieden waren. Platos Ideal eines aristokratisch-kommunistischen Gemeinwesens mußte ihm Veranlassung geben, gesellschaftliche Zustände zu ersinnen, die, weil das Gegenteil der bestehenden, von ihrem Elend frei wären. Platos Autorität mußte ihm den Mut geben, ein solches Gemeinwesen für mehr als ein bloßes Hirngespinst zu halten, es der Menschheit als ein erstrebenswertes Ziel hinzustellen.

Insofern war der Humanismus der Entwicklung Mores günstig. Aber die Situation in England war in wissenschaftlicher Beziehung eine ähnliche wie in Deutschland: der Humanismus blieb auch in England ein importiertes exotisches Gewächs, ohne Wurzeln im nationalen Leben, eine bloße Schulmeisterangelegenheit. Wäre More bloßer Humanist gewesen, dann wäre er wohl kaum zum Sozialismus vorgedrungen. Wir wissen jedoch, daß Mores Vater, sehr zum Leidwesen des Erasmus und seiner anderen humanistischen Freunde, ihn den Studien bald entriß, um ihn zunächst an die juristische Schulbank, dann aber mitten in das praktische Leben zu versetzen. Wir wissen, in wie enger Verbindung More mit der Kaufmannschaft Londons stand, wie er ihr Vertrauensmann ward, der bei jeder wichtigen Gelegenheit ausgesandt wurde, ihre Interessen zu vertreten. Die Mehrzahl der Ämter, die More bekleidete, zwangen ihn zur Beschäftigung mit ökonomischen Fragen; die Übertragung dieser Ämter auf ihn beweist aber auch, daß er als ein der Ökonomie kundiger Mann galt.

Wir wissen, daß er ein beliebter Advokat war, daß er seiner Popularität wegen 1509 zum Untersheriff gemacht wurde, in welcher Stellung er genugsam Gelegenheit hatte, Einblick in das ökonomische Leben des Volkes zu gewinnen. Wir haben auch mehrere Gesandtschaften erwähnt, denen er beigesellt wurde, um die kommerziellen Verhandlungen zu führen. Die erste 1515 nach Brügge. In demselben Jahre ernannte ihn das Parlament zu einem der Kommissare der Kanäle (commissioner of sewers), „eine Anerkennung seines praktischen Geschicks“, wie Seebohm sagt (Oxford Reformers, 2. Auflage, S. 337). Seine zweite Gesandtschaft ging 1517 nach Calais, Streitigkeiten zwischen englischen und französischen Kaufleuten beizulegen. 1520 sehen wir ihn als Gesandten in Brügge, um Streitigkeiten zwischen englischen Kaufleuten und den Hanseaten auszugleichen. Dann wird er Schatzkanzler, 1523 Sprecher im Unterhaus, beides Ämter, welche Erfahrung im Finanzwesen voraussetzen, und kurz darauf Kanzler des Herzogtums Lancaster, das heißt oberster Verwalter einer königlichen Domäne: wahrlich, wenn jemand Gelegenheit hatte, das ökonomische Leben seiner Zeit kennen zu lernen, so war es More. Und er lernte es kennen von dem modernsten damaligen Standpunkt aus, von dem des englischen Kaufmanns, vor dem sich eben der Welthandel erschloß. Diese innige Verbindung Mores mit dem Handelskapital kann unseres Erachtens nicht scharf genug hervorgehoben werden. Ihr schreiben wir es zu, daß More modern dachte, daß sein Sozialismus ein moderner ward.

Wir glauben damit die wesentlichsten Wurzeln des Sozialismus Mores bloßgelegt zu haben: sein liebenswürdiger, dem urwüchsigen Kommunismus entsprechender Charakter; die ökonomische Situation Englands, welche die der Arbeiterklasse nachteiligen Folgen des Kapitalismus besonders scharf erkennen ließ; die glückliche Verbindung klassischer Philosophie mit praktischer ökonomischer Tätigkeit – alle diese Umstände vereint mußten in einem so scharfen, so unerschrockenen, so wahrhaften Geiste, wie dem Mores, ein Ideal erstehen lassen, das als eine Vorahnung des modernen Sozialismus gelten darf.
 

2. Die ökonomische Kritik der Utopia

More hat keine ökonomischen Theorien aufgestellt; dazu war die Zeit noch nicht gekommen. Wie scharf er aber die ökonomischen Verhältnisse seiner Zeit beobachtete und wie klar er bereits den großen Grundsatz erkannte, der eine der Grundlagen des modernen Sozialismus bildet, daß der Mensch ein Produkt der materiellen Verhältnisse ist, in denen er lebt, und daß eine Menschenklasse nur gehoben werden kann durch eine entsprechende Änderung der ökonomischen Verhältnisse, das hat er in seiner Utopia bewiesen, deren kritischer Teil in manchen Punkten heute noch den vollen Reiz der Aktualität besitzt.

Wir können Mores ökonomischen Scharfblick, seine Kühnheit und gleichzeitig seine Liebenswürdigkeit nicht besser zeichnen, als wenn wir ihn selbst sprechen lassen.

Wir wollen eine Stelle des ersten Buches der Utopia wiedergeben, die eine lebendige Schilderung des ökonomischen Zustandes Englands enthält. Die Stelle bildet eine Episode der Szene beim Kardinal Morton, aus der wir schon im dritten Kapitel des vorigen Abschnitts (S. 137 ff.) einige für Mores kirchlichen Standpunkt charakteristische Ausführungen wiedergegeben haben.

Es ist Raphael Hythlodäus, der uns erzählt, was ihm passierte, als er nach England zum Kardinal Morton gekommen.

„Eines Tages, als ich an seiner Tafel saß, war auch ein weltlicher Rechtsgelehrter an derselben, wohlbewandert in den Gesetzen deines (Mores) Landes. Dieser begann, ich weiß nicht, aus welcher Veranlassung, jene strenge Justiz zu loben, welche dort damals gegen Diebe geübt wurde; er erzählte, daß mitunter zwanzig an einem Galgen aufgeknüpft wurden, und es sei um so mehr zu verwundern, meinte er, da so wenige der Strafe entrönnen, welches widrige Geschick es verursache, daß trotzdem noch überall so viele herumstrolchten.

„Darin liegt nichts Wunderbares, erwiderte ich (Raphael), denn ich nahm mir heraus, vor dem Kardinal ungescheut meine Meinung zu sagen, da diese Bestrafung der Diebe ungerecht und dem Gemeinwesen nicht nützlich ist: denn sie ist zu grausam als Bestrafung des Diebstahls und ungenügend zur Abschreckung. Einfacher Diebstahl ist kein so großes Verbrechen, daß es den Tod verdiente. Und es gibt keine Strafe, die schrecklich genug wäre, diejenigen vom Stehlen abzuhalten, denen nur das eine Mittel übrig bleibt, um nicht Hungers zu sterben. In dieser Beziehung gleicht nicht bloß ihr, sondern der größte Teil der Menschen schlechten Lehrern, die ihre Schüler lieber prügeln als belehren. Statt über die Diebe große und entsetzliche Strafen zu verhängen, wäre es besser, Vorkehrungen zu treffen, daß sie ihren Lebensunterhalt finden könnten, so daß kein Mensch gezwungen wäre, zuerst zu stehlen und dann dafür zu sterben.

„Dafür ist völlig ausreichend gesorgt, erwiderte er, sie könnten im Handwerk und in der Landwirtschaft ihr Brot verdienen, wenn sie nicht vorsätzlich nichtsnutzig wären.

„Damit sollst du mir nicht entschlüpfen, erwiderte ich. Ich will nicht von denen reden, die verstümmelt und verkrüppelt aus den Kriegen heimkehren: so vor nicht langer Zeit aus der Schlacht gegen die Leute von Cornwall [44] und vordem noch aus den Kriegen gegen Frankreich. Von diesen, die ihr Leben für das Gemeinwesen oder den König eingesetzt haben und nun zu schwach oder verkrüppelt sind, um ihr früheres Handwerk fortzubetreiben, und zu alt, um ein neues zu lernen, von denen will ich nicht reden, da Kriege sich nur von Zeit zu Zeit ereignen. Aber betrachten wir die Dinge, die täglich vorkommen. „Da ist zuerst die große Menge von Edelleuten, die müßig, gleich Drohnen, von der Arbeit anderer leben, nämlich von der Arbeit ihrer Bauern (colonis), die sie bis aufs Blut aussaugen, indem sie ihre Abgaben erhöhen. Einzig diesen gegenüber sind sie geizig, sonst von einer Verschwendungssucht, die nicht einmal die Aussicht auf den Bettelstab zügelt. Aber sie begnügen sich nicht damit, selbst müßig zu leben, sie halten auch ungeheure Scharen von müßigen Gefolgen (stipatorum), um sich, die niemals eine Kunst gelernt haben, durch die sie ihr Brot verdienen könnten. Stirbt ihr Herr oder werden sie selbst krank, dann weist man ihnen ohne weiteres die Tür, denn die Edelleute ernähren lieber Faulenzer als Kranke, und oft ist der Erbe des Verstorbenen nicht imstande, ein so großes Haus zu führen wie dieser und so viele Leute zu halten. Die so auf die Straße Geworfenen haben nur die Wahl, entweder ruhig zu verhungern oder zu stehlen und zu rauben. Was könnten sie denn sonst tun? Sind sie so lange herumgewandert, bis ihre Kleider schäbig geworden sind und ihre Gesundheit gelitten hat, dann nimmt sie kein Edelmann mehr in seinen Dienst. Die Bauern aber wagen es nicht, ihnen Arbeit zu geben, da sie sehr wohl wissen, daß solche Leute nicht das Zeug dazu haben, einem armen Manne mit Karst und Spaten für geringen Lohn und schmale Kost ehrlich zu dienen, die aufgewachsen sind in Müßiggang und Lustbarkeiten, gewohnt, mit Schwert und Schild durch die Straßen zu stolzieren und herausfordernd um sich zu blicken, zu hochmütig, um sich zu einem gewöhnlichen Menschen zu gesellen.

„Gerade diese Menschenklasse müssen wir hochhalten, erwiderte der Rechtsgelehrte. Denn in ihnen als Männern mit kraftvollerem Herzen [45], kühnerem Geiste und männlicherem Mute, als wir bei Handwerkern und Bauern finden, beruht die Kraft und Stärke unserer Armee, wenn es zum Kriege kommt.

„Ebensogut könntest du sagen, erwiderte ich, daß man um des Krieges willen Räuber züchten soll. Denn daran wird es euch nie fehlen, solange diese Klasse besteht. Und in der Tat, Räuber sind nicht die schlechtesten Soldaten, und Soldaten nicht die furchtsamsten Räuber; so gut passen beide Beschäftigungen zusammen. übrigens ist dies Übel nicht auf England beschränkt, sondern fast allen Nationen gemein. Frankreich leidet an einer noch verheerenderen Pest. Das ganze Land ist da selbst in Friedenszeiten (wenn man das Frieden nennen kann) von Söldnern erfüllt und belagert, die unter demselben Vorwand zusammengebracht werden, unter dem ihr die müßigen Gefolgschaften erhaltet. Die verrückten Staatsweisen (morosophi) glauben, das Staatswohl erfordere es, eine starke und zuverlässige Besatzung ständig unter den Waffen zu halten, besonders aus Veteranen bestehend, denn zu Rekruten haben sie kein großes Zutrauen. So daß es den Anschein hat, als wenn sie Kriege anzettelten, um geübte Soldaten zu bekommen und gewandte Totschläger, damit nicht, wie Sallust gut sagt, ihre Hände oder ihre Herzen in der Ruhe des Friedens erschlaffen. Aber wie gefährlich und verderblich es ist, solche wilde Tiere zu halten, haben die Franzosen auf ihre Unkosten kennen gelernt, und die Beispiele der Römer, Karthager, Syrier und vieler anderer Völker sprechen laut genug. Bei diesen wurde nicht nur die Staatsgewalt, nein, auch das Landvolk, ja oft sogar die Städte von den eigenen Armeen unversehens angefallen und geplündert. Wie überflüssig ein stehendes Heer ist, kann man daraus ersehen, daß die französischen Söldner, die von den Kindesbeinen in den Waffen geübt werden, sich nicht rühmen, über eure (die englischen) ungeübten, rasch zusammengebrachten Kriegsleute oft den Sieg davongetragen zu haben. Doch darüber will ich kein Wort weiter verlieren, sonst könnte man glauben, ich wollte euch schmeicheln. Aber eure Handwerker der Städte und eure rauhen Ackersknechte scheinen auch keine Furcht vor den Gefolgschaften eurer Edelleute zu besitzen, ausgenommen einige Schwächlinge und vom Elend Gebrochene. Es ist also nicht zu befürchten, daß diese Gefolgen entnervt und kriegsuntüchtig würden, wenn man sie dazu erzöge, durch Handwerk und Landarbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihre Arme zu kräftigen. Eher werden diese kraftvollen Leute (denn die Edelleute wollen nur auserlesene Männer in ihren Diensten zugrunde richten) heute durch ihren Müßiggang entnervt oder durch weibische Beschäftigungen verweichlicht. Auf keinen Fall scheint es mir von irgend welchem Nutzen für das Gemeinwesen, um des Krieges willen, den ihr nie habt, außer wenn ihr ihn wollt, unzählige Scharen dieser Menschensorte zu halten, die eine solche Plage in Friedenszeiten sind; und auf den Frieden solltet ihr doch tausendmal mehr bedacht sein als auf den Krieg. Aber das ist nicht die einzige Ursache des Stehlens. Es gibt eine andere, die euch Engländern ausschließlich eigentümlich ist.

„Welche ist das? fragte der Kardinal.

„Das sind eure Schafe, erwiderte ich, die sonst so sanft und genügsam waren, und nun, wie ich höre, so gierige reißende Bestien geworden sind, daß sie selbst Menschen verschlingen und ganze Felder, Häuser und Gemeinden verzehren und entvölkern. In den Landesteilen, in denen die feinste und kostbarste Wolle wächst, da bleiben Barone und Ritter und hochwürdige Prälaten nicht zufrieden mit den jährlichen Einnahmen, die ihren Vorfahren und Vorgängern aus dem Lande erwuchsen, nicht zufrieden damit, daß sie ein müheloses und lustiges Leben führen können, dem Gemeinwesen nicht zum Vorteil, sondern eher zur Last: sie verwandeln den Ackerboden in Viehweide, hegen die Weiden ein, reißen Häuser nieder und ganze Städte und lassen nichts stehen als die Kirchen, die sie in Schafställe verwandeln. Und obwohl wenig Grund und Boden bei euch durch Anlegung von Wildgehegen und Parks nutzlos gemacht worden ist, haben diese braven Leute alle bewohnten Plätze, alles Ackerland in Einöden verwandelt.

„So geschieht’s, [46] daß ein gieriger und unersättlicher Vielfraß, die wahre Pest seines Geburtslandes, Tausende von Acres Land zusammenpacken und innerhalb eines Pfahles oder einer Hecke einzäunen, oder durch Gewalt und Unbill ihre Eigner so abhetzen kann, daß sie gezwungen sind, alles zu verkaufen. Durch ein Mittel oder das andere, es mag biegen oder brechen, werden sie genötigt, fortzutrollen, arme, einfältige, elende Seelen! Männer, Weiber, Gatten, Frauen, vaterlose Kinder, Witwen, jammernde Mütter mit ihren Säuglingen, und der ganze Haushalt, gering an Mitteln und zahlreich an Köpfen, da der Ackerbau vieler Hände bedurfte. Wegschleppen sie sich, sage ich, aus der bekannten und gewohnten Heimstätte, ohne einen Ruheplatz zu finden; der Verkauf von all ihrem Hausgerät, obgleich von keinem großen Wert, würde unter anderen Umständen einen gewissen Erlös geben; aber plötzlich an die Luft gesetzt, müssen sie ihn zu Spottpreisen losschlagen. Und wenn sie umhergeirrt, bis der letzte Heller verzehrt ist, was anders können sie tun, außer stehlen, um dann, bei Gott, in aller Form Rechtens gehangen zu werden, oder auf den Bettel ausgehen? Und auch dann werden sie ins Gefängnis geschmissen als Vagabunden, weil sie sich herumtreiben und nicht arbeiten; sie, die kein Mensch an die Arbeit setzen will, sie mögen sich noch so eifrig dazu erbieten. Denn die Arbeit des Ackerbaues, die sie verstehen, wird nicht betrieben, wo nicht gesäet wird. Ein einziger Schäfer genügt, um das weidende Vieh auf einem Landstrich zu überwachen, zu dessen Bestellung ehedem zahlreiche Hände erforderlich waren. „Infolge des Rückganges des Ackerbaues werden aber auch in vielen Gegenden die Lebensmittel teurer. Ja, nicht nur das, auch der Preis der Wolle ist gestiegen, so daß die armen Leute, die sonst die Tücher zu weben pflegten, sie nicht mehr kaufen können und ohne Arbeit sind. Denn nachdem man so viel Land in Weidegrund verwandelt hatte, ging eine Menge Schafe an einer Seuche zugrunde; als wenn Gott so sehr über die unersättliche Habsucht sich erzürnt hätte, daß er die Viehseuche unter die Schafe sandte, die besser die Schafsbesitzer selbst befallen hätte. Und wie schnell sich auch die Schafe vermehren, der Preis der Wolle fällt doch nicht. Denn haben die Verkäufer auch kein Monopol, da es mehrere sind, so doch ein Oligopol. [47] Sind doch die Schafe fast alle in den Händen einiger weniger und zwar sehr reicher Leute, die es nicht notwendig haben, zu verkaufen, wenn es ihnen nicht beliebt, und denen es nicht beliebt, ehe nicht die Preise hoch sind.

„Wegen der Zunahme der Schafe ist auch ein Mangel an anderen Viehsorten eingetreten, da nach Beseitigung der Bauernhöfe niemand mehr sich mit der Aufzucht von Jungvieh abgibt. Denn die reichen Leute züchten nur Schafe. Das Großvieh aber kaufen sie auswärts um ein Billiges, mästen es und verkaufen es dann ungemein teuer wieder. Daher werden meines Erachtens die schlimmen Folgen der jetzigen Zustände noch nicht voll empfunden. Denn die Teuerung macht sich bis jetzt nur dort bemerkbar, wo sie ihr Vieh verkaufen. Aber wenn sie von dort, wo sie ihr Vieh kaufen, mehr fortziehen, als nachwachsen kann, dann wird auch in diesen Gegenden Mangel an Vieh und Teuerung entstehen.

„So hat die blinde Habgier einiger weniger gerade das, worauf das Wohlergehen eures Landes vornehmlich beruhte (die Schafzucht), in die Ursache eures Ruins verwandelt. Denn die Teuerung der Lebensmittel zwingt zur Einschränkung, zur Verminderung des Gesindes, zur Auflösung der Gefolgschaften. Was bleibt den Gefolgen übrig, als zu betteln, oder, wozu edles Blut eher neigt, zu rauben?

„Die Sache wird nicht besser dadurch, daß neben dem Elend und der Not unzeitige Üppigkeit einreißt. Und nicht nur die Gefolgen der Edelleute, nein, selbst die Handwerker und beinahe die Landleute, alle Stände gewöhnen sich an auffallende Kleidermoden und an zu reichliche Mahlzeiten. Und Delikatessen, Kupplerinnen, Bordelle, Weinstuben, Bierstuben, Spielhöllen mit so vielen nichtsnutzigen Spielen, Würfel, Karten, Brettspiele, Kugel- und Ballspiele: werden dadurch nicht alle, die sich damit einlassen, direkt stehlen gesandt, sobald ihr Geld beim Teufel ist?

„Vernichtet alle diese Scheußlichkeiten, erlaßt Gesetze, welche diejenigen zwingen, die Häuser und Dörfer niedergerissen haben, sie wieder aufzubauen oder die Ländereien solchen zu übergeben, die sie wieder bebauen wollen. Duldet nicht, daß die reichen Leute alles aufkaufen und mit ihren Monopolen den Markt beherrschen. Laßt nicht so viele müßig gehen, erweckt den Ackerbau wieder, erneuert die Tuchweberei, so daß die Arbeitslosen ehrlichen Erwerb finden, die bisher aus Armut Diebe wurden oder Landstreicher, oder die müßige Gefolgen wurden und bald Räuber sein werden. Solange ihr für alle diese Übel keine Heilung findet, ist es umsonst, mit strenger Justiz gegen Raub und Diebstahl vorzugehen, einer Justiz, die mehr dem Schein dient als der Gerechtigkeit oder dem Gemeinwohl. Ihr laßt die Menschen in Nichtsnutzigkeit aufwachsen und sie vom zartesten Alter an von Lastern anstecken. Dann straft ihr sie, wenn sie herangewachsen sind und das tun, wozu ihnen von Jugend auf die Neigung eingeflößt worden ist. Ich bitte euch, was tut ihr anderes, als zuerst Diebe züchten und nachher aufhängen?“

Nachdem More durch seinen Helden Raphael Hythlodäus diese scharfe Kritik der ökonomischen Mißstände seiner Zeit gegeben, geht er über zur Untersuchung des besten Strafsystems. Im Gegensatz zu der scheußlichen Blutgesetzgebung seiner Zeit schlug er als Bestrafung des Diebstahls nicht den Galgen, nicht einmal das Gefängnis vor, sondern die Zwangsarbeit. Für seine Zeit eine unerhörte Milde.

Auf diese Ausführungen folgt dann die Kritik der politischen Zustände, von der wir einen bedeutenden Teil schon im letzten Kapitel des zweiten Abschnitts gegeben haben.

Wie nun all diesem Elend, diesen Mißständen abhelfen?

„Es scheint mir zweifellos, lieber More,“ erklärte Raphael, „um offen, ohne Hinterhalt zu sprechen, daß, wo das Privateigentum herrscht, wo Geld der Maßstab aller für alles, es schwer, ja fast unmöglich ist, daß das Gemeinwesen gerecht verwaltet werde und gedeihe. Es sei denn, daß man es für Gerechtigkeit hielte, wenn alles Gute den Schlechtesten zufällt, oder für Gedeihen, wenn einigen wenigen alles gehört, welche wenige sich aber auch nicht behaglich fühlen, indes der Rest ein wahrhaft elendes Dasein führt.

„Wie viel weiser und erhabener erscheinen mir dagegen die Einrichtungen der Utopier, bei denen mit wenigen Gesetzen alles so wohl verwaltet ist, daß das Verdienst gebührend geehrt wird, und wo jeder Mensch im Überfluß lebt, trotzdem keiner mehr hat als der andere. Man vergleiche damit andere Nationen, die ununterbrochen neue Gesetze fabrizieren und doch nie gute Gesetze haben, wo jeder Mensch sich einbildet, zu eigen zu besitzen, was er erworben hat, und wo doch die unzähligen Gesetze, die tagaus tagein erlassen werden, nicht imstande sind, jedermann sicherzustellen, daß er sein Eigentum erwerbe oder erhalte, oder genau von dem des anderen unterscheide, wie man deutlich aus den vielen Prozessen ersieht, von denen täglich neue entstehen und keiner endet. Wenn ich alles das überlege, dann muß ich Plato Recht widerfahren lassen und wundere mich nicht darüber, daß er für Völker keine Gesetze machen wollte, welche die Gütergemeinschaft zurückwiesen. Dieser Weise erkannte, daß der einzige Weg zum Heil des Gemeinwesens in der wirtschaftlichen Gleichheit aller bestehe, was meines Erachtens nicht möglich ist, wo jeder seine Güter als Privateigentum besitzt. Denn wo jeder unter gewissen Vorwänden und Rechtstiteln so viel zusammenscharren darf, als er kann, da fällt der ganze Reichtum einigen wenigen anheim, und der Masse der übrigen bleiben Not und Entbehrungen. Und das Schicksal jener wie dieser ist meist gleich unverdient, da die Reichen in der Regel habgierig, betrügerisch und nichtsnutzig sind, die Armen dagegen bescheiden, schlicht und durch ihre Arbeit nützlicher für das Gemeinwesen als für sich selbst.

„Ich bin daher fest überzeugt, daß weder eine gleiche und gerechte Verteilung der Güter noch Wohlstand für alle möglich sind, ehe nicht das Privateigentum verbannt ist. Solange es besteht, werden die Lasten und die Kümmernisse der Armut das Los der meisten und der besten Menschen sein. Ich gebe zu, daß es andere Mittel als das Gemeineigentum gibt, diesen Zustand zu lindern, nicht aber ihn zu beseitigen. Man kann durch Gesetze bestimmen, daß kein Mensch mehr als ein gewisses Maß von Grundeigentum und Geld besitzen soll, daß weder der König eine zu große Macht haben, noch das Volk zu übermütig sein soll, daß Ämter nicht auf Schleichwegen oder durch Bestechungen und Kauf erlangt werden und kein Prunk mit ihrer Bekleidung verbunden sei: da alles das entweder Ursache wird, das verausgabte Geld wieder aus dem Volke herauszuschinden, oder die Ämter den Reichsten zufallen läßt, anstatt den Fähigsten. Durch dergleichen Gesetze können die Übel in Staat und Gesellschaft etwas gelindert werden, etwa wie ein unheilbarer Kranker durch sorgfältige Pflege noch eine Zeitlang aufrecht erhalten werden kann. Aber an eine völlige Gesundheit und Kräftigung ist nicht zu denken, solange jeder Herr seines Eigentums ist. Ja, gerade indem ihr durch solche Gesetze einen Teil des Gesellschaftskörpers bessert, verschlimmert ihr das Geschwür an einem anderen Teil; indem ihr dem einen helft, schädigt ihr dadurch einen anderen, denn ihr könnt dem einen nur geben, was ihr einem anderen genommen habt.“

„Ich bin der gegenteiligen Meinung,“ erwidert More, das heißt der More der Utopia, denn Thomas Mores wirkliche Ansichten werden von Raphael ausgesprochen. „Ich glaube, die Menschen werden unter der Gütergemeinschaft sich niemals wohl befinden. Wie kann ein Überfluß von Gütern herrschen, wenn jeder suchen wird, sich der Arbeit zu entziehen? Niemand wird durch die Aussicht auf Gewinn zur Arbeit angespornt werden, und die Möglichkeit, sich auf die Arbeit anderer zu verlassen, muß Trägheit erzeugen. Und wenn nun Mangel unter ihnen einreißt und niemand durch das Gesetz in dem Besitz dessen geschützt wird, was er erworben hat, muß da nicht beständig Aufruhr und Blutvergießen unter ihnen wüten? Jede Achtung vor den Behörden muß ja schwinden, und ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, welche Rolle sie spielen werden, wenn alle Menschen gleich sind.“

„Ich wundere mich nicht über diese Ansichten,“ erwiderte Raphael, „denn du stellst dir ein solches Gemeinwesen entweder gar nicht oder falsch vor. Wärst du mit mir in Utopien gewesen und hättest du die dortigen Sitten und Gesetze kennen gelernt, wie ich tat, der ich dort über fünf Jahre lebte und das Land nie verlassen hätte, wäre ich nicht vom Wunsche getrieben worden, es hier bekannt zu machen: du würdest zugeben, daß du nie eine besser eingerichtete Gesellschaft gesehen hast.“

Damit ist der Anknüpfungspunkt gegeben, um zur Darstellung der Moreschen Idealgesellschaft überzugehen.
 

3. Die ökonomischen Tendenzen der Reformation in England.

Ehe wir unserem Kommunisten in sein Utopien folgen, müssen wir noch auf eine Frage eingehen, ohne deren Beantwortung unsere jetzige Untersuchung unvollständig wäre: Wie reimt sich Mores Abscheu vor jeder Ausbeutung mit seiner Verteidigung des Katholizismus, der Ausbeutung durch Klöster und den Papst?

Die Antwort darauf ist einfach folgende: Die Ausbeutung des Volkes durch den Katholizismus war in England zur Zeit Mores eine geringe geworden. Viel mehr als diese trat dort die andere Seite des Katholizismus hervor, ein Hindernis der Proletarisierung der Volksmassen zu sein. Gerade als Gegner dieser Proletarisierung durfte also More für den Katholizismus eintreten, ganz abgesehen von den von uns bereits erörterten politischen und humanistischen Motiven, die ihn dazu bewogen.

England war eines der Länder gewesen, die am frühesten und stärksten der päpstlichen Ausbeutung verfallen waren. Seit dem vierzehnten Jahrhundert schwand aber immer mehr die Abhängigkeit Englands vom Papsttum, wie bereits im vierten Kapitel des zweiten Abschnitts ausgeführt, und damit verringerte sich auch zusehends die Ausbeutung Englands durch den römischen Stuhl. Es lag völlig im Belieben der Könige, wie weit sie diese duldeten. Die Päpste konnten nur dadurch Geld aus England herausbekommen, daß sie die Beute mit den Königen teilten. Der „Heilige Vater“ und der „Verteidiger des wahren Glaubens“ feilschten miteinander wie polnische Juden um den Anteil an dem Ertrag der päpstlichen Spekulationen auf die Dummheit. Als es sich um den Ablaßverkauf handelte, der den Anstoß zur Reformationsbewegung geben sollte, da bot der Papst Heinrich VIII. ein Viertel des Geldes, welches für die Ablässe in England gelöst werde, wenn dieser die Erlaubnis zum Verkauf gebe. Heinrich aber erklärte, mit weniger als einem Dritteil könne er sich nicht zufrieden geben. Die Ablässe wurden so eine Einkommensquelle der Könige, eine neue Steuer, welche die Päpste für sie eintrieben, um dafür, gegen einen Anteil, das volle Odium der Ausbeutung auf sich zu nehmen. Die Päpste waren in England Steuersammler der Könige geworden.

Und nicht nur die weltliche Macht, auch der Klerus war vom Papsttum fast völlig unabhängig geworden und verweigerte die Zahlung der kirchlichen Abgaben nach Rom, wenn es ihm oder dem Königtum nicht paßte. Derselbe Klerus, der Heinrich VIII. sechs Zehnte zahlte, lehnte es ab (1515, ein Jahr vor der Veröffentlichung der Utopia), dem Papst auch nur einen Zehnten zu bewilligen. Ja selbst, als dieser seine Forderung auf die Hälfte reduzierte, drang er nicht mit ihr durch.

Eine Losreißung vom Papsttum war also in England keineswegs, wie in Deutschland, das einzige Mittel, der Ausbeutung durch Rom ein Ende zu machen. Wir müssen aber die Stellung Mores gegenüber der deutschen Reformation nach den englischen, nicht nach den deutschen Verhältnissen beurteilen. More erkannte von vornherein, daß die Reformation nicht eine ausschließlich deutsche Angelegenheit bleiben werde, und der Lutheranismus machte sich bald in England bemerkbar. Was sich aber der Lutheranismus in England vor allem zum Ziele setzte, das war nicht so sehr die Losreißung vom Papsttum, als die Konfiskation der Klöster und frommen Stiftungen, die in zahlreichen Flugschriften verlangt wurde. Sie ist später auch in der Tat das mächtigste ökonomische Motiv der Heinrichschen Kirchenreformation geworden. Heinrich wurde zu dieser getrieben aus einem politischen Grunde: seiner Niederlage im Kampfe mit Spanien um den Papst, und aus einem ökonomischen: seiner wachsenden Geldnot, die ihn nach dem Kirchenvermögen greifen ließ, als es untunlich und gefährlich geworden war, den Steuerdruck zu erhöhen. Seine Umgebung ermunterte ihn dazu: Großgrundbesitzer und Landspekulanten, die gierig auf den Augenblick lauerten, der das kirchliche Grundeigentum der „freien Konkurrenz“, das heißt den Landräubern, preisgäbe.

Das Grundeigentum der Kirche war in England ein bedeutendes. Eine Reihe von Zeugnissen gibt es auf ein Drittel des gesamten Grund und Bodens an, ähnlich wie in Deutschland und Frankreich (vergleiche 1. Abschnitt, S. 43). Die höchste Schätzung, die wir gefunden, ist bei Wade, History of the middle and working classes, London 1835, S. 38ff., der angibt, der Grundbesitz der Kirche habe in England sieben Zehntel des gesamten Grund und Bodens ausgemacht, eine ungeheuerliche Angabe, für die uns leider nicht einmal die Spur einer Begründung geliefert wird. Wir wissen nicht, woher Wade diese von allen anderen so abweichende Angabe genommen hat. Vielleicht beruht sie auf einem bloßen Mißverständnis.

Auf diesem riesigen Grundbesitz erhielt sich die überlieferte Produktionsweise länger als auf den anderen Gütern Englands. Der Feudalismus war die ökonomische Grundlage, auf der die Macht und das Ansehen der Klöster beruhte. Sie hielten an ihr fest solange als möglich. Natürlich mußten auch sie der neu auftauchenden Produktionsweise Konzessionen machen, aber sie taten es widerwillig. In diesen festgefügten Korporationen erhielten sich die Traditionen des Feudalismus viel lebendiger als in dem neugebackenen Adel, der dem alten von den Rosenkriegen verschlungenen Adel gefolgt war. Während der junge Adel sich kopfüber in die kapitalistische Strömung seiner Zeit stürzte und die Gier nach Profit zu seiner vornehmsten Leidenschaft machte, sahen die Klöster in bezug auf ihr Grundeigentum immer noch die Grundlage ihrer Macht in der Verfügung nicht nur über Land, sondern auch über Leute. Sie fuhren vielfach fort, wie sie im Mittelalter getan, einen Teil ihres Grund und Bodens mit zahlreichen halbfeudalen Arbeitskräften selbst zu bewirtschaften. Sie suchten die Hörigen an sich zu fesseln, indem sie sie gut behandelten, und wenn sie deren Verwandlung in Pächter nicht länger hindern konnten, suchten sie sich ihrer dadurch zu versichern, daß sie ungemein lange Pachtverträge mit ihnen abschlossen. Die Klöster trugen daher zur Proletarisierung des Landvolkes nur wenig bei, ihre Güter waren am dichtesten mit Bauern besetzt.

Man kann sich denken, wie es wirken mußte, wenn alle diese Güter mit einem Schlage der kapitalistischen Ausbeutung preisgegeben wurden. Nicht nur die zahlreichen Bewohner der Klöster wurden ins Proletariat geschleudert, sondern auch der größte Teil ihrer Pächter und Hintersassen. Die Zahl der arbeitslosen Proletarier mußte plötzlich ungemein vermehrt werden. Mit den Klöstern fiel aber gleichzeitig auch die große mittelalterliche Organisation der Armenunterstützung; wir haben diese Rolle der Kirche schon im ersten Abschnitt auseinandergesetzt. England bietet in diesem Punkte keine besonderen Eigentümlichkeiten, wir brauchen ihn also nicht weiter zu berühren. Genug: die Einziehung der Klöster hieß Vermehrung der Zahl der Armen und gleichzeitige Vernichtung ihrer letzten Zuflucht.

More sah, wie in Deutschland die erste Wirkung der Reformation die war, daß Fürsten und Adel das Kircheneigentum an sich zogen; er sah, daß die Lutheraner in England ebenfalls am ungestümsten nach der Konfiskation der Kirchengüter schrien: gerade als Gegner der Proletarisierung und Ausbeutung des Landvolkes mußte er sich also, angesichts der eigentümlichen ökonomischen Situation Englands, gegen die Reformation erklären.

Und die Lutheraner blieben mit ihren Forderungen nicht bei den Klöstern stehen. Sie forderten auch die Einziehung des Gildenvermögens. Das großenteils in Grundeigentum angelegte Gildenvermögen, meist aus Stiftungen bestehend, diente zur Erhaltung von Hospitälern, Schulen und Versorgungshäusern, zur Unterstützung verarmter Zunftgenossen, zu Heiratsausstattungen, Witwen- und Waisenversorgungen und dergleichen. Welch mächtiger Hemmschuh der Proletarisierung, namentlich des Handwerkes, diese Stiftungen waren, ist leicht einzusehen. Zum Teil trugen sie einen kirchlichen Charakter, der Zeit gemäß, in der sie entstanden; sie waren mit Bestimmungen wegen Abhaltung von Seelenmessen, Erhaltung von Kapellen und dergleichen verbunden. Diese Bestimmungen bildeten den Punkt, an den die englischen Lutheraner anknüpften, um ihrer Gier nach dem Gildenvermögen einen religiösen Anstrich zu geben und dessen Konfiskation zu verlangen zur Unterdrückung der „abergläubischen Gebräuche“, die damit verknüpft waren.

So wie die Vertreter der Konfiskation des Kirchen- und Gildenvermögens nicht so sehr mit ökonomischen als religiösen Motiven ihre Forderung begründeten, so auch ihre Gegner deren Zurückweisung. Auch More folgte seinen Widersachern auf dies Gebiet und verteidigte das Kirchenvermögen und die frommen Stiftungen durch eine Verteidigung der Seelenmessen (in seiner Supplication of souls, 1529).

Der Kampf um das Kirchengut wurde erst entschieden, nachdem dessen energischster und fähigster Verfechter auf dem Schafott gefallen war. Ein Jahr nach Mores Hinrichtung wurden die kleineren Klöster eingezogen, 1540 die großen Klöster und Abteien. Da diese Konfiskationen infolge der liederlichen Wirtschaft Heinrichs VIII. und der schamlosen Betrügereien seiner Kreaturen der Ebbe im Staatsschatz kein Ende machten und auch die verzweifeltsten Geldfälschungen nichts mehr halfen, schritt man endlich zu dem gewagten Schritt der Vernichtung der Gilden und der Einziehung ihres Vermögens. Im vorletzten Jahre Heinrichs VIII. wurde ein dahin zielendes Gesetz erlassen, aber erst unter Heinrichs Sohn, Eduard VI., kam es zur Ausführung. Auch da wagte man sich an die mächtigen Gilden Londons nicht heran. Diese blieben verschont. (Vergleiche Thorold Rogers, Six Centuries, S. 110, 346 ff.)

Die englische Reformation unter Heinrich VIII. war eine der frechsten Handhaben, die Ausbeutung des Volkes zu steigern und einige charakterlose Kreaturen des Königs zu bereichern. Sie hatte demnach auch keine Wurzeln im Volke, sondern erregte vielmehr in steigendem Maße dessen Abneigung. Und als das, was More vorausgesehen und bekämpft hatte, zur vollendeten Tatsache geworden war, als das Volk den vollen Druck des begangenen Raubes empfand, da kamen die Tendenzen siegreich zum Durchbruch, für die More gestorben: das Volk empörte sich unter Heinrichs Sohne, Eduard VI., 1549 in furchtbarem Aufstand gegen die protestantische Kamarilla. Wohl wurde es niedergeschlagen, aber nach Eduards Tode (1553) gelang es den Volksmassen, die katholische Maria, Heinrichs Tochter von seiner ersten Gattin, der spanischen Katharina, auf den Thron zu erheben.

Wenn More gegen die Reformation auftrat, handelte er also nicht im Widerspruch zu den Interessen des ausgebeuteten Volkes. Sein Verhängnis bestand darin, daß er weiter blickte als die Masse, daß er die Folgen der Reformation voraussah, indes sie dem größten Teile des Volkes erst später zum Bewußtsein kamen, und daß es ihn drängte, sein Leben für seine Überzeugung einzusetzen, in einem Zeitpunkt, als diese noch nicht von einer mächtigen Strömung im Volke getragen wurde.

Die Reformation Heinrichs VIII. war nicht ein Kampf gegen Ausbeutung, sie kam keinem Bedürfnis im Volke entgegen. Erst unter Maria der Blutigen, die auf Eduard VI. folgte, entwickelte sich ein ökonomischer Gegensatz zwischen dem englischen Volke und dem Katholizismus, erst damals erhielt die Reformation des Absolutismus ein ökonomisches Interesse für große Volksklassen, erst damals bereitete sich jener Protestantismus vor, durch dessen Durchführung die Nachfolgerin der Maria, Heinrichs VIII. Tochter von Anna Boleyn, Elisabeth, so populär geworden ist.

Der Gegensatz, der der Reformation in England breitere Volksschichten gewann, war nicht der zwischen England und Rom, sondern der zwischen England und Spanien. Die Ausbeutung Englands durch den Papst war, wie wir wissen, schon vor der Reformation Heinrichs unbedeutend geworden, der Papst deshalb auch in England nicht so verhaßt wie in Deutschland. Aber in dem Maße, in dem England als Handelsstaat in den Vordergrund trat, in dem Maße wurden seine Interessen denen Spaniens feindlicher, der großen Handelsmacht des sechzehnten Jahrhunderts, die das westliche Becken des Mittelmeers beherrschte und nach der Alleinherrschaft auf dem Ozean strebte. Fast überall, wo der englische Handel sich zu entwickeln suchte, fand er den Weg durch Spanien versperrt oder doch eingeschränkt. Er erstarkte in stetem Kampfe gegen den Handel Spaniens, gegen den er mitten im Frieden einen erbitterten Guerillakrieg führte, er erstarkte durch systematische Seeräuberei. Von den Küsten der Pyrenäenhalbinsel bis in die Nordsee lungerten stets englische Kaperschiffe, auf die spanischen Silberschiffe von Amerika lauernd oder auf die reichen Kauffahrer, welche die Schätze Indiens von Lissabon nach Antwerpen führten. (Von 1580 bis 1640 war Portugal eine spanische Provinz.) Neben dem Sklavenhandel ward der Seeraub eine der Grundlagen von Englands Handelsblüte; beide wurden offiziell gefördert. Elisabeth sandte selbst Sklavenschiffe aus, die Schiffe ihrer Kriegsflotte nahmen am Seeraub teil, und Sklavenhändler und Seeräuber, wie der bekannte Weltumsegler Francis Drake, waren ihre Günstlinge. Vergebens suchte die Inquisition Spaniens, der die Hafenpolizei in diesem Lande unterstand, die Seeräuber abzuschrecken, indem sie jeden derselben, dessen sie habhaft wurde, verbrennen ließ. Die Engländer antworteten mit gleichen Grausamkeiten. Schließlich riß Philipp die Geduld und er rüstete die große Armada aus, den Herd der Seeräuberei zu vernichten; aber sie scheiterte bekanntlich in der kläglichsten Weise – ein beliebter Anlaß für liberale Historiker, um auf Kosten des spanischen „Fanatismus“ und zugunsten der bürgerlichen Piraterie „freisinnig“ zu tun.

Das Ergebnis des steten Kampfes um die Seeherrschaft waren grenzenlose Wut und glühender Haß zwischen den beiden Nationen.

Der Spanier ward im sechzehnten Jahrhundert der „Erbfeind“ Englands, der Ausbund aller Scheußlichkeit für einen Briten. Der Papst aber war das Werkzeug Spaniens. Katholisch sein, hieß spanisch sein, hieß dem Erbfeind dienen, hieß Verrat am Vaterland, das heißt an seinen Handelsinteressen.

Aus diesem Gegensatz erwuchs der populäre Protestantismus der Elisabeth; erst durch ihn wurde die Reformation eine nationale Tat, die unter Heinrich VIII. vom ökonomischen Standpunkt aus ein bloßer Diebstahl eines verschuldeten Fürsten und einiger ebenfalls verschuldeten Wüstlinge und habgierigen Spekulanten gewesen war.

Die Reformation des Absolutismus war jedoch nicht die einzige reformatorische Bewegung Englands. Schon lange vor ihr hatte sich eine Sekte gebildet, die nicht nur die Ausbeutung durch die Kirche, sondern auch die Ausbeutung durch den König und die weltlichen Grundherren bekämpfte, die also dem fürstlichen Protestantismus ebenso feindlich war wie dem Katholizismus. Diese Sekte wurzelte fest in den niederen Volksschichten, gerade denen, für die More eintrat, unter den Bauern und den städtischen kleinen Handwerkern und Proletariern. Es waren die von uns schon erwähnten Lollharden, die an die Lehre Wiklifs anknüpften, bis sie im Calvinismus eine ihnen zusagendere Lehre entdeckten, worauf sie im Puritanismus aufgingen. Die Lollharden hatten eine Art Sozialismus entwickelt; aber derselbe war von dem Mores total verschieden. Dieser zeigte sich noch ganz erfüllt, teils vom frischen Geiste des feudalen, urwüchsigen Katholizismus, teils dem genußfrohen Geiste der aufstrebenden Bourgeoisie, heiter und feingebildet. Der Sozialismus der Lollharden war der Ausdruck gequälter, verzweifelnder Klassen, die man so tief als möglich herabgedrückt hatte. Er war finster, trübselig, aszetisch, barbarisch.

Nimmt man zu diesem Gegensatz noch Mores Abneigung vor jeder Volksbewegung, dann wird man begreifen, daß er sich mit den Lollharden nicht befreunden konnte.

Von seinem englischen Standpunkt aus beurteilte er aber auch die deutschen Wiedertäufer, die ihm halb als Lutheraner, halb als Lollharden erschienen. Sein Urteil über sie war nichts weniger als günstig. So schrieb er an Johann Cochläus: „Deutschland bringt jetzt täglich mehr Ungeheuer hervor, als Afrika jemals tat. Was kann ungeheuerlicher sein als die Wiedertäufer? Und doch, wie hat diese Pest seit einigen Jahren um sich gegriffen!“ Und in seiner Confutacion of Tyndalls answere aus dem Jahre 1532 schreibt er:

„Und so mögt ihr sehen, daß Tyndall nicht bloß diese scheußlichen Ketzereien behauptet, die er vorher schon lehrte, sondern die der Wiedertäufer seitdem dazu gesellt hat. Und er erklärt, daß die wahre Kirche bei ihm sei, und daß diejenigen mit der heiligen Schrift und dem Worte Gottes übereinstimmen, die da sagen, daß die Taufe der Kinder ungültig sei, daß keine Herrscher in der Christenheit bestehen sollen, weder geistliche noch weltliche, und daß niemand etwas sein eigen nennen solle, da alles Land und alle Güter nach Gottes Wort allen Menschen gemeinsam sein müßten, und auch alle Weiber gemeinsam allen Männern, sowohl den nächsten Verwandten wie den Fremdesten, und jeder Mann Gatte jeden Weibes und jedes Weib Gattin jeden Mannes, und schließlich, daß unser heiliger Erlöser Jesus Christus ein bloßer Mensch war und gar kein Gott.“

Die Verdammung des Kommunismus als einer „scheußlichen Ketzerei“ durch den Kommunisten More scheint eine seltsame Inkonsequenz. Und doch ist sie keine zufällige persönliche Erscheinung, sondern tief im Wesen der Anfänge des Sozialismus begründet. Der Gegensatz zwischen More und Münzer enthält den Keim des großen Gegensatzes, der sich durch die ganze Geschichte des Sozialismus zieht, und der erst durch das Kommunistische Manifest überwunden worden ist, des Gegensatzes zwischen dem Utopismus und der Arbeiterbewegung. Der Gegensatz zwischen More und Münzer, dem Theoretiker und dem Agitator, ist im wesentlichen derselbe wie der zwischen Owenismus und Chartismus, zwischen dem Fourierismus und dem Gleichheitskommunismus in Frankreich.

So sehnsüchtig auch More wünschte, seinen Idealstaat verwirklicht zu sehen, so scheu bebte er vor jedem Versuch zurück, der Ausbeutung von unten her ein Ende zu machen. Der Kommunismus konnte sich daher von seinem Standpunkt aus nicht im Klassenkampf durch die Logik der Tatsachen entwickeln, er mußte im Kopfe fertig sein, ehe man daran denken konnte, einen der Mächtigen für ihn zu gewinnen, der ihn der Menschheit von oben herab aufoktroyieren sollte. Das war eine Illusion. Aber gerade ihr verdankte More seinen höchsten Triumph, ihr verdanken wir den ersten Versuch, eine Produktionsweise zu malen, die den Gegensatz zur kapitalistischen bildet, gleichzeitig aber an den Errungenschaften festhält, die die kapitalistische Zivilisation über die vorherigen Entwicklungsstufen hinaus gemacht hat, eine Produktionsweise, deren Gegensatz zur kapitalistischen nicht in der Reaktion besteht.


Zweites Kapitel. Die Ausgaben und Übersetzungen der Utopia. Ihre Komposition

Als Sozialist war More seinen Zeitgenossen weit voraus. Sie verstanden ihn nicht. Man darf jedoch nicht glauben, daß die Utopia deshalb zu denjenigen Schriften gehörte, die erst nach dem Tode ihres Verfassers Leser und Verständnis finden. Ihre volle Bedeutung könnte erst in unserem Jahrhundert klar werden, nachdem die Tendenzen des Sozialismus aufgehört haben, ein bloßer Traum zu sein und der Inhalt sehr realer Klassenkämpfe geworden sind. Aber die Utopia wurzelte so sehr in den Verhältnissen ihrer Zeit, verlieh dem allgemeinen Unbehagen dieser Übergangsperiode so kräftigen und entschiedenen Ausdruck und kam ihrem Bedürfen so sehr entgegen, daß sie, wenn auch weit entfernt davon, völlig verstanden zu werden, doch instinktmäßig als erhebender Trost im Elend mit Jubel begrüßt wurde. Das Buch fand reißenden Absatz. Die lateinischen Ausgaben folgten einander rasch. Die erste Ausgabe der Utopia erschien zu Löwen zu Ende des Jahres 1516. Bereits 1517 war eine zweite nötig. Es erschienen gleich zwei auf einmal, die eine in Paris, die andere, von More selbst besorgt, wurde in Basel von dem berühmten Buchdrucker Froben hergestellt. Der Titel ist ein nicht allzu bescheidener. Die Heuchelei war noch nicht so groß wie heutzutage, und jeder pries sein Buch selbst an, während man das Geschäft heute den guten Freunden überläßt, die es als „objektive Kritiker“ besorgen.

Der Titel lautet: Ein wahrhaft goldenes Büchlein vom besten Zustand des Gemeinwesens und von der neuen Insel Utopia, nicht minder heilsam als ergötzlich, verfaßt vom vortrefflichen und hochberedten Thomas Morus, Bürger und Untersheriff der weltbekannten Stadt London. [48]

Außer diesen beiden Ausgaben haben wir noch (an lateinischen) gefunden: eine aus Paris 1520, [49] aus Löwen 1548, Köln 1555, Hannover 1613, Köln 1629, Amsterdam 1631, Oxford 1663, Glasgow 1750. Vortrefflich ist die neueste Ausgabe, veranstaltet von V. Michels und Theobald Ziegler, Berlin 1895, als 11. Bändchen der Lateinischen Literaturdenkmäler des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts.

Man sieht aus der raschen Folge der Auflagen, welches Aufsehen das Buch erregte.

Aber es blieb auf das Lateinisch sprechende Publikum nicht beschränkt, bald wurde es in alle Sprachen der zivilisierten Welt übersetzt.

Die erste englische Übersetzung, von der wir wissen, kam 1551 heraus; bereits 1556 erlebte diese eine zweite Auflage, eine dritte erschien 1597, eine vierte 1624. Sie rührte von Raphe Robynson her [50] und ist eine gewissenhafte, treffliche Arbeit. Der Übersetzer stand More der Zeit und dem Orte nach so nahe, daß er den Geist des Originals besser wiedergeben konnte als die meisten nach ihm. Mit Recht ist diese Übersetzung neuerdings, sogar in mehreren Ausgaben, wieder veröffentlicht worden. Besonders brauchbar ist unter diesen die der Pitt Press Series, die bereits die zweite Auflage erlebt hat; sie enthält auch Ropers Life of Sir Thos. More, sowie mitunter recht nützliche Noten und ein Glossar mit Erklärung altenglischer, nicht mehr gebräuchlicher Ausdrücke.

1684 erschien eine Übersetzung von G. Burnet, die unzählige Auflagen erlebte.

Es sind auch moderne englische Übersetzungen der Utopia vorhanden, die leichter zu verstehen sind, [51] als die von Robynson, aber keinen Wert haben – soweit wir sie kennen.

Eine italienische Übersetzung erschien bereits 1548 in Venedig, eine spanische 1636 in Cordova. Die erste französische Übersetzung stammt aus dem Jahre 1550 von J. Le Blond. Ihr folgten zahlreiche andere (1643, 1650, 1715, 1730, 1789, 1842 usw.). Ein Auszug aus der Utopia war in Brissots de Warville Bibliothèque philosophique, 9. Band, 1782, enthalten, desselben Brissot, der das Wort aufbrachte: das Eigentum ist Diebstahl, und der in der französischen Revolution eine hervorragende Rolle spielte.

Eine niederdeutsche Übersetzung erschien 1562 zu Antwerpen. [52]

Die erste Übersetzung der Utopia (ihres zweiten Buches) war aber eine deutsche. Sie erschien ein Jahr vor dem großen Bauernkrieg, besorgt von Claudius Cantiuncula. Ein Spiel des Zufalls will, daß der Drucker dieses ersten sozialistischen Werkes, das in deutscher Sprache erschienen ist, Bebel hieß. [53]

Von weiteren deutschen Übersetzungen sind uns noch bekannt die von Leipzig 1612 und zwei von Frankfurt aus den Jahren 1704 und 1753 („Des Englischen Canzlers Thomas Morus Utopien, in einer neuen und freyen Übersetzung von J. B. K.“ Sehr frei und sehr naiv). Daneben ist noch zu nennen, die billigste von allen, die zuerst 1846 bei Reclam erschien und dann in dessen „Universalbibliothek“ wieder abgedruckt wurde. Sie kostet nur 40 Pfennig, ist aber keinen Schuß Pulver wert. Immerhin ist es besser, man liest die Utopia in dieser Ausgabe, als gar nicht. So jämmerlich auch der Übersetzer, Herr Hermann Kothe, unseren More zugerichtet hat, dieser ist nicht zum Umbringen, und seine Größe selbst in der Verhunzung noch erkennbar.

Herr Kothe scheint keine Idee davon gehabt zu haben, in welcher Sprache die Utopia verfaßt worden, denn er übersetzte sie unzweifelhaft aus – dem Französischen! [54] Allem Anschein nach hat er diese Übersetzung, die sehr frei gewesen ist, so viel als möglich wörtlich übertragen und dadurch den Charakter der Utopia völlig verändert. Die Übersetzung des Herrn Kothe erscheint uns mitunter ebenso ungeheuerlich, als wenn jemand Shakespeare auf dem Umweg übers Französische ins Deutsche übersetzt hätte. Was bei dem Franzosen eine ganz natürliche Ausdrucksweise sein mag, erhält durch die wörtliche Wiedergabe im Deutschen den Charakter mitunter der Gelecktheit, mitunter des theatralischen Pathos, der dem einfachen Charakter des Originals völlig zuwider ist. Dabei hat sich's Herr Kothe so bequem gemacht, eine Menge französischer Ausdrücke in seine „Übersetzung“ einfach hinüberzunehmen, Ausdrücke, die sich erst seit dem achtzehnten Jahrhundert in die deutsche Sprache eingeschlichen haben und zur Utopia passen wie ein Frack zu einem eisernen Harnisch. Wir hören da von der Malice der Mönche (S. 32), den Conseils der Fürsten (47); bei den Diners und Soupers der Utopier, die in den Hotels der Syphogranten stattfinden, wird nach der Lektüre eines moralischen Buches serviert (78) usw. Von einer Wiedergabe des Geistes des Originals ist bei einer so gedankenlosen Übersetzung aus zweiter oder dritter Hand nicht die Rede. Aber nicht einmal der Sinn wird immer richtig wiedergegeben, sondern dank einer gründlichen Ignoranz des Übersetzers oft in Unsinn verwandelt. Den Sou macht er zu einer englischen Münze (S. 31), an Stelle von Äbten läßt er Abbés auftreten; die Gefolgen (stipatores) drückt er zu Bedienten herab (S. 15), wobei es ihn gar nicht geniert, daß später von ihrem „Mut und Sinn für Großes“ die Rede und daß sie den Kern der englischen Armee bilden. Sonderbare Bedientenseelen! Im lateinischen Original kommt Raphael Hythlodäus – der natürlich zu einem Hythlodée umgetauft worden ist – nach Kalikut, einer indischen Stadt, die zu Mores Zeit den Haupthandel Indiens mit Europa vermittelte. Da Herr Kothe von dieser Stadt nie etwas gehört hat, verwandelt er sie ohne Besinnen in Kalkutta, obgleich die Handelsstadt Kalkutta erst seit dem achtzehnten Jahrhundert besteht, erst ein Vierteljahrtausend nach der Abfassung der Utopia erstand.

Auf Seite 5 heißt es von Hythlodäus:

„Das Studium der Philosophie, der er sich ausschließlich gewidmet, hat ihn veranlaßt, sich die Sprache von Athen vorzugsweise vor derjenigen Roms zu eigen zu machen. Daher wird er Ihnen über die geringfügigsten Gegenstände nur Stellen aus dem Cicero oder Seneca zitieren.“

Als Herr Kothe diesen Satz niederschrieb, hat er sich entweder gar nichts gedacht, oder er hat angenommen, Cicero und Seneca seien Griechen gewesen. More hat solchen Unsinn natürlich nicht geschrieben. In Wirklichkeit ist der Inhalt der Stelle folgender:

„Auf das Griechische verwendete er viel mehr Fleiß als auf das Lateinische, da er sich ganz der Philosophie ergeben hat. Auf diesem Gebiet ist aber in lateinischer Sprache nichts Bedeutendes vorhanden, mit Ausnahme der Schriften von Seneca und Cicero.“ (Qua in re [philosophia] nihil quod alicujus momenti sit, praeter Senecae ac Ciceronis, exstare Latine cognovit.)

Eine wie unsinnige Darstellung der Moresche Kommunismus in einer solchen Übersetzung an manchen Stellen erfährt, kann man sich denken. So spricht Kothe zum Beispiel (S. 71) von einer Schätzung des Preises der Leinwand nach ihrer Weiße auf der kommunistischen Insel Utopia, während der Zusammenhang ergibt, daß pretium hier die Schätzung des Gebrauchswertes bedeutet. Oder kann uns Herr Kothe vielleicht darüber aufklären, wie die Preise in einer Gesellschaft aussehen, die kein Geld kennt?

Wir haben aus der Unzahl solcher Böcke nur einige aufs Geratewohl herausgenommen. Sie werden genügen, erkennen zu lassen, in welcher Weise man die Utopia dem deutschen Volke und namentlich den deutschen Arbeitern zugänglich gemacht hat, für welche andere Übersetzungen lange Zeit nicht existierten. Es gehört jedenfalls sehr viel Mut dazu, wie Herr Öttinger in seiner Vorrede zur Kotheschen Übersetzung (in der Ausgabe von 1846) getan, diese herauszustreichen und gleichzeitig den strengen literarischen Sittenrichter zu spielen. Öttinger jammert: „Unser Zeitalter ist ein rein papierenes. Alle Welt schreibt, und mancher, der nicht selber schreiben kann, übersetzt das, was andere geschrieben haben ... Zum Glück aber ist der größte Teil dieser Übersetzungen ephemerer Schund.“ Sollen wir die Übersetzung des Herrn Kothe zum unsterblichen Schund rechnen?

Erst 1896 erschien in der „Sammlung gesellschaftswissenschaftlicher Aufsätze“, herausgegeben von E. Fuchs, eine von Dr. J. E. Wessely besorgte Übersetzung der Utopia, welche die Kothesche weit übertrifft und allen zu empfehlen ist, die das Werk, deutsch lesen wollen. Freilich ist auch diese Übersetzung nur korrekter als die Kothesche, keineswegs schon gänzlich fehlerfrei. Und die Eleganz des Originals gibt sie nicht wieder. Der Übersetzer war kein Meister der deutschen Sprache, seine Sätze sind mitunter recht holperig, ja stellenweise geradezu unverständlich. Immerhin läßt sie den Charakter der Utopia besser erkennen als die Kothesche Ausgabe, auch hat sie vor dieser den Vorzug größerer Vollständigkeit voraus. Sie enthält eine Reihe von Gedichten und Briefen, die More der Utopia beigegeben hat und die in der Kotheschen Übersetzung einfach weggeblieben sind, darunter die Vorrede, in Gestalt eines Briefes an Mores Freund Peter Giles in Antwerpen. Diese ist sehr wichtig, da sie uns zeigt, unter welchen Umstanden die Utopia zustande kam. Sie war nicht das Werk eines in seiner Studierstube vergrabenen Gelehrten, sondern eines Mannes, der mitten im gesellschaftlichen Leben und Treiben stand.

Er fingiert, als hätte er in der Utopia nicht die Frucht eigenen Nachdenkens niedergelegt, sondern nur aufgezeichnet, was ihm Raphael Hythlodäus erzählte. Eine solche Fiktion war zur Humanistenzeit nichts Ungewöhnliches. Die Griechen und Römer lieferten Vorbilder derselben – so legte zum Beispiel Plato in seinen Dialogen seine eigenen Ideen dem Sokrates in den Mund. Einen anderen für sich reden zu lassen, war aber im sechzehnten Jahrhundert mehr als die bloße Aufwärmung einer klassischen Form. Es war auch eine Vorsichtsmaßregel gegenüber dem argwöhnischen Despotismus.

Nachdem More auseinandergesetzt, daß er nur niedergeschrieben habe, was er von einem anderen gehört, fährt er fort:

„Aber selbst zur Vollendung dieser geringen Arbeit ließen mir meine anderen Sorgen und Geschäfte fast keine Zeit. Jeden Tag nehmen mich meine Gerichtsgeschäfte in Anspruch: in der einen Sache muß ich reden, in der anderen hören, diese als Schiedsrichter erledigen, jene durch mein Urteil entscheiden. Jetzt erscheint dieser in Amtsangelegenheiten, dann jener in Privatgeschäften. Widme ich so bei Gericht fast den ganzen Tag Fremden, so gehört der Rest meiner Familie. Da bleibt mir für mich, das heißt für meine Studien, keine Zeit. Denn wenn ich heimkomme, habe ich mit meinem Weibe zu plaudern, mit meinen Kindern zu scherzen, mit meinem Gesinde zu sprechen. Alles das rechne ich zu meinen Pflichten, die erfüllt werden müssen. Und sie müssen erfüllt werden, wenn ich nicht im eigenen Hause ein Fremder sein will. Ein Mann muß sich Mühe geben, heiter und liebenswürdig mit denen zu sein, die die Natur oder Zufall oder eigene Wahl zu seinen Lebensgefährten gemacht hat, ohne sie durch zu großes Entgegenkommen zu verziehen oder seine Diener durch übergroße Nachsicht zu seinen Herren zu machen. Unter allen diesen Beschäftigungen vergehen die Tage, die Monate, die Jahre. Wann soll ich schreiben? Und da habe ich noch des Schlafens nicht gedacht, und des Essens, das bei vielen nicht weniger Zeit beansprucht als das Schlafen, welches doch fast die Hälfte des Menschenlebens einnimmt. Ich gewinne daher nur die Zeit für mich, die ich dem Essen oder Schlafen abstehlen kann.“

Nachdem er auf diese Weise entschuldigt, warum die Utopia nicht eher fertig geworden, ersucht er seinen Freund, das Manuskript, das er ihm sendet, durchzulesen und einzufügen, was er, More, etwa vergessen habe.

Durch diesen Brief wird der Leser sehr geschickt gleich in der Vorrede mit den Personen bekannt gemacht und für sie interessiert, deren Gespräche den Inhalt der Utopia bilden.

More tritt als der Erzählende auf. Er berichtet: Er sei von seinem König als Gesandter nach Flandern geschickt worden, um mit den Gesandten Karls von Kastilien zu verhandeln. (Vergl. 2. Abschnitt, S. 168.) Die Verhandlungen zogen sich in die Länge, und die Gesandten Karls reisten schließlich nach Brüssel, um neue Instruktionen zu holen. Diese Pause benutzte More, nach Antwerpen zu gehen, wo er viel mit Peter Giles verkehrte (demselben, an den die Vorrede gerichtet ist). Eines Tages begegnete er diesem auf der Straße mit einem Fremden, der einem Seemann glich. Es war Raphael Hythlodäus, ein Portugiese, der aus Abenteuerlust den Amerigo Vespucci bei seinen Fahrten nach Amerika begleitet hatte, „deren Beschreibung jetzt gedruckt in jedermanns Hand ist“. Auch dessen vierte Fahrt machte er mit und erlangte es, daß er einer der Vierundzwanzig war, die Amerigo in einem Kastell [55] in der neuen Welt zurückließ. Raphael blieb aber nicht dort. Er erwarb die Freundschaft der Eingeborenen und gelangte mit ihrer Hilfe in bis dahin unbekannte Gegenden, darunter hochzivilisierte, mit außerordentlich guten Einrichtungen, wie die der Utopier, bei denen er fünf Jahre zubrachte. Er verließ sie, um Europa ihr Beispiel vorzuführen, kam nach Indien, fand in Kalikut portugiesische Schiffe und kehrte auf einem derselben heim.

More interessiert sich ungemein für den weitgereisten Mann und lädt ihn mit Peter zu sich ein. In Mores Haus wird das Gespräch fortgesetzt. Peter Giles wundert sich sehr, daß Raphael seine ausgezeichneten Kenntnisse nicht im Dienste eines Fürsten verwerte. Das gibt den Anlaß zu jener Kritik der politischen und ökonomischen Zustände der damaligen Zeit, die wir in den vorhergehenden Kapiteln bereits kennen gelernt haben, einer Kritik, die mit dem Lobe des Kommunismus der Utopier abschließt, womit die Veranlassung gegeben ist, zu dessen Schilderung überzugehen.

Diese Exposition ist von einem bewunderungswürdigen Geschick. Die Utopia fiel in das Zeitalter der Entdeckungen. Der Horizont der europäischen Menschheit ward urplötzlich erweitert, neue, märchenhafte Welten taten sich vor ihren Blicken auf, die die Phantasie ebenso reizten wie die Habsucht. Jede Beschreibung einer neuen Entdeckung wurde gierig gelesen, jede fand Glauben. Erst kurz vor der Utopia waren die Briefe von Amerigo Vespucci bekannt geworden, in denen dieser seine Entdeckungen ankündigte. 1507 erschien die Darstellung seiner ersten vier Fahrten nach dem neuentdeckten Weltteil (seine quatuor navigationes) und machten dessen Dasein weiteren Kreisen bekannt, als es durch Kolumbus geschehen war. Welches Aufsehen diese Publikationen Amerigos erregten, kann man daraus ersehen, daß die neue Welt nach ihm benannt wurde. Auf seiner vierten Reise nach Amerika (1503 bis 1504) ließ Amerigo unter dem 18. Grad südlicher Breite in Brasilien 24 Mann zurück, die sich dort niederzulassen gedachten. (Sophus Ruge, Geschichte des Zeitalters der Entdeckungen, S. 335)

Und nun ließ More einen dieser Vierundzwanzig auftreten und seine Reiseabenteuer erzählen. Es gab keine wirksamere Methode, um das allgemeine Interesse auf die Utopia zu lenken.

Außerdem hat More das Erfundene so geschickt an die wirklichen Tatsachen angeknüpft, daß in manchen Kreisen die Insel Utopia als ein wirklich bestehendes Land betrachtet wurde, keineswegs als ein undurchführbarer Traum – eine Utopie. Von verschiedenen Seiten wurde an den Papst das Ansuchen gestellt, Priester nach Utopien zu senden, um ihnen „unseren heiligen Glauben als Gegengabe für die herrlichen Ideen der Gesetzgebung zu bringen, die wir ihnen verdanken“. Daß man die Utopia mehrfach für eine tatsächlich bestehende Insel hielt, erfahren wir auch aus einem Briefe, den Beatus Rhenanus 1518 von Basel aus an Wilibald Pirkheimer, den bekannten Nürnberger Patrizier, richtete. Wir teilen eine größere Stelle aus dem Briefe mit, da er charakteristisch für das Ansehen ist, das More unter deutschen und französischen Humanisten genoß:

„Wie sehr auch seine Scherze (die Epigramme) Mores Geist und Bildung dartun, sein ungemein treffendes Urteil über die Verhältnisse hat er am vollendetsten (cumulatissime) in der Utopia bewiesen. Ich habe nicht viel darüber zu sagen, da der so gründliche Budäus, dieser unvergleichliche Meister einer höheren Bildung, diese einzige Zierde Frankreichs, sie in einer stattlichen Vorrede gebührend gelobt hat. Jenes Geschlecht (die Utopier) besitzt Gesetze, wie sie weder bei Plato, noch bei Aristoteles, noch selbst in den Pandekten Eures Justinian zu finden sind. Und sind der Utopier Lehren vielleicht weniger philosophisch als jene, so um so mehr christlich. Dennoch (höre um der Musen willen jenes Histörchen), als hier jüngst in einer Gesellschaft gewiegter Männer die Utopia erwähnt wurde und ich sie lobte, erklärte ein feister Philister (quidam pinguis), das Verdienst Mores sei nicht größer als das eines Kanzleischreibers, der bei Gericht die Aussagen anderer zu Protokoll nimmt und stumm den Verhandlungen beiwohnt, ohne eine eigene Meinung zu äußern. Alles sei ja von Hythlodäus mitgeteilt und von More bloß niedergeschrieben worden. Das ganze Verdienst Mores bestehe also in der trefflichen Wiedergabe des Gehörten. Und mehrere der Anwesenden zollten ihm Beifall.“

Auch unser Cantiuncula glaubte an die Existenz der Insel Utopia und versuchte in seiner Vorrede jeden Zweifel daran zu zerstreuen.

Seitdem ist der Philister bekanntlich sehr pfiffig geworden. Im sechzehnten Jahrhundert hielt er die Utopie für eine Wirklichkeit. Heute erklärt er die Wirklichkeit – nämlich die gesellschaftliche Produktion – für eine Utopie.

Man stellt, namentlich in Professorenkreisen, die Utopia vielfach als eine humanistische Spielerei hin, eine Wiederaufwärmung des Platonischen Kommunismus. Aber schon das erste Buch, die Einleitung mit dem kritischen Teile, zeigt, wie verschieden die Utopia von der Republik Platos ist, wie völlig modern. Der Anlaß, von dem die Untersuchung Platos ausgeht, ist eine einfache Disputation zwischen Sokrates und dem Sophisten Thrasymachos. More geht dagegen von einem jener Ereignisse aus, die zu den mächtigsten Hebeln gehörten, die feudale Gesellschaft aus ihren Angeln zu heben, von einer überseeischen Entdeckungsreise. Plato findet seinen Kommunismus bei der Darlegung des Begriffs der Gerechtigkeit. Der Kommunismus Mores wird dagegen begründet mit einer Kritik der bestehenden politischen und ökonomischen Zustände.

Damit stellt er sich auf den Boden des modernen Sozialismus, der wesentlich verschieden ist von antiken Erscheinungen äußerlich ähnlicher Art. Und wie in seinen Ausgangspunkten, so ist auch in seinen Forderungen und Zielen der Kommunismus Mores von dem Platos grundverschieden. Mehrere Äußerlichkeiten sind ihnen freilich gemein, aber nur oberflächliche Beschauer können sich dadurch täuschen lassen. Den Kommunismus Mores dem Platos gleichzustellen, ist ungefähr ebenso vernünftig, als einen Ziegel und eine Rose für Wesen gleicher Art zu erklären, weil beide rot sind.


Drittes Kapitel. Die Produktionsweise der Utopier

1. Darstellung

In dem zweiten Buche der Utopia teilt Raphael Hythlodäus die Einrichtungen und Gebräuche mit, die auf der Insel Utopia herrschen und die ihn so entzückten. Hören wir zunächst, was er über Produktionsweise erzählt. Ihre häuslichen, ehelichen, politischen, religiösen und anderen Einrichtungen sind von dieser abhängig und ergeben sich aus ihr.

„Die Insel Utopia“, berichtet Raphael, „zählt vierundzwanzig große und prächtige Städte, alle in Sprache, Sitten, Einrichtungen und Gesetzen einander gleich. Sie sind alle in derselben Weise angelegt und gebaut, soweit dies die Verschiedenheit der Örtlichkeiten zuläßt.

„Diese Städte sind jede von der anderen zum mindesten 24000 Schritte entfernt, aber keine so abgelegen, daß sie nicht von der nächsten in einer Tagreise zu Fuß erreicht werden könnte ... Jeder Stadt ist ihr Ackerland so entsprechend angewiesen, daß ihr Gebiet nach keiner Richtung hin sich weniger als 20000 Schritte weit erstreckt, nach manchen Richtungen viel weiter, wo die Städte ferner auseinanderliegen. Keine dieser Städte strebt danach, ihre Grenzen auszudehnen, denn sie betrachten sich mehr als die Bebauer denn als die Herren des Landes.

„Auf dem flachen Lande haben sie allenthalben gut gelegene, mit Ackerbaugerätschaften wohl versehene Häuser. Diese werden von den Bürgern bewohnt, die abwechselnd aufs Land ziehen. Keine landwirtschaftliche Familie zählt weniger als 40 Mitglieder – Männer und Frauen – und zwei zum Hofe gehörige (ascripticii) Knechte. [56] Die Vorsteher der Familie sind ein Hausvater und eine Hausmutter, gewiegte und erfahrene Menschen, und an der Spitze von je dreißig Familien steht ein Phylarch.

„Aus jeder dieser Familien kehren jährlich 20 Personen in die Stadt zurück, nachdem sie zwei Jahre auf dem Lande zugebracht haben, und werden durch zwanzig andere aus der Stadt ersetzt, die von denen im Landbau unterrichtet werden, die bereits ein Jahr auf dem Lande gewohnt haben und daher die Landwirtschaft verstehen. Die Neugekommenen haben das nächste Jahr andere zu belehren. Diese Einrichtung hat man getroffen, weil man fürchtete, es könnte einmal Mangel an Lebensmitteln eintreten, wenn alle Landbebauer gleichzeitig unerfahrene Neulinge wären. Der Wechsel der Bebauer wurde eingeführt, damit niemand gegen seinen Willen gezwungen sei, allzulange die mühselige und harte Landarbeit zu verrichten. Aber gar manche finden am Landleben solches Gefallen, daß sie sich einen längeren Aufenthalt auf dem Lande erwirken.

„Die Landbewohner bestellen die Felder, besorgen das Vieh und hauen Holz, das sie nach der Stadt zu Land oder zu Wasser führen, wie es am gelegensten ist.“ Sie brüten die Hühnereier künstlich mit Brutapparaten aus usw.

„Obgleich sie genau erforscht haben, wie viele Lebensmittel die Stadt samt ihrem Gebiet erheischt, so säen sie doch mehr Korn und ziehen mehr Vieh, als sie bedürfen, und teilen den Überschuß ihren Nachbarn mit.

„Was immer die Landbewohner brauchen, was man in Feld und Wald nicht findet, das holen sie sich aus der Stadt, wo es ihnen die Obrigkeiten gern und ohne Gegengabe ausfolgen; denn jeden Monat, an einem Feiertag, gehen viele von ihnen in die Stadt. Naht die Erntezeit, dann zeigen die Phylarchen der Ackerbaufamilien den städtischen Obrigkeiten an, wie vieler Arbeiter aus der Stadt sie bedürfen. Diese Schar zieht am festgesetzten Tage aufs Land, und mit ihrer Hilfe wird fast die ganze Ernte an einem einzigen Tage eingebracht, wenn das Wetter günstig ist.“

So viel vom Landbau. Begeben wir uns nun in die Stadt.

„Die Straßen sind sehr geschickt so angelegt, daß sie den Verkehr von Wagen ermöglichen und doch gegen den Wind schützen. Die Häuser sind schöne, große Gebäude, die ohne Zwischenraum in ununterbrochenen Reihen stehen. Der Weg zwischen den Häusern ist zwanzig Fuß breit. [57]

„An der Rückseite der Häuser zieht sich ein Garten durch die ganze Länge der Straße, ringsum von Häusern begrenzt. Jedes Haus hat ein Tor auf die Straße und eine Tür in den Garten. Die Tore sind mit doppelten Flügeln, die sich vor dem leisesten Druck der Hand öffnen und von selbst wieder schließen. Jeder darf eintreten, der will, so daß bei ihnen nichts besonders zu eigen ist. Und selbst die Häuser wechseln sie jedes zehnte Jahr nach dem Los.

„Auf ihre Gärten halten sie große Stücke. Sie ziehen darin Weinstöcke, Früchte, Kräuter und Blumen, so reizend und sauber, daß ich nie fruchtbarere oder zierlichere Gärten gesehen habe. Der Eifer, den sie darauf verwenden, stammt nicht allein aus dem Vergnügen an der Gärtnerschaft, sondern auch aus dem Wetteifer zwischen den einzelnen Straßen, den schönsten Garten zu haben. Und nicht leicht wird man etwas finden, was für die Bürger nützlicher und vergnüglicher wäre. ...“

„Ackerbau ist die Beschäftigung, der sich alle Utopier hingeben, Männer und Weiber, und die sie alle verstehen. Von Jugend auf werden sie darin unterrichtet. Teilweise in den Schulen durch Unterricht, teilweise durch Übung auf den Feldern in der Nähe der Stadt, wo ihnen die Landarbeit wie ein Spiel beigebracht wird; sie werden dadurch nicht nur der Arbeit kundig, sondern auch körperlich gekräftigt.

„Neben der Landwirtschaft, die, wie gesagt, von ihnen allen betrieben wird, erlernt jeder von ihnen noch ein Handwerk als eine besondere Beschäftigung. Das ist meist entweder Verarbeitung von Wolle oder Flachs oder Maurerei, die Kunst des Schmiedes oder des Zimmermanns. Die anderen Beschäftigungen sind nicht der Rede wert.

„Denn die Kleider sind auf der ganzen Insel nach demselben Schnitt, abgesehen davon, daß die Kleidung der Männer verschieden ist von der der Frauen, die der Verheirateten von der der Unverheirateten. Und dieser Schnitt bleibt stets derselbe, passend und angenehm für das Auge, den Bewegungen und Wendungen des Körpers nicht hinderlich, gleich geeignet für die Kälte wie für die Hitze. Diese Kleider verfertigt jede Familie für sich selbst. Aber von den anderen obenerwähnten Gewerben hat jeder eines zu erlernen, und zwar nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen. Letztere, als die schwächeren, werden zu leichteren Arbeiten verwendet, meist zur Verarbeitung von Wolle und Flachs. Die mühsameren Gewerbe liegen den Männern ob.

„Meist wird jeder im Handwerk seines Vaters unterrichtet, denn dazu ist man in der Regel von Natur aus geneigt. Zieht aber jemand ein anderes Gewerbe vor, dann wird er in eine Familie aufgenommen, die dasselbe betreibt. Nicht nur der Vater, sondern auch die Obrigkeit sorgt dafür, daß er zu einem braven und rechtschaffenen Hausvater kommt.

„Hat jemand bereits ein Handwerk erlernt, so darf er sich trotzdem auch später noch zu einem anderen wenden, wenn er danach verlangt. Versteht er beide, dann mag er betreiben, welches er will, es sei denn, daß die Stadt des einen mehr bedarf als des anderen.

„Die vornehmste und fast einzige Aufgabe der Syphogranten (Phylarchen) besteht darin, darauf zu achten, daß niemand müßig geht und jeder sein Handwerk mit gebührendem Eifer betreibt. Damit ist aber nicht gemeint, daß die Utopier von früh morgens bis spät abends in unaufhörlicher Arbeit sich zu schinden haben, gleich Lasttieren. Denn das ist schlechter als die elendeste Sklaverei. Und doch ist es fast überall das Los der Arbeiter, ausgenommen in Utopien. Dort aber werden Tag und Nacht in 24 Stunden geteilt, und nur 6 davon sind zur Arbeit bestimmt: drei vormittags, worauf sie speisen gehen; und nach der Mahlzeit haben sie eine Rast von 2 Stunden, worauf sie wieder 3 Stunden arbeiten und sich dann zum Abendbrot begeben. Ungefähr um 8 Uhr abends gehen sie zu Bett (indem sie mit 1 Uhr die erste Stunde nach Mittag bezeichnen) und widmen dem Schlaf 8 Stunden. Alle die Zeit, die nicht von Arbeiten, Schlafen und Essen in Anspruch genommen ist, verwendet jeder nach seinem Belieben ... Um sich aber keine falschen Vorstellungen zu machen, muß man eines ins Auge fassen – denn wenn man hört, daß sie bloß 6 Stunden auf die Arbeit verwenden, könnte man vielleicht zur Ansicht kommen, daß Mangel an notwendigen Dingen die Folge davon sein wird. Aber im Gegenteil. Diese kurze Arbeitszeit ist nicht nur genügend, sondern mehr als genug, um einen Überfluß an allen Sachen zu erzeugen, die des Lebens Notdurft oder Annehmlichkeit erfordert.

„Das wirst du einsehen, wenn du bedenkst, ein wie großer Teil des Volkes in anderen Ländern müßig geht. Da sind zuerst die Weiber, also die ganze Hälfte des Volkes, und wo die Weiber eine Beschäftigung haben, da schnarchen dafür die Männer desto mehr. Und wie zahlreich und wie müßig daneben die Schar der Priester und frommen Männer, wie man sie nennt! Man füge dazu die Zahl aller Reichen, namentlich die Grundbesitzer (praediorum dominos), die man gewöhnlich die Gentry (generosos) und die Lords (nobiles) nennt. Zu diesen zähle ihr ganzes Gefolge, jenen zusammengelaufenen Haufen von Raufbolden und Windbeuteln. Endlich vergesse man nicht die arbeitsfähigen, vollkommen gesunden Bettler, die irgend ein Gebrechen heucheln. Viel geringer als du glaubst, wirst du die Zahl jener finden, deren Arbeit alles schafft, dessen die Sterblichen bedürfen. Und nun erwäge ferner, wie wenige wieder von diesen mit notwendigen Arbeiten beschäftigt sind. Denn wo alles mit Geld gemessen wird, da werden natürlich viele eitle und überflüssige Gewerbe ins Leben gerufen, die bloß der Verschwendung und Liederlichkeit dienen. Denn wenn man heute alle diese, die jetzt tätig sind, nur in so wenigen Gewerben beschäftigte, als die Natur Bedürfnisse hervorruft, so würden zweifellos die notwendigen Sachen in solcher Menge erzeugt werden, daß ihr Preis zu tief sänke, um die Erhaltung der Arbeiter zu ermöglichen. Wenn man aber alle diese, die jetzt in nutzlosen Gewerben tätig sind, zusammen mit der ganzen Schar jener Müßiggänger, von denen jeder einzelne mehr Erzeugnisse fremder Arbeit verzehrt und verwüstet, als zwei der Arbeiter – wenn man alle diese zu nützlichen Arbeiten anhielte, so würde, wie leicht einzusehen, ungemein wenig Zeit erforderlich sein, um einen Überfluß an Dingen zu schaffen, die des Lebens Notdurft oder Annehmlichkeit erheischt, und selbst an solchen, die dem Vergnügen dienen, das heißt einem wahren und natürlichen Vergnügen.

„Die Richtigkeit davon beweist in Utopien der Augenschein. Denn in einer Stadt samt ihrem Gebiet finden sich kaum 500 Personen von der Arbeit befreit aus der ganzen Zahl der Männer und Frauen, die dazu tauglich sind. Darunter sind die Syphogranten, die sich aber der Arbeit doch nicht entziehen, um die anderen durch ihr Beispiel zur Arbeit zu ermuntern, trotzdem sie gesetzlich davon befreit sind. Dieselbe Befreiung von der Arbeit genießen diejenigen, die auf Empfehlung der Priester und nach geheimer Wahl durch die Syphogranten vom Volk Erlaubnis bekommen haben, sich ausschließlich und ständig dem Studium zu widmen. Erfüllt ein solcher aber nicht die in ihn gesetzten Erwartungen, dann wird er wieder unter die Handwerker versetzt. Oft kommt aber auch das Gegenteil vor, daß ein Handwerker seine freie Zeit so eifrig auf das Studium verwendet und solche Fortschritte darin macht, daß er von der Handarbeit befreit und unter die Gelehrten versetzt wird.“ Aus diesen werden die höheren Beamten genommen. „Da der Rest des Volkes weder arbeitslos noch mit unnützen Arbeiten beschäftigt ist, kann man leicht ermessen, wie wenige Stunden sie brauchen, um vieles und Gutes hervorzubringen.

„Außerdem haben die Utopier den Vorteil, daß die meisten notwendigen Beschäftigungen bei ihnen nicht so viel Arbeit in Anspruch nehmen als anderswo. Denn erstens erheischt in anderen Gegenden die Erbauung und Instandhaltung der Gebäude die ununterbrochene Arbeit vieler Menschen; denn der geizige Sohn läßt das Haus, das der Vater baute, verfallen. Was er mit wenigen Kosten hatte erhalten können, hat sein Nachfolger mit großem Aufwand neu zu bauen. Oder es kommt auch vor, daß ein Haus, das einem Mann viel Geld kostete, seinem wählerischen Nachfolger nicht gefällt. Er vernachlässigt es, läßt es verfallen und baut ein anderes an einer anderen Stelle mit nicht geringeren Kosten. Aber bei den Utopiern ist alles so wohl überlegt und das Gemeinwesen so gut eingerichtet, daß es sehr selten vorkommt, daß sie ein neues Haus auf einem neuen Platz zu bauen haben. Sie bessern nicht nur eintretende Schäden rasch aus, sondern wissen ihnen auch rechtzeitig zuvorzukommen. So erhalten sich die Gebäude lange mit geringen Kosten, so daß oft die Bauleute nichts zu tun haben, außer Zimmerholz zu bearbeiten und Steine zu behauen, damit das Werk schneller vonstatten gehe, wenn man einmal ihrer Arbeit bedarf.

„Ebenso wenige Arbeiter bedürfen sie zur Herstellung ihrer Kleidung. Bei der Arbeit tragen sie einfach Leder oder Felle, die sieben Jahre dauern. Gehen sie aus, dann werfen sie einen Mantel um, der das grobe Unterkleid verbirgt. Diese Mäntel haben auf der ganzen Insel dieselbe Farbe, die Naturfarbe der Wolle. Sie verbrauchen also nicht nur weniger Tuch, als dies in anderen Ländern der Fall; es kostet ihnen auch weniger Arbeit. Leinwand wird mehr gebraucht, da ihre Herstellung weniger Arbeit erfordert. Aber beim Leinen sieht man nur auf Weiße, bei der Wolle nur auf Sauberkeit. Die feineren Gewebe werden keineswegs höher geschätzt. Und während anderswo vier bis fünf wollene Oberkleider von verschiedenen Farben und ebenso viele seidene Wämser einem Mann nicht genügen, ja manchem Herrchen oft zehn zu wenig sind, genügt bei den Utopiern ein einziger Anzug meist für zwei Jahre. Warum sollte einer dort auch mehr verlangen? Wenn er mehr hätte, wäre er weder besser vor der Kälte geschützt, noch hübscher gekleidet.

„Da sie alle nützlich beschäftigt sind und jedes Gewerbe nur weniger Arbeit bedarf, kommt es öfter vor, daß sie an allem Überfluß haben. Dann werden zahllose Scharen aus der Stadt geführt, um die Straßen auszubessern. Oft aber, wenn auch diese Arbeit nicht notwendig ist, wird die Zahl der Arbeitsstunden durch einen Erlaß herabgesetzt. Denn die Obrigkeiten plagen nicht die Bürger mit unnützer Arbeit.“

Man vergleiche über die Abkürzung der Arbeitszeit in einem kommunistischen Gemeinwesen die Ausführungen Mores mit denen von Marx. Man wird bei beiden einen ähnlichen Gedankengang finden. Im Kapital heißt es:

„Die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsform erlaubt, den Arbeitstag auf die notwendige Arbeit zu beschränken ... Je mehr die Produktivkraft der Arbeit wächst, um so mehr kann der Arbeitstag verkürzt werden, und je mehr der Arbeitstag verkürzt wird, desto mehr kann die Intensität der Arbeit wachsen. Gesellschaftlich betrachtet wächst die Produktivität der Arbeit auch mit ihrer Ökonomie. Diese schließt nicht nur die Ökonomisierung der Produktionsmittel ein, sondern die Vermeidung aller nutzlosen Arbeit. Während die kapitalistische Produktionsweise in jedem Geschäft Ökonomie erzwingt, erzeugt ihr anarchisches System der Konkurrenz die maßloseste Verschwendung der gesellschaftlichen Produktionsmittel und Arbeitskräfte neben einer Unzahl unentbehrlicher, aber an und für sich überflüssiger Funktionen.

„Intensität und Produktivkraft der Arbeit gegeben, ist der zur materiellen Produktion notwendige Teil des gesellschaftlichen Arbeitstages um so kürzer, der für freie geistige und gesellschaftliche Betätigung der Individuen eroberte Zeitteil also um so größer, je gleichmäßiger die Arbeit unter alle werkfähigen Glieder der Gesellschaft verteilt ist, je weniger eine Gesellschaftsschicht die Naturnotwendigkeit der Arbeit von sich selbst ab- und einer anderen Schicht zuwälzen kann. Die absolute Grenze für die Verkürzung des Arbeitstages ist nach dieser Seite hin die Allgemeinheit der Arbeit. In der kapitalistischen Gesellschaft wird freie Zeit für eine Klasse produziert durch Verwandlung aller Lebenszeit der Massen in Arbeitszeit.“ (Kapital, 1. Band, 3. Auflage, S. 541)

So viel über Handwerk und Landbau in Utopien. Beides sind Beschäftigungen, die einen gewissen Reiz besitzen, wenn man sie nicht bis zur Ermüdung zu betreiben hat. Die Arbeit des Handwerkers wie des Bauern ist nicht eine eintönige abstumpfende, sondern eine abwechslungsreiche. Jeder von ihnen steht in einer Art persönlichen Verhältnisses zu den Produkten seiner Arbeit; sie sind sein Stolz und seine Freude. Natürlich haben wir da nicht den Handwerker und Bauer der kapitalistischen Gesellschaft vor Augen, in der diese vielmehr meist nichts sind als verkappte Proletarier, Produzenten von Mehrwert für den Kapitalisten.

More konnte wohl annehmen, daß Landbau und Handwerk genug Reiz in sich selbst besäßen, um keinen strengen Arbeitszwang nötig zu machen. Wie aber mit den unangenehmen, abstoßenden, widerlichen Arbeiten? Um zu Besorgung dieser anzureizen, nahm er die Religion zur Hilfe, die ja zu seiner Zeit noch so große Macht besaß.

„Viele unter ihnen (den Utopiern) sind so der Religion ergeben, daß sie die Wissenschaften vernachlässigen. Aber sie meiden den Müßiggang, indem sie der Überzeugung sind, daß die Seligkeit nach diesem Leben nur erlangt werden kann durch ein tätiges Leben und gute Werke. Einige von ihnen widmen sich daher der Krankenpflege, andere bessern die Straßen und Brücken aus, reinigen die Gräben, stechen Torf aus, brechen Steine, fällen und spalten Holz, fahren Holz, Korn und andere Sachen in die Städte und dienen nicht nur dem Gemeinwesen sondern auch Privatpersonen wie Diener, ja williger noch als Knechte. Denn wo immer unangenehmes, hartes und abstoßendes Werk zu verrichten ist, vor dem Mühe, Ekel und Kleinmut andere abschrecken, das nehmen sie gern und heiter auf sich und verschaffen so durch stetige Arbeit und Plage den anderen Ruhe und Bequemlichkeit, ohne diese deshalb zu tadeln. Denn sie maßen sich weder das Amt der Sittenrichter an, noch erheben sie sich über die anderen. Aber man ehrt sie um so höher, je mehr Knechtsdienste sie leisten.

„Sie zerfallen in zwei Sekten. Die eine von ihnen fordert Ehelosigkeit und Enthaltung nicht allein vom Umgang mit Frauen, sondern auch vom Genuß von Fleisch, einige von ihnen von allen tierischen Speisen. Sie weisen die Genüsse dieses Lebens als schädlich zurück und suchen die Seligkeit des jenseitigen Lebens, das sie fröhlich und guten Mutes erwarten, durch Wachen und Kasteiungen zu gewinnen.

„Die andere Sekte ist nicht weniger arbeitslustig, zieht jedoch die Ehe vor und verschmäht nicht deren Annehmlichkeiten. Sie glauben, daß ihre Pflichten gegen die Natur Arbeit und Mühsal, ihre Pflichten gegen das Gemeinwesen die Kinderzeugung erheischen. Sie enthalten sich keiner Freude, die sie nicht an der Arbeit hindert. Sie lieben das Fleisch der vierfüßigen Tiere, weil sie glauben, daß diese Nahrung sie stärker und ausdauernder macht. Die Utopier halten diese Sekte für die weisere, die andere für die heiligere.“

Diese idealen, bescheidenen, enthusiastischen Arbeitsmönche, die in schneidendem Kontrast zu den faulen, versoffenen und arroganten Kuttenträgern von Mores Zeit stehen, erschienen jedoch nicht genügend zur Verrichtung der unangenehmen Arbeiten. Gab es doch unter diesen solche, die man einem frommen Manne absolut nicht zumuten konnte, zum Beispiel das Schlachten von Tieren, Arbeiten, die den Menschen, der sie betrieb, brutalisieren mußten. More wünschte die Utopier davon fernzuhalten. Aber die Arbeiten mußten getan werden. In dieser Verlegenheit wurde More gezwungen, sich selbst untreu zu werden und die Zwangsarbeit für eine Klasse der Bewohner Utopiens bestehen zu lassen:

„Als Knechte haben sie (die Utopier) weder Kriegsgefangene, außer solche in Schlachten gemacht, in denen sie (die Utopier) selbst gefochten [58], noch die Kinder von Knechten; auch verschmähen sie es, solche in fremden Ländern zu erwerben. Ihre Knechte sind Mitbürger, die wegen Verbrechen zur Zwangsarbeit verurteilt wurden, oder, was häufiger vorkommt, Verbrecher des Auslandes, über die die Todesstrafe verhängt wurde. Von diesen bringen sie viele ins Land; sie zahlen für sie nur ein Geringes, meist gar nichts. Diese Art von Knechten werden nicht nur zu ununterbrochener Arbeit angehalten, sie tragen auch Ketten. Am härtesten aber behandeln sie die aus ihrer Mitte stammenden, da sie diese für die Verruchtesten und Strafwürdigsten halten, die so trefflich in einem so ausgezeichneten Gemeinwesen erzogen wurden und trotzdem sich der Missetaten nicht enthielten.

„Eine andere Art von Knechten wird aus armen und arbeitsamen Taglöhnern des Auslandes gebildet, die freiwillig kommen, sich ihnen in die Knechtschaft zu verdingen. Diese behandeln sie anständig und halten sie fast so gut wie die eigenen Bürger, ausgenommen, daß diese ihnen um ein Geringes mehr Arbeit auferlegen, da sie daran gewöhnt sind. Ist einer von ihnen gewillt, wegzuziehen, was selten vorkommt, dann hindern sie ihn nicht und lassen ihn auch nicht mit leeren Händen ziehen.“

Aber auch die Lage der verurteilten Verbrecher ist keine hoffnungslose:

„Meist werden die abscheulichsten Verbrechen mit Zwangsarbeit bestraft. Denn sie glauben, daß diese den Verbrecher nicht weniger schreckt und dem Gemeinwesen vorteilhafter ist, als wenn man ihn eiligst ohne weiteres aus dem Wege schafft. Denn seine Arbeit nützt mehr als sein Tod, und sein Beispiel wirkt länger abschreckend als eine rasch vergessene Hinrichtung. Wenn die Verbrecher sich aber empören, dann erschlägt man sie wie wilde Tiere, die weder Eisenstäbe noch Ketten bändigen können. Diejenigen, die ihr Los willig ertragen, sind nicht ohne Hoffnung. Denn wenn sie, gebeugt von Mühsal, solche Reue zeigen, daß man sieht, sie bedauern ihre Missetat mehr als ihre Strafe, dann wird ihre Zwangsarbeit mitunter vom Fürsten, mitunter vom Volke entweder gemildert oder gänzlich erlassen.“

Die Arbeit dieser Knechte ist unter anderem Schlächter- und Küchenarbeit: Aus den Schlachthäusern außerhalb der Stadt „werden die Tiere auf die Märkte gebracht, nachdem die Knechte sie getötet und ausgeweidet haben. Denn sie lassen nicht ihre freien Bürger sich an das Schlachten der Tiere gewöhnen, da sie fürchten, daß ihre Milde, die liebenswürdigste Eigenschaft ihres Wesens, dadurch nach und nach ausgelöscht werden könnte ... In den Speisepalästen wird alle unangenehme, beschwerliche und schmutzige Arbeit von den Knechten verrichtet.“

So viel über die Arbeiten und die Arbeiter. Jetzt noch einiges über die ökonomischen Beziehungen des gesamten Gemeinwesens zu den einzelnen produzierenden Gemeinden einerseits, zum Ausland andererseits.

„Jede Stadt sendet jährlich nach Amaurotum als Abgeordnete drei ihrer weisesten Greise, die gemeinsamen Angelegenheiten der Insel zu besorgen. Es wird untersucht, an welchen Dingen und wo Überfluß oder Mangel herrscht, und dem Mangel der einen durch den Überfluß der anderen abgeholfen. Und das geschieht ohne irgend welche Entschädigung, indem die Städte, die von ihrem Überfluß an andere abgeben, ohne von diesen etwas zu verlangen, dafür von anderen etwas empfangen, was sie brauchen, ohne eine Gegenleistung dafür zu geben. So ist die ganze Insel gleichsam eine Familie.

„Nachdem sie aber genügend Vorräte für sich selbst angelegt haben (und sie halten es für notwendig, auf zwei Jahre versorgt zu sein, wegen der Ungewißheit der Erträge des nächsten Jahres), dann führen sie ihren Überfluß ins Ausland. Mengen von Korn, Honig, Wolle, Flachs, Holz, Kermes (coccus) und Purpur; Häute, Wachs, Talg, Leder und Vieh. Den siebenten Teil dieser Sachen verteilen sie freigebig unter die Armen des Landes, mit dem sie handeln, den Rest verkaufen sie zu niedrigen Preisen. Durch diesen Warenhandel bringen sie in ihr Land nicht nur notwendige Dinge, die es nicht selbst hervorbringt – denn deren gibt es nur wenige, außer Eisen –, sondern auch große Mengen Gold und Silber. Und da sie diesen Handel schon seit langem betreiben, haben sie unglaubliche Reichtümer aufgehäuft.“ [59]

Alle benachbarten Städte und Staaten sind ihnen verschuldet. Die Schätze häufen sie bloß an, um im Falle eines Krieges Soldtruppen werben und einen Teil der Feinde bestechen zu können.

Sie selbst haben kein Geld, brauchen also auch kein Gold. Und damit ja kein Verlangen danach entstehe, „haben sie ein Mittel erdacht, das, so sehr es mit ihren Gesetzen und Gewohnheiten übereinstimmt, so verschieden von den unseren ist, daß es uns unglaublich erscheint, die wir das Gold so unendlich schätzen und so gierig suchen. Sie essen und trinken aus irdenen und gläsernen Geschirren, die sehr schön, aber nicht kostbar sind, aus Gold und Silber aber machen sie Nachtgeschirre und andere Gefäße zu niedrigem Gebrauch, nicht nur für die gemeinsamen Paläste, sondern auch für die Privathäuser. Ferner machen sie aus den edlen Metallen Ketten und Fesseln für ihre Knechte. Wer durch ein Vergehen ehrlos geworden ist, den behängen sie mit Ohrringen und Ketten von Gold, stecken ihm goldene Fingerringe an und umwinden sein Haupt mit Gold.“

In dieser Weise stellte sich More die ökonomischen Verhältnisse seines idealen kommunistischen Gemeinwesens vor.
 

2. Kritik

Niemand von einiger Kenntnis des Gegenstandes wird behaupten wollen, daß Mores Ziele mit den Tendenzen des modernen wissenschaftlichen Sozialismus völlig übereinstimmen. Dieser fußt auf zwei Tatsachen: der Entwicklung des Proletariats als Klasse und der Entwicklung des maschinellen Großbetriebs, der die Wissenschaft in seine Dienste nimmt und innerhalb jedes Betriebs heute schon ein System planmäßig organisierter, gesellschaftlicher Arbeit erzwingt. Der Großbetrieb bildet die technische Grundlage, auf der nach der Ansicht des wissenschaftlichen Sozialismus das Proletariat die Produktion seinen Interessen gemäß gestalten wird, wenn es ein politisch maßgebender Faktor geworden ist.

Die kapitalistische Produktionsweise hat jedoch ihre Mißstände früher entwickelt als die Elemente, die bestimmt sind, sie zu überwinden. Das Proletariat mußte eine dauernde Institution und ein bedeutender Bruchteil des Volkes geworden sein, ehe es sich als Klasse fühlen und dem Forscher als die Kraft enthüllen konnte, von der die soziale Umgestaltung getragen werden wird. Andererseits konnte sich der Großbetrieb unter dem System der Warenproduktion nur entwickeln in kapitalistischer Form, er war nur möglich, nachdem sich große Kapitalien in wenigen Händen gesammelt hatten und diesen eine Armee besitzloser, arbeitsuchender Proletarier gegenüberstand.

Kapital und Proletariat, Massenelend und Riesenreichtum mußten lange bestehen, ehe sie die Keime einer neuen Gesellschaft entwickelten. Solange diese sich nicht gezeigt, mußten alle Versuche in der Luft schweben, die Leiden der kapitalistischen Produktionsweise durch die Herbeiführung ihres Gegenteils zu beseitigen, mußte der Sozialismus ein utopischer bleiben, konnte er kein wissenschaftlicher werden.

Diese Situation bestand noch im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Um wie viel ungünstiger war sie zur Zeit Mores! Im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts erstand bereits eine bestimmte Arbeiterbewegung mit bestimmten Zielen; was More als Arbeiterbewegung kennen lernte, waren einzelne Geheimbündeleien und Verzweiflungsstreiche meist handwerksmäßiger und bäuerlicher Elemente. Im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts sah man schon den Übergang der kapitalistischen Manufaktur zur Großindustrie. Zu Mores Zeit begann eben der Kapitalismus sich der Industrie und Landwirtschaft Englands zu bemächtigen. Noch hatte seine Herrschaft nicht lange genug gedauert, um eine technische Umwälzung zu vollziehen; der Unterschied zwischen kapitalistischer und einfacher Warenproduktion war noch mehr einer des Grades als der Art.

Heute ist der Unterschied zwischen kapitalistischem Großbetrieb und bäuerlichem oder handwerksmäßigem Betrieb ein in die Augen fallender. Der erstere ist nicht bloß größer als der letztere, er produziert auch ganz anders, mit anderen Werkzeugen, nach anderen Methoden.

Ein solcher Unterschied zwischen einfacher und kapitalistischer Warenproduktion bestand noch nicht im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts in England. Die Arbeiter, die die Wolle des Kaufmanns für diesen verwebten, taten dies in derselben Weise, wie die Arbeiter des zünftigen Webers. Der Unterschied bestand zunächst bloß darin, daß der Kaufmann mehr Arbeiter beschäftigte als der Webermeister, und daß die Gesellen des Webermeisters wohl Aussicht hatten, selbst einmal Meister zu werden, die Lohnarbeiter des kapitalistischen Kaufmanns dagegen keine Aussicht, jemals selbst Kapitalisten zu werden. Der Unterschied zwischen kapitalistischer und zünftiger Produktionsweise war damals nur ein sozialer, kein technischer: das Handwerk bildete die Grundlage der einen wie der anderen.

Ähnlich stand es in der Landwirtschaft. Die Betriebe der kapitalistischen Pächter unterschieden sich von denen der feudalen Hintersassen zunächst nur durch ihre Größe. Von einer Verbesserung der Kulturmethoden, von einer Anwendung vervollkommneter Werkzeuge in der ersteren war noch wenig zu merken. Allerdings wurden Menschen überflüssig gemacht, aber nicht durch eine Erhöhung der Produktivität der Landarbeit, sondern durch den Übergang zu einer roheren Form der ländlichen Produktion, vom Ackerbau zur Weidewirtschaft.

So klar daher auch zu Mores Zeit gewisse Mißstände des Kapitalismus in England zutage lagen, die technischen Grundlagen, auf denen dieser beruhte und von denen daher auch More bei dem Aufbau seines antikapitalistischen Gemeinwesens auszugehen hatte, waren immer noch das Handwerk und die bäuerliche Landwirtschaft.

Daß More also in vielen Punkten vom modernen Sozialismus abweichen mußte, ist klar. So wie er in politischer Beziehung uns in manchen Beziehungen als Reaktionär erscheint – wenn man verrückt genug ist, ihn mit dem Maßstab des zwanzigsten und nicht des sechzehnten Jahrhunderts zu messen – so wie er infolge der Rückständigkeit des Proletariats ein Gegner jeder Volksbewegung, der Verfechter eines konstitutionellen Fürstentums war –: so erscheint uns Mores Sozialismus auch in ökonomischer Beziehung vielfach rückständig. Nicht darüber darf man sich wundern, daß dies der Fall, sondern darüber, daß trotz der ungünstigen Bedingungen Mores Sozialismus dennoch, neben vielem Rückständigen, die wesentlichsten Merkmale des modernen Sozialismus aufweist, so daß er mit Recht den neueren Sozialisten zuzurechnen ist.

Die unmodernen Seiten des Moreschen Kommunismus sind die notwendigen Konsequenzen der Produktionsweise, von der er ausging und ausgehen mußte. Zu diesen unmodernen Seiten gehört vor allem die Fesselung jedes Menschen an ein bestimmtes Handwerk.

Die wichtigste Arbeit bei der modernen Großindustrie ist der Wissenschaft zugefallen. Sie erforscht methodisch die mechanischen und chemischen Kräfte, die bei der Produktion ins Spiel kommen; sie erforscht ebenso die mechanischen und chemischen Eigenschaften der verschiedenen Stoffe, deren Umformung die Aufgabe der Produktion ist; und schließlich leitet sie die Anwendung der von ihr erforschten Grundsätze in der Technik. Dem Handarbeiter bleiben nur einige wenige, inhaltlose, aber leicht erlernbare Handgriffe bei Beaufsichtigung der Maschine oder des chemischen Prozesses übrig.

Diese Inhaltlosigkeit und Einfachheit der Handarbeit bildet heute eine der wichtigsten Ursachen ihrer Erniedrigung. Sie beschäftigt nicht mehr den Geist, zieht nicht an, sie wirkt abstoßend und abstumpfend. Sie ermöglicht es, die geschickten Arbeitskräfte durch ungeschickte, reife durch unreife, starke durch schwächliche zu ersetzen. Zugleich befreit sie den Kapitalisten in immer steigendem Maße von der Notwendigkeit, einen Stock gelernter Arbeiter zu halten. Und gleichzeitig werden durch die Anwendung der Wissenschaft in der Produktion die Produktionsverhältnisse ständig umgewälzt; denn die Wissenschaft rastet nicht und ebensowenig der Druck der Konkurrenz, der stets zu neuen Verbesserungen zwingt. Die Maschine von gestern ist heute veraltet und morgen gänzlich konkurrenzunfähig. Der Arbeiter hat heute an einer anderen Maschine zu arbeiten, als er gestern tat, um morgen wieder in einem anderen Betrieb Arbeit zu suchen.

Sobald das Proletariat die Produktion regelt, werden sich diese Ursachen der Erniedrigung der Arbeiterklasse zu ebenso vielen Elementen ihrer Hebung gestalten. Die Vereinfachung der Handgriffe bei den Maschinen ermöglicht es, den Arbeiter mit seinen Arbeiten zeitweise wechseln, ihn eine Reihe von abwechselnden Betätigungen verschiedener Muskeln und Nerven verrichten zu lassen, die ihn in ihrer harmonischen Anordnung ebenso erfrischen und beleben, wie es heute das völlig unproduktive Turnen tut. In den verschiedensten Beschäftigungen nacheinander tätig, wird er erst der in ihm schlummernden Fähigkeiten sich bewußt, aus einer Maschine ein freier Mensch werden. Und die gleichzeitige Beschäftigung mit den Wissenschaften, wie sie die Verkürzung der Arbeitszeit mit sich bringt, wird seiner Arbeit auch ihren geistigen Inhalt wiedergeben, indem sie ihn deren Zusammenhang mit dem ganzen technischen und ökonomischen Getriebe und dessen natürlichen Wurzeln erkennen läßt. Die Arbeit wird für ihn damit zu freier Arbeit, indem die Erkenntnis ihrer Notwendigkeit an die Stelle der Hungerpeitsche tritt.

Anstatt der Abwechslung der Arbeiten, wie sie erst durch die Großproduktion möglich, aber auch notwendig wird, wenn die Arbeiterklasse nicht verkommen soll, setzt More, wie gesagt, die Fesselung jedes Arbeiters an ein bestimmtes Handwerk fest. Im Handwerk ist die Behandlung der Werkzeuge, die Kenntnis ihrer Wirkung auf die Rohstoffe das Ergebnis nicht methodischer wissenschaftlicher Forschung, sondern der Anhäufung persönlicher, oft zufälliger Erfahrungen. Dies ist auch in der Manufaktur der Fall. Aber in ihr ist jeder Produktionsprozeß in verschiedene Teilarbeiten zerlegt, deren jede einem Arbeiter ständig zugewiesen ist, und deren Erlernung natürlich nicht so viel Zeit in Anspruch nimmt als die Erlernung aller Handgriffe und Methoden eines bestimmten Produktionsprozesses. Ist es in der Manufaktur notwendig, den Arbeiter für längere Zeit an seine Teilarbeit zu fesseln, wenn er die nötige Geschicklichkeit erlangen, seine Arbeit so produktiv als möglich werden soll, so ist im Handwerk, dessen Verrichtungen so mannigfach sind, die Kettung an ein bestimmtes Gewerbe von Jugend auf, der stete Verkehr mit einem geschickten Meister, der aller Überlieferungen des Gewerbes kundig ist, eine technische Notwendigkeit. Diese Kettung erschien aber nicht als ein Übel, da die Handwerksarbeit noch einen gewissen Reiz hatte, wie wir schon oben ausgeführt.

Wie aber mit den nicht handwerksmäßigen Verrichtungen, mit der Arbeit der Taglöhner, die zu Mores Zeit bereits sehr zahlreich waren, mit den schmutzigen, ekelhaften Verrichtungen, der Schlächterei, der Reinigung von Häusern und Städten usw.? Diese unangenehmen Arbeiten, ein beliebter Einwand des Spießbürgers gegen den Sozialismus, sind für alle Utopisten ein großer Stein des Anstoßes gewesen. Fourier suchte ihn durch psychologische, oft ungemein genial erdachte Motive zu beseitigen, die er in die Arbeit einführte. More suchte etwas Ähnliches zu erreichen, wie wir gesehen, durch den zu seiner Zeit noch so starken Hebel der Religion. Aber da er ihn nicht für ausreichend hielt, sah er sich genötigt, zur Zwangsarbeit von Sklaven seine Zuflucht zu nehmen, eine eigentums- und rechtlose Klasse, die für andere arbeitet, in seinen kommunistischen Idealstaat einzuführen. Es kam ihm schwer an, er wand und drehte sich, um dieser Einrichtung ihre Härte zu nehmen, indem er in jene Klasse Personen verwies, die ohne deren Bestehen ein noch schlimmeres Los erwartet hätte. Die degradierte Klasse gänzlich zu beseitigen, war ihm unmöglich von der technischen Grundlage aus, auf der er stand. Erst die moderne Großindustrie, die wissenschaftliche Technik bietet die volle Möglichkeit, die Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten der verschiedenen Arbeiten auszugleichen und den etwaigen Rest unangenehmer Arbeiten so zu vereinfachen, daß sie von allen Arbeitsfähigen abwechselnd verrichtet werden können, und damit den besonderen Arbeitszwang für eine einzelne, benachteiligte Klasse von Arbeitern aufzuheben. Schon heute hat sie den Unterschied zwischen angenehmen und unangenehmen Arbeiten sehr verringert, allerdings meist in der Weise, daß sie Arbeiten, die früher angenehm gewesen, jeglichen Reizes entkleidete. Aber es ist der modernen Technik doch auch gelungen, eine Reihe unangenehmer Arbeiten milder zu gestalten oder völlig zu beseitigen. Im ganzen freilich hat die Technik bisher noch sehr wenig in dieser Richtung geleistet. Die Annehmlichkeit der Arbeit zu fördern, ist nicht die Aufgabe, die der Kapitalismus ihr stellt. Er verlangt von ihr Ersparung von Arbeitskräften, sei es auch durch Vergrößerung der Unannehmlichkeiten der Arbeit. Erst wenn die Arbeiterklasse bestimmenden Einfluß auf die Produktionsweise errungen hat, wird die Wissenschaft bewogen werden, sich mit voller Kraft auf die Lösung des Problems der Beseitigung der unangenehmen Arbeiten zu werfen. Und es gibt kein Problem dieser Art, das die moderne Technik nicht zu lösen imstande wäre, sobald sie sich mit vollem Ernste daran macht, übrigens wird ein großer Teil der heutigen unangenehmen Arbeiten beseitigt durch die Verlegung der Industrie auf das flache Land, worauf wir noch zu sprechen kommen.

Genug, auf jeden Fall ist mit dem Bestehen der modernen wissenschaftlichen Technik die Notwendigkeit unangenehmer Arbeiten und deren Zuweisung an eine besondere Klasse von Arbeitern beseitigt. Wir bedürfen daher nicht mehr der Knechte der Utopia.

Noch ein dritter Zug, der dem modernen Sozialismus widerspricht, ist in diesem Zusammenhang zu nennen: die Bedürfnislosigkeit der Utopier.

More will – und es ist dies ein ganz moderner Zug – die Bürger seines Gemeinwesens so viel als möglich von physischer Arbeit befreien, um ihnen zu geistiger und geselliger Betätigung freie Zeit zu schaffen. Die Hauptmittel dazu sind ihm: Organisation der Arbeit, so daß alle unnützen Arbeiten vermieden werden, die die bestehende Anarchie im Wirtschaftsleben mit sich bringt, eine Anarchie, die zu Mores Zeiten, verglichen mit der heutigen, kaum nennenswert war; weiter die Arbeit aller und endlich die Einschränkung der Bedürfnisse.

Die beiden ersten Punkte hat More mit dem modernen Sozialismus gemein, nicht aber den letzten. In der Tat, heute, im Zeitalter der Überproduktion, wo eine technische Verbesserung von der anderen überholt wird, wo die Produktionsweise einen Grad der Produktivität erreicht hat, daß ihr bereits der Rahmen des Kapitalismus zu eng geworden ist und sie diesen zu sprengen droht, um sich dann ungemessen zu entfalten, heute von der Notwendigkeit zu reden, die Bedürfnisse einzuschränken, um die Abkürzung der Arbeitszeit zu ermöglichen, wäre ein Zeichen seltsamer Verkennung der Verhältnisse.

Anders zu Mores Zeit. Die Produktivität des Handwerkes entwickelt sich nur unendlich langsam, oft gar nicht, es verknöchert mitunter völlig. Ähnlich ist es mit der bäuerlichen Landwirtschaft. Der Kommunismus auf dieser Grundlage ließ keine allzu erhebliche Vermehrung der Produktion im Verhältnis zur Zahl der Arbeiter erwarten. Also hieß es die Bedürfnisse einschränken, wenn man die Arbeitszeit bedeutend verkürzen wollte. Die Wirkung des Kapitalismus, die More zu sehen bekam, war nicht die Überproduktion, sondern der Mangel. Je weiter die Schafweiden ausgedehnt wurden, desto mehr schrumpfte das Ackerland zusammen. Die Folge davon war das Steigen der Lebensmittelpreise (zum Teil auch bewirkt durch das Einströmen von Silber und Gold aus Amerika nach Europa). Noch mehr als durch diesen Umstand wurde jedoch More bewogen, seine Utopier höchst einfach auftreten zu lassen, durch den wahnsinnigen Luxus seiner Zeit (siehe 1. Abschnitt, S. 20), der bei beiden Geschlechtern der herrschenden Klassen im Verhältnis unendlich weiter ging als bei den verschwenderischsten unserer Modedamen. Ein Luxus in der Kleidung wie in der Ausstattung der Wohnung, ein überladener Pomp entwickelte sich, der nicht der Befriedigung eines künstlerischen Bedürfnisses diente, sondern nur der Zurschaustellung des Reichtums. Daß More dagegen auf das heftigste auftrat – wir können leider die betreffenden Stellen der Utopia nicht anführen, da uns das zu weit führen würde –, ist leicht begreiflich, und ebenso, daß er in seinem Eifer in das entgegengesetzte Extrem geriet und die Utopier mit Fellen und uniformen Wollmänteln vorlieb nehmen ließ.

Man darf jedoch nicht glauben, daß More eine mönchische Aszetik predigte. Im Gegenteil. Wir werden sehen, daß er sich in bezug auf harmlose Genüsse, die nicht das Gemeinwesen mit überflüssiger Arbeit belasteten, als ein wahrer Epikuräer zeigte.

Hier wie überall erscheinen seine unmodernen Seiten als Beschränkungen, welche die Rückständigkeit seiner Zeit ihm auferlegte, ohne ihn so weit zu beeinflussen, daß der moderne Grundcharakter seines Wesens und seiner Ideale dadurch verdunkelt worden wäre.

Man wird dies sofort erkennen, wenn man untersucht, welche Merkmale der Moresche Sozialismus mit dem heutigen gemein hat, im Gegensatz sowohl zu dem urwüchsigen Kommunismus, dessen Reste More noch in den Genossenschaften der Hof-, Dorf- und Stadtmarken kennen lernte, als zu dem Kommunismus Platos, der ihm, wie wir wissen, wohl bekannt war. So nahe es lag, sich angesichts der unentwickelten Produktionsweise an diese Vorbilder zu halten, war More doch zu tief in das Wesen des Kapitalismus eingedrungen, wie ihn damals vornehmlich der Großhandel repräsentierte, als daß er seinen kommunistischen Tendenzen nicht die Signatur der neuen Zeit verliehen hätte, die dieser inaugurierte.

Wir haben bereits im ersten Abschnitt gesehen, wie der Welthandel die Exklusivität und Beschränktheit der urwüchsigen Gemeinwesen überwand, über die hinaus auch Plato nicht gelangt war, wie er an Stelle der Markgenossenschaft die Nation als ökonomische Einheit setzte.

Der Welthandel überwand aber auch die ständische Exklusivität der urwüchsigen Gemeinwesen.

Wie die mittelalterlichen Städte zerfiel auch die platonische Republik in scharf voneinander abgegrenzte Stände, und der Kommunismus war bei Plato ein Privilegium des obersten derselben.

Das Lebensprinzip des Kapitalismus ist dagegen die freie Konkurrenz: Gleichheit der Konkurrenzbedingungen für jedermann, also Aufhebung der ständischen Unterschiede. Vereinigte der Kapitalismus die kleinen Gemeinwesen zur Nation, so ging seine Tendenz auch dahin, alle Stände in der einen Nation aufgehen zu lassen.

Diesen Tendenzen des Kapitalismus entspricht auch der Moresche Kommunismus. Er ist national im Gegensatz zu jenem kommunalen und ständischen Kommunismus der Vergangenheit, den More durch Erfahrung und Studium kennen gelernt hatte. Er zeigte sich damit viel moderner als der heutige Anarchismus, der die Nation in völlig selbständige Gruppen und Kommunen zerspalten will.

Wir haben gesehen, daß der Senat der Utopier aus Delegierten der verschiedenen Gemeinden besteht; diese Vertretung der Nation ist es, welche die Produktion organisiert, den Bedarf und die Mittel zu dessen Deckung feststellt und die Arbeitsprodukte den Ergebnissen dieser Statistik entsprechend verteilt. Die einzelnen Gemeinden sind nicht Warenproduzenten, die ihre Produkte gegen die anderer Gemeinden austauschen. Jede produziert für die ganze Nation. Diese und nicht die Gemeinde ist auch der Besitzer der Produktionsmittel, vor allem von Grund und Boden. Und nicht die Gemeinde, sondern das ganze Gemeinwesen verkauft den Überschuß der Produkte als Waren ins Ausland. Ihm fließt der Erlös daraus zu. Das Gold und das Silber bilden den Kriegsschatz der Nation.

Die Gleichheit aller innerhalb der Nation aber, die beim Kapitalismus nur auf die Gleichheit der Konkurrenzbedingungen hinausläuft, mußte im Kommunismus Mores zur gleichen Arbeitspflicht aller werden. Dieser große Grundsatz verbindet ihn aufs engste mit dem modernen Sozialismus, scheidet ihn aufs strengste von dem Kommunismus Platos, der ein Kommunismus der Nichtarbeiter, der Ausbeuter ist. Der bevorrechtete Stand der platonischen Republik, die „Wächter“, die allein in Kommunismus leben, betrachten die Arbeit als etwas Entwürdigendes; sie leben von den Abgaben der arbeitenden Bürger.

Die gleiche Arbeitspflicht aller in der Utopia wird nur von einer geringfügigen Ausnahme durchbrochen: unter den Arbeitsfähigen sind einige Gelehrte davon befreit. Diese Ausnahme war notwendig unter dem System des Handwerkes, wo die materielle Arbeit zu viel Übung und Ausdauer erforderte, um daneben eine gründliche Gelehrtenarbeit erwarten zu lassen. Die Maschine, welche es ermöglicht, die Arbeit in ein produktives Turnen zu verwandeln, macht auch diese Ausnahme überflüssig, die übrigens zu unbedeutend ist, als daß wir näher darauf eingehen sollten.

Die Existenz von Zwangsarbeitern steht natürlich im Widerspruch zu der Gleichheit der Utopier. Wir wissen bereits, wodurch dieser Widerspruch zu erklären ist. übrigens hat More selbst bei dieser Konzession an die Rückständigkeit der Produktionsweise seiner Zeit den modernen Charakter soviel als möglich bewahrt, indem er die Knechte nicht zu einem erblichen Stand, sondern zu einer Klasse macht. Die Kinder der Knechte sind keine Knechte; diese selbst sind entweder auswärtige Lohnarbeiter, die ihre Stellung ändern können, wann sie wollen, oder zur Zwangsarbeit Verurteilte, Deklassierte, die durch persönliches Verschulden herabsinken und durch persönliches Wohlverhalten sich wieder erheben können.

Besonders bemerkenswert aber und völlig im Sinne des heutigen Sozialismus ist die Gleichheit der Arbeitspflicht für Mann und Weib, die Heranziehung der Frau zur industriellen Berufsarbeit. Die Frauen wie die Männer haben ein Handwerk zu erlernen. Einstweilen genüge diese Bemerkung; wir kommen im nächsten Kapitel noch in einem anderen Zusammenhang auf die Frauenarbeit zurück.

Hier handelt es sich nur um die Produktionsweise der Utopier. Und da ist noch ein wichtiges, charakteristisches Merkmal zu erwähnen: die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land.

Dies Problem ist ein ganz modernes, hervorgerufen durch die Konzentration der Industrie in den Städten, wie sie der Handel erzeugte, der als Welthandel die großen Städte gebar, die die Menschheit physisch verkommen lassen, indes sie alle Intelligenz und Mittel geistiger Anregung in sich vereinigen und das flache Land geistig und materiell veröden. Das Problem ist natürlich nur lösbar in einer Gesellschaft, die die Ursache der großen Städte, den Warenhandel, nicht kennt.

Zu Mores Zeit war die Lösung noch nicht so drängend wie heute; man hatte noch keine Ahnung von den Riesenstädten der Jetztzeit. Indessen war der Gegensatz zwischen Stadt und Land in manchen Gegenden damals schon ziemlich weit gediehen. Wir ersehen dies unter anderem aus dem Aufkommen der Schäferpoesie (zuerst in Italien im fünfzehnten Jahrhundert), welche die Sehnsucht des Städters nach dem Landleben bekundet und gleichzeitig in der dem Landvolk angedichteten unwahren Sentimentalität und Naivetät zeigt, wie sehr in den Städten bereits das Verständnis für das Landleben verloren gegangen war.

More hatte besonders gute Gelegenheit, die Tendenz der modernen Produktionsweise zur schädlichen Anschwellung der großen Städte zu beobachten, denn London gehörte zu den am raschesten anwachsenden Städten seiner Zeit. Es ist uns nicht gelungen, eine zuverlässige Angabe der Bevölkerungszahl Londons zur Zeit Mores zu erlangen. Das schnelle Anwachsen dieser Stadt kann man aber daraus ersehen, daß sie 1377, hundert Jahre vor Mores Geburt, 35.000 Einwohner zählte (Rogers Six Centuries etc., S. 117.), 1590, 55 Jahre nach seinem Tode, dagegen bereits in bezug auf Volkszahl von Giovanni Botero mit Neapel, Lissabon, Prag und Gent in eine Reihe gesetzt wurde, was eine Bevölkerung von ungefähr 160.000 Köpfen voraussetzt. 1661 hatte es nach Graunt 460.000 Einwohner, 1683 nach King 530.000, nach Sir William Petty 696.000. (Encyclopaedia Britannica, Artikel London) Jeder der beiden letztgenannten Autoren nahm andere Grenzen des Stadtbezirkes an. So rasch schwoll die Stadt an, daß dies bereits unter Elisabeth ernstliche Besorgnisse erregte, wohl meist politischer Natur. Man erinnere sich der hervorragenden politischen Rolle, die London spielte. 1580 verbot die Königin unter strenger Strafe, in einem Umkreis von drei englischen Meilen von den Stadttoren aus neue Häuser zu bauen, und befahl, daß in keinem Hause mehr als eine Familie wohnen solle. Das Gesetz blieb natürlich auf dem Papier, es beweist aber das schnelle Wachstum der Hauptstadt.

Schon More empfand es bitter, in der Stadt von der Natur abgeschlossen zu sein; wir haben noch einen Brief von ihm an Colet, in dem er seiner Sehnsucht nach der freien Natur Ausdruck gibt. Sobald er konnte, verließ er London, um sich in einem Dorfe der Umgebung niederzulassen, in Chelsea, jetzt einem Teile der Metropole.

Die Verhältnisse Londons, Mores Scharfsinn, seine Neigungen, alles das vereinigte sich, ihn die Notwendigkeit der Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land genau erkennen zu lassen.

Diese Aufhebung ist jedoch nur möglich durch Verlegung der Industrie aufs flache Land, durch Vereinigung der industriellen mit der landwirtschaftlichen Arbeit. Soll aber diese Ausgleichung nicht zu einer allgemeinen Verbauerung führen, so müssen die technischen Mittel gegeben sein, um die Isolierung zu beseitigen, welche mit der kleinbäuerlichen Betriebsweise notwendig verbunden ist. Die Mittel der Kommunikation der Ideen auf anderem Wege als dem des persönlichen Verkehrs – Presse, Briefpost, Telegraph, Telephon müssen hochentwickelt sein – ebenso die der Kommunikation von Produkten, Maschinen, Rohmaterialien usw. und Menschen: also Eisenbahnen, Dampfschiffe usw. Endlich muß jeder landwirtschaftliche Betrieb selbst ein so ausgedehnter sein, daß er die Konzentration einer größeren Anzahl von Arbeitern auf einer Betriebsstätte ermöglicht und damit die geistige Anregung, welche eine solche Konzentration bietet: also landwirtschaftlicher Großbetrieb, der Hunderte von Arbeitern auf dem „Hof“ vereinigt, von dem aus der Betrieb geleitet wird.

Alle diese Vorbedingungen fehlten zu Mores Zeit völlig. Sein Ziel war aber die höhere Geisteskultur, nicht die Verbauerung des ganzen Volkes. Die Vereinigung der landwirtschaftlichen mit der industriellen Arbeit war also für ihn unmöglich, und er mußte sich darauf beschränken, jedem Bürger für eine gewisse Zeit die Landarbeit vorzuschreiben, die Kinder von früh an mit ihr vertraut zu machen und ein gewisses Maß für die Größe der Städte vorzuschreiben, das sie nicht überschreiten dürfen. Wir werden noch hören, daß keine Stadt mehr oder weniger als 6000 Familien mit 10 bis 16 Erwachsenen zählen darf. Diese Auskunftsmittel entsprechen natürlich nicht dem Wesen des modernen Sozialismus. Durch die kleinbürgerliche Produktionsweise, auf der More sein Gemeinwesen aufbaute, wurde er gezwungen, sie zu ersinnen.

Wir ersehen hier wieder, daß wohl die Ziele Mores moderne sind. Aber ihre Durchführung fand eine Schranke an der Rückständigkeit der Produktionsweise seiner Zeit. Diese war gerade weit genug entwickelt, um einen besonders scharfsinnigen, besonders methodisch geschulten und der ökonomischen Verhältnisse besonders kundigen Beobachter, wie More, unter besonders günstigen Umständen, wie sie England damals bot, ihre Tendenzen erkennen zu lassen, aber noch lange nicht weit genug, um die Mittel zu deren Überwindung zu bieten.

So ist auch der Kommunismus Mores modern in den meisten seiner Tendenzen, unmodern in vielen seiner Mittel.


Viertes Kapitel. Die Familie der Utopier

1. Darstellung

Von der Produktionsweise ist die Form der Haushaltung abhängig, von dieser die Formen der Familie und Ehe, die Stellung der Frau. Sehen wir zu, wie More in seinem idealen kommunistischen Gemeinwesen diese Verhältnisse gestalten wollte. Am passendsten dürfte in diesem Zusammenhang auch seine Stellung zur Bevölkerungsfrage abgehandelt werden.

„Jede Stadt besteht (in Utopien) aus Familien, die soweit als möglich aus Verwandten zusammengesetzt sind. Denn die Frau zieht, sobald sie im gesetzlichen Alter geheiratet hat, in das Haus ihres Gatten. Die männlichen Kinder aber und deren männliche Nachkommen bleiben in ihrer Familie, an deren Spitze der Älteste steht. Ist dieser vor Alter kindisch, dann tritt der Nächstälteste an seine Stelle. Damit aber die vorgeschriebene Anzahl der Bürger weder zu- noch abnehme, ist es bestimmt, daß keine Familie, deren es 6000 in jeder Stadt gibt (neben denen auf dem Lande), weniger als zehn und mehr als sechzehn Erwachsene haben soll; die Zahl der Kinder ist nicht festgesetzt. Dieser Maßstab wird mit Leichtigkeit innegehalten, indem man die überschüssigen Mitglieder der übergroßen Familien unter die zu kleinen Familien versetzt. Sollte aber in der ganzen Stadt die Zahl der Bewohner über das richtige Maß steigen, dann füllt man mit dem Überschuß die Lücken geringer bevölkerter Städte aus. Wenn aber die Einwohnerschaft der ganzen Insel das richtige Maß übersteigt, dann lesen sie aus jeder Stadt eine gewisse Anzahl von Bürgern aus, die eine Kolonie nach ihren Gesetzen auf dem benachbarten Kontinent einrichten, in einer Gegend, wo die Eingeborenen viel Land wüst und leer stehen haben. In diese Kolonie werden auch die Eingeborenen aufgenommen, die sich zu ihnen gesellen wollen. Freiwillig verbunden zu gleicher Lebensweise und gleichen Sitten, verschmelzen die Eingeborenen rasch mit den Kolonisten, und das gereicht beiden Teilen zum Vorteil. Denn sie bewirken durch ihre Einrichtungen, daß das Land jetzt für beide im Überfluß hervorbringt, das früher für die einen nur spärlichen Unterhalt bot.

„Wenn aber die Eingeborenen des Landes nicht mit ihnen nach ihren Gesetzen leben wollen, dann vertreiben sie sie aus dem Gebiet, das sie für sich in Anspruch nehmen. Und wenn diese Widerstand leisten, greifen sie zu den Waffen. Denn sie halten es für die gerechteste Ursache eines Krieges, wenn ein Volk einen Landstrich wüst und nutzlos hält und andere an dessen Besetzung und Bebauung hindert, die seiner nach den Gesetzen der Natur zu ihrer Ernährung bedürfen.

„Wenn die Bewohnerschaft einer ihrer Städte so sehr sinkt, daß sie nicht ergänzt werden kann, ohne in anderen Städten Lücken zu reißen (was sich erst zweimal seit dem Bestehen ihres Reiches infolge großer Seuchen ereignet haben soll), dann lassen sie die Bürger aus der Kolonie wieder zurückwandern; denn lieber sehen sie diese eingehen, als daß eine einzige Stadt ihrer Insel sich verringerte.

„Doch kommen wir auf den Verkehr der Bürger untereinander zurück. Der Älteste ist, wie schon gesagt, das Oberhaupt jeder Familie. Die Frauen dienen den Männern, die Kinder den Eltern, die Jüngeren überhaupt den Älteren.

„Jede Stadt ist in vier gleiche Teile geteilt. In der Mitte jedes Stadtviertels ist ein Marktplatz mit allen Arten von Gütern. Dorthin werden die Arbeitserzeugnisse jeder Familie in gewisse Häuser gebracht und in diesen jede besondere Gattung für sich aufgespeichert. Von dort holt jeder Familienvater oder jeder Vorsteher einer Haushaltung, was immer er und die Seinen brauchen, und nimmt es mit sich ohne Geld und überhaupt ohne jede Gegengabe. Denn warum sollte man ihm etwas verweigern? An allen Dingen ist Überfluß, und man hat keinen Grund, zu befürchten, daß jemand mehr fordert, als er braucht. Warum sollte man annehmen, daß jemand über seine Bedürfnisse hinaus fordern wird, wenn er sicher ist, nie Mangel zu leiden? Sicherlich werden Habsucht und Raubgier bei allen lebenden Wesen nur durch ihre Furcht vor Mangel hervorgerufen, beim Menschen auch noch durch Stolz, da er es für etwas besonders Großartiges hält, andere Menschen durch ein verschwenderisches und eitles Prunken mit allen möglichen Dingen zu überragen. Zu solchen Lastern ist bei den Utopiern keine Gelegenheit.“

Neben diesen Marktplätzen stehen die Lebensmittelmärkte, auf die das Vieh bereits geschlachtet und gereinigt gebracht wird, wie wir bereits im vorigen Kapitel gesehen. Die Schlachtung findet außerhalb der Stadt am Flusse statt, damit diese von Unrat und Verwesungsgerüchen frei bleibe, die Krankheiten erzeugen.

„In jeder Straße stehen in bestimmten Entfernungen voneinander große Paläste, jeder mit einem bestimmten Namen bezeichnet. In diesen wohnen die Syphogranten. Und jedem dieser Paläste sind 30 Familien zugeteilt, die zu beiden Seiten desselben wohnen. Die Küchenverwalter dieser Paläste kommen zu bestimmten Stunden auf den Markt, wo jeder die nötigen Lebensmittel holt, der Stärke der Familien entsprechend, die zu seinem Palast gehören. Das Erste und Beste aber kommt zu den Kranken in die Spitäler, die vor der Stadt liegen, und die so vorzüglich eingerichtet sind, daß fast jeder Kranke die Behandlung im Spital der zu Hause vorzieht.

„Zu bestimmten Stunden mittags und abends begibt sich die ganze Syphograntie auf ein gegebenes Trompetenzeichen in ihren Palast, ausgenommen diejenigen, die krank in den Hospitälern oder zu Hause daniederliegen. Niemand ist es verboten, nachdem der Bedarf der Paläste befriedigt ist, vom Markte Lebensmittel heimzutragen, denn sie wissen, daß niemand das ohne triftigen Grund tut. Es gibt keinen, der freiwillig zu Hause speiste, da es nicht anständig und in der Tat höchst töricht wäre, mühsam ein schlechtes Mahl zu Hause herzustellen, wenn ein gutes Mahl im nächsten Palast bereit ist.

„In diesen Palästen wird alle unangenehme, beschwerliche und schmutzige Arbeit von den Knechten verrichtet. Das Kochen und Herrichten der Speisen und die ganze Besorgung der Mahlzeit fällt jedoch den Frauen jeder Familie abwechselnd zu.

„Je nach ihrer Zahl sitzen sie an drei oder mehr Tischen. Die Männer sitzen nächst der Wand, die Frauen an der anderen Seite der Tafel, so daß, wenn eine von einem plötzlichen Unwohlsein befallen wird, wie das bei schwangeren Frauen häufig vorkommt, sie sich ohne Störung erheben und in die Ammenstube zurückziehen kann. Die Frauen mit Säuglingen sitzen nämlich in einer Stube, die für sie besonders bestimmt ist, und in der es nie an Feuer und reinem Wasser fehlt und ebensowenig an Wiegen, so daß sie ihre Kinder niederlegen, aus den Windeln nehmen und diese trocknen und die Kleinen mit Spiel ergötzen können.

„Jede Mutter säugt ihr eigenes Kind, außer wenn Tod oder Krankheit das unmöglich machen. Tritt das ein, dann besorgen die Frauen der Syphogranten rasch eine Amme, und das ist nicht schwer, da die dazu fähigen Frauen sich zu keinem Dienste so gern anbieten als zu diesem. Denn dieser Beweis von Mitleid wird hochgepriesen, und das gesäugte Kind erkennt auch später die Amme als Mutter an.

„Neben den Frauen mit Säuglingen befinden sich auch die Kinder unter fünf Jahren in der Ammenstube. Die älteren Knaben und Mädchen bis zum heiratsfähigen Alter bedienen entweder bei Tische, oder, wenn sie zu jung dazu sind, sehen sie stehend und schweigend zu. Sie essen, was ihnen von den Tischen gereicht wird, und haben keine besonderen Essenszeiten.“

Es folgt nun eine eingehende Schilderung der gemeinsamen Mahlzeit, die wir übergehen müssen, so anmutende Züge sie auch bietet, da sie nichts Wesentliches und Wichtiges enthält und uns zu weit ab von unserem Wege führen würde. Die Schilderung schließt folgendermaßen:

„Ihre Mittagsmahlzeit (prandium, der englische lunch) dauert kurz, das Abendessen (coena, die Hauptmahlzeit) lang, denn nach jener gehen sie an die Arbeit, nach diesem ruhen und schlafen sie, was nach ihrer Ansicht die Verdauung befördert. Bei keiner Abendmahlzeit fehlt Musik, und stets gibt es einen Nachtisch mit Leckereien (bellaria). Sie verbrennen wohlriechende Harze und besprengen den Speisesaal mit duftenden Ölen und Wassern, kurz, bieten alles auf, um Behaglichkeit und Fröhlichkeit hervorzurufen. Denn sie huldigen sehr stark dem Grundsatz, daß jedes unschädliche Vergnügen erlaubt sei.

„So leben sie in den Städten. Auf dem Lande aber leben die Familien weit voneinander entfernt und speisen daher jede für sich, und sie leiden an nichts Mangel, denn von ihnen kommen ja alle Lebensmittel für die Städtebewohner.“

So viel über den Haushalt der Utopier. Nun zu ihrer Ehe, die komischerweise im Kapitel von der Knechtschaft abgehandelt wird:

„Die Mädchen heiraten nicht vor dem 18., die Jünglinge nicht vor dem 22. Jahre. Wer vor der Ehe, Mann oder Weib, verbotener Lust gefrönt hat, wird strenge bestraft und die Ehe ihm verboten, es sei denn, daß der Fürst Gnade für Recht ergehen läßt. Ein solcher Fehltritt gereicht aber auch dem Vorsteher und der Vorsteherin der Familie, in der er sich ereignete, zum schweren Vorwurf, denn man nimmt an, daß sie ihre Pflicht vernachlässigt haben. Sie bestrafen den Fehltritt deshalb so streng, weil man fürchtet, daß wenige eine Verbindung eingehen würden, die sie für ihr ganzes Leben an eine Person fesselt und manche Lasten mit sich bringt, wenn nicht eine strenge Verhinderung aller unsteten Verbindungen stattfände.

„Bei der Wahl der Gatten befolgen sie ein Verfahren, das uns (Hythlodäus und seinen Genossen) lächerlich erschien, unter ihnen aber ernst und streng eingehalten wird. Vor Eingehung der Ehe zeigt eine ehrwürdige Matrone die Braut, sei sie Jungfrau oder Witwe, nackt dem Bräutigam und dann ein gesetzter Mann den Bräutigam nackt der Braut. Wir lachten darüber und verurteilten es als anstößig. Sie dagegen wunderten sich über die Narrheit aller anderen Nationen. Wenn ein Mann ein Pferd kauft, sagen sie, wo es sich nur um ein bißchen Geld handelt, so ist er so vorsichtig, es genau zu untersuchen und, obwohl es fast nackt ist, den Sattel und das Geschirr abzunehmen, um zu sehen, ob nicht etwa ein Geschwür darunter verborgen sei. Bei der Wahl einer Gattin aber, von der Glück oder Unglück des ganzen Lebens abhängt, gehen die Leute aufs Geratewohl vor und binden sich an sie, ohne mehr von ihr gesehen zu haben als eine Handbreit vom Gesicht. Nicht alle Männer sind so weise, eine Frau bloß ihrer guten geistigen Eigenschaften wegen zu wählen, und selbst die Weisen halten dafür, daß ein schöner Körper die Reize des Geistes erhöht. Es ist unzweifelhaft, daß die Kleidung eine Häßlichkeit verbergen kann, die den Mann seinem Weibe entfremdet, wenn eine Trennung nicht mehr möglich ist. Entdeckt er den Fehler erst nach der Ehe, dann bleibt ihm nichts übrig, als sich geduldig ins Unvermeidliche zu fügen. Sie halten es daher für sehr vernünftig, einen solchen Betrug unmöglich zu machen. [60]

„Das ist in Utopien um so gebotener, als es das einzige Land in jenem Himmelsstrich ist, in dem die Vielweiberei nicht gestattet wird und die Ehescheidung nur im Falle des Ehebruchs oder unerträglicher schlechter Aufführung des einen Teils: in solchen Fällen löst der Senat die Ehe und gibt dem nichtschuldigen Teil das Recht, wieder zu heiraten. Der Schuldige ist ehrlos und darf keine zweite Ehe mehr eingehen. Keiner darf je sein Weib aus dem Grunde verstoßen, weil sie ein körperliches Leiden oder Gebrechen befällt; denn sie halten es einesteils für den Gipfel der Grausamkeit, jemand dann zu verlassen, wenn er des Trostes und der Hilfe am meisten bedarf, und andererseits glauben sie, daß die Möglichkeit einer solchen Trennung eine trübe Aussicht für das Alter biete, das so viele Krankheiten mit sich bringt, und das selbst eine Krankheit ist.

„Hin und wieder kommt es jedoch vor, daß Mann und Weib sich nicht vertragen können und andere Genossen finden, mit denen sie hoffen, glücklicher zu leben; dann trennen sie sich mit gegenseitiger Zustimmung und gehen neue Ehebündnisse ein, jedoch nicht ohne Erlaubnis des Senats; diese wird erst nach einer genauen Untersuchung der Angelegenheit durch die Senatoren und ihre Frauen gewährt. Und nicht allzuleicht, da sie glauben, daß zu große Leichtigkeit der Ehescheidung gerade nicht das Mittel sei, die Zuneigung der Gatten zu einander zu festigen.

„Die Ehebrecher werden mit der härtesten Knechtschaft bestraft. Sind beide Schuldige verheiratet, dann können die beiden beschimpften Gatten einander oder wen sie sonst wollen heiraten. Fährt jedoch einer der Beleidigten fort, den untreuen Gatten zu lieben, so darf er die Ehe fortsetzen, wenn er gewillt ist, dem schuldigen Teil in die Sklaverei zu folgen. Mitunter bewegt die Reue des Schuldigen und die unerschütterliche Zuneigung des unschuldigen Gatten den Fürsten so sehr, daß er jenen begnadigt. Wer aber danach wieder einen Ehebruch begeht, wird mit dem Tode bestraft.“

Diesen Ausführungen sind nur noch einige Sätze hinzuzufügen, welche für die Stellung der Frau in Utopien charakteristisch sind:

„Die Männer züchtigen ihre Frauen, die Eltern ihre Kinder, wenn nicht das Vergehen ein solches ist, das öffentliche Bestrafung verdient.“

„Niemand wird gezwungen, wider seinen Willen in einen Krieg außerhalb der Landesgrenzen zu ziehen. Andererseits aber werden die Frauen, die ihre Gatten in den Krieg zu begleiten wünschen, daran nicht gehindert, sondern vielmehr dazu ermuntert und dafür gepriesen. Im Felde kämpfen sie an der Seite ihrer Gatten, umgeben von ihren Kindern und Verwandten, so daß diejenigen, die zusammenstehen, am meisten Ursache haben, einander gegenseitig zu helfen. Es gilt als große Schande für einen Gatten, ohne die Gattin, für den Sohn, ohne den Vater heimzukehren.“

„Ihre Priester heiraten die durch ihre Eigenschaften hervorragendsten Frauen des Landes; die Frauen selbst sind keineswegs vom Priestertum ausgeschlossen, werden indes selten dazu erwählt, und dann nur ältere Witwen.“

Diese Zitate dürften genügen, die Formen der Familie und Ehe usw. der Utopier erkennen zu lassen. Die Ausführungen darüber vollständig wiederzugeben, würde zu weit führen, da sie sehr ausgedehnt sind.
 

2. Kritik

Wir haben bereits darauf hingewiesen, mit welcher liebevollen Ausführlichkeit die gemeinsamen Mahlzeiten der Utopier beschrieben sind. Das ist nicht Zufall, nicht persönliche Liebhaberei Mores, sondern entspringt aus dem Wesen seines Kommunismus. Die Großindustrie, von der der moderne Sozialismus ausgeht, ist ein System gesellschaftlicher Arbeit; ein großindustrieller Betrieb erheischt das gemeinsame und planmäßige Zusammenarbeiten Hunderter, ja Tausender von Männern, Frauen und Kindern. Was der moderne Sozialismus anstrebt, ist die Ausdehnung dieses gesellschaftlichen Charakters der Arbeit innerhalb der einzelnen Betriebe auf die gesamte Produktion des Gemeinwesens und die Anpassung der Aneignungsweise an die Produktionsweise. Der kommunistische, oder wenn man will, sozialistische Charakter des ganzen gesellschaftlichen Wesens, wie ihn der moderne Sozialismus anstrebt, geht aus dem heute bereits bis zu einem gewissen Grade bestehenden gesellschaftlichen Charakter der Arbeit hervor.

Das Handwerk und die bäuerliche Landwirtschaft, von denen More ausging, bedingen dagegen bis zu einem gewissen, sehr hohen Grade die Isolierung der einzelnen Kleinbetriebe voneinander. Um so größeren Nachdruck mußte er daher auf den gesellschaftlichen Charakter der Mahlzeiten und der Vergnügungen legen. Für den modernen Sozialismus ist die Gemeinsamkeit auf diesem Gebiete ein Punkt von sekundärer Bedeutung, für den Moreschen Sozialismus eine Lebensbedingung. – In diesem Punkte berührt sich More mehr mit den sogenannten sozialistischen Erscheinungen des Altertums, vor allem dem platonischen Kommunismus, als mit dem heutigen Sozialismus.

Die gemeinsamen Mahlzeiten waren aber für More wichtig nicht nur als Mittel, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu festigen, sondern auch als Mittel, um die Frau, wenigstens zum Teil, von der Arbeit des Haushalts zu emanzipieren.

Damit sind wir auf ein Gebiet gelangt, das im allgemeinen einen guten Prüfstein für den Charakter eines sozialistischen Systems abgibt. Aus der Haltung, die ein Sozialist der Frau gegenüber einnimmt, kann man in der Regel bereits erkennen, selbst wenn man sonst nichts von ihm weiß, welcher Richtung er zuzuzählen ist.

Diejenigen, welche man als kleinbürgerliche oder gar als reaktionäre Sozialisten bezeichnen kann, verweisen die Frau in die Sphäre der Einzelhaushaltung und schließen sie damit vom öffentlichen Leben aus. Ganz anders der moderne proletarische Sozialismus. Er geht aus von der Großindustrie, von einer Produktionsweise, welche die verschiedenen Zweige der Arbeit des Einzelhaushalts in berufsmäßig betriebene öffentliche Industrien verwandelt und den Einzelhaushaltungen der Arbeiter, soweit sie noch bestehen bleiben, immer mehr den Stempel der Vergeudung von Arbeit und Material aufdrückt, einer Vergeudung, die für den Vorsteher des Haushalts nur dadurch einigermaßen erträglich wird, daß die Hausfrau ihre Arbeitskraft ins Ungemessene ausgibt und ihre Ansprüche ans Leben auf das mindeste Maß reduziert.

Die Arbeit der Frau im Einzelhaushalt des Arbeiters wird so nicht nur immer überflüssiger, sondern auch zu einer immer unerträglicheren Last, in erster Linie für die Frau, in zweiter Linie auch für den Gatten.

Gleichzeitig damit schafft aber auch die Großindustrie in immer steigendem Maße die Möglichkeit und die Vorteilhaftigkeit der industriellen Verwendung der Frauen. Und dadurch wird sie aus der Enge und Isoliertheit ihrer Haushaltung ans Leben der Öffentlichkeit gezogen, sie wird in den Klassenkampf gestoßen, damit wird ihr das Interesse an der politischen Entwicklung aufgedrängt und schließlich in ihr der Drang nach politischer Betätigung erweckt.

Die Emanzipation der Frau vom Haushalt zieht unfehlbar ihre politische Emanzipation nach sich. Die Gleichstellung der Geschlechter im öffentlichen Leben ist demnach die Forderung jedes modernen proletarischen Sozialisten, und ebenso die jedes der großen Utopisten, die nicht von einer kleinbürgerlichen, sondern einer kapitalistischen Grundlage ausgingen.

More ist es in diesem Punkte ähnlich gegangen, wie wir es schon bezüglich anderer Punkte beobachtet: er antizipierte einen Grundsatz des modernen Sozialismus, ehe noch die materiellen Bedingungen gegeben waren, auf denen dieser fußt. Er gelangte dazu durch eine logische Gedankenarbeit, indem er von den kapitalistischen Keimen ausging, die er vorfand.

Wir haben gesehen (im ersten Abschnitt), wie die Bourgeoisfrau, zunächst die Frau des Großkaufmanns, von der Arbeit des Haushalts emanzipiert und dadurch zu geistiger und öffentlicher Betätigung befähigt wurde. Wir haben ferner gesehen, wie More, der Humanist und Vertreter der kapitalistischen Kaufmannschaft, theoretisch und praktisch in weitgehender Weise die Idee der Frauenemanzipation vertrat. Aber dadurch, daß er in die Idee der Emanzipation der Frau den kommunistischen Grundsatz der gleichen Arbeitspflicht aller einführte, erhielt sie ein ganz anderes Gesicht, als bei den Frauenemanzipatoren des Humanismus; die Emanzipation der Burgeoisfrau auf Grundlage der Ausbeutung wurde zur Emanzipation jeder Frau im Gemeinwesen auf Grundlage ihrer beruflichen Arbeit.Hat More damit ein glänzendes Zeugnis dafür abgelegt, wie weit ein genialer Forscher die Ziele der gesellschaftlichen Entwicklung vorwegnehmen kann, wenn er die tatsächliche Entwicklung begreift, die vor seinen Augen vor sich geht, so hat More aber auch gleichzeitig bewiesen, wie unvollkommen eine solche Ahnung stets sein muß, da die Idee in denselben Verhältnissen, von denen sie ihren Anstoß erhält, auch ihre Schranken findet.

More erreichte durch seine Anordnung der gemeinsamen Mahlzeiten nur zum Teil die Emanzipation der Frau vom Einzelhaushalt, da er eine mächtige Grundlage desselben bestehen lassen mußte: die bäuerliche und handwerksmäßige Produktionsweise.

Dieselbe bedingt, daß jedem gesonderten Betrieb eine gesonderte Haushaltung entspricht, eine Familie, wie sie typisch in der römischen Familie entwickelt war. (Vergl. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, Stuttgart 1886, S. 33) Das römische Wort familia, bezeichnet in der Tat nicht die Gesamtheit der durch Blutbande Verbundenen, sondern die Gesamtheit der zu einem bestimmten Betriebe Verbundenen. Es war natürlich, daß vor allem die Gattin und die Kinder des Bauern mit ihm zur Bearbeitung des Bodens, Weidung des Viehes usw. verbunden waren; danach seine Enkel usw., wenn die Ausdehnung des Betriebs es erheischte. Aber die Sklaven, die außer diesen Nächststehenden auch im Betrieb mitwirkten, gehörten in Rom ebenfalls zur Familie; Kinder dagegen, die aus dem Betrieb austraten, zum Beispiel Töchter, die heirateten, hörten damit auf, zur Familie zu gehören. Das Familienhaupt war der Leiter des Betriebs und als solchem waren ihm die Familienmitglieder unbedingten Gehorsam schuldig. Ihm gegenüber nahmen in der römischen Familie die Kinder dieselbe Stellung ein wie die Sklaven, und es ist charakteristisch, daß der Sohn von der Oberhoheit des Vaters (patria potestas) nur dadurch frei werden konnte, daß dieser ihn wie einen Sklaven, wenigstens zum Schein, verkaufte, und zwar dreimal. Selbst die Familienmutter war dem Hausvater unterworfen.

In ähnlicher Weise, wenn auch nicht so schroff, stellt sich auch die bäuerliche patriarchalische Familie und Haushaltung im Mittelalter dar. Auch sie war die Gesamtheit derjenigen, die zur Führung eines bestimmten, abgesonderten bäuerlichen Betriebs verbunden waren, eine ökonomische Einheit.

Auch beim mittelalterlichen Handwerk bildet jeder Betrieb einen Haushalt, eine Familie für sich, zu der die Kinder des Meisters nicht gehören, die in anderen Betrieben tätig sind, zu der dagegen Lehrlinge und Gesellen gehören, auch wenn sie mit dem Meister nicht verwandt sind, was jedoch oft der Fall ist. Mancher Kunstgriff ist Familiengeheimnis, und leicht lernt vom Vater der Sohn, der ihm von Kindesbeinen an zugesehen hat. Mitunter ist ein Betrieb ausschließlich auf eine Familie (im Sinne der Blutsverwandtschaft) beschränkt und in ihr erblich. Wie beim Bauern sind auch beim mittelalterlichen Handwerker der Erwerbsbetrieb und die Haushaltung fest miteinander verbunden. Diejenigen, die gemeinsam produzierten, konsumierten auch gemeinsam. Der Hausvater war der Leiter der Produktion, aber nicht der ausschließliche Aneigner des Produktes der Familienarbeit.

Anders bei einem kapitalistischen Betrieb. Dieser ist von vornherein, wo er typisch auftritt, vom Haushalt des Betriebsinhabers und Betriebsleiters getrennt; damit einerseits die Möglichkeit für den Lohnarbeiter gegeben, einen eigenen Haushalt zu gründen, die dem zünftigen Gesellen fehlte; andererseits aber auch die Möglichkeit gegeben, daß der Arbeiter verhungert, indes der Betriebsinhaber im Überfluß schwelgt, während im zünftigen Handwerk beide am gleichen Tische speisten. Unter der Rückwirkung des Kapitalismus auf das Handwerk wurde auch bei diesem die Einheit von Betrieb und Haushalt nach und nach gelockert und schließlich völlig beseitigt. Beim Bauern dauert sie dagegen heute noch in der Regel fort.

Zu Mores Zeit war der Haushalt in Landwirtschaft und Industrie noch fest mit dem Betrieb verbunden. Lockerte More auch dieses Band durch seine gemeinsamen Mahlzeiten (wenigstens für die städtischen Handwerker, nicht für die Landbewohner), so konnte er es doch nicht völlig lösen. Wir finden daher bei ihm die patriarchalische Familie, man könnte fast sagen, in klassischer Gestalt, weil als bloßes Gedankending von jedem störenden Beiwerk befreit, welches das Wesen der realen Dinge umhüllt und oft so schwer erkennen läßt. Die Familien der Utopier sind Produktivassoziationen, wie die Handwerkerfamilien des Mittelalters, zum großen Teil, aber nicht notwendig, durch Blutbande zusammengehalten. Die Größe derselben wird durch technische Rücksichten bestimmt. Die bäuerlichen Familien sind größer als die Handwerkerfamilien; jene zählen mindestens 40, diese nur 10 bis 16 erwachsene Mitglieder, überschüssige Mitglieder aus einer Familie füllen die Lücken einer anderen aus. Der Älteste ist Leiter des Betriebs, Herr über alle Familienmitglieder.

Indem More den Einzelhaushalt, die patriarchalische Familie in sein utopisches Gemeinwesen übernahm, übernahm er selbstverständlich auch deren Konsequenzen, wenn er sich auch bemühte, sie möglichst abzuschwächen, soweit sie der Frau ungünstig waren.

Er ließ nicht nur die Unterordnung der Frau unter den Mann bis zu einem gewissen Grade bestehen, sondern auch die Formen der geschlechtlichen Beziehungen, die der patriarchalischen Familie eigentümlich waren, die Forderung der Keuschheit des Mädchens vor der Ehe, das strenge Verbot des Ehebruchs oder der Lösung der Ehe durch die Gattin usw. So tief haben sich diese Bestimmungen eingewurzelt, daß sie selbst heute noch vielfach unverändert gelten, obgleich manche ihrer materiellen Grundlagen sich bereits verändert haben.

Um so weniger konnte More vor bald vier Jahrhunderten darüber hinaus. Das einzige, was er tun konnte, war, die Strenge der ehelichen Beziehungen zu mildern. Aber vielfach hat er sie sogar verschärft, indem er in seinem Bestreben, die Gleichheit beider Geschlechter herbeizuführen, die für die Frauen geltenden Einschränkungen auf die Männer ausdehnte, statt den Frauen die Freiheit der Männer zu geben. So verlangt er von beiden Geschlechtern Keuschheit vor der Ehe, verbietet beiden den Ehebruch. In bezug auf die Ehescheidung ließ er sich zu Milderungen herbei, aber nur zu geringfügigen. Indes wollte er doch, daß die Ehen auf gegenseitiger Neigung beruhten, eine notwendige Forderung, wenn die Frau nicht die Sklavin des Mannes sein und wenn diesem jeder außereheliche Verkehr verboten sein sollte. Um also nachfolgende Reue und den Wunsch nach einer Ehescheidung auszuschließen, kam er auf den sonderbaren Einfall, Braut und Bräutigam einander vor der Ehe nackt besichtigen zu lassen, durch welchen Einfall uns der leise Seufzer unseres Thomas darüber durchzuklingen scheint, daß es ihm nicht vergönnt war, die Reize seiner Alice vor der Hochzeit zu Gesichte bekommen zu haben: er hätte damit vielleicht vollauf genug gehabt.

Solche Spintisierereien sind die naturnotwendigen Folgen des Bestrebens, die Möglichkeit der Realisierung einer Idee auszuklügeln, solange sich die tatsächlichen Verhältnisse nur gerade so weit entwickelt haben, um den Anstoß zu dieser Idee zu geben, ohne die Bedingungen zu bieten, die zu ihrer Verwirklichung nötig sind.

In seinen Ausführungen über Familie und Ehe hat das Genie Mores einen noch schwierigeren Kampf mit den ihn einengenden tatsächlichen Verhältnissen zu führen gehabt, als in seinen Ausführungen über die Produktionsweise. Noch viel mehr als in diesen finden wir daher in jenen neben Grundsätzen, die dem modernen Sozialismus eigentümlich sind, solche, die einer vergangenen Produktionsweise, einer vergangenen Familienform entsprechen. Modern ist sein Grundsatz der gemeinsamen Mahlzeiten, der Beteiligung der Frauen am öffentlichen Leben, natürlich in seinen damaligen Formen, am Kriegswesen und Priestertum und, wie wir noch sehen werden, an der Beamtenwahl und dem Studium.

Die Aufrechthaltung der Unterordnung der Frau und des patriarchalischen Einzelhaushaltes stehen dagegen im Widerspruch mit den Tendenzen des modernen Sozialismus und auch im Widerspruch zu den Tendenzen des Moreschen Sozialismus selbst.

Mit Plato hat er auch auf dem hier behandelten Gebiet wenig gemein. Ob More wirklich jemals für die Weibergemeinschaft schwärmte, ist schwer zu beurteilen. Erasmus, der uns das erzählt, besaß zu wenig Verständnis für den Sozialismus Mores, um als völlig sichere Quelle darüber zu gelten. Sicher ist, daß More in der Utopia die strenge Einzelehe und die freie Gattenwahl forderte und damit in direktem Widerspruch zu Plato stand, der mit lakonischer Ungeniertheit und attischer Weiberverachtung die Weibergemeinschaft pries und daneben geschlechtliche Zuchtwahl nach obrigkeitlicher Anordnung, beides Einrichtungen, die dem modernen Gefühl gänzlich widerstreben.

Steht More darin viel ferner von Plato als von uns, so sind beide einander viel näher und vom modernen Sozialismus verschieden in ihrer Stellung zur Bevölkerungsfrage. Jeder der beiden hält es für notwendig, daß die Bevölkerung seines idealen Gemeinwesens stationär bleibe. Die Mittel, durch welche das Gleichbleiben der Bevölkerungszahl erzielt werden soll, sind freilich bei beiden sehr verschieden. Die Kinderaussetzung und der Abortus, die Plato als etwas Naheliegendes vorschlägt, kamen More nicht in den Sinn. Er empfiehlt eine sozialistische Kolonial- und Auswanderungspolitik, die zu der wirklichen Politik seiner Zeit in schroffem Widerspruch steht. Nicht Unterjochung und Ausbeutung der Eingeborenen der Kolonie wollte er, sondern ihre Aufnahme als gleichberechtigte Bürger und ihre Teilnahme an den Vorteilen der höheren Produktionsweise, die ihnen die Kolonisten brachten.

Das Beharren der Bevölkerung auf einem bestimmten Stande mußte er jedoch ebenso wie Plato voraussetzen, da beide ihr Gemeinwesen auf der Grundlage von Bauerntum und Handwerk aufbauten. Diese Produktionsformen sind konservativ, sie entwickeln die Produktivkraft der Arbeit nur langsam und unmerklich; sie verknöchern oft, sobald sie eine gewisse Höhe erreicht haben. Wenn einmal der gesamte fruchtbare Boden eines Landes okkupiert worden, ist auf Grundlage der bäuerlichen Landwirtschaft ein merkliches Wachstum der Bevölkerung ohne Schädigung derselben nicht mehr möglich.

Anders gestaltet sich die Bevölkerungsfrage, sobald der großindustrielle Betrieb in Gewerbe und Landwirtschaft ersteht. Diese Produktionsform nimmt die Wissenschaft in ihren Dienst und wird durch deren unermüdliches Forschen und Entdecken unaufhörlich revolutioniert, die Produktivität der Arbeit ununterbrochen gesteigert und dadurch ein gewisses stetiges Wachstum der Bevölkerung ermöglicht. Mitunter wird ein solches Wachstum geradezu eine Vorbedingung weiterer Fortschritte dieser Produktionsweise. Die Produktivität der Arbeit kann um so mehr wachsen, je mehr die Arbeitsteilung in der Gesellschaft sich entwickelt, je mehr jeder einzelne Betrieb sich nur auf die Herstellung eines bestimmten Gegenstandes beschränkt, je massenhafter er diesen erzeugt. Das stetige Wachstum dieser Massenproduktion und des Massenabsatzes ist eine Vorbedingung des Fortschritts der Produktionsweise unter den heutigen technischen Verhältnissen. Ein solches Wachstum ist möglich durch Erhöhung der Lebenshaltung, also Steigerung des Konsums der einzelnen, und durch Vermehrung der Zahl der Konsumenten, also entweder durch Erweiterung des Absatzgebiets im räumlichen Sinne, oder durch Vermehrung der Bevölkerung.

Man kann eine Regelung dieser Zunahme unter gewissen Umständen für geboten halten. Eine Beschränkung der Bevölkerung auf eine bestimmte unüberschreitbare Zahl, wie More sie verlangte und verlangen mußte, ist jedoch dem Wesen der modernen Produktionsweise wie des modernen Sozialismus zuwider.


Fünftes Kapitel. Politik, Wissenschaft und Religion in Utopien

1. Politik

Produktionsweise, Haushalt, Familie und Ehe sind die wichtigsten Gebiete, auf denen ein bestimmtes kommunistisches System seine charakteristischen Eigentümlichkeiten entfalten kann. Von geringerer Bedeutung erscheint uns der politische und ideologische überbau. Von Politik ist in einem kommunistischen Gemeinwesen überhaupt nicht viel zu sagen. Und was die Ideen anbelangt, die in einem solchen herrschen, so muß man gestehen, daß es leichter ist, sich Einrichtungen vorzustellen, die von den unseren abweichen, als Ideen und Charaktereigenschaften. Die religiösen und philosophischen Ausführungen der Utopia sind für ihre Zeit von großartiger Kühnheit und für More ungemein charakteristisch. Aber während seine ökonomischen Forderungen heute noch vielfach revolutionär sind, ist seine Philosophie, soweit sie nicht veraltet, Gemeinplatz geworden, den der seichteste Liberale unterzeichnen kann. Die Philosophie und Religion der Utopia haben denn auch unsere liberalen Historiker am meisten interessiert, ihnen haben sie lange Abhandlungen gewidmet, indes sie den Kommunismus als leere Phantasterei mit ein paar Phrasen mitleidiger Überlegenheit abtaten. Die Philosophie und Religion der Utopia sind hochwichtige Belege für die literarische und wissenschaftliche Stellung Mores, die wir im zweiten Abschnitt behandelt haben, dagegen stehen sie mit dem Kommunismus seines idealen Gemeinwesens in keinem notwendigen organischen Zusammenhang.

Wir werden daher aus den langen Ausführungen der Utopia darüber nur das Wichtigste wiedergeben und unseren Kommentar und unsere Kritik auf das Notwendigste einschränken. Sie könnten ja großenteils nur Wiederholungen aus dem ersten Abschnitt bringen.

Zunächst wollen wir sehen, wie More sich die politische Verfassung der Utopia dachte.

„Je dreißig Familien [61] wählen jährlich einen Beamten, der in ihrer alten Sprache Syphogrant hieß, jetzt aber Phylarch genannt wird. Über je zehn Syphogranten mit den ihnen unterstehenden Familien steht ein anderer Beamter, ehemals Tranibor, jetzt Protophylarch betitelt. Alle Syphogranten, zweihundert an der Zahl, wählen, nachdem sie geschworen, dem Geeignetsten ihre Stimme geben zu wollen, in geheimer Abstimmung den Fürsten aus vier Kandidaten, die das Volk aufgestellt hat, indem jedes Stadtviertel einen auserwählt und dem Senat empfiehlt. Das Amt des Fürsten ist ein lebenslängliches, außer wenn er in den Verdacht gerät, nach der Alleinherrschaft zu streben. Die Traniboren werden jährlich gewählt, aber nicht ohne triftigen Grund gewechselt. Alle anderen Ämter sind nur jährlich. Die Traniboren versammeln sich mit dem Fürsten jeden dritten Tag, und wenn es sein muß öfters, und beraten über die öffentlichen Angelegenheiten und über private Streitigkeiten, wie sie mitunter, wenn auch selten, vorkommen. Jeder Sitzung wohnen zwei Syphogranten bei, die jedesmal wechseln ... Es ist bei Todesstrafe verboten, außer im Senat oder der Volksversammlung über öffentliche Angelegenheiten Beschlüsse zu fassen. Diese Bestimmung wurde, wie sie sagen, erlassen, damit nicht durch eine Verschwörung des Fürsten mit den Traniboren und durch Unterdrückung des Volkes die Verfassung umgestürzt werden könne. Wenn es sich daher um Angelegenheiten von großer Wichtigkeit handelt, so müssen sie den Syphogranten vorgelegt werden, die sie den Familien ihrer Abteilung mitteilen und mit ihnen besprechen, um dann deren Entscheidungen dem Senat mitzuteilen. Mitunter wird eine Angelegenheit der Abstimmung der ganzen Insel unterbreitet.“ ...

„Jede Stadt sendet jährlich drei ihrer weisesten Greise nach Amaurotum (der Hauptstadt), um die gemeinsamen Angelegenheiten der Insel zu besorgen.“ Dieser Senat hat, wie wir wissen, die Aufgabe, eine Statistik des Bedarfes und Arbeitsertrags jeder Stadt aufzustellen und Überfluß und Mangel der einzelnen Gemeinden auszugleichen.

Was die Funktionen der einzelnen Beamten anbelangt, so wissen wir bereits, daß „die vornehmste und fast einzige Aufgabe der Syphogranten darin besteht, darauf zu achten, daß niemand müßig gehe und jeder sein Handwerk mit gebührendem Eifer betreibe“.

„Wer allzu gierig nach einem Amte strebt“, heißt es an einer anderen Stelle, „kann sicher sein, es nie zu erlangen. Sie leben friedlich zusammen, da die Beamten weder anmaßend noch hart sind. Sie heißen Väter und sie handeln wie solche. Freiwillig werden ihnen Ehrenbezeugungen verliehen, von keinem werden sie verlangt. Der Fürst selbst ist nicht durch Purpur oder Krone ausgezeichnet, sondern nur durch ein Büschel Ähren in der Hand. Der Oberpriester durch eine Wachskerze, die man ihm voranträgt.

„Sie haben nur wenige Gesetze, denn bei ihren Einrichtungen bedürfen sie nicht vieler. Sie tadeln sehr die unendliche Menge von Gesetzbüchern und Kommentaren bei anderen Nationen, die doch nicht ausreichen.“

Ebenso einfach wie die inneren sind die auswärtigen politischen Verhältnisse der Utopier. Verträge mit fremden Völkern schließen sie nicht ab, da sie wissen, daß solche nur so lange eingehalten werden, als der Vorteil es erheischt. Sie verlassen sich auf sich selbst und auf die ökonomische Abhängigkeit der Nachbarn von ihnen.

„Den Krieg verabscheuen sie als eine Bestialität, die doch bei keiner Bestie so häufig ist wie beim Menschen. Entgegen den Sitten fast aller Nationen gilt ihnen nichts so unrühmlich, als Kriegsruhm. Obgleich sie sich täglich in den Waffen üben, und zwar nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen an gewissen Tagen, damit sie des Kriegswesens wohl kundig seien, wenn die Notwendigkeit es erheischt, unternehmen sie trotzdem nie einen Krieg, außer zur Verteidigung ihres eigenen Landes oder ihrer Freunde gegen einen ungerechten Angriff, oder zur Befreiung eines unterdrückten Volkes vom Joche der Tyrannei ... Für die gerechteste Ursache eines Krieges aber halten sie es, wenn Kaufleute einer befreundeten Nation in der Fremde unter irgend einem gesetzlichen Vorwand, durch schlechte Gesetze oder Verdrehung guter, unterdrückt und geprellt werden.“

In dem letzten Satze guckt unserem guten More der Kaufmann recht sehr über die Schulter.

Seine ungemein weit ausgesponnenen Ausführungen über den Krieg, von denen wir nur den Anfang gegeben, sind zumeist nichts anderes als eine mitunter sehr scharfe Satire auf die Kriegswut seiner Zeit, bei der zum Beispiel die Schweizer sehr schlecht wegkommen, die unter dem Namen Zapoleten auftreten. Diese Ausführungen beruhen auf der Voraussetzung, daß sein kommunistisches Gemeinwesen von Staaten umgeben sei, die auf derselben Kulturhöhe stehen, dabei aber die der Utopia entgegengesetzten sozialen und politischen Einrichtungen besitzen. More hat nur eine unklare Ahnung von der internationalen Solidarität des modernen Sozialismus, welcher letztere die soziale Umgestaltung, die er anstrebt, als das naturnotwendige Produkt der kapitalistischen Produktionsweise ansieht und daher annimmt, daß sie sich auf alle Länder dieser Produktionsweise erstrecken werde.

In engerer Verbindung mit dem Kommunismus als die Ausführungen über den Krieg sind die über die innere politische Organisation Utopiens. Es ist ein völlig demokratisches Gemeinwesen, in dem die Funktionen der Behörden, neben dem Schlichten von Zwistigkeiten, fast ausschließlich in der Leitung der Arbeit bestehen. More stellt da denselben Grundsatz auf wie der moderne Sozialismus, daß mit der Aufhebung der Klassengegensätze die politischen Funktionen einschlafen und das Gemeinwesen sich aus einem politischen Staatswesen in eine Produktivgenossenschaft umwandelt.

Für More aber ist es bezeichnend, daß er sich nicht einmal ein solches Gemeinwesen ohne Fürsten vorstellen kann. Dieser hat zwar gar nichts zu tun, als sich davor zu hüten, daß er nicht in den Verdacht kommt, nach der Alleinherrschaft zu streben, aber trotzdem, ohne persönliche Spitze geht's einmal in Utopien nicht.
 

2. Wissenschaft

Sehen wir nun zu, welche Stellung die Wissenschaft in Utopien einnimmt:

„Gewöhnlich werden am frühen Morgen öffentliche Vorlesungen abgehalten, zu deren Besuch nur diejenigen verpflichtet sind, die besonders für die Wissenschaften bestimmt wurden. Aber es finden sich stets auch eine große Menge anderer Leute dabei ein, Männer und Frauen, der eine bei diesen, der andere bei jenen Vorlesungen, je nach der Neigung des Betreffenden.“

In diesen wenigen Zeilen ist einer der wichtigsten Grundsätze des modernen Sozialismus enthalten: die Aufhebung des Privilegiums der Wissenschaft für eine Kaste. Die Wissenschaft wird allen Bürgern des Gemeinwesens, Männern wie Frauen, in gleicher Weise zugänglich gemacht, und eines der wichtigsten, ja vielleicht das vornehmste Ziel des kommunistischen Gemeinwesens besteht darin, jedermann des Genusses geistiger Arbeit teilhaftig zu machen: „Das Ziel, der Einrichtungen dieses Gemeinwesens“, heißt es in der Utopia, „geht in erster Linie dahin, es allen Bürgern zu ermöglichen, jede Zeit, die nicht von den Bedürfnissen der Gemeinschaft in Anspruch genommen wird, der körperlichen Arbeit zu entziehen und der freien Tätigkeit und Entfaltung ihres Geistes zu widmen. Denn darin sehen sie die Glückseligkeit des Lebens.“

Das ist ein ganz moderner Gedanke, der weder dem urwüchsigen noch dem platonischen Kommunismus eigen war. Der gedankenlose Urmensch kannte den Genuß wissenschaftlicher Tätigkeit noch nicht. Die Veranlassung dazu konnte erst gegeben sein einerseits, als die gesellschaftlichen Elemente in den Fluß rascherer Entwicklung kamen, als feindliche Klassen erstanden, als die sozialen Veränderungen eine vom Willen des Menschen unabhängige Entwicklung erhielten und soziale Kämpfe zum Nachdenken anregten, als der Mensch eine Geschichte erhielt; andererseits erst dann, als der Mensch vom Banne der Natur befreit war, als diese ihm als etwas Objektives gegenüberstand. Beide Grundlagen des Bedürfnisses nach wissenschaftlicher Forschung entwickelten sich nur in den Städten mit genügender Kraft; dort entwickelten sich aber auch gleichzeitig die Bedingungen, welche die wissenschaftliche Forschung ermöglichten, die Schaffung einer Klasse, die, von der Notwendigkeit physischer Arbeit befreit, sich ganz dem Genuß geistigen Schaffens hingeben konnte.

Arbeit und Wissenschaft erschienen dem Altertum als zwei unvereinbare Dinge. Demnach ist auch in der platonischen Republik die Wissenschaft das Privilegium der herrschenden und ausbeutenden Klasse. Der Moresche Kommunismus, der als moderner Kommunismus auf der gleichen Arbeitspflicht und demnach der Gleichheit aller beruht, mußte auch, gleich dem urwüchsigen Kommunismus, allen die gleiche Möglichkeit zuerkennen, an den Genüssen teilzunehmen, die er bot. Um so mehr mußte dies der Fall sein mit dem größten, dauerndsten der Genüsse, der erst durch den Untergang des urwüchsigen Kommunismus erstanden ist, dem Genuß geistiger Arbeit. Auf diesen mußte More besonderen Wert legen als Humanist, dem ein Leben ohne geistiges Schaffen nicht wert schien, gelebt zu werden. [62] Und da die technischen Bedingungen der Befreiung aller Bürger von geisttötender physischer Arbeit ohne Einschränkung der Bedürfnisse noch nicht gegeben waren, so verstand More sich lieber zu dieser, als daß er den Bürgern Utopiens die Möglichkeit geistiger Entwicklung beschränkt hätte. Wir haben diesen Punkt schon behandelt, und wir wissen auch schon, daß More durch die technische Rückständigkeit seiner Zeit gezwungen wurde, zwei, wenn auch der Zahl nach geringfügige Klassen zu schaffen, deren Existenz zu den Grundsätzen der Utopia im Widerspruch steht: eine Klasse der Gelehrten, die von der allgemeinen Arbeitspflicht befreit war, und eine Klasse von Knechten, denen die geistige Arbeit versagt blieb. Es muß jedoch hervorgehoben werden, daß die Gelehrten keinerlei materielle Bevorzugungen vor den anderen Bürgern genießen. Und More hält es gar nicht für nötig, das zu motivieren. Die Bourgeosie mußte schon sehr verkommen sein, ehe sie den Grundsatz proklamieren konnte, daß die Gehirnarbeit eine Plage sei, zu der man nur durch die Aussicht auf die glänzendsten Belohnungen aufgestachelt werden könne, daß daher der Kommunismus mit dem Untergang von Kunst und Wissenschaft gleichbedeutend sei. Welch vernichtendes Urteil über die Impotenz des bürgerlichen Gehirns!

Man darf aus der starken Betonung des Genusses geistiger Arbeit durch More nicht schließen, daß er die sinnlichen Genüsse verachtete. Die gemeinsamen Abendmahlzeiten in Utopien sind, wie wir bereits wissen, nicht von aszetischer Einfachheit. Man ißt gut und viel, Leckereien fehlen nicht, Musik und Wohlgerüche regen die Sinne an. Auch die Weltanschauung der Utopier ist eine heitere und lebenslustige. Wir finden sie dargelegt in einem ausgedehnten Exkurs, der den Schluß des Kapitels über die „Reisen der Utopier“ bildet. Dieser Exkurs ist für die Kennzeichnung der Stellung der Wissenschaft in Utopien überhaupt sehr wichtig; namentlich die Verhöhnung der rein spekulativen Wissenschaften, die zu Mores Zeit eine so große Rolle spielten, und die Hochhaltung der Naturwissenschaften sind bemerkenswert. Wir können unsere Darlegung über die Wissenschaft in Utopien nicht besser abschließen, als mit einigen Zitaten aus diesem Kapitel, die einer weiteren Erläuterung nicht bedürfen. Unsere Leser werden nach dem bisher Ausgeführten selbst ermessen, inwieweit die darin niedergelegten Ideen charakteristisch sind für den modernen Kommunismus einerseits und für More andererseits:

„Ihre Ansichten sind das Ergebnis teils ihrer Erziehung in einem Gemeinwesen, dessen Einrichtung von unseren Torheiten so weit entfernt sind, teils ihres Studiums der Wissenschaften. Allerdings sind in jeder Stadt nur sehr wenige von aller Arbeit befreit und ganz der Wissenschaft gewidmet, nämlich diejenigen, die von Kindheit an außerordentliche Anlagen und Neigung zu wissenschaftlicher Tätigkeit zeigen; aber die gesamte Jugend wird mit der Wissenschaft vertraut gemacht, und ein großer Teil des Volkes, Männer wie Frauen, verwenden ihr Leben lang ihre freie Zeit zum Studium. Die Wissenschaften werden ihnen in ihrer Landessprache vorgetragen ... In Musik, Dialektik, Arithmetik und Geometrie haben sie es fast ebensoweit gebracht wie die Alten. Dagegen werden sie von den feinen Erfindungen unserer Dialektiker weit übertroffen. Denn sie haben keine einzige der Regeln der Restriktion und Amplifikation und Supposition erfunden, wie sie so scharfsinnig in den Parva Logicalia [63] ausgedacht wurden, die unseren Knaben eingetrichtert werden. Auch waren sie nie imstande, die reinen Begriffe zu finden, und den abstrakten Menschen haben sie nie bemerken können, trotzdem er kolossaler ist als alle Giganten und uns so deutlich gezeigt wird, daß wir mit Fingern auf ihn deuten. Dagegen kennen sie sehr gut die Bahnen der Gestirne und die Bewegungen der himmlischen Sphären. Sie haben auch Instrumente erfunden, durch welche sie genau die Bewegungen und Stellungen der Sonne, des Mondes und der bei ihnen sichtbaren Sterne bestimmen. Von den Freundschaften und Feindschaften der Gestirne und dem ganzen Schwindel der Prophezeiung aus den Sternen lassen sie sich nicht einmal etwas träumen. Wohl aber verstehen sie Regen, Stürme und das Wetter überhaupt aus gewissen Anzeichen vorherzubestimmen, die sie durch lange Beobachtungen erfahren, über die Ursachen dieser Erscheinungen aber, von Ebbe und Flut und des Salzgehaltes des Meerwassers und endlich über den Ursprung und das Wesen von Himmel und Erde, darüber haben sie zum Teil dieselben Ansichten wie die Philosophen der Alten, zum Teil weichen sie von ihnen ab, wie auch unsere Philosophen verschiedene Meinungen hegen, und bringen neue Erklärungen vor, die auch nicht alle in allen Punkten miteinander übereinstimmen.

„In der Moralphilosophie behandeln sie dieselben Fragen wie wir. Sie untersuchen, was für Körper und Seele gut sei, und ob außer den Eigenschaften der Seele noch etwas in Wahrheit gut genannt zu werden verdiene. Sie denken nach über Tugend und Luft, aber ihre Hauptfrage ist die, worin wohl die Glückseligkeit des Menschen bestehe. Sie neigen zu der Ansicht, die in der Lust das wichtigste, wenn auch nicht einzige Element des menschlichen Glückes sieht. Und, was uns noch seltsamer erscheint, sie verteidigen ihren so sinnlichen Standpunkt mit Beweisgründen aus ihrer ernsten und strengen Religion ...“

„Die Tugend besteht nach ihrer Anschauung in einem naturgemäßen Leben; dazu, sagen sie, hat uns Gott geschaffen. Und sie glauben, daß man der Natur gemäß lebt, wenn man den Geboten der Vernunft folgt. Die Vernunft entzündet aber vor allem im Menschen die Liebe und Verehrung für die Majestät Gottes, dem wir alles verdanken, was wir sind und was uns glücklich macht. In zweiter Linie aber treibt uns die Vernunft an, soviel als möglich in sorgloser Fröhlichkeit zu leben und verpflichtet uns, allen anderen nach Kräften zu einem gleichen Leben zu verhelfen ...

„Die größten Genüsse sind in ihren Augen die geistigen; die besten derselben erstehen aus der Tugend und dem Bewußtsein eines reinen Lebens; für den höchsten der sinnlichen Genüsse halten sie die Gesundheit. Denn sie glauben daß Essen und Trinken und andere sinnliche Genüsse nur insofern wünschenswert sind, als sie die Gesundheit fördern.... Sie glauben daher, daß die sinnlichen Genüsse nur insoweit geschätzt werden sollen, als sie notwendig sind. Dennoch erfreuen sie sich an ihnen und erkennen dankbar die Liebe der Mutter Natur an, die ihre Kinder durch die Anziehungskraft des Genusses zu den für ihre Erhaltung notwendigen Verrichtungen antreibt.“
 

3. Religion

Wenden wir uns von der mehr heidnischen als christlichen Philosophie zu den religiösen Einrichtungen der Utopier.

„Die Religionen sind nicht nur in den verschiedenen Teilen der Insel Utopia verschieden, sondern sogar innerhalb jeder Stadt. Die einen verehren die Sonne, andere den Mond oder einen der Planeten. Wieder andere beten Menschen, die sich in vergangenen Zeiten durch Tugend oder Ruhm ausgezeichnet, nicht nur als Götter, sondern als oberste Gottheiten an. Der größte und weiseste Teil von ihnen verehrt nichts von alledem, sondern glaubt an ein unbekanntes, ewiges, unerforschliches und unendliches göttliches Wesen, unerfaßbar für den Geist des Menschen und die ganze Welt erfüllend, nicht in körperlicher Ausdehnung, sondern mit seiner Kraft. Dieses nennen sie den Vater des Alls ... Alle aber stimmen darin überein, so verschieden auch ihre sonstigen Meinungen sein mögen, daß ein oberstes Wesen besteht, ein Schöpfer der Welt, eine Vorsehung: sie nennen es alle mit dem gleichen Namen Mythras ... Eines ihrer ältesten Gesetze bestimmt, daß niemand wegen seiner Religion einen Schaden erleiden solle. Denn Fürst Utopus, der Gründer des Reiches, hatte erfahren, daß vor seiner Ankunft die Eingeborenen in große Religionskämpfe verwickelt waren, was ihm ihre Besiegung sehr erleichterte, da sie vereinzelt, statt vereint gegen ihn kämpften. Sobald er den Sieg erlangt, erließ er daher vor allem ein Gesetz, daß jedem erlaubt sei, der Religion anzuhängen, die ihm gefalle; und wenn er versuche, andere dazu zu bekehren, so möge er es durch die Kraft von Beweismitteln in friedlicher, ruhiger Weise tun, ohne Gewalttätigkeiten und Beschimpfungen. Wer dagegen verstieß, verfiel der Verbannung oder der Knechtschaft.

„Dieses Gesetz erließ Utopus nicht nur im Interesse des inneren Friedens, den er durch tägliche Kämpfe und unversöhnlichen Haß gestört sah, sondern auch im Interesse der Religion selbst. Er wagte es nicht, in Religionsangelegenheiten eine verwegene Entscheidung zu treffen, ungewiß, ob nicht Gott es wünsche, auf verschiedene Weisen verehrt zu werden und daher den Menschen verschiedene Religionen eingeflößt habe. Auf jeden Fall erschien es ihm ungebührlich und abgeschmackt für einen Menschen, andere gewaltsam zu dem Glauben zu zwingen, den er für den richtigen hält. Sollte aber wirklich nur eine Religion die wahre sein, dann würde sich die Wahrheit schon Bahn brechen, wenn bloß durch Vernunft und Milde unterstützt. Würden dagegen Gewalt und Aufruhr für sie eintreten, dann möchte wohl die beste Religion im Aberglauben erstickt werden, wie Getreide unter Unkraut und Dornen, da die Schlechtesten immer die Hartnäckigsten sind. Er gab daher jedem Menschen völlige Freiheit, zu glauben, was ihm beliebte. Nur gegen diejenigen erließ er ein strenges Gesetz, die so tief gesunken waren, anzunehmen, daß die Seele mit dem Körper zugrunde gehe, oder daß in der Welt alles dem Zufall und nicht der Leitung der Vorsehung unterworfen sei.... Niemals vertrauen sie einem, der diese Ansichten teilt, Ämter und Ehrenstellen an; er ist ausgeschlossen von der Verwaltung des Gemeinwesens und verachtet als gemeine und niedere Seele. Aber man bestraft ihn nicht, da es ihr Grundsatz ist, daß es nicht im Belieben des Menschen steht, zu glauben, was man will, noch treibt man ihn durch Drohungen zu Heuchelei und Verstellung; denn nichts ist ihnen verhaßter, als Lüge und Heuchelei. Es ist ihm nur verboten, seine Grundsätze dem Volke zu predigen; private Diskussionen mit Priestern und gewiegten Männern werden dagegen nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert, da sie überzeugt sind, daß vernünftige Beweisgründe ihn von seinen Ansichten abbringen müssen.“

Diese Ausführungen, soweit sie die Toleranz aller Bekenntnisse betreffen, entsprechen mehr dem Zeitalter der Aufklärung, als der Reformation, mehr der Zeit, in der „Nathan der Weise“ verfaßt wurde, als der Zeit, in der Calvin Servet verbrennen ließ, unmittelbar vor den blutigsten Religionskriegen, die die Welt gesehen, und sie erscheinen uns um so großartiger, als sie nicht von einem Ungläubigen ausgingen, der tatsächlich über den Religionen stand, sondern von einem tief religiösen Gemüt, einem Manne, dem seine Zeit in der Religion die einzige Form bot, um seiner schwärmerischen Liebe und Begeisterung für die Menschheit Ausdruck zu geben, dem Irreligiosität gleichbedeutend war mit Mangel an Gemeinsinn. Der Materialismus des sechzehnten Jahrhunderts entsprang in der Tat nicht den ausgebeuteten, sondern den ausbeutenden Klassen. Diejenigen, die an keinen Gott und keine Unsterblichkeit glaubten, das waren Päpste und Kardinäle, Fürsten und Höflinge; ihre Verachtung der Religion ging Hand in Hand mit der Verachtung des Volkes. Diese Situation muß man im Auge behalten, um zu verstehen, warum More die Materialisten als gemeine Egoisten von der Staatsverwaltung ausschloß.

Stand More der Toleranz des achtzehnten Jahrhunderts nahe, so hat er mit der Organisation seiner idealen Kirche die Reformation antizipiert, ja er, der „katholische Märtyrer“, ist vielfach über diese hinausgegangen.

„Ihre Priester sind von ausgezeichneter Frömmigkeit und daher sehr wenige, denn man hat in jeder Stadt nur dreizehn, je einen für jede Kirche ... Sie werden, wie die anderen Beamten, vom Volke in geheimer Abstimmungerwählt, um Parteiungen zu vermeiden. Die Gewählten werden vom Priesterkollegium geweiht. Ihr Amt besteht in der Besorgung des Gottesdienstes und aller heiligen Angelegenheiten und der Überwachung der Sitten des Volkes. Und es ist eine große Schande, von ihnen vorgeladen und wegen eines liederlichen Lebenswandels getadelt zu werden. Sie haben jedoch nur das Recht zu ermahnen und zu tadeln. Die Strafgewalt steht einzig dem Fürsten und den Beamten zu.... Die Erziehung der Jugend fällt den Priestern anheim, und sie haben den Kindern nicht nur Wissen beizubringen, sondern auch ihren Charakter zu bilden. Sie benutzen jede Gelegenheit, dem Kind, solange seine Seele noch zart und empfänglich ist, Grundsätze einzuflößen, die ebenso gut wie dem Gemeinwesen nützlich sind. Tiefe Eindrücke in diesem Alter wirken durch das ganze Leben nach und tragen unendlich viel zur Festigung und Kräftigung des Gemeinwesens bei, das nur durch Laster zerstört wird, und das Laster ist die Folge schlechter Grundsätze.

„Ihre Priester, heiraten die durch ihre Eigenschaften hervorragendsten Frauen des Landes. Die Frauen selbst sind keineswegs vom Priestertum ausgeschlossen, indessen werden sie selten dazu erwählt, und dann nur ältere Witwen ...

„Obwohl sich unter ihnen die verschiedensten Religionen finden, so kommen doch alle in der Verehrung des göttlichen Wesens überein und demnach sieht und hört man in ihren Kirchen nichts, worin nicht alle Bekenntnisse übereinstimmten. Jeder vollzieht die gottesdienstlichen Gebräuche, die seiner Sekte eigentümlich sind, in seinem Hause. Der öffentliche Gottesdienst widerspricht in nichts dem besonderen. Daher gibt es keine Bilder Gottes in der Kirche, so daß jeder sich die Gottheit seinem Glauben gemäß vorstellen kann ...

„Der letzte Tag des Monats und des Jahres ist ein Feiertag; ehe sie an diesem in die Kirche gehen, knien die Frauen vor ihren Gatten, die Kinder vor den Eltern nieder und beichten alle ihre Irrtümer und Verfehlungen und erbitten Verzeihung dafür. So wird jeder häusliche Zwiespalt beseitigt, daß sie mit reinem und heiteren Herzen ihr Gebet darbringen können.“

Wie weit geht diese utopische Kirche über den Lutheranismus hinaus und selbst den Calvinismus! Mit beiden hat sie gemein die Abschaffung der Ohrenbeichte, des Priesterzölibats, des Bilderdienstes, mit letzterem die Einführung der Wahl der Priester durch das Volk. Aber More geht darüber hinaus. Er beseitigt zum Beispiel die Strafgewalt der Geistlichkeit und läßt die Frauen zum Priestertum zu. Ja, er scheut sich nicht, den unheilbar Kranken den Selbstmord zu empfehlen. Über alle Kirchen seiner Zeit erhaben zeigt sich More in dem gemeinsamen Gottesdienst aller Bekenntnisse und der Verweisung des besonderen Gottesdienstes in das Privathaus. Es ist dies in der Sprache des sechzehnten Jahrhunderts derselbe Grundsatz, den heute der Sozialismus aufgenommen hat: Erklärung der Religion zur Privatsache.

Wir sehen, wie revolutionär die Utopia war; revolutionär nicht nur in bezug auf eine entfernte Zukunft, sondern auch in Beziehung auf die brennendsten Probleme ihrer Zeit. Sie griff nicht nur das Privateigentum an, nicht nur die Politik der Fürsten, nicht nur die Unwissenheit und Faulheit der Mönche, sondern sogar die Lehren der Religion.


Sechstes Kapitel. Der Zweck der Utopia

Nachdem More im einzelnen das Bild einer idealen Gesellschaft gegeben hat, die das gerade Gegenteil der Gesellschaft seiner Zeit bildet, wirft er dieser am Schlusse der Utopia noch einmal in einer vehementen Apostrophe den Fehdehandschuh hin. Der moderne Sozialismus hat kaum eine schärfere Kritik der Gesellschaft aufzuweisen, als die in den Sätzen enthaltene, mit denen Hythlodäus seine Darstellung von Utopien schließt: „So habe ich euch nun, so getreulich ich konnte, die Verfassung dieses Gemeinwesens beschrieben, das meines Erachtens nicht nur das beste, sondern auch das einzige ist, das diesen Namen verdient. Anderswo spricht man freilich auch von einem Gemeinwohl, sorgt aber in Wirklichkeit nur für das eigene Wohl; in Utopien, wo es kein Sondereigentum gibt, besorgt jeder tatsächlich nur die Geschäfte des Gemeinwesens, und hier wie dort hat jeder seine guten Gründe, warum er so verschieden handelt. Denn anderswo weiß jedermann, daß er verhungern muß, wenn er nicht für sich selbst sorgt, möge das Gemeinwesen noch so blühend sein, so daß er gezwungen ist, sein Wohl dem der Gesamtheit vorzuziehen. In Utopien dagegen, wo alles gemeinsam ist, weiß jedermann, daß niemand Mangel leiden kann, wenn man dafür sorgt, die öffentlichen Speicher zu füllen. Denn alles wird bei ihnen gleich verteilt, so daß niemand arm ist; und obgleich keiner etwas für sich besitzt, sind sie doch alle reich. Kann es einen besseren Reichtum geben, als ein sorgloses und heiteres Leben? In Utopien braucht der einzelne nicht für seine Existenz besorgt zu sein, er wird nicht von den endlosen Klagen der Gattin gequält, fürchtet nicht für die Zukunft des Sohnes, ihm bereitet die Mitgift der Tochter keinen Kummer. Er weiß nicht nur seine Existenz und sein Wohlleben gesichert, sondern auch das seiner Kinder, Enkel, Neffen, aller Nachkommen bis ins entfernteste Glied. Und man sorgt bei ihnen in gleicher Weise für die schwach und arbeitsunfähig Gewordenen wie für die noch Arbeitenden. Ich möchte den Mann sehen, der kühn genug wäre, dieser Gerechtigkeit das Recht anderer Völker gleichzusetzen. Gott straf' mich, wenn ich bei den anderen eine Spur von Recht und Gerechtigkeit gefunden habe. Was ist das für eine Gerechtigkeit, wenn der Edelmann, der Goldschmied [64] oder der Wucherer, kurz diejenigen, die nichts tun oder doch nichts Nützliches, bei ihrer Untätigkeit oder überflüssigen Tätigkeit herrlich und in Freuden leben, indes die Taglöhner, Kärrner, Schmiede, Zimmerleute und Ackersknechte, die härter arbeiten als Lasttiere, und deren Arbeit das Gemeinwesen nicht ein Jahr lang entbehren könnte, ein so erbärmliches Dasein sich erarbeiten und schlechter leben müssen als Lasttiere? Jene arbeiten nicht so lange, ihre Nahrung ist besser und nicht durch die Sorge für die Zukunft vergällt; der Arbeiter dagegen wird niedergedrückt durch die Trostlosigkeit seiner Arbeit und gemartert durch die Aussicht auf das Bettlerelend seines Alters. Sein Lohn ist ja so gering, daß er die Bedürfnisse des Tages nicht deckt, und es ist gar nicht daran zu denken, daß der Mann etwas für seine alten Tage zurücklegt. Ist das nicht ein ungerechtes und undankbares Gemeinwesen, das die Edlen, wie sie sich nennen, und die Goldschmiede und andere verschwenderisch beschenkt, die entweder müßig gehen oder von der Schmeichelei leben, oder der Tätigkeit für eitle Freuden; und das andererseits nicht die geringste Sorge tragt für arme Ackersleute, Kohlengräber, Taglöhner, Kärrner, Schmiede und Zimmerleute, ohne die es nicht bestehen könnte? Nachdem man sie ausgebeutet und ausgepreßt hat in der Kraft ihrer Jugend, überläßt man sie ihrem Schicksal, wenn Alter, Krankheit und Not sie gebrochen haben, und gibt sie als Belohnung für ihre treue Sorge und ihre so wichtigen Dienste dem Hungertod preis.

„Noch mehr: Die Reichen, nicht zufrieden, den Lohn der Armen durch unsaubere persönliche Kniffe herabzudrücken, erlassen noch Gesetze zu demselben Zwecke. Was seit jeher unrecht gewesen ist, der Undank gegen die, die dem Gemeinwesen wohl gedient haben, das wurde durch sie noch scheußlicher gestaltet, indem sie ihm Gesetzeskraft und damit den Namen der Gerechtigkeit verliehen.

„Bei Gott, wenn ich das alles überdenke, dann erscheint mir jeder der heutigen Staaten nur als eine Verschwörung der Reichen, die unter dem Vorwand des Gemeinwohls ihren eigenen Vorteil verfolgen und mit allen Kniffen und Schlichen danach trachten, sich den Besitz dessen zu sichern, was sie unrecht erworben haben, und die Arbeit der Armen für so geringen Entgelt als möglich für sich zu erlangen und auszubeuten. Diese sauberen Bestimmungen erlassen die Reichen im Namen der Gesamtheit, also auch der Armen, und nennen sie Gesetze.

„Aber nachdem diese Elenden in ihrer unersättlichen Habgier unter sich allein alles verteilt haben, was für das ganze Volk ausreichen würde, fühlen sie sich selbst gar fern von jenem Glücke, dessen sich die Utopier erfreuen. Bei diesen ist der Gebrauch von Geld und das Verlangen danach beseitigt und damit eine berghohe Last von Sorgen vernichtet, eine der stärksten Wurzeln des Verbrechens ausgerissen. Wer weiß nicht, daß Betrug, Diebstahl, Raub, Zwist, Tumult, Aufruhr, Totschlag, Meuchelmord, Vergiftung durch die Strenge des Gesetzes wohl gerächt, aber nicht verhindert werden, indes sie alle verschwinden würden, wenn das Geld verschwände? Dem Gelde würden folgen die Besorgnisse, Beunruhigungen, Kümmernisse, Mühsale und schlaflosen Nächte der Menschen. Die Armut selbst, die des Geldes so notwendig zu bedürfen scheint, würde aufhören, sobald das Geld beseitigt würde.“

Wie beschränkt erscheint dieser kühnen Kritik gegenüber, die die Gesellschaft in ihren Wurzeln angreift, die so gepriesene Tat Luthers, der ein Jahr nach dem Erscheinen der Utopia anfing, gegen – den Mißbrauch des Ablasses, nicht gegen den Ablaß selbst zu predigen, und der zu weitergehenden Schritten nicht durch eine logische Entwicklung in seinem Kopfe, sondern durch die Entwicklung der Tatsachen gedrängt wurde! Und doch, während gegen den Mann, der den Mißbrauch des Ablasses angriff, ohne etwas an der Kirchenordnung ändern zu wollen, schließlich die ganze Macht Roms aufgeboten wurde, blieb der Mann unbehelligt, dessen Lehren die ganze Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern mußten, wenn sie Verbreitung fanden; und der Anwalt einer Kirchenordnung, die unkatholischer, ja in mancher Beziehung (Selbstmord der Unheilbaren, Priestertum der Frau) unchristlicher war, als irgend eine der reformierten Kirchen, wurde zu einem Heiligen der katholischen Kirche!

So sonderbar dieser Unterschied in der Behandlung erscheint, er war wohl begründet. Luther wandte sich an die Massen; er gab den Interessen mächtiger Parteien und Klassen Ausdruck. More stand mit seinen Bestrebungen allein; er wandte sich nur an einen kleinen Kreis Gelehrter, das Volk verstand ihn nicht und er wollte vom Volke nicht verstanden sein. Daher schrieb er die Utopia lateinisch und hüllte seine Gedanken in das Gewand der Satire, wodurch er freilich auch größere Freiheit im Ausdruck seiner Meinungen erhielt.

Hier sind wir bei der letzten Frage angelangt, deren Beantwortung uns noch übrig bleibt: Welchen Zweck verfolgte More mit seiner Utopia?

Wir wissen, daß einige sie bloß für eine Nachahmung der platonischen Republik halten. Andere gar erklären sie für eine müßige Phantasie. Manche, namentlich Deutsche, für beides. So zum Beispiel Rudhart, der einmal die Utopia „eine schöne Frucht des Studiums der Alten“ nennt und ein andermal die Einrichtungen der Utopier nicht etwa als solche betrachtet, „die ins Leben gerufen werden sollen und müssen, sondern als heitere Scherze einer heiteren Seele“. (Rudhart, Thomas Morus, S. 119, 156) Neuerdings wieder erklärt Professor Alfred Stern More für den „geistreichsten und berühmtesten Verarbeiter“ der „Verschmelzung der christlichen Nächstenliebe mit dem platonischen Kommunismus“ und nennt eine Seite später die Utopia das „phantastische Gedankenspiel einer verrauschenden Stunde“. (Alfred Stern, Die Sozialisten der Reformationszeit, Berlin 1883, S. 13, 14)

Daß der Moresche Kommunismus einen ganz anderen Charakter trägt als der platonische, daß er nicht eine „schöne Frucht des Studiums der Alten“ ist, sondern der sozialen Mißstände und der ökonomischen Entwicklungskeime der Anfänge der Neuzeit, daß er auf lebendigen Tatsachen beruht und nicht auf antiquarischer Bücherweisheit, das glauben wir genugsam dargetan zu haben. Auch von christlicher Nächstenliebe ist im Moreschen Kommunismus nichts zu spüren. Denn jene ist nichts als Armenunterstützung, die Arme voraussetzt, die bedürftig, und Reiche, die zu spenden imstande sind. Wo das Christentum kommunistische Anwandlungen zeigt, ist es der Kommunismus des Bettelsacks, nicht der Arbeit, der Kommunismus des Lumpenproletariats, nicht des arbeitenden Proletariats. Der Moresche Kommunismus ist nicht platonisch und nicht christlich, sondern modern, dem Kapitalismus entsprossen.

Aber auch für einen bloßen Scherz können wir die Utopia nicht halten. Nach der Ansicht unserer Gelehrten würde die Utopia, wenn sie heute verfaßt würde, ihrem Charakter nach entweder in eine philologische Zeitschrift gehören oder – in ein Feuilleton.

Für die Auffassung der Utopia als Scherz spricht nichts, gar nichts. Alles spricht dagegen, vor allem das Buch selbst. Man muß die Harmlosigkeit gewisser deutscher Professoren besitzen – und die harmlosen sind noch die besten –, um ein Werk für einen Scherz zu halten, das eine so bittere Kritik der bestehenden Zustände enthält, ein so tiefdurchdachtes System des Kommunismus aufstellt, das so genau den ökonomischen und technischen Zuständen seiner Zeit angepaßt war. Auch haben es seine Zeitgenossen sehr ernst genommen. Budaeus zum Beispiel schrieb an Lupsetus:

„Wir sind Thomas More für seine Utopia zu großem Danke verpflichtet, in der er der Welt ein Muster von glücklichem Leben aufstellt. Unsere Zeit und unsere Nachkommen werden diese Darstellung als eine Schule trefflicher Lehren und nützlicher Unterweisungen betrachten, aus der die Staaten ihre Einrichtungen nehmen und ihren Bedürfnissen gemäß anpassen werden.“

In gleicher Weise drücken sich noch zahlreiche andere Zeitgenossen Mores aus. Gelehrte und Staatsmänner, wie Johannes Paludanus, Paulus Jonius und Hieronymus Buslidianus (oder Buslidius, eine Latinisierung des niederländischen Busleiden), der Rat Karls V. Stapleton hat (Vita, S. 184) eine Reihe von Aussprüchen über die Utopia gesammelt, die alle im Sinne des obigen Zitats gehalten sind. Alle sahen in der Utopia ein Buch, das Vorschriften für die Staatenlenker gibt, wie sie ihre Staaten regieren sollen.

Und das war ganz im Sinne jener Zeit gedacht. Dem Fürsten war nach der damaligen Anschauung alles möglich, und alles demjenigen, der einen Fürsten für sich gewann. Vorschriften für Fürsten erschienen zu Mores Zeit massenhaft. Macchiavellis „Fürst“ und des Erasmus  Lehrbuch für den christlichen Fürsten (Institutio principis christiani) wurden gleichzeitig mit der Utopia verfaßt, und wir haben nicht den geringsten Grund, zu zweifeln, daß diese denselben Zweck verfolgte wie jene: den Fürsten zu zeigen, wie regiert werden sollte.

Und die Utopia verfolgte sogar den speziellen Zweck, die Regierung und Verfassung Englands zu beeinflussen. Das zeigt uns nicht nur das erste Buch sehr deutlich, sondern Erasmus, der es wissen mußte, sagt es uns selbst in seinem uns bekannten Briefe an Hutten:

„Die Utopia verfaßte er mit der Absicht, zu zeigen, worin es liege, daß die Staaten in schlechten Zuständen seien, namentlich aber hatte er bei seiner Darstellung England vor Augen, das er gründlich durchforscht und kennen gelernt hat.“

In der Tat, die Insel Utopia ist England. More wollte zeigen, wie England aussehen würde und wie sich dessen Verhältnisse zum Ausland gestalten würden, wenn es kommunistisch eingerichtet wäre. Die Analogie läßt sich genau verfolgen: Die Insel ist vom Kontinent nur durch eine Meerenge von 15000 Schritten getrennt. Die Beschreibung der Hauptstadt Amaurotum ist eine getreue Schilderung Londons: sie liegt am Flusse Anyder (Themse), in dem Ebbe und Flut sich bis mehrere Meilen oberhalb der Stadt erstrecken. Die beiden Ufer sind durch eine Steinbrücke (London Bridge) miteinander verbunden, dort, wo die Stadt am weitesten von der See entfernt ist, damit die Schiffe so weit als möglich hinauffahren können usw. Amaurotum selbst heißt auf Deutsch „Nebelstadt“ (vom griechischen amauros, dunkel, trüb, neblig). In England ist auch die Analogie zwischen der Insel Utopia und der britischen Insel allgemein anerkannt.

Stow, Survey of London, 2. Band, S. 458, findet eine völlige Übereinstimmung zwischen London und Amaurotum. Rudhart bestreitet sie, beweist damit aber nur, daß die Universitätsbibliothek von Göttingen nicht der richtige Ort ist, um London kennen zu lernen.

Nach dem Vorgang Mores hat Rabelais in seinem Gargantua und Pantagruel zu verschiedenen Malen sein Heimatland hinter dem Namen „Utopia“ versteckt (2. Buch, 8., 23. Kapitel, 3. Buch, 1. Kapitel).

„Die ‚Utopia‘ des Rabelais ist also Frankreich, darin stimmen alle Kommentatoren überein. Er entnahm diese Idee und die seiner Kolonie der Utopier der Utopia Thomas Mores.“ Esmangard in seinem bereits erwähnten Kommentar Oeuvres de Rabelais, 3. Band, S. 516.

Die Historiker und Ökonomen, die mit der Utopia nichts anzufangen wissen, sehen natürlich in diesem Namen eine feine Andeutung Mores, daß er selbst seinen Kommunismus für eine undurchführbare Phantasterei halte. Das ist die richtige „wissenschaftliche“ Methode, eine unbequeme historische Erscheinung in ihr Gegenteil zu verdrehen: man verschließt die Augen den Tatsachen und deutelt sich eine Erklärung aus dem griechischen Lexikon zurecht.

In den ganzen Ausführungen über Utopien ist bloß ein Element eine Phantasterei, an deren Möglichkeit More selbst nicht fest glaubte: nicht das Ziel, das angestrebt werden, sondern die Art und Weise, wie es erreicht werden sollte. Er sah nur eine Macht, die den Kommunismus durchführen konnte, aber er hatte kein Vertrauen zu ihr. More hat uns in seiner Utopia gezeigt, in welcher Weise er sich die Durchführung des Kommunismus dachte: Ein Fürst, Utopus mit Namen, erobert das Land und drückt ihm den Stempel seines Geistes auf; alle Einrichtungen in Utopien sind auf ihn zurückzuführen. Er hat den allgemeinen Plan des kommunistischen Gemeinwesens erdacht und dann ausgeführt.

In dieser Weise stellte More sich die Verwirklichung seiner Ideale vor: er war der Vater des utopistischen Sozialismus, der mit Recht nach der Utopia seinen Namen erhalten hat. Dieser ist utopistisch weniger wegen der Unerreichbarkeit der Ziele, als wegen der Unzulänglichkeit der Mittel, die ihm zu deren Erreichung zu Gebote stehen, oder die er anwenden will.

More mußte Utopist sein, wir wissen das. Noch trat keine Partei, keine Klasse für den Sozialismus ein; die ausschlaggebende politische Macht, von deren Belieben der Staat abzuhängen schien, waren die Fürsten, damals noch ein junges, in gewissem Sinne revolutionäres Element, ohne feste Traditionen: warum sollte man nicht einen von ihnen zum Kommunismus bekehren können? Wenn einer wollte, so konnte er den Kommunismus durchführen. Wenn keiner wollte, war das Elend des Volkes unabänderlich. So dachte More, und von diesem Standpunkt aus mußte er einen Versuch machen, einen Fürsten zu gewinnen. Aber er täuschte sich keineswegs über die Hoffnungslosigkeit seiner Aufgabe. Er kannte die Fürsten seiner Zeit zu gut.

Er schließt die Utopia mit folgenden Worten, nachdem er eine scheinbare Verklausulierung vorausgeschickt, daß er nicht mit allem einverstanden sei, was Hythlodäus erzählt: „Ich gestehe gern, daß gar manches im Gemeinwesen der Utopier sich findet, das ich in unseren Staaten zwar zu sehen wünschte, aber nicht erwarte“ (optarium verius quam sperarim).

In diesem Schlusse liegt die ganze Tragik des Schicksals Mores, die ganze Tragik des Genies, das einer Zeit das Problem abringt, das sie in ihrem Schoße trägt, ehe noch die materiellen Bedingungen zu seiner Lösung gegeben sind; die ganze Tragik des Charakters, der sich verpflichtet fühlt, einzutreten für die Lösung des Problems, das die Zeit aufgestellt hat, einzutreten für das Recht der Unterdrückten gegen den Übermut der Herrschenden, selbst wenn er allein steht und sein Beginnen aussichtslos ist.

Die Größe seines Charakters bewies More auf dem Blutgerüst, das er bestieg, weil er seine Überzeugung nicht einer Fürstenlaune opferte. Sie ward von seinen Zeitgenossen bereits anerkannt. Die Größe seines Genies konnten sie dagegen nicht erfassen, so sehr sie es auch priesen; erst in unseren Tagen, erst mit dem Erstehen des wissenschaftlichen Sozialismus ist es möglich geworden, dem Sozialisten More völlig gerecht zu werden. Erst seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts liegen die Ziele des Sozialismus, als einer historischen Erscheinung, so klar zutage, daß es möglich ist, aus den Anfängen der sozialistischen Bewegung das Wesentliche vom Unwesentlichen, das Dauernde vom Vorübergehenden zu sondern. Erst damit ist es möglich geworden, zu erkennen, was in der Utopia „phantastisches Gedankenspiel einer verrauschenden Stunde“ ist, was Nachklang der Vergangenheit, was Vorahnung der Zukunft, was historische Tat.

Und nichts spricht wohl beredter für die Größe des Mannes, nichts zeigt deutlicher, wie riesig er seine Zeitgenossen überragte, als daß es mehr als dreier Jahrhunderte bedurfte, ehe die Bedingungen gegeben waren, um zu erkennen, daß er Ziele aufgestellt hat, die nicht die Phantastereien einer müßigen Stunde sind, sondern das Ergebnis einer tiefen Einsicht in das Wesen der ökonomischen Tendenzen seiner Zeit. Bald vier Jahrhunderte ist die Utopia alt, schon ist der vierhundertjährige Geburtstag Mores vorübergegangen, und noch sind seine Ideale nicht überwunden, noch liegen sie vor der strebenden Menschheit.


Anmerkungen des Verfassers

43. Rogers (Six Centuries etc., S. 345 ff.) legt den Geldfälschungen unseres Erachtens zu große Bedeutung in diesem Zusammenhang bei.

44. 1497 empörten sich die Bewohner von Cornwall gegen Heinrich VII. und marschierten auf London, wurden aber in der Schlacht von Blackheath geschlagen.

45. In der englischen Übersetzung ist nicht vom Herzen, sondern vom Magen die Rede, aus dem die realistischen Engländer gern die Gemütsbewegungen und Temperamente ableiten. So wie hier von „stowter stomackes“ und etwas später von „bolde stomackes“ die Rede, so heißt es auch in der englischen Bibelübersetzung im 101. Psalm, 5: „whoso hath a proud look and high stomach“; in der Lutherschen Bibel lautet die Stelle: „der stolze Gebärden und hohen Mut hat“.

46. Dieser Absatz ist in der Verdeutschung von Marx (Kapital, 1. Band, S. 761) wiedergegeben.

47. Oligos = wenig (griechisch). Poleo = ich handle. Monos = einzeln, einzig.

48. De optimo reipublicae statu, deque nova insula Utopia, libellus vere aureus, nec minus salutaris quam festivus, clarissimi disertissimique viri Thomae Mori inclytae civitatis Londinensis civis et vice comitis. Am Schlusse heißt es: Basileae apud Johannem Frobenium Mense Novembri MDXVIII.

49. 1520 wird als das wahrscheinliche Datum des Erscheinens dieses Buches angegeben, das bei G. de Gourmont in Paris gedruckt wurde. Das Exemplar, das wir im britischen Museum gefunden, hat kein Titelblatt. Es beginnt mit einer Ansprache an den Leser: „Ad lectorem. Habes candide lector opusculum illud vere aureum Thomae Mori etc.“

50. A frutefull pleasaunt and wittie worke of the beste state of a publique weale, and of the new yle, called Utopia: written in Latine by the right worthie and famous Syr Thomas More Knyght, and translated into Englishe by Raphe Robynson etc.

51. Am leichtesten zugänglich wohl die von H. Morley, Ideal commonwealths;, 23. Bändchen von Morley´s Universal library. 1887 erschien die dritte Auflage des Bändchens.

52. De Utopie ...nu eerst overgesett in need Duytsche. Thantwerpen.

53. Der Titel des Buches lautet: Von der wunderbarlichen Innsul Utopia genannt, das andre Buch, durch den wolgebornen, hochgelerten Herren Thomam Morum Fryherrn und des durchlüchtigsten großmechtigsten Künigs zu Engelland Schatzmeister, erstlich zu Latin gar kürtzlich beschriben und ußgelegt. In der löblichen Statt Basel vollendet. Am Schlusse des Buches steht: „Gedruckt zu Basel durch Joannem Bebelium. Im MDXXIIII. Jar, am sechzehnten Tag des Brach-Mons.“ Die Vorrede ist unterzeichnet Claudius Cantiuncula aus Metz. Sie ist gewidmet „denn Edlen, Strengen, Frommen, Besten, Fürsichtigen, Ersamen Wysenherrn, Adelberg Meyer, Burgermeister und dem Rat der loblichen Statt Basel minen gnedigen und günstigen Herren.“ Den Zweck seiner Übersetzung legt er in folgenden Worten dar:

„Diewyl nun dise policy der Innsel Utopia, wie oben angezeigt die bastgeordnete ältiste und bestendlichste yewelten gewesen und noch seyn soll, so von den mennschen ye angesehn worden, hab’ ich darumb die histori sollicher Innsel Edlen, Strengen, Ersamen Wysenherrn als waren liebhabern aller recht uffgesetzten policyen und burgerlichen Regiments, zu einem pfand (der Dankbarkeit), wie obanzeygt, uß der latinischen in die tütsche sprach, so ich in diser loblichen Statt Basel gelernet, transferieren wöllen.“

54. Wir haben allen Grund, anzunehmen, daß der Franzose sich auch nicht an das lateinische Original hielt, sondern an die englische Übersetzung von Burnet (von 1684). More berichtet (nach Amerigo Vespucci) von einem Kastell (castellum), in dem einige von Amerigos Gefährten an der Küste von Brasilien zurückblieben. Burnet übersetzt dies Kastell mit Neukastilien, und genau denselben sonderbaren Bock finden wir bei Kothe wieder. Sollte das nur Zufall sein? Oder sollte uns die Reclamsche Ausgabe nicht vielmehr die Übersetzung der Übersetzung einer Übersetzung der Utopia gegeben haben?

55. Dieses ist das Kastell, das Kothe frei nach Burnet in Neukastilien verwandelt, die Heimat Don Quixotes!

56. Wir glauben, „servus“ besser mit „Knecht“ zu übersetzen als mit „Sklave“. Robynson übersetzt servi mit „bondmen“, Cantiuncula mit „eygen Lüte“ oder „eygen Knecht“.

57. So breit waren zu Mores Zeit die idealen Straßen!

58. Was selten geschieht.

59. I.H. von Kirchmann erzählt uns in seinem unsäglich seichten Kommentar zu Platos Staat (Philosophische Bibliothek, 68. Heft), „daß Plato sich seinen Staat nicht als einen völlig von der übrigen Welt abgeschiedenen dachte, wie später Thomas Moore, Cabet und andere Utopisten ... Dadurch steht der Staat Platos auf einem viel konkreteren Boden wie jene späteren Utopien“ usw. In Wirklichkeit war More, wie wir oben gesehen, nicht so phantastisch, sich einen modernen Staat als „isolierten Staat“ vorzustellen. Der praktische Vertreter der Londoner Kaufmannschaft überließ das deutschen Gelehrten. An Herrn Kirchmann ersehen wir aber, was freilich nichts Neues, daß, um über den Sozialismus von oben herab mit Gelehrtendünkel abzusprechen, für manchen neueren „Philosophen“ nichts notwendig ist als völlige Unkenntnis des besprochenen Gebiets.

60. Es ist bezeichnend für die englische Prüderie, daß in der englischen Übersetzung des Raphe Robynson dieser ganze Absatz weggelassen ist.

61. Also jedenfalls Männer und Frauen.

62. More war weit entfernt von der Auffassung des Sozialismus als einer bloßen Magenfrage. Dieser ist ihm in erster Linie eine Kulturfrage, und er erhebt sich damit weit über manchen heutigen sogenannten Sozialisten, der annimmt, es handle sich den Arbeitern bloß darum, ihr tägliches Essen und Trinken gesichert zu sehen; wie etwa Rodbertus, dem die soziale Frage als bloße Lohnfrage erschien, so daß er nicht einmal von einem Normalarbeitstag etwas wissen wollte.

63. Diese „Anfangsgründe der Logik“ scheinen bei More schlecht angeschrieben gewesen zu sein. Er spricht davon in einem an Dorpius gerichteten Brief, der oft mit des Erasmus Moriae Encomium (Lob der Narrheit) zusammen gedruckt wurde. Es heißt da unter anderem: „Ich glaube, jene ›kleine Logik‹ hat ihren Namen daher, daß ihre Logik sehr klein ist“ (Liber ille parvorum logicalium, quem ideo sic appellatum puto, quod parum habet Logices. Das Wortspiel läßt sich nicht gut wörtlich übersetzen). Auch die Briefe der Dunkelmänner (Epistolae obscurorum virorum) erwähnen das Buch häufig. (Vergl. die Note S. 236 in der Cambridge-Ausgabe der Übersetzung der Utopia von Raphe Robynson.)

64. Die Goldschmiede waren zu Mores Zeiten oft Geldwechsler und Bankiers.



Zuletzt aktualisiert am 6.1.2012