Karl Kautsky


Die Agrarfrage




Erster Abschnitt
Die Entwicklung der Landwirthschaft in der kapitalistischen Gesellschaft


XI. Ausblick in die Zukunft


a) Die Triebkräfte der Entwicklung

Die bürgerliche Oekonomie legt bei der Untersuchung des Entwicklungsganges der Landwirthschaft das Schwergewicht auf das Verhältniß zwischen den, der Fläche nach, großen und kleinen Betrieben. Und da dieses Flächenverhältniß sich nur wenig verändert, spricht sie der Landwirthschaft im Gegensatz zur Industrie einen konservativen Charakter zu.

Die populäre sozialistische Auffassung dagegen sieht das revolutionirende Element der Landwirthschaft ihn Wucher, in der Verschuldung, die dem Bauern sein Eigenthum entfremdet und ihn von Haus und Hof treibt.

Wie unrichtig die erstere Auffassung, glauben wir nachgewiesen zu haben. Aber auch der zweiten möchten wir nicht bedingungslos zustimmen.

Die Verschuldung der Bauern ist ja bekanntlich keine der kapitalistischen Produktionsweise eigenthümliche Erscheinung. Sie ist so alt wie die Waarenproduktion und spielt eine große Rolle schon in jenem Zeitalter Griechenlands und Roms, in dem deren Geschichte aus dem sagenhaften in das urkundlich beglaubigte Stadium übergeht. Für sich allein ist das Wucherkapital nur im Stande, den Bauern unzufrieden und rebellisch zu machen, es bildet aber nicht die Triebkraft der Entwicklung zu einer höheren Produktionsweise. Erst wenn die kapitalistische Produktion erwächst, wenn der Konkurrenzkampf zwischen Großbetrieb und Kleinbetrieb sich entwickelt und der Besitz von mehr Geld die vortheilhaftere Produktion auf höherer Stufenleiter ermöglicht, erst da wird der Wucher zum Kredit, der die Wirkungskraft des Kapitals bedeutend steigert und die ökonomische Entwicklung beschleunigt. Aber auch da gilt dies mehr von der Industrie, als von der Landwirthschaft. In dieser behält das Kreditwesen zum überwiegenden Theile den Charakter der vorkapitalistischen Periode. Die Verschuldung des Grundbesitzes ist auch heute noch nur zum geringsten Theile durch das Bedürfniß nach Erweiterung und Verbesserung des Betriebs bestimmt, zum weitaus größten Theile ein Produkt der Noth und der Besitzveränderungen – Verkauf und Vererbung. Als solche fördert sie nicht nur nicht die ökonomische Entwicklung der Landwirthschaft, sondern hemmt sie, indem sie ihr die Mittel des Fortschritts entzieht. Insofern ist die bäuerliche Verschuldung nicht nur nicht revolutionär, sondern konservativ; sie ist nicht ein Mittel des Aufsteigens von der bäuerlichen zu einer höheren Produktionsweise, sondern ein Mittel, das die bäuerliche Produktionsweise auf der Stufe ihrer bisherigen Unvollkommenheit festhält.

Ist die Verschuldung auf dem Lande in Bezug auf die Produktionsweise mehr ein konservatives als ein revolutionäres Element, so oft auch in Bezug auf die Eigenthumsverhältnisse. Allerdings, wo eine neue Produktionsweise auftaucht, der das bäuerliche Eigenthum hindernd im Wege steht, da kann die Verschuldung ein Mittel werden, dessen Expropriation zu beschleunigen. Dies war der Fall im alten Rom, als der Ueberfluß kriegsgefangener Sklaven die Entwicklung der Plantagenwirthschaft begünstigte; es war der Fall in England zur Zeit der Reformation, als der Aufschwung des Wollhandels zur Ausdehnung der Schafweiden führte. Aber daß die Verschuldung da nur einer der Hebel der Expropriation, nicht ihre Triebkraft war, sehen wir schon daraus, daß z. B. zur Zeit der Reformation in Süddeutschland die Klagen über Verschuldung der Bauern noch lauter ertönten, als in England; trotzdem führte sie hier nicht zu einer merkbaren Expropriation der Bauernschaft. Die Personen der Besitzer einzelner Bauerngüter wechselten, diese selbst blieben. Der Wucher bewirkte hier wohl die Aussaugung, nicht aber eine Verminderung der Bauernschaft.

Die Umwälzung der Produktionsverhältnisse auf dem Lande, die der französischen Revolution und ihren Ausläufern folgte, gab auch dem Wucherkapital vielfach Gelegenheit zum Umsturz der Eigenthumsverhältnisse. Es unterstützte sowohl die Tendenz zum Großbetrieb, wie die zur Zersplitterung der Betriebe. Die Verschuldung der Bauern erleichterte den Großgrundbesitzern die Arrondirung ihrer Güter und die Ausdehnung des Waldlands. Auf der anderen Seite führte die steigende Nachfrage der wachsenden Landbevölkerung nach Wohnstätten und Landantheilen zur Güterschlächterei, zur Parzellirung verschuldeter Bauernhöfe, ein Prozeß, den viele Wucherer systematisch betrieben.

Beide Prozesse gehen noch fort, aber seitdem die überseeische Konkurrenz die Landwirthschaft unprofitabel macht, die Zunahme der Landbevölkerung ins Stocken gerathen, ja vielfach in eine Abnahme umgeschlagen ist, sind sie sehr verlangsamt worden. Die Grundrenten und Güterpreise steigen nicht mehr, abgesehen von begünstigten Lagen, z. B. in der Nähe von Städten oder Fabriken, sie haben begonnen zu fallen und drohen noch mehr zu fallen. Je mehr das eintritt, desto geringer das Interesse der Wucherkapitalisten, die verschuldeten Bauern zu expropriiren. Die Subhastation bedroht sie mit dem Verlust nicht nur ihrer Zinsen, sondern sogar eines Theils des Kapitals. Statt sie zu beschleunigen, suchen sie sie hinauszuschieben durch Stundung der Zinsen, oft durch neue Geldvorschüsse – ähnlich wie in England auch die habgierigsten und hartherzigsten Landlords durch die Agrarkrisis zur Stundung der schuldigen Pachtrenten, zur Herabsetzung der fernerhin zu zahlenden, zu Meliorationen, die sie selbst vornahmen, gezwungen wurden.

So berichtet z. B. in der Enquete des Vereins für Sozialpolitik über die bäuerlichen Zustände der Gutsbesitzer Winkelmann aus Westfalen:

„Bei der Zähigkeit, mit welcher der hiesige Bauer an seinem Erbe hängt, finden viele Wucherer es vortheilhafter, den Landmann für sich arbeiten zu lassen und ihm über das nackte Leben Alles zu nehmen, was er erarbeitet, als sich auf zweifelhafte Güterschlächterei einzulassen. In vielen unserer ärmeren Gebirgsgegenden fehlen zudem bereits die Käufer.“ (2. Bd., S. 11)

Die Verschuldung der Bauern, die vorwiegend ein Hemmniß der Revolutionirung der Produktionsverhältnisse auf dem Lande ist, bedeutet nicht immer eine Revolutionirung der Eigenthumsverhältnisse daselbst. Gerade die Agrarkrisis läßt auch in letzterer Beziehung ihre revolutionären Seiten momentan mehr zurücktreten. Aber jede neue erhebliche Aenderung der Produktionsverhältnisse wird wieder in der Verschuldung des Grundbesitzes einen Hebel finden, der ihr die Anpassung der Eigenthumsverhältnisse an die Produktionsbedingungen erleichtert.

Wo aber haben wir das bewegende Moment zu suchen, das jene Aenderung in der Produktionsweise nothwendig macht?

Die Antwort kann nach dem Ausgeführten nicht schwer fallen. Die Industrie bildet die Triebkraft nicht nur ihrer eigenen, sondern auch der landwirthschaftlichen Entwicklung. Wir haben gesehen, daß es die städtische Industrie war, die die Einheit von Industrie und Landwirthschaft auf dem Lande zerstörte, die den Landmann zum einseitigen Landwirth machte, zum Waarenproduzenten, welcher von den Launen des Marktes abhängt, die die Möglichkeit seiner Proletarisirung schuf.

Wir haben weiter gefunden, daß die Landwirthschaft der Feudalzeit sich in einer Sackgasse verrannte, aus der sie durch eigene Kraft sich nicht herausarbeiten konnte. Es war die städtische Industrie, welche die revolutionären Kräfte schuf, die gezwungen und im Stande waren, das feudale Regime niederzureißen und damit nicht nur der Industrie, sondern auch der Landwirthschaft neue Bahnen zu eröffnen.

Es war die Industrie, die dann die technischen und wissenschaftlichen Bedingungen der neuen, rationellen Landwirthschaft erzeugte, sie durch Maschinen und Kunstdünger, durch das Mikroskop und das chemische Laboratorium revolutionirte und dadurch die technische Ueberlegenheit des kapitalistischen Großbetriebs über den bäuerlichen Kleinbetrieb herbeiführte.

Neben dem qualitativen Unterschied zwischen Großbetrieb und Kleinbetrieb schuf aber die gleiche ökonomische Entwicklung noch einen anderen Unterschied: den zwischen Betrieben, die blos dem Eigenverbrauch des Haushalts dienen, und solchen, die vorwiegend oder doch zu einem wesentlich Theile für den Markt produziren. Die einen wie die anderen werden der Industrie unterworfen, aber auf verschiedenen Wegen. Für die ersteren ersteht die Nothwendigkeit des Gelderwerbs durch Verkauf der Arbeitskraft, Lohnarbeit oder Hausindustrie, wodurch die kleinen Landwirthe immer abhängiger von der Industrie werden, immer mehr sich der Lage von industriellen Proletariern nähern. Die waarenproduzirenden Betriebe aber sehen sich in wachsendem Maße ebenfalls gezwungen, zu einem industriellen Nebenerwerb zu greifen. Wohl wohnt dem technischen Fortschritt die Tendenz nach Verminderung der Produktionskosten inne, aber diese Tendenz wird in der kapitalistischen Landwirthschaft mehr als paralysirt durch Gegentendenzen, die sie immer mehr belasten: Wachsen der Grundrente, damit der Pachtzinsen hier, der Hypothekenverschuldung dort, Beförderung der letzteren oder der Bodenzersplitterung durch das Erbrecht, Wachsen der Aussaugung des Landes durch die Stadt, in Folge von Militarismus, Steuern, Absentismus &c., Ausraubung des Bodens, steigende Empfindlichkeit der Kulturthiere und -Pflanzen, endlich zunehmende Absorbirung der ländlichen Arbeiterschaft durch die Industrie, das sind Faktoren, die durch ihr vereintes Wirken, trotz des technischen Fortschritts, die Produktionskosten in der Landwirthschaft immer mehr aufschwellen lassen. Dies führt zunächst zu einem allgemeinen und stetigen Steigen der Lebensmittelpreise, damit aber auch zu einer Verschärfung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land, zwischen dem Grundbesitz und der Masse der Konsumenten.

Aber dieselbe industrielle Entwicklung, welche diese landwirthschaftlichen Verhältnisse geschaffen, wälzt sie noch weiter um durch Ausdehnung des Weltverkehrs und erzeugt die überseeische Lebensmittelkonkurrenz. Wo der Grundbesitz nicht stark genug, da stürzt sie sich mit voller Wucht auf ihn, wie in England, mildert aber gerade dadurch den Gegensatz zwischen ihm und der Masse der Konsumenten. Wo der Grundbesitz die Staatsgewalt sich dienstbar machen kann, da versucht er durch eine künstliche Lebensmittelvertheuerung die Preise wieder auf die alte Höhe der Produktionskosten hinaufzuschrauben, was ihm bei dem heutigen Weltverkehr und der internationalen Konkurrenz jedoch nirgends in genügender Weise gelingt und gelingen kann und blos dazu führt, den schon hochgespannten Gegensatz zwischen dem Grundbesitz und der Masse der Konsumenten, namentlich des Proletariats, noch mehr zu steigern.

Aber neben dem Grundbesitz leidet auch die Landwirthschaft, am meisten natürlich dort, wo der Landwirth auch der nominelle Grundbesitzer ist; sie greift nach den verschiedensten Produktionsmethoden, um die Produktion den neuen Verhältnissen anzupassen, kehrt hier zu extensiver Weidewirthschaft zurück und geht dort zu intensivstem Gartenbetrieb vor, schließlich aber findet sie überall als das rationellste Mittel die Vereinigung von Industrie und Landwirthschaft.

So kehrt die moderne Produktionsweise – allerdings in zwei Formen, der industriellen Lohnarbeit des Kleinbauern und der landwirthschaftlichen Industrie des größeren Landwirths – am Ende des dialektischen Prozesses wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück: zur Aufhebung der Scheidung von Industrie und Landwirthschaft. Aber war im primitiven bäuerlichen Betrieb die Landwirthschaft das ökonomisch entscheidende und führende Element, so hat sich jetzt das Verhältniß umgekehrt. Die kapitalistische Großindustrie herrscht und die Landwirthschaft hat ihren Geboten Folge zu leisten, ihren Bedürfnissen sich anzupassen. Die Richtung der industriellen Entwicklung wird maßgebend für die landwirthschaftliche. Ist die erstere dem Sozialismus zugewandt, so muß auch die letztere sich ihm zuwenden.

In jenen Gegenden aber, die rein landwirthschaftlich bleiben, die, sei es wegen der Unzugänglichkeit ihrer Gebiete oder ihrer Bewohner, dem Eindringen der Industrie verschlossen bleiben, dort geht die Bevölkerung zurück an Zahl, an Kraft, au Intelligenz, au Wohlstand, und mit ihr verarmt der Boden, verkommt der landwirthschaftliche Betrieb. Die reine Landwirthschaft hört in der kapitalistischen Gesellschaft auf, ein Element des Wohlstands zu bilden. Damit hört aber auch die Möglichkeit für die Bauernschaft aus, wieder auf einen grünen Zweig zu kommen.

Wie die landwirthschaftliche Bevölkerung der Feudalzeit, gerathen auch diese Elemente in eine Sackgasse, aus der sie durch eigenen Anstoß sich nicht befreien können, in der sie immer angstvoller und verzweifelnder sich zusammendrängen. Wie am Ende des 18. Jahrhunderts wird es auch diesmal die revolutionäre Bevölkerung der Städte sein müssen, die ihnen die Erlösung bringt und ihnen die Bahn eröffnet zur weiteren Entwicklung.

Während die kapitalistische Produktionsweise auf dem Lande die Bedingungen der Bildung einer revolutionären Masse zusehends erschwert, fördert sie sie in den Städten. Sie konzentrirt in diesen die Arbeitermassen, schafft dort günstige Vorbedingungen ihrer Organisation, ihrer geistigen Entwicklung, ihres Klassenkampfes. Sie entvölkert das flache Land, zerstreut die Landarbeiter über weite Flächen, isolirt sie, raubt ihnen die Mittel der geistigen Entwicklung und des Widerstands gegen den Ausbeuter. Sie konzentrirt in den Städten die Kapitalien in immer weniger Händen und drängt so förmlich zur Expropriation der Expropriateure. In der Landwirthschaft führt sie nur theilweise zur Konzentration der Betriebe, auf der anderen Seite zu ihrer Zersplitterung. In ihrem Fortschritt macht die kapitalistische Produktionsweise in jedem Lande früher oder später die Industrie zier Exportindustrie, der der innere Markt nicht genügt, die für den gesammten Weltmarkt produzirt. In demselben Maße reduzirt sie die reine Landwirthschaft zu einem Gewerbe, das nicht einmal den heimischen Markt behaupten kann, dessen Bedeutung neben der Weltproduktion immer mehr zurücktritt.

Je mehr also die kapitalistischen Eigenthums- und Aneignungsformen und Interessen in Widerspruch gerathen mit den Bedürfnissen der Landwirthschaft, je mehr sie diese belasten, ja herabdrücken, je dringender für diese die Zertrümmerung der kapitalistischen Formen, die Niederwerfung der kapitalistischen Interessen wird, desto weniger ist sie im Stande, die nöthigen Kräfte und Organisationskeime aus sich selbst zu entwickeln, desto mehr bedarf sie des Anstoßes durch die revolutionären Kräfte der Industrie.

Und an diesem Anstoß wird es nicht fehlen. Das industrielle Proletariat kann sich nicht selbst befreien, ohne die landwirthschaftliche Bevölkerung mit zu befreien.

Die menschliche Gesellschaft ist ein Organismus, kein thierischer oder pflanzlicher, sondern ein eigenartiger, aber nichtsdestoweniger ein Organismus und kein bloßes Aggregat von Individuen, und als ein Organismus muß sie einheitlich organisirt sein. Es ist eine Absurdidät, zu glauben, in einer Gesellschaft könne ein Theil sich in der einen Richtung entwickeln und ein anderer, ebenso wichtiger, in entgegengesetzter Richtung. Sie kann sich nur in ein er Richtung entwickeln. Aber es ist nicht nothwendig, daß jeder Theil des Organismus aus sich selbst die zu seiner Entwicklung nöthige Triebkraft hervorbringt, es genügt, daß eine Stelle des Organismus die erforderlichen Kräfte für die Gesammtheit erzeugt.

Geht die Entwicklung der Großindustrie in der Richtung zum Sozialismus und ist sie die herrschende Macht in der heutigen Gesellschaft, dann wird sie auch jene Gebiete für den Sozialismus ergreifen und seinen Bedürfnissen anpassen, die nicht fähig sind, aus sich selbst heraus die Vorbedingungen dieser Umwälzung zu erzeugen. Sie muß dies thun, im eigenen Interesse, im Interesse der Einheitlichkeit, der Harmonie der Gesellschaft.

Niemand könnte der modernen Gesellschaft ein schlimmeres Prognostikon stellen, als jene bürgerlichen Oekonomen, die da triumphirend verkünden: der Weg der Industrie mag zum Sozialismus führen, der Weg der Landwirthschaft führt zum „Individualismus“. Wäre dies richtig und erwiese sich die Landwirthschaft als stark genug, den Sozialismus von sich abzuwehren, ohne doch der Industrie den „Individualismus“ aufdrängen zu können, dann bedeutete das nicht die Rettung, sondern den Untergang der Gesellschaft, den Bürgerkrieg in Permanenz.

Zum Glück für die menschliche Gesellschaft findet dieser letzte Nothanker der kapitalistischen Ausbeutung keinen Boden, in dem er haften könnte.
 

b) Die Elemente der sozialistischen Landwirthschaft

Wir gehen von dem Grundsatze aus, daß die Entwicklung der modernen Industrie mit Nothwendigkeit zum Sozialismus führt. Den Beweis dafür zu liefern, würde ein ganzes Buch erfordern; er ist bereits in den grundlegenden Werken des wissenschaftlichen Sozialismus, vor Allem im Kapital geliefert. Hier wollen wir nur in etwas konkreter Weise anzudeuten suchen, wie die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und die daraus folgende Vergesellschaftlichung der Industrie auf die Landwirthschaft wirken muß.

Wir sagen absichtlich Vergesellschaftlichung und nicht Verstaatlichung der Industrie. Dabei sei ganz abgesehen von der Frage, ob eine sozialistische Gesellschaft ein Staat sein kann; in ihren Anfängen wird sie gewiß ein Staat sein; die Staatsgewalt soll ja gerade der mächtigste Hebel der sozialen Umwälzung werden. Aber diese Umwälzung bedeutet genau genommen keineswegs die Verstaatlichung, sondern blos die Vergesellschaftlichung der gesammten Produktion und der Produktionsmittel; sie sollen aufhören privates Eigenthum zu sein und gesellschaftliches Eigenthum werden; aber es hängt von ihrer gesellschaftlichen Bedeutung ab, welcher Gesellschaft sie zur Ausnutzung zufallen. Produktionsmittel, die lokalen Bedürfnissen dienen, etwa Bäckereien, Beleuchtungsanstalten, Straßenbahnen, werden eher zu kommunalem als zu staatlichem Besitz taugen, während anderseits eine Reihe von Produktionsmitteln (zu denen natürlich auch Verkehrsmittel gehören) eine internationale Bedeutung gewinnen, internationaler Besitz werden können, wie etwa der Suez- oder der Panamakanal. Die entscheidenden Produktionsmittel werden freilich in staatliches Eigenthum übergehen, wie auch der moderne Staat allein den Rahmen für die sozialistische Gesellschaft abgeben, sowie die Bedingungen schaffen kann, durch die kommunale oder genossenschaftliche Betriebe zu Gliedern sozialistischer Produktion werden.

Erstreckt sich die Vergesellschaftlichung zunächst auch nur auf die kapitalistische Großindustrie, so ist es doch klar, daß sie dadurch auch jede Landwirthe, die von ihrer Landwirthschaft allein nicht leben können, die zu einem Nebenerwerb gezwungen sind, in gesellschaftliche Arbeiter verwandelt, auch wenn sie deren Grundeigenthum nicht im Geringsten antastet. Die Vergesellschaftlichung der Bergwerke und Ziegelhütten z. B. verwandelt die Hunderttausende von Zwergwirthen, die auf Bergarbeit oder Zieglerarbeit augewiesen sind, um das Defizit ihres landwirthschaftlichen Betriebs zu decken, aus kapitalistischen Lohnarbeitern in Arbeiter der Gesellschaft. Aus der anderen Seite werden ohne jede Expropriirung durch einfache Vergesellschaftlichung der Zuckerfabriken die Kleinbauern aus Theilarbeitern eines kapitalistischen zu Theilarbeitern eines gesellschaftlichen Betriebs. Das gleiche gilt für das Verhältniß der Milchproduzenten gegenüber den Butter- und Käsefabriken, die heute immer mehr kapitalistischen Charakter annehmen müssen u. s. w. Aber die Vergesellschaftlichung der industriellen Großbetriebe muß durch ihre Vereinigung in einer Hand auch Landwirthe in gesellschaftliche Theilarbeiter verwandeln, die heute unter der freien Konkurrenz selbständig auf dem Markte auftreten. Sind alle Bierbrauereien in eine Hand vereinigt, so sind die Hopfen- und Malzproduzenten dadurch ohne Weiteres in dasselbe Verhältniß zu den Brauereien gebracht, wie die Rübenbauern zu den Zuckerfabriken. Ebenso muß sich das Verhältniß zwischen Getreideproduzenten und gesellschaftlichen Mahlmühlen, zwischen Weinbauern und gesellschaftlichen Weinkellern u. s. w. gestalten.

Heute schon ist die Abhängigkeit der ländlichen Produzenten von den Großbetrieben dieser Art eine bedeutende; deren Verwandlung aus kapitalistischem in gesellschaftliches Eigenthum muß daher für den Landwirth, namentlich den kleinen, ebenso eine Erlösung bedeuten, wie die Vergesellschaftlichung der Bergwerke &c. für den Lohnarbeit leistenden Zwergwirth.

Hand in Hand mit der zunehmenden Industrialisirung der Landwirthschaft geht die Verselbständigung der Grundrente gegenüber dem Kapitalprofit, des Grundeigenthums gegenüber der Landwirthschaft einerseits in der Form des Pachtwesens, anderseits in der der Hypothekenschulden. Ein proletarisches Regime muß unbedingt zur Vergesellschaftlichung des Grundeigenthums in diesen beiden Formen führen, zur Vergesellschaftlichung des in Pacht ausgegebenen Bodens und der Hypotheken. Je mehr der Großgrundbesitz entwickelt ist (in den Ländern des Pachtsystems) und je mehr die Hypothekenschulden in wenigen Händen konzentrirt sind, desto mehr auch dieser Prozeß ebenso wie die Vergesellschaftlichung der landwirthschaftlichen Industrien von den Landwirthen als Erlösung betrachtet und freudig begrüßt werden.

Endlich aber muß ein proletarisches Regime auch zur Vergesellschaftlichung der landwirthschaftlichen Großbetriebe führen, die auf der Ausbeutung von Lohnarbeitern beruhen. Es ist richtig, daß der Großbetrieb in der Landwirthschaft nicht in gleicher Weise im Vordringen ist, wie in der Industrie. Aber es ist entschieden falsch, eine Verdrängung des Großbetriebs durch den bäuerlichen Betrieb zu erwarten. Großbetrieb und Kleinbetrieb bedingen einander in der kapitalistischen Landwirthschaft.

Der selbständige bäuerliche Betrieb ist unhaltbar geworden; er kann sich nur behaupten in Anlehnung an einen Großbetrieb. Wo industrielle Großbetriebe in der Nähe, die den Bauern als Lohnarbeiter oder Theilarbeiter beschäftigen, wird er deren Sklave. Wo solche nicht vorhanden, bedarf er eines landwirthschaftlichen Großbetriebs, soll er nicht im äußersten Elend versinken. Wohl leidet der Großbetrieb auf dem Lande unter der Landflucht mehr als der Kleinbetrieb, aber auch die bäuerliche Familie beginnt dadurch aufgelöst zu werden, und ihr stehen nicht die Mittel zu Gebote, durch vermehrte Anwendung von Maschine wenigstens einigermaßen dem Mangel an Arbeitskräften abzuhelfen. und wenn die Agrarkrisis auch die kapitalarmen Großgrundbesitzer eher expropriirt als die Bauern, so liefert die immer rascher fortschreitende Akkumulation des Kapitals genug Kapitalisten, die aus der Vereinigung landwirthschaftlicher mit industrieller Ausbeutung Gewinn zu ziehen wissen, was ihnen selbstverständlich nur im Rahmen des großen, nicht des bäuerlichen Betriebs möglich ist.

So wenig wir daher in der Landwirthschaft auf eine rasche Aufsaugung der Kleinbetriebe durch die Großbetriebe rechnen dürfen, so haben wir noch weniger Ursache, den entgegengesetzten Prozeß zu erwarten. Die Statistik zeigt uns in der That nur minimale Verschiebungen in dem Verhältniß der einzelnen Größenkategorien, Verschiebungen, die vielfach durch Veränderungen der Betriebsweise – größere Intensität des Betriebs – und nicht durch ökonomischen Rückgang zu erklären sind. Wenn in Deutschland der Antheil der Betriebe mit mehr als 50 Hektar an der landwirthschaftlich benutzten Fläche von 1882 bis 1895 von 33,00 Prozent auf 32,56 Prozent, also um nicht ganz ein halbes Prozent, herabgegangen ist, so hat sich in Frankreich von 1882 bis 1892 der Antheil der Betriebe von mehr als 40 Hektar an der Kulturfläche von 44,96 Prozent auf 45,56 Prozent, also um über ein halbes Prozent, vergrößert.

Das sind ganz unbedeutende Differenzen. Hier aber wie dort nimmt der Großbetrieb einen ganz bedeutenden Antheil des Bodens, fast ein Drittel hier, fast die Hälfte dort, ein. An diesen Betrieben waren aber in Frankreich 1882 nur 142.000 (von 5.672.000 Landwirthen, also 2,51 Prozent), 1892 gar nur 139.000 (von 5.703.000, also 2,42 Prozent) Besitzer interessirt, in Deutschland 1882 66.614 (von 5.276.344 Landwirthen, also 1,20 Prozent), 1893 67.185 (von 5.558.317, also 1,21 Prozent). Daß diese Betriebe in gesellschaftliches Eigenthum übergehen, wenn die Fortführung des Lohnsystems unmöglich wird, unterliegt wohl keinem Zweifel. Damit allein aber erhält die Gesellschaft bereits die Verfügung über ein Drittel bis zur Hälfte des landwirthschaftlichen Bodens.

Die große Bodenfläche des landwirthschaftlichen Großbetriebs, dessen kapitalistischer Charakter sich immer mehr entwickelt, die Zunahme des Pacht- und Hypothekenwesens die Industrialisirung der Landwirthschaft, das sind die Elemente, die den Boden vorbereiten für die Vergesellschaftlichnug der landwirthschaftlichen Produktion, welche aus der Herrschaft des Proletariats ebenso sicher entspringen muß, wie die Vergesellschaftlichung der industriellen Produktion, mit der sie immer mehr zu einer höheren Einheit verschmilzt.

Zugleich mit diesen gesellschaftlichen Elementen sozialistischer Landwirthschaft entfalten sich auch ihre technischen. Wir haben gesehen, wie die moderne Wissenschaft und die moderne Technik sich der Landwirthschaft bemächtigen und sie umwälzen und wie der moderne landwirthschaftliche Großbetrieb seinen Höhepunkt erreicht im kapitalistischen Latifundium, von dem wir (im 7. Kapitel) eine ausführliche Darstellung gegeben haben. Aber so wie die vollendete Technik der englischen Landwirthschaft im vorigen Jahrhundert nur auf wenigen Gütern gedeihen konnte, die dem vernichtenden Drucke des feudalen Eigenthums nicht unterlagen, so kann die moderne Technik sich nur auf vereinzelten Gütern entwickeln. Es bedarf wieder einer sozialen Revolution, um sie zu verallgemeinern und jene Hindernisse der Entwicklung wegzuräumen, die die Landwirthschaft nach kurzem Aufschwung verkümmern lassen. Der Sieg des Proletariats bedeutet die Aufhebung des Militarismus und der großstädtischen Zentralisation. Die Vergesellschaftlichung der großen Güter befreit diese von den Lasten des Erbrechte und des Absentismus. Die Ersetzung der Lohnsklaverei durch die Arbeit freier Genossenschafter führt aber auch den ländlichen Großbetrieben jenes Element des Gedeihens zu, das für sie am wichtigsten und dessen Fehlen heute ihre Entwicklung am meisten hindert: ausreichende, intelligente, willige und sorgsame Arbeitskräfte.

Die Landflucht hört auf, sobald der Arbeiter auf dem Lande ausreichende Arbeit findet und diese ihm den gleichen Wohlstand, die gleichen Kulturbedingungen verschafft, wie die städtische Arbeit. Sie hört um so mehr auf, je mehr die Industrie sich mit der Landwirthschaft verbindet und an Stelle der Waarenproduktion und des Handels, die nach ökonomischer Zentralisation in den Großstädten streben, die Produktion durch die Gesellschaft und für die Gesellschaft tritt, was eine gleichmäßige Vertheilung der Produktionsstätten über das ganze Land ermöglicht und so dem mörderischen Zusammendrängen der Bevölkerung in den Großstädten ein Ende zu machen erlaubt. Die Vereinigung von Industrie und Landwirthschaft, die in der industriellen Lohnarbeit der Kleinbauern und Häusler die erste dürftigste Form ihres Wiederauflebens findet, die in dem industriellen Nebengewerbe des Landwirths, das seine Rohprodukte verarbeitet, bereits vollkommener auftritt und heute ihren Höhepunkt erreicht im modernen Latifundium, wird dann allgemeines Gesetz der gesammten gesellschaftlichen Produktion werden.

Der selbständige landwirthschaftliche Kleinbetrieb verliert nun seinen letzten Halt. Wir haben die drei Formen kennen gelernt, unter denen er sich behauptet: durch einen industriellen Nebenerwerb, durch Lohnarbeit beim landwirthschaftlichen Großbetrieb, und, wo das eine wie das andere mangelt, wo der Kleinbauer reiner Landwirth bleibt, wo er dem Großbetrieb nicht an Lohnarbeiter sondern als Konkurrent entgegentritt, durch Ueberarbeit und Unterkonsumtion, durch die Barbarei, wie Marx sagt. Durch den Uebergang der kapitalistischen Betriebe in gesellschaftliches Eigemhum gerathen auch die landwirthschaftlichen Kleinbetriebe der ersteren wie die der zweiten Art in Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Produktion, werden von dieser aufgesogen oder in ihre Anhängsel verwandelt.

Die selbständigen, rein landwirthschaftlichen Kleinbetriebe verlieren dann aber jede Anziehungskraft für ihre Besitzer. Heute schon ist die Lage des städtischen Proletariats dem kleinbäuerlichen Barbarenthum so weit überlegen, daß die junge bäuerliche Generation ebenso gut die Landflucht ergreift, wie die ländliche Lohnarbeiterschaft. Wenn rings um sie herum sozialistische Latifundien erstehen, die nicht mehr von dürftigen Lohnsklaven bebaut werden, sondern von wohlhabenden Genossenschaften freier, froher Menschen, dann wird au stelle der Flucht von der Parzelle in die Stadt, die noch viel raschere Flucht von der Parzelle zum genossenschaftlichen Großbetrieb treten und die Barbarei aus ihren letzten Festungen vertrieben werden, in denen sie heute inmitten der Zivilisation sich unnahbar breit macht.

Nicht seine Expropriation wird der sozialistische Großbetrieb dem Kleinbauern bringen, sondern die Erlösung aus einer Hölle, an die ihn sein Privateigenthum heute fesselt.

Die gesellschaftliche Entwicklung geht in der Landwirthschaft in derselben Richtung, wie in der Industrie. Die gesellschaftlichen Bedürfnisse wie die gesellschaftlichen Bedingungen drängen hier wie dort zum gesellschaftlichen Großbetrieb, dessen höchste Form Landwirthschaft und Industrie zu einer festen Einheit vereinigt.


Zuletzt aktualisiert am 27.2.2012