Georgi Plechanow


Über materialistische Geschichtsauffassung



II

„Aber“, wird uns wohl Herr Kudrin sagen, „nach der vielen Schülern eigentümlichen Gewohnheit nehmen Sie zu Paradoxen, Wortspielen, Spiegelfechtereien und Schwertschlucken Zuflucht. Bei Ihnen haben sich die Idealisten als ökonomische Materialisten entpuppt. Wie soll man aber in diesem Fall die echten und konsequenten Materialisten verstehen? Lehnen diese etwa den Gedanken der Vorherrschaft des ökonomischen Faktors ab? Erkennen sie denn an, daß neben diesem Faktor in der Geschichte noch andere Faktoren wirken, und daß wir vergeblich nachspüren würden, welcher der Faktoren über die anderen herrscht? Man muß sich über die echten und konsequenten Materialisten nur freuen, wenn sie in der Tat keine Neigung haben, überall den ökonomischen Faktor anzubringen.“

Dem Herrn Kudrin werden wir zur Antwort geben, daß die echten und konsequenten Materialisten in der Tat keine Neigung haben, überall mit dem ökonomischen Faktor anzutanzen. Ja, die Frage selbst, welcher Faktor im gesellschaftlichen Leben vorherrsche, scheint ihnen eine unbegründete Frage zu sein. Aber Herr Kudrin soll nicht vorzeitig frohlocken. Die echten und konsequenten Materialisten sind zu dieser Überzeugung keineswegs unter dem Einfluß der Herren Volkstümler und Subjektivisten gelangt. Für die Einwände, die diese Herren gegen den Gedanken der Vorherrschaft des ökonomischen Faktors vorbringen, haben die echten und konsequenten Materialisten nur ein Lächeln übrig. Außerdem sind die Herren Volkstümler und Subjektivisten mit diesen Einwänden zu spät gekommen. Wie unangebracht die Frage ist, welcher Faktor im gesellschaftlichen Leben vorherrsche, ist schon seit den Zeiten Hegels in Erscheinung getreten. Der Hegelsche Idealismus schloß selbst die Möglichkeit derartiger Fragen aus. Um so mehr schließt sie unser heutiger dialektischer Materialismus aus. Seitdem die Kritik der kritischen Kritik erschienen ist und insbesondere seit dem Erscheinen des bekannten Buches Zur Kritik. der politischen Ökonomie konnten sich nur noch theoretisch rückständige Menschen über die Frage nach der relativen Bedeutung der verschiedenen sozial-historischen Faktoren herumstreiten. Wir wissen, daß unsere Worte nicht allein den Herrn Kudrin in Erstaunen setzen werden, und deshalb beeilen wir uns, deutlicher zu werden.

Was bedeutet das: sozial-historische Faktoren? Wie entsteht die Vorstellung von diesen?

Nehmen wir ein Beispiel. Die Bruder Gracchus sind bestrebt, dem für Rom verderblichen Prozeß des Raubs der gesellschaftlichen Ländereien durch die römischen Reichen Einhalt zu gebieten. Die Reichen leisten den Gracchen Widerstand. Es entspinnt sich ein Kampf. Jede der kämpfenden Parteien verfolgt leidenschaftlich ihre Ziele. Wollte ich diesen Kampf schildern, so könnte ich ihn als einen Kampf menschlicher Leidenschaften darstellen. Dann würden die Leidenschaften als die „Faktoren“ der inneren Geschichte Roms erscheinen. Aber sowohl die Gracchen selber als auch ihre Gegner benutzten im Kampfe die Mittel, die ihnen das römische Staatsrecht gab. Ich werde das natürlich in meiner Schilderung nicht vergessen, und so wird sich da s römische Staatsrecht ebenfalls als Faktor der inneren Entwicklung der römischen Republik erweisen.

Weiter: die Leute. die gegen die Gracchen kämpften, waren an der Aufrechterhaltung des tief eingewurzelten Mißbrauchs materiell interessiert.

Die Leute, die die Gracchen unterstützten, waren an der Beseitigung des Mißstands materiell interessiert. Ich werde auch auf diesen Umstand hinweisen, so daß der von mir geschilderte Kämpf als Kampf materieller Interessen, als Kampf von Klassen, als Kampf ä er Armen gegen die Reichen erscheinen wird. Folglich habe ich schon einen dritten Faktor, und diesmal den interessantesten: den berühmten ökonomischen Faktor. Wenn Sie Zeit und Lust haben, können Sie, lieber Leser, sich weitläufigen Betrachtungen über das Thema hingeben, welcher Faktor der inneren Entwicklung Roms es war, der gerade über alle übrigen dominierte: in meiner geschichtlichen Darstellung werden Sie Material genug finden, uni eine beliebige Auffassung diesbezüglich zu vertreten.

Was mich selbst betrifft, so will ich einstweilen die Rolle des einfachen Erzählers nicht aufgeben, – ich werde mich wegen der Faktoren nicht allzusehr ereifern. Ihre relative Bedeutung interessiert mich nicht. Als Erzähler brauche ich das eine: möglichst genau und lebendig die betreffenden Geschehnisse darzustellen: Dazu muß ich einen gewissen, wenn auch nur äußerlichen Zusammenhang zwischen ihnen herstellen und sie von einer gewissen Perspektive aus gruppieren. Wenn ich die Leidenschaften erwähne, die die kämpfenden Parteien bewegten, oder die damalige Verfassung Roms, oder endlich die dort bestehende Ungleichheit des Besitzes, so tue ich das einzig und allein im Interesse einer zusammenhängenden und lebendigen Schilderung der Ereignisse. Sobald ich dieses Ziel erreicht habe, werde ich mich vollkommen befriedigt fühlen und werde es gleichgültig den Philosophen überlassen zu entscheiden, ob die Leidenschaften über die Ökonomie dominieren, oder die Ökonomie über die Leidenschaften, oder schließlich keines über das andere, da jeder „Faktor“ sich die goldene Regel zunutze macht: leben und leben lassen.

All das wird dann der Fall sein, wenn ich in der Rolle des einfachen Erzählers verbleibe, dem jede Neigung zum Klügeln und Spekulieren fremd ist. Wie aber, wenn ich mich auf diese Rolle nicht beschränke, wenn ich über die von mir beschriebenen Ereignisse zu philosophieren beginne? Dann begnüge ich mich nicht mehr mit dem äußeren Zusammenhang der Ereignisse; dann werde ich ihre inneren Ursachen aufdecken wollen, und gerade diejenigen Faktoren – die menschlichen Leidenschaften, das Staatsrecht, die Ökonomie – die ich früher hervorhob und in den Vordergrund stellte, als ich mich fast nur von künstlerischem Trieb leiten ließ, werden in meinen Augen eine neue gewaltige Bedeutung gewinnen. Sie werden mir gerade als die gesuchten. inneren Ursachen erscheinen, gerade als diejenigen „verborgenen Kräfte“, durch deren Einfluß die Geschehnisse auch zu erklären sind. Ich werde dann eine Theorie der Faktoren aufstellen.

Die eine oder die andere Spielart dieser Theorie muß tatsächlich überall dort entstehen, wo Menschen, die sich für die gesellschaftlichen Erscheinungen interessieren, von der einfachen Betrachtung und Beschreibung dieser Erscheinungen zu der Erforschung des zwischen ihnen bestehenden Zusammenhanges übergehen.

Die Theorie der Faktoren wächst außerdem zugleich mit der wachsenden Arbeitsteilung in der Gesellschaftswissenschaft. Sämtliche Zweige dieser Wissenschaft – Ethik, Politik, Recht, politische Ökonomie u.a. – behandeln eines und dasselbe: die Tätigkeit des gesellschaftlichen Menschen. Aber jeder von ihnen behandelt sie von seinem besonderen Standpunkt aus. Herr Michailowski würde sagen, daß jeder dieser Zweige über eine besondere „Saite“ „verfüge“. Jede „Saite“ kann als Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet werden. Und in der Tat, wir können jetzt fast ebenso viele Faktoren aufzählen, wie es einzelne „Disziplinen“ in der gesellschaftlichen Wissenschaft gibt.

Nach dem Gesagten wird es hoffentlich klar, was die sozial-historischen Faktoren sind und wie die Vorstellung über sie entsteht.

Der sozial-historische Faktor ist eine Abstraktion, die Vorstellung von ihm entsteht auf dem Wege des Abstrahierens. Dank dem Prozeß des Abstrahierens nehmen die verschiedenen Seiten des gesellschaftlichen Ganzen die Gestalt gesonderter Kategorien an, und die verschiedenen Äußerungen und Ausdrucksarten der Tätigkeit des gesellschaftlichen Menschen – Moral, Recht, ökonomische Formen usw. – werden in unserem Kopfe zu besonderen Kräften, die gleichsam diese Tätigkeit hervorrufen und bedingen, die als ihre letzten Ursachen erscheinen.

Ist einmal die Theorie der Faktoren entstanden, so müssen notgedrungen Diskussionen darüber entstehen, welcher Faktor als der dominierende zu betrachten sei.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008