Georgi Plechanow


Über materialistische Geschichtsauffassung



VIII

Die Organisation jeder gegebenen Gesellschaft wird durch den Zustand ihrer Produktivkräfte bestimmt. Mit der Veränderung dieses Zustandes muß sich früher oder später unbedingt auch die gesellschaftliche Organisation verändern. Folglich befindet sie sich in einem labilen Gleichgewicht überall dort, wo die gesellschaftlichen Produktivkräfte im Wachsen begriffen sind. Labriola bemerkt sehr richtig, daß es namentlich diese Unbeständigkeit ist, die gemeinsam mit den von ihr erzeugten gesellschaftlichen Bewegungen und Kämpfen der gesellschaftlichen Klassen die Menschen vor geistiger Stagnation bewahrt. Der Antagonismus ist die Hauptursache des Fortschritts, sagt er, den Gedanken eines sehr bekannten deutschen Ökonomen [1*] wiederholend. Aber hier macht er eine Einschränkung. Seiner Meinung nach wäre es falsch sich vorzustellen, daß die Menschen stets und unter allen Umständen ihre Lage genau erkennen und klar die gesellschaftlichen Aufgaben sehen, vor die sie gestellt werden. „So denken“, sagt er, „hieße etwas Unwahrscheinliches, etwas noch nie Dagewesenes voraussetzen.“

Wir bitten den Leser, sein Augenmerk auf diese Einschränkung zu lenken. Labriola entwickelt seine Gedanken folgendermaßen:

„Die Rechtsformen, die politischen Aktionen und die Versuche der Organisation der Gesellschaft waren und sind mitunter zutreffend, mitunter aber verfehlt, d.h. mit der betreffenden Lage nicht übereinstimmend, ihr nicht entsprechend. Die Geschichte ist voller Fehlschläge. Das bedeutet: wenn alles in ihr bei einer gewissen geistigen Entwicklung derjenigen, die gewisse Schwierigkeiten zu überwinden oder gewisse Aufgaben zu bewältigen hatten, notwendig war, und wenn alles in der Geschichte seinen zureichenden Grund hat, so war nicht alles vernünftig in dem Sinne, den die Optimisten diesem Worte beimessen. Nach Verlauf einer bestimmten Zeit haben die Grundursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen, d.h. die veränderten ökonomischen Bedingungen, mitunter auf weiten Umwegen, zu solchen Rechtsformen, zu einer solchen politischen Verfassung und einer solchen gesellschaftlichen Organisation geführt – und führen auch jetzt noch – die der neuen Lage entsprechen. Man soll aber nicht glauben, daß die instinktive Weisheit des vernunftbegabten Tieres sich sic et simpliciter [2*] in einem klaren und vollständigen Begreifen jeder Lage äußerte und sich jetzt noch äußert, und daß, sobald eine ökonomische Struktur gegeben ist, wir auf sehr einfachem logischem Wege aus ihr alles übrige ableiten können. Durch die Unwissenheit – die ihrerseits erklärt werden kann - läßt sich in hohem Grade erklären, warum die Geschichte diesen und nicht einen anderen Verlauf genommen hat. Zu der Unwissenheit kommen die groben Instinkte hinzu, die der Mensch von seinen Ahnen, den Tieren, geerbt hat, und die bei weitem noch nicht überwunden sind, ferner alle Leidenschaften, alle Ungerechtigkeiten und all die verschiedenen Formen der Verderbtheit, die ganze Verlogenheit und Heuchelei, der ganze Zynismus, die in einer Gesellschaft, die auf der Unterwerfung des Menschen durch den Menschen basiert, unvermeidlich entstehen mußten und entstehen. Ohne uns Utopien hinzugeben, können wir voraussehen, und sehen tatsächlich voraus, daß in Zukunft eine Gesellschaft entstehen wird, die, nach den Gesetzen der historischen Bewegung, aus der modernen Gesellschaftsordnung – und namentlich aus den Widersprüchen dieser Ordnung – entstanden, keinen Klassenantagonismus mehr kennen wird ... Aber das ist Sache der Zukunft und nicht der Gegenwart oder der Vergangenheit ... Mit der Zeit wird die richtig organisierte gesellschaftliche Produktion das Leben von der Herrschaft des blinden Zufalls befreien, jetzt aber ist der Zufall die vielgestaltige Ursache aller möglichen, unerwarteten Geschehnisse und unvorhergesehener Verflechtungen von Ereignissen. [1]

All das hat viel Zutreffendes an sich. Aber die Wahrheit selbst nimmt hier, sich wunderlich mit dem Irrtum verflechtend, die Form eines nicht ganz gelungenen Paradoxons an.

Labriola hat unbedingt recht, wenn er meint, daß die Menschen bei weitem nicht immer ihre gesellschaftliche Lage erkennen und nicht immer richtig die gesellschaftlichen Aufgaben erfassen, die sich aus dieser Lage ergeben. Wenn er aber aus diesem Grunde Unwissenheit oder Aberglauben als die historische Ursache der Entstehung vieler Formen des Gemeinlebens und vieler Gebräuche bezeichnet, so kehrt er, ohne es selbst zu merken, zum Standpunkt der Aufklärer des 18. Jahrhunderts zurück. Bevor er auf die Unwissenheit als eine der Hauptursachen hinweist, die uns zu erklären haben, „warum die Geschichte diesen und nicht einen anderen Verlauf genommen hat“, sollte man feststellen, in welchem Sinne nämlich dieses Wort hier gebraucht werden kann. Es wäre ein großer Irrtum anzunehmen, daß dieses selbstverständlich sei. Nein, das ist keineswegs so selbstverständlich und so einfach, wie es den Anschein hat. Man betrachte das Frankreich des 18. Jahrhunderts. Alle denkenden Vertreter seines dritten Standes streben heiß nach Freiheit und Gleichheit. Um dieses Ziel zu erreichen, fordern sie die Aufhebung vieler veralteter gesellschaftlicher Einrichtungen. Die Aufhebung dieser Einrichtungen bedeutete aber den Sieg des Kapitalismus, der, wie uns das jetzt sehr gut bekannt ist, wohl kaum als Reich der Freiheit und Gleichheit zu bezeichnen ist. Man könnte also sagen, daß das edle Ziel der Philosophen des vorigen Jahrhunderts nicht erreicht worden ist. Man könnte auch sagen, daß die Philosophen es nicht verstanden haben, die zur Erreichung dieses Zieles notwendigen Mittel aufzuzeigen, man könnte ihnen deshalb Unwissenheit vorwerfen, wie das auch viele utopische Sozialisten getan haben. Labriola selbst ist erstaunt über den Widerspruch zwischen den wirklichen ökonomischen Tendenzen des damaligen Frankreich und den Idealen seiner Denker. „Ein seltsames Schauspiel, ein seltsamer Kontrast!“ ruft er aus. Aber was ist dabei seltsam? Und worin bestand denn die „Unwissenheit“ der französischen Aufklärer? Etwa darin, daß sie von den Mitteln zum Erreichen des allgemeinen Wohlergehens eine andere Auffassung hatten, als wir zu unserer Zeit haben? Aber damals konnte ja von diesen Mitteln nicht die Rede sein: die historische Entwicklung der Menschheit, d.h. richtiger die Entwicklung ihrer Prodüktivkräfte, hatte diese Mittel noch nicht geschaffen. Man lese Doutes proposés aux philosophes éonomistes von Mably, man lese Code de la nature von Morelli, und man wird sehen, daß diese Verfasser, insoweit sie mit der gewaltigen Mehrheit der Aufklärer in den Auffassungen über die Bedingungen des menschlichen Wohlergehens auseinandergingen, soweit sie von einer Vernichtung des Privateigentums träumten, – daß sie erstens in einen offenen und schreienden Gegensatz zu den wesentlichsten, dringendsten und gesamtnationalen Interessen ihrer Epoche gerieten, und zweitens, daß sie selber ihre Träume für vollkommen unrealisierbar hielten, da sie es unklar ahnten. Folglich, noch einmal: worin bestand denn die Unwissenheit der Aufklärer? Etwa darin, daß sie, die die gesellschaftlichen Interessen ihrer Zeit erkannten und die Methoden zu ihrer Befriedigung richtig aufzeigten (Aufhebung der alten Privilegien u.a.), diesen Methoden eine höchst übertriebene Bedeutung beimaßen, d.h. sie als den Weg zum allgemeinen Glück betrachteten? Das wäre noch keine allzu plumpe Unwissenheit, und praktisch gesehen müßte man sie sogar als nicht ganz nutzlos bezeichnen, denn je mehr die Aufklärer von der universellen Bedeutung der von ihnen geforderten Reformen überzeugt waren, desto energischer mußten sie sie verfechten.

Die Aufklärer offenbarten unzweifelhaft eine Unwissenheit in dem Sinne, daß sie nicht den Faden zu finden vermochten, der ihre Auffassungen und Bestrebungen mit der ökonomischen Lage des damaligen Frankreich verband, und nicht einmal die Existenz eines solchen Fadens vermuteten. Sie betrachteten sich selbst als die Herolde der absoluten Wahrheit. Wir wissen nun, daß es keine absolute Wahrheit gibt, daß alles relativ ist, daß alles von den Umständen des Ortes und der Zeit abhängt, aber gerade deshalb müssen wir bei der Beurteilung der Unwissenheit“ der verschiedenen historischen Epochen sehr vorsichtig sein. Soweit sich ihre Unwissenheit in den ihnen eigenen gesellschaftlichen Bewegungen, Bestrebungen und Idealen äußert, ist sie ebenfalls relativ.


Fußnote von Plechanow

1. Essais, S.183-185.


Anmerkungen des Übersetzers

1*. Gemeint ist Karl Marx.

2*. sic et simpliciter – ganz einfach.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008