Josef Strasser

Der Arbeiter und die Nation

Die Frage

Der Mensch ist ein Bündel von Widersprüchen. Das Individuum, das „gesellschaftliche Atom“, ist selber eine ganze Gesellschaft – eine Gesellschaft, in der es meist sehr lebendig, oft unfriedlich zugeht, in manchen Fällen unfriedlich bis zum Selbstmord. Nicht zwei, hundert Seelen wohnen in der Brust auch des armseligsten Menschen und jede strebt nach der Alleinherrschaft, die sie doch nicht erringen kann, ohne die ganze Gesellschaft zu zerstören. Jeder einzelne liegt, wie mit seiner Umwelt, so auch mit sich selber beständig im Kampf, und die Geschichte eines Menschen ist nur zu verstehen als die Entwicklung der Widersprüche, die sein Ich ausmachen. Interessengegensätze bestehen nicht nur zwischen verschiedenen Individuen, jeder Mensch hat gegensätzliche Interessen. Wie in jeder anderen Gesellschaft entwickelt sich auch im Individuum eine Verfassung. Wir nennen sie gemeinhin Vernunft. Wie die Verfassung eines Staates, wenn schon nicht formell, so doch nach ihrem Inhalt nichts anderes ist als ein Kompromiß zwischen den Klassen, die in diesem Staate leben, so ist die Vernunft, die Verfassung des einzelnen, ein Kompromiß zwischen seinen verschiedenen Begierden. Dieser entwickelt sich erst allmählich. Niemand bringt seine Vernunft mit auf die Welt, jeder muß Lehrgeld für sie zahlen. Zuerst lassen wir allen unseren Neigungen freien Lauf, wir gehen ohne alle Rücksicht auf den größtmöglichen Lustgewinn aus. Dabei stoßen wir auf Widerstände –in der Außenwelt und in uns selber. Unserer Habsucht z.B. werden Grenzen gesetzt sowohl durch äußere Hindernisse, als auch durch unseren Ehrgeiz, unsere Genußsucht, unsere Liebe zu anderen usw. Wir begreifen, daß sich nicht alle unsere Triebe ungehemmt entwickeln dürfen, weil die Widersprüche zwischen ihnen, voll entfaltet, unseren Untergang herbeiführen müßten. Aus den zuwideren Erfahrungen, die wir machen, lernen wir unsere Neigungen zügeln, unsere Widersprüche fruchtbar machen, uns auf eine praktische Weise widersprechen. Wir verzichten auf einiges, auf vieles, auf das meiste, um nicht alles zu verlieren. Wir bescheiden uns, wir treffen ein Abkommen mit uns selber, wir werden vernünftig. Vernunft ist die rechtzeitige Erinnerung an empfangene Prügel.(1)

Nicht alle haben dieselbe Vernunft, können sie nicht haben. Was für den einen das Vernünftige ist, kann für den anderen aberwitzig sein. Der Mann hat eine andere Vernunft als die Frau, der Greis eine andere als der Jüngling, der Künstler eine andere als der Bürokrat. Jede Verschiedenheit unserer Veranlagung und unserer Verhältnisse bedingt eine Abweichung unserer Vernunft von der der anderen. Wer nicht seine Vernunft hat, der hat überhaupt keine.

Was vom Individuum gilt, das gilt auch von jeder Gruppe von Individuen, von einem Kaffeekränzchen, einem Schachklub, einer philosophischen Gesellschaft so gut wie von einem Stand, einer Kaste, einer Religionsgenossenschaft, einer Nation. Auch in jeder Klasse bestehen, wie in jedem Individuum, Interessengegensätze, und die Klasse kann sich nur behaupten, wenn sie dieser Gegensätze Herr wird, wenn sie ihre Widersprüche überwindet. Und es ist ein verläßliches Zeichen des Verfalls, wenn eine Klasse ihre Ideologie preisgibt, d.h. mit ihren inneren und äußeren Widersprüchen nicht mehr fertig werden kann.

Wie jedes Individuum, so muß auch jede Klasse ihre Vernunft selbst hervorbringen. Und wie der einzelne nicht aus Moralpredigten, sondern nur aus seinen unangenehmen Erlebnissen lernt, so die Klasse nur aus ihren Niederlagen. Nehmen wir das Proletariat. Kein Sozialdemokrat fällt vom Himmel. Wohl sagen wir: Der Sozialismus ist die proletarische Weltanschauung, aber das bedeutet nicht, daß die sozialistischen Ideen dem Arbeiter angeboren sind. Er muß sich sein Klassenbewußtsein mühsam erarbeiten. Nichts ist dem Proletariat in seinen Anfängen fremder als sein Ureigenstes, die proletarische Denkweise: behaftet mit allen bürgerlichen Vorurteilen tritt es in die Geschichte ein; die Klasse, die berufen ist, die gewaltigste aller gesellschaftlichen Revolutionen zu vollziehen, hängt lange Zeit an kleinbürgerlich-reaktionären Idealen. Erst im Laufe einer eben so langwierigen als schmerzhaften Entwicklung bringt die kapitalistische Wirklichkeit den Arbeitern die schreienden Widersprüche zwischen ihren überkommenen bürgerlichen Anschauungen – also ihrer proletarischen Unvernunft – und ihrer gesellschaftlichen Lage zum Bewußtsein. Das Proletariat muß ungeheures Leid erdulden, ehe es sich von seinen unproletarischen Traditionen freimacht, sich auf die eigenen Füße stellt, „seinen eigenen Kopf aufsetzt“, seine eigene, die proletarische Vernunft entwickelt.

Daß die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiter selbst sein muß, erscheint uns heute als eine Binsenwahrheit. Aber wie lange hat das Proletariat gebraucht, bis es die Notwendigkeit des Klassenkampfes erkannte! Wie schwer ist ihm die Einsicht in diese Notwendigkeit geworden, mit welcher Leidenschaft hat es seinen Aberglauben verteidigt, ja wie oft erleben wir es noch heute, daß große Schichten des Proletariats zu Meinungen zurückkehren, die längst als abgetan gegolten haben! Was ist der Revisionismus anderes als ein Rückfall in bürgerliche Anschauungen, ein Versuch, in die proletarische Weltanschauung dieses oder jenes bürgerliche Vorurteil einzuflicken? Ist die Blockpolitik nicht die alte Harmonieduselei? All der Unsinn, der heute hochnäsig den Anspruch erhebt, für das Ergebnis der neuesten wissenschaftlichen Forschung genommen zu werden, steht bereits in einem ehrwürdigen Alter, er stammt aus den Kinderjahren des Proletariats. Der Revisionismus hat nicht einen einzigen originellen Gedanken gehabt, seine Lehren sind nur die „wissenschaftliche“ Formulierung der kindlichen Irrtümer, in denen das Proletariat am Beginn des kapitalistischen Zeitalters befangen war. Wie hat es denn damals ausgesehen? Der Klassenkampf, den der Revisionismus, wenn er konsequent sein will, verpönen muß, weil ein „Zusammenarbeiten“ des Proletariats mit anderen Klassen, wie die Erfahrung lehrt, nur möglich ist, wenn die Arbeiter den proletarischen Standpunkt verlassen, dieser Klassenkampf erscheint dem naiven Proletarier als ein Ding der Unmöglichkeit, besser gesagt: er denkt überhaupt nicht an seine Möglichkeit. Er sucht sein Heil in einem guten Einvernehmen mit dem Kapitalisten. Er arbeitet für seinen Ausbeuter wie ein Pferd, liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab, ist unterwürfig, kriecherisch, vernadert seine Mitarbeiter, kurz er sucht eine bessere Stellung zu ergattern, indem er alle Sklavenlaster übt. Er weiß nichts von Solidarität. Er sieht in seinem Mitarbeiter nicht den Genossen, sondern den Konkurrenten. Nicht im Verein mit den anderen Arbeitern und im Kampf gegen den Unternehmer will er vorwärts kommen, sondern im Kampf gegen die Klassengenossen und im Frieden mit dem Kapitalisten. Die Fehlerhaftigkeit seiner Logik liegt auf der Hand: seine Rechnung kann nur richtig sein, so lange nur einzelne so rechnen wie er; tun es alle, wird das Schuften, das Schweifwedeln, das Denunzieren allgemeiner Brauch, so entfällt für den Unternehmer jeder Grund, die „Bravheit“ zu belohnen - Musterknaben werden nur prämiert, wenn sie Ausnahmen sind. Mit anderen Worten: die Lohndrücker- und Streikbrechermoral kann auf die Dauer nicht die allgemeine proletarische Moral sein, denn gerade durch ihre Verallgemeinerung macht sie sich unmöglich. So kommen die Arbeiter zu der Erkenntnis, daß sie ihre Lage nur verbessern können, wenn sie sich zum Kampf gegen die Ausbeutung zusammenschließen. Von da bis zum ausgereiften Klassenbewußtsein führt freilich noch ein sehr langer und beschwerlicher Weg. Wenn der Arbeiter auch schon weiß, daß er allein nichts ausrichten kann, so ist er doch noch weit entfernt von der Auffassung, daß alle Arbeiter zusammengehören. Von Klassenbewußtsein ist auf dieser Stufe der Entwicklung noch keine Rede, nur von dessen ersten dumpfen Regungen. Noch sieht der Proletarier über seine Fabrik, seine Stadt, seine Branche nicht hinaus, noch blickt der gelernte Arbeiter mit aristokratischem Hochmut auf den ungelernten herab, noch betrachtet der Einheimische mißgünstig den zugewanderten „Fremden“. Aber die Wahrheit, daß sich die Arbeiter ohne Rücksicht auf irgendwelche zwischen ihnen bestehende Gegensätze vereinigen müssen, ist nun einmal auf dem Marsch. Zwar sucht die Bourgeoisie die Entwicklung des proletarischen Klassenbewußtseins mit allen Mitteln zu verhindern. Es gibt keinen Gegensatz, keinen Unterschied zwischen den Arbeitern, den sie nicht auszunützen bemüht wäre. Sie nährt den Künstlerstolz, der gewissen Arbeitergruppen eigen ist, sie hetzt den qualifizierten Arbeiter gegen den unqualifizierten, sie fruktifiziert die in der Arbeiterschaft noch lebendigen religiösen und nationalen Vorurteile. Aber sie vermag die Entwicklung nur zu verzögern, nicht ihr Halt zu gebieten. Es kommt die Zeit, in der der Mahnruf des Kommunistischen Manifestes: „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ in tausend und abertausend Proletarierherzen ein Echo weckt. Das Proletariat hat sich sein Klassenbewußtsein erarbeitet. Noch sind nicht die Arbeiter aller Berufe, aller Nationen dazu erwacht, noch kann es einzelnen, selbst großen Gruppen von Arbeitern wieder getrübt werden, ja verloren gehen, aber für die Klasse ist die Erkenntnis der Zusammengehörigkeit aller Arbeiter zum Kampfe gegen den Kapitalismus ein unverlierbarer Besitz geworden.

Was bedeutet nun die Aufforderung des Kommunistischen Manifestes? Will Marx sagen, daß das Klasseninteresse des Arbeiters dessen sämtliche Interessen einschließt, sodaß z.B. Arbeiter verschiedener Nationalität keine gegensätzlichen Interessen haben können? Oder meint er, daß Interessenverbände, auch nationale, innerhalb des Proletariats möglich sind, daß aber alle derartigen besonderen Gruppeninteressen unberücksichtigt bleiben müssen, wenn nicht das proletarische Gesamtinteresse zu kurz kommen soll? Oder ist er am Ende gar der Meinung, daß die Arbeiter überhaupt keine nationalen Interessen haben, daß also, was man so nennt, nur bürgerliches Interesse ist, das aus demagogischen Gründen unter einem irreführenden Namen auftritt?

Daß es innerhalb des Proletariats Interessengegensätze gibt, ist evident. Wenn sich zwei Arbeiter um dieselbe Arbeitsstelle bewerben, so sind sie schon gegensätzlich interessiert. Erringt nun der eine diese Stelle, indem er überdurchschnittliche Leistungen anbietet und unterdurchschnittliche Forderungen stellt, so hat er wohl sein momentanes persönliches Interesse durchgesetzt, aber er hat zugleich die allgemeinen Arbeitsbedingungen verschlechtert, also seine Klasse geschädigt und damit auch seine eigenen Aussichten vermindert. Er hat, wie alle schlechten Wirte, der Gegenwart die Zukunft geopfert. Die Versuchung zu solcher Wirtschaft tritt an die Arbeiter täglich heran, aber je öfter sie ihr erliegen, desto rascher erkennen sie, daß diese Wirtschaft unvernünftig ist, daß die Masse der Arbeiter auf keinen grünen Zweig kommen kann, wenn sie nicht ihre persönlichen Interessen dem Klasseninteresse unterordnen. Nicht anders verhält es sich mit den Brancheninteressen. Ein Blick in die englische Gewerkschaftsgeschichte zeigt uns, wohin die Arbeiter kommen, wenn sie sich zünftlerisch gegeneinander abschließen und in der Verfolgung ihrer beruflichen Interessen das Klasseninteresse außer acht lassen

Wie steht's nun mit den nationalen Interessen? Begeben sich die Arbeiter nicht auf einen Irrweg, wenn sie eine nationale Politik anstatt einer Klassenpolitik treiben? Die nationalistischen Demagogen bestreiten das. Nach ihrer Lehre ist nicht die Klasse, sondern die Nation die höchste, die wichtigste Interessengemeinschaft. Sie erklären: Die Nation ist ein Organismus, und die Klassen, in die sie zerfällt, sind voneinander ebenso abhängig, wie die einzelnen Organe eines Lebewesens miteinander in Wechselwirkung stehen. Darum müssen sich die deutschen Arbeiter mit den deutschen Fabrikanten, Handwerkern, Bauern vereinigen, wenn sie etwas erringen wollen, nicht mit den tschechischen, polnischen, italienischen Arbeitern. Nicht alle Klassengenossen, sondern alle Volksgenossen gehören zusammen.

Diese Theorie ist nur eine Modernisierung des Märchens von der Interessenharmonie. Dennoch ist die Arbeiterklasse von ihr nicht unberührt geblieben. Die tschechoslawische „Sozialdemokratie“ ist durch die eigenartigen Verhältnisse, unter denen die tschechischen Arbeiter leben, ganz in den Bann nationalistischer Anschauungen geraten. Sie glaubt dem Nationalismus die rührende Geschichte des Menenius Agrippa, daß die unteren Klassen einer Nation nur gedeihen können, wenn sie der Nation, wie die herrschenden Klassen sich zu nennen belieben, mit Hingebung dienen, genauso, wie der menschliche Organismus nur gesund bleiben kann, wenn dem Magen die anderen Organe genug Nahrung zuführen. Aber auch die deutsche Sozialdemokratie hat sich von nationalistischen Anwandlungen nicht ganz frei zu erhalten vermocht. Freilich, zu den Kräften, die in ihr wirken, gehört der Nationalismus noch nicht. Die Masse der deutschen Arbeiterschaft ist von Haus aus international gestimmt, und so ist der Nationalismus in unserer Partei bis heute nicht viel mehr gewesen als eine persönliche Schrulle einzelner Genossen. Aber ein prinzipieller Gegensatz besteht zwischen den Anschauungen des Separatisten Nemec und denen des nationalen Sozialdemokraten Pernerstorfer nicht. Beide wollen dasselbe, und wenn der Nationalismus des einen rabiat und stößig, der des anderen zivilisiert und temperiert ist, so erklärt sich das nicht aus einem Gegensatz ihrer Grundanschauungen, sondern aus der Verschiedenheit ihrer historischen Situation. Gingen die deutschen Arbeiter den Weg, den Pernerstorfer für den rechten hält, so müßten sie früher oder später dorthin kommen, wo Nemec und die Majorität der tschechischen Arbeiterschaft heute stehen.

Bisher haben die deutschen Proletarier keine Lust gezeigt, diesen Weg einzuschlagen. Das hat die nationalistische Demagogie, die seit einigen Jahren verzweifelte Anstrengungen macht, das Proletariat „zu seiner nationalen Pflicht zurückzuführen“, bewogen, ihre Lehren sozialistisch aufzuputzen. Sie versucht ihr Glück mit einer Melange von Sozialismus und Nationalismus. Danach ist der Mensch ein Amphibium: er gehört einmal einer Klasse und einmal einer Nation an. Er ist einmal ein Deutscher, ein Franzose, ein Engländer und einmal ein Fabrikant, ein Bauer, ein Arbeiter. Er hat Klasseninteressen und er hat nationale Interessen. Und diese haben mit jenen gar nichts zu tun. Den nationalen Kampf also muß die deutsche Arbeiterklasse, wie immer sie für ihre Klasseninteressen kämpft, im Verein mit den anderen Klassen des deutschen Volkes führen. Der deutsche Proletarier mag als Proletarier machen, was er will, als Deutscher ist er an den heiligen Gütern der deutschen Nation ebenso interessiert wie der deutsche Kapitalist, und darum muß er mit diesem zusammengehen, wenn es sich um nationale Fragen handelt.

Diese Theorie, die natürlich niemals klar formuliert worden ist, hat bei unseren national gestimmten Genossen Anklang gefunden, und auch in der Masse der deutschen Arbeiter besteht, trotz der entschiedensten Ablehnung des Nationalismus, keine Klarheit darüber, wie es sich eigentlich mit den diversen heiligsten Gütern der Nation verhält. Sehen wir sie uns also einmal an. Wie verhalten sich Klasseninteressen und nationale Interessen zueinander? Sind sie wirklich voneinander unabhängig? Und wenn das nicht der Fall sein sollte: Modifiziert das Klasseninteresse das nationale Interesse oder ist es vielleicht umgekehrt? Widersprechen Klasseninteressen und nationale Interessen einander? Und wenn dem so sein sollte: Wie ist dieser Widerspruch zu lösen? Durch einen Kompromiß? Oder wenn ein solcher nicht möglich oder nicht zweckmäßig sein sollte: Welches Interesse ist das höhere, das nationale oder das proletarische?

Anmerkungen des Verfassers

(1) Das ist auch die Volksmeinung. Beweis dessen die Nebenbedeutung der Wörter: gerissen, gerieben, abgebrüht, g'haut, 'brennt usw. Auch das Sprichwort: „Das gebrannte Kind fürchtet das Feuer“ zeigt, daß das Volk sehr wohl weiß, auf welchen Wegen wir zur Vernunft kommen.


Zuletzt aktualisiert am 15.6.2008